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Jan Flieger

Die Stunde des Kondors

ISBN 978-3-86394-484-1 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1985 im Militärverlag der DDR, Berlin (Erzählerreihe 286).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
 

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1. Kapitel

Als der Blinde die Trillerpfeifen hörte und dann die Kommandorufe, wusste er, dass eine Razzia begann wie so oft in Santiago. Im ersten Augenblick des Begreifens hatte ihn die Angst gepackt, aber sie war dann der Ruhe gewichen, die nur einer kannte, der immer mit der Gefahr leben musste. Und der Blinde musste mit ihr leben, seitdem er aus dem Gefängnis geflohen war, geflohen bei einer Verlegung. In der ersten Zeit, die der Flucht folgte, hatte ihn die Angst oft gepackt, die Angst vor der Folter, der erneuten Folter. Er wusste: Die Geheimpolizei wollte die Namen seiner Helfer erfahren, und sie würde jedes, aber auch jedes Mittel anwenden. Einige ihrer Foltermethoden kannte er. Sie hatten zu seiner Erblindung geführt. Wie viel hält der Mensch aus, ohne dass er zerbricht? dachte er immer wieder in seinem Versteck. Wie viel? Kommt ein Punkt, wo man sich aufgibt, weil man die Folter nicht mehr ertragen kann? Wo man schwach wird? Würde er eine erneute Folter überstehen?

Sie beginnen im ersten und im letzten Haus dieser Straße, dachte der Blinde, der Sardo hieß, und sie durchsuchen jeden Raum. Sie sind genau, diese Offiziere, und sie kennen die Möglichkeiten von Verstecken. Der Raum, in dem er saß, war so klein, dass er nur zwei Schritte laufen konnte, wenn er sich von seinem Stuhl erhob. Es war eine Abstellkammer, die, geschickt vermauert, ein ausgezeichnetes Versteck ergab - für Flugblätter, illegale Zeitungen und für einen Flüchtling. Aber kein Versteck war so sicher, dass es bei einer Razzia nicht entdeckt werden konnte. Sardo war froh, dass Mario und Teresita nicht da waren und so, sollte er entdeckt werden, hinabtauchen konnten in die Illegalität; denn beide, das wusste er, betraten ihre Straße immer mit der größten Vorsicht und würden die geringste Veränderung wahrnehmen, auch wenn man die Häscher nicht sah.

Aber Teresita in einem Lager? Der Blinde erschrak erneut. Die schwarzhaarige, lebenshungrige Teresita? Ahnte sie, was ihr bevorstand, würde man sie ergreifen? Die Vergewaltigungen im Gefängnis und im Lager waren noch das Geringste. Eine Frau konnte um zehn Jahre altern in einem Jahr.

Und Mario? Konnte man sich einen blinden Mario vorstellen?

Aber auch an einen blinden Sardo hatte er früher nie gedacht. Und doch ging alles weiter, musste er leben mit seiner Blindheit.

Sie werden die ersten beiden Häuser durchsucht haben, dachte Sardo, und die beiden letzten. Wie viele Atemzüge bleiben mir bis zur erneuten Verhaftung? Wie viele?

Einen Augenblick lang war es ganz still, dann hörte er das Knattern einer Maschinenpistole und Schreie. Wen haben sie? dachte er. Männer, die selbst Mario nicht kennt, weil die Arbeit in der Illegalität mit unendlicher Vorsicht geschehen musste. Man konnte von dem Kampfgefährten in einem Nebenhaus nichts wissen, sah ihn erst in dem Augenblick, da sie ihn aus dem Haus stießen, sah ihn erst in einem Wagen der Juntapolizei oder des Militärs.

Santiago ist eine Mausefalle geworden, dachte Sardo, diese Stadt, die ich einmal geliebt habe und in der ich, selbst als Blinder, noch die Straßen und Plätze finden würde, wenn mich der Strom der Passanten nicht umstieße. Als Junge habe ich einmal jeden Winkel gekannt, jeden.

Aber durch die Stadt würde er nicht mehr dürfen.

Auch diese Straße, in deren einem Haus er sich verbarg, würde er nicht mehr sehen können, nicht die grauen ein- bis zweistöckigen Häuser, nicht die Läden, Kneipen, Hotels und Pensionen, nicht die Passanten, nicht den barfüßigen Zeitungsjungen an der Ecke, der, auf einer Kiste sitzend, die Zeitungen um sich ausgebreitet hatte - ein begehrter Job für einen Jungen, der vielleicht Vollwaise war. Nur die Geräusche des Verkehrs drangen bis in Sardos Versteck, das laute Hupen, der Knall der Auspuffgase. Mit den Bussen war er oft gefahren, mit diesen breiten Kästen, die so unvorstellbar viele Fahrgäste fassten und an deren Türen noch eine dicke Traube von Menschen hing, Menschen, die oft nur mit einem Bein auf dem Trittbrett standen oder einen Fensterrahmen umklammert hielten.

Nur wenige Hundert Meter von dieser Straße entfernt aber lag das Zentrum, das hochmoderne, vielstöckige, bestehend aus Betonklötzen, die die Ministerien beherbergten, die Banken, Büros, elegante Geschäfte und Restaurants. Es waren andere Straßen als die, in denen er gelebt hatte.

Schnurgerade Straßen waren es, ohne Kehren, ohne Winkel, die von quadratischen Häuserblocks gesäumt wurden, die alle etwa eine Länge von hundertdreißig Metern zu haben schienen. Das Muster dieses Grundrisses stammte noch vom Gründer Santiagos, von Pedro de Valdivia, aus einer Zeit, da es gut war, wenn die Kugeln einer Muskete ihr Ziel in der gesamten Straße finden konnten, würde der Feind in die Stadt eindringen. Der Feind, das waren die Araukaner, die einzigen Indianer, die die Spanier nie besiegen konnten.

Wieder hörte Sardo Schüsse, und dann wurde ihm bewusst, dass die Kommandos näher kamen, immer näher.

Ich kann nur warten, dachte Sardo, darauf warten, dass sie mich entdecken. Sie müssen erst den Schrank wegschieben, der vor diesem kleinen Raum steht, und auch dann müssen sie genau hinsehen. Aber es können Männer dabei sein, die wie Spürhunde sind, die ein Versteck förmlich riechen, als besäßen sie den Instinkt von Hunden. Und sie waren nichts anderes als Hunde. Bluthunde.

Das Poltern der Stiefel dröhnte im Nachbarhaus. Mir bleiben noch Minuten, dachte Sardo. Er erhob sich und presste die Stirn an die Wand. Er hörte nun die Kommandos ganz deutlich, verstand jedes Wort. Eine heisere Stimme bellte Befehle, andere Stimmen antworteten. Jetzt waren sie im selben Stock, stießen die Türen auf und drangen in die Räume ein. Vor dem Haus würden sie mit entsichertem Karabiner stehen und jedes Fenster im Auge behalten, auf der Vorder- und auf der Rückseite der Häuser.

Eine Waffe, dachte Sardo, eine Waffe. Wenn ich nur eine Waffe hätte! Aber wen konnte er als Blinder schon treffen! Einen Soldaten vielleicht. Doch da musste er schon großes Glück haben. Und dann?

Gefährdete er nicht Teresita und Mario noch mehr? Steigerte er nicht die Wut auf sie ins Unermessliche, wenn sie verhaftet wurden? Er musste es allein tragen, sein Schicksal, allein. Aber dann war er nichts anderes als ein Kalb, das zum Schlachthaus geführt wurde. Er beneidete andere, die im Kampf gefallen waren in den Tagen des Putsches, gefallen mit der Waffe in der Hand. Im Kampf zu sterben war leichter - und wenn man ein paar Feinde mitnehmen konnte in das Dunkel, aus dem es keine Rückkehr gab.

Stiefel dröhnten auf den Stufen seines Hauses. Sardo hörte, wie sie in die Wohnung, die unter seinem Versteck lag, eindrangen, hörte ein Poltern und einen Aufschrei.

Sie sind brutal, diese Hunde, dachte Sardo. Und sie haben die Macht. Kein Gericht kann helfen. Es ist ihr Gericht, und sie können auf der Stelle töten, treffen sie auf Widerstand. Sie töten gnadenlos, seit einem Jahr, seit ihrem blutigen Putsch, immer wieder.