Ich bringe dich um, du Mistkerl“, schrie Helene Lund im Aufenthaltsraum, stemmte sich aus ihrem Rollstuhl und riss Pfleger Fynn, ein schmächtiges Bürschchen, zu Boden. Ihre Fäuste sausten wie im Trommelfeuer auf ihn nieder, doch innerhalb von Sekunden war Fynn wieder auf den Beinen und fixierte Helenes Handgelenke.
Sie schrie und kreischte und er war jedes Mal aufs Neue überrascht, wie viel Kraft noch in dieser Frau steckte. Helin eilte ihm zu Hilfe und zusammen gelang es ihnen, Helene in ihr Zimmer zu bringen und sie ruhigzustellen.
„Puh …“, Fynn wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. „Wann soll Helene operiert werden?“, fragte er.
„In ein paar Tagen wird sie ins Krankenhaus verlegt. Aber die Chancen stehen fifty-fifty, dass der Tumor restlos entfernt werden kann“, antwortete Helin.
„Ihr Zustand hat sich dramatisch verschlechtert, seit der Tumor noch mehr aufs Gehirn drückt.“
„Ich weiß“, seufzte Helin. „Ich kann nur hoffen, dass die OP glückt. Sonst wird sie wohl täglich fixiert werden müssen, die Arme“, erwiderte Helin bedauernd.
„Stimmt, Helenes Aggressivität hat sich enorm gesteigert. Anfangs hatte ich ja den Verdacht, dass es eventuell an Krister liegen könnte, dem neuen Stationsleiter. Aber als kurz darauf der Hirntumor bei Helene diagnostiziert wurde, war alles klar.“
Frida Holm, die Psychiaterin und leitende Angestellte der Klinik, kam ihnen entgegen. Ihr intensives blumiges Parfum kündigte sie schon von Weitem an. Sie trug einen weißen Kittel und darunter ein graues, modern geschnittenes Kostüm, das ihre schlanke Figur betonte. Die Haare waren zu einem strengen Dutt hochgesteckt und wollten so gar nicht zu ihren sanften blauen Augen passen.
Aber hinter der hübschen Fassade verbarg sich ein äußerst wacher und intelligenter Geist, der in Sekundenschnelle die Situation erfassen konnte. Frida Holm leitete die Klinik mit strenger Hand und war sehr auf das Wohl ihrer Patienten bedacht. Eine Seltenheit in diesem Bereich.
„Konntet ihr sie beruhigen?“, wandte sie sich an Fynn.
„Nicht so ganz, wir mussten ihr leider eine Spritze verabreichen“, erklärte er.
„Tja, dann drücken wir Helene die Daumen, dass sie die Operation gut übersteht.“
„Aber immer doch“, antwortete Finn lächelnd.
„Ich wünsche euch einen entspannten Feierabend“, sagte sie.
„Danke“, erwiderten Fynn und Helin zeitgleich.
Unter Fridas Führung herrschte ein angenehmes Arbeitsklima und alle duzten sich. Helin bedauerte, schon bald die Kündigung einreichen zu müssen, aber das war nun einmal ihr Schicksal.
Stationsleiter Krister, ein fitter Mann Mitte vierzig, saß in seinem Büro und brütete über den Berichten.
„Mann, Mann, Mann, immer dieser elende Schreibkram“, fluchte er.
„Hey, du hast dich auf diese Stelle beworben und bist jetzt hier. Also meckere nicht herum“, grinste Fynn.
Krister schnaubte. „Wolltest du nicht Feierabend machen, du Grünschnabel?“
„Bitte keine Beleidigungen“, erwiderte Fynn immer noch grinsend.
Genau wie Frida Holm war auch Krister recht beliebt unter Patienten und Kollegen, nur Helin wurde nicht so recht warm mit ihm. Sie hatte keine Ahnung, woran das liegen könnte, wahrscheinlich, weil sie doch lieber mit weiblichen Pflegekräften zusammenarbeitete.
„Nun kommt schon, Fynn. Oder willst du hier übernachten?“
Sie knuffte ihn sanft in die Seite.
„Wenn, dann nur als Patient“, lachte er und verließ mit Helin das Büro.
„Hast du heute schon etwas vor?“, fragte er Helin.
Sie verkniff sich ein Lachen. Fynn zeigte deutlich sein Interesse an ihr, aber sie war nur auf ein freundschaftliches Verhältnis aus. Was sollte das auch bringen mit ihrer Schwester im Schlepptau? Sie konnte sich nicht eben einmal in die Arme eines Liebhabers flüchten, und sei es nur für zwei Stunden.
„Nein“, lautete ihre knappe Antwort.
„Und morgen?“
Sie stoppte ihre Schritte und schaute zu ihm auf.
„Fynn, ich kann nicht, das weißt du ganz genau“, erwiderte sie und lief weiter.
„Aber das ist doch kein Leben …“, rief er ihr hinterher.
„Wem sagst du das?“
Helin zuckte nur mit den Schultern und ließ ihn stehen. Sie öffnete die Tür zur Umkleide, riss sich die verschwitzen Kleidungsstücke vom Leib und trat unter die Dusche. Das warme Wasser prasselte auf sie nieder und löste einen Teil der Verspannungen. Sie könnte hier ewig so stehen und sich berieseln lassen, aber das war leider nicht möglich. Sie tastete nach dem Handtuch und wickelte es sich um den Oberkörper. Dann wischte sie mit der Handfläche das Kondenswasser vom Spiegel.
Nachdenklich betrachtete sie ihr Spiegelbild. Das blasse sorgenvolle Gesicht einer jungen Frau blickte ihr entgegen und die dichten schwarzen Wimpern verstärkten den Ausdruck von Melancholie. Die vollen Lippen hatte sie zu einem schmalen Strich gepresst und in den blaugrünen Augen schien jede Lebensfreude erloschen.
Frustriert wandte sich Helin ab und streifte sich Jeans und Shirt über. Dann schnappte sie sich ihren Rucksack, verschloss den Spind und lief mit schnellen Schritten zum Wagen. Der alte klapprige Volvo hatte seine besten Jahre schon hinter sich. Sie warf den Rucksack nach hinten auf die Rückbank und startete den Motor.
Ari, ihre ältere Schwester, war in einer speziellen Einrichtung untergebracht. Ari litt seit ihrer Geburt unter Autismus und war auf Helins Hilfe angewiesen. Vor ein paar Tagen hatte sie ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert, während Helin erst fünfundzwanzig Jahre alt geworden war. Seit dem Tod ihrer Mutter vor zehn Jahren kümmerte sich Helin aufopferungsvoll um ihre Schwester. Einen Vater gab es nicht. So lastete die gesamte Verantwortung allein auf ihren Schultern und sie hatte tagtäglich das Gefühl, vom Leben regelrecht erdrückt zu werden.
Und ausgerechnet jetzt schien es so, als würden sich die Sorgen vermehrt häufen. Die Albträume ihrer älteren Schwester, die sie seit dem Tod ihrer Mutter plagten, traten wieder häufiger auf. Dabei hatten sie sich in Varberg richtig wohlgefühlt. Das beschauliche Städtchen lag direkt am Meer mit seinem Kaltbadehaus, das auf Stelzen erbaut worden war, und seiner historischen Altstadt, die die größten Marktplätze Schwedens aufweisen konnte. Auf malerischen Spazierwegen gelangte man an den Strand oder in den Buchenwald Åkulla.
Helin stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie und ihre Schwester blieben nie länger an einem Ort und zogen immer wieder um. Nur ihren positiven Arbeitszeugnissen war es zu verdanken, dass sie stets über ein geregeltes Einkommen verfügte. Gute Pflegekräfte waren rar und Helin wurde meist ohne große Probleme sofort eingestellt.
Der Grund für den immer wiederkehrenden Ortswechsel war Aris Angststörung vor Schmetterlingen, die sie seit dem Tod ihrer Mutter entwickelt hatte. Wann immer ein Insekt über sie hinwegflatterte, fing sie hysterisch an zu kreischen und schlug wild um sich. Sie fühlte sich von ihnen verfolgt und behauptete, dass die Schmetterlinge absichtlich ihre Mutter getötet hätten. Doch ein Zusammenhang konnte damals nie bewiesen werden.
Mittlerweile war es wieder so weit, dass sich Ari in die Enge getrieben fühlte. Sie tobte sich an ihrem Waschzwang aus und behauptete, dass es die Schmetterlinge wiederholt auf sie abgesehen hätten. Dabei wäre Helin diesmal so gern länger geblieben, denn sie hatte einen jungen Mann kennengelernt, den sie sehr mochte. Ein zurückhaltender Mensch mit blitzenden Augen und einem hübschen Gesicht, der auch an ihr schüchternes Interesse gezeigt hatte.
Die wenigen Liebschaften, die es in ihrem Leben gegeben hatte, konnte sie an einer Hand abzählen. Sobald sie das Outing vollzogen hatte, dass sie mit ihrer autistischen Schwester zusammenlebte, waren die meisten Typen auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Nun gut, nächste Stadt, neues Glück. Helin hatte sogar schon angefangen zu packen. Sie besaßen nicht viel, ihr gesamtes Hab und Gut passte in ein Dutzend Umzugskartons. Es war ein unstetes Leben, dessen sie nicht nur einmal überdrüssig geworden war.
Dabei hatte ihr das Städtchen Varberg ausgesprochen gut gefallen. Das Meer mit seinen flammenden Sonnenuntergängen, der weiche Sand und die herrlich salzige Luft, die sie durchatmen ließ. Helin hatte sich bereits auf die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle begeben und war in Skara fündig geworden. Bereits in zwei Wochen könnte sie anfangen.
Helin bog an der Ampel rechts ab, dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie stellte den Volvo vor dem Gebäude ab und Ari kam ihr entgegengelaufen.
„Du bist zwei Minuten zu spät, ganze zwei Minuten zu spät“, rief sie aufgebracht.
„Tut mir leid, Ari, aber der Feierabendverkehr hat mich aufgehalten.“
Ari erwiderte nichts, umrundete stattdessen den Wagen und ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen. Ihr über alles geliebtes Skizzenbuch hatte sie wie üblich fest an ihren Oberkörper gepresst. Sie malte für ihr Leben gern und konnte sich die Umgebung haargenau einprägen. Inselbegabung war der Fachbegriff dafür und Ari träumte davon, einmal Bücher und Zeitschriften illustrieren zu dürfen. Doch bis jetzt hatte sich kein Verlag ernsthaft dafür interessiert, was Helin sehr bedauerte.
„Warum fährst du nicht los?“
„Entschuldige, ich war in Gedanken“, murmelte Helin und scherte aus der Parklücke. „Was möchtest du essen?“
„Fischeintopf, ich will Fischeintopf, so wie Mama ihn immer gemacht hat.“
„Soll ich kochen oder sollen wir ins Restaurant?“, fragte Helin.
„Restaurant, Restaurant“, antwortete Ari und strahlte. „Du kannst nicht gut kochen.“
Ari fehlte die Empathie. Sie konnte sich weder in andere Menschen hineinversetzen oder noch deren Gesichtsausdrücke richtig interpretieren. Manchmal war Aris Ehrlichkeit für Helin ein Schlag ins Gesicht, wo sie doch tagein und tagaus dazu verdammt war, sich um ihre autistische Schwester zu kümmern. Aufgrund der Anfälle, unter denen Ari litt, war eine spezielle Einrichtung, in der Ari für immer bleiben konnte, keine Option. Denn sobald die Schmetterlinge auftauchten, geriet sie in Panik und wollte nur noch weg. So wie jetzt …
„Fahren wir gleich hin, ja? Gleich?“
Aris Augen blitzten. Wenn sie etwas wollte, war sie nicht zu bremsen und da nützte es wenig, wenn Helin mit Engelszungen auf ihre Schwester einredete.
„Okay, du hast gewonnen. Ich werde abbiegen.“
Helin lenkte den Wagen in Richtung Strand. Dort gab es ein kleines Restaurant, das eine köstliche Fischsuppe preiswert anbot und die große Terrasse mit Blick aufs Meer rundete den Besuch ab. Leider war die Uhrzeit recht ungünstig und Helin bezweifelte, dass sie noch einen freien Tisch ergattern würden.
Sie stellte den Volvo etwas abseits ab und machte sich mit Ari auf den Weg. Die Luft war mild und es roch nach Algen und Sonnencreme. Schon bald hörten sie die Wellen rauschen und die Möwen kreisten über ihnen.
„Ich bin immer gern hier gewesen“, sagte Helin bedauernd.
„Mhm“, antwortete Ari abwesend.
Ihre Schwester hatte den Blick starr nach vorn gerichtet und konnte es kaum erwarten, ihren leeren Magen zu füllen. Als sie einen freien Platz auf der Terrasse entdeckte, stürmte sie los und stieß einen älteren Mann beiseite, die sich gerade an den Tisch setzen wollte.
„Unverschämtheit“, polterte er los und packte Ari am Ärmel, um sie wegzuzerren.
„Fass mich nicht an, fass mich nicht an“, kreischte Ari, die Berührungen von Fremden verabscheute wie der Teufel das Weihwasser.
Helin spurtete, was ihre Beine hergaben, und erreichte atemlos die Terrasse. „Entschuldigen Sie bitte, meine Schwester ist …“
„Es interessiert mich nicht, was Ihre Schwester ist. Ich bin zuerst an dem Tisch gewesen.“
Sein Blick war grimmig, während Ari noch immer angewidert versuchte, seinen Handabdruck abzuwischen. Nochmals versuchte Helin zu vermitteln.
„Sie ist Autistin und ich möchte Sie bitten, Rücksicht zu nehmen.“
Inzwischen waren die Blicke der anderen Gäste auf sie gerichtet und der Mann hielt es nun doch für das Beste, sich zurückzuziehen.
„Ist ja schon gut, ich überlasse Ihnen den Tisch“, erwiderte er peinlich berührt und entfernte sich rasch.
Ari zupfte noch immer am Ärmel ihres Shirts, hatte sich aber so weit beruhigt, dass sie bleiben konnten. Helin gab der Servicekraft ein Zeichen, um die Fischsuppe zu bestellen.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie an Ari gewandt.
„Du musst mein Lieblingsshirt waschen, unbedingt waschen“, antwortete Ari. „Der Mann war gemein, er darf mich nicht anfassen.“
Helin beruhigte ihre Schwester, bevor diese sich wieder hineinsteigerte. Ari konnte in Sekundenschnelle von null auf hundert wechseln und war dann nur schwer wieder auszubremsen.
Nach einer Viertelstunde wurde ihnen die Fischsuppe serviert und sie leerten die Teller.
„Hmmm, das war lecker“, sagte Ari und machte eine kreisende Handbewegung auf ihrem Bauch.
„Das freut mich. Können wir jetzt nach Hause fahren?“
Helin war vom Dienst erschöpft und sehnte sich danach, die Beine hochzulegen.
„Ja, können wir, können wir“, antwortete Ari.
Helin zahlte und sie schlenderten gemächlich zum Fahrzeug zurück. Obwohl es ein entspannter Abend war, drehte sie sich mehrmals um, weil sie sich beobachtet fühlte. Wahrscheinlich spielten nur ihre Nerven verrückt, so wie immer, wenn es an der Zeit war, weiterzuziehen.
„Du hast mir noch gar nicht erzählt, was ihr heute gemacht habt“, sprach Helin, als sie wieder in den Volvo gestiegen waren.
Ari verzog das Gesicht. „Wir haben Türgriffe poliert. Dabei möchte ich viel lieber malen.“
„Ich weiß“, seufzte Helin. „Aber wir bleiben dran, versprochen. Irgendwann wird es klappen, davon bin ich felsenfest überzeugt.“
„Aber morgen fahren wir zu Alvar Lund, ja?“
„Natürlich. Ich habe mir doch extra freigenommen, damit wir uns die besten Plätze aussuchen können.“
Alvar Lund war der Lieblingsschriftsteller von Ari. Sie hatte jedes seiner Bücher verschlungen und war ein begeisterter Fan. Nun würde sie endlich eine seiner äußerst seltenen Lesungen besuchen und ihm zum ersten Mal begegnen. Das absolute Highlight in Aris Leben.
Helin drosselte die Geschwindigkeit, denn sie hatten das Haus, in dem sie wohnten, erreicht. Nachdem sie den Wagen auf dem gemieteten Parkplatz abgestellt hatte, stiegen sie aus und liefen nach oben in den zweiten Stock. Kaum hatte Helin die Tür aufgeschlossen, war Ari auch schon in ihrem Zimmer verschwunden. Na schön, dachte sie, dann habe ich ein wenig Zeit für mich. Sie öffnete das Fenster, um die milde Abendluft hineinzulassen.
Plötzlich begann Ari laut zu kreischen und stürmte ins Badezimmer, wo sie unter lautem Gezeter die Toilettenspülung betätigte.
„Himmel, Ari, was ist in dich gefahren?“, rief Helin bestürzt.
„Schmetterling, Schmetterling …“, rief sie und zeigte auf das WC.
„Schhhhhh … alles ist gut.“
Helin umarmte ihre Schwester und klopfte ihr dabei beruhigend auf den Rücken. Aris Schreie verwandelten sich in ein Schluchzen und ihre Schultern bebten.
Es ist also tatsächlich wieder so weit, dachte Helin betrübt und führte ihre Schwester behutsam ins Wohnzimmer, wo sie sie in den Sessel drückte. Dann kniete sie sich vor ihrer Schwester nieder und ergriff ihre Hände.
„Bitte Ari, was ist passiert?“
„Schmetterling, Schmetterling …“, murmelte ihre Schwester mit einem entsetzten Gesichtsausdruck.
„Bitte, ganz ruhig“, ermahnte Helin sie. „Was hast du in der Toilette hinuntergespült?“, hakte sie nochmals nach.
„Den Schmetterling.“
„Eine richtigen Schmetterling?“
„Mhm.“ Ari nickte.
„Darf ich nachsehen?“
„Mhm.“
Helin verschwand im Badezimmer und sah, dass im Wasser tatsächlich einige dunkle Schuppen eines Schmetterlings schwammen. Das Insekt konnte sich unmöglich in die Wohnung verirrt haben, da Helin während ihrer Abwesenheit sämtliche Fenster verschlossen hatte. Schließlich wusste sie ganz genau, wie ihre Schwester reagieren würde. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, zitterte Ari noch immer wie Espenlaub.
„War der Schmetterling schon tot?“
„Ja, schon tot, schon tot“, echote Ari. „Auf meinem Kopfkissen …“
Helin suchte das Zimmer ihrer Schwester auf, in dem alles seinen festen Platz hatte. Kein Gegenstand durfte bewegt oder gar umgestellt werden, weil das sofort Aris fragiles seelisches Gleichgewicht aus der Balance bringen würde. Helin hockte sich vor das Bett und entdeckte auch auf dem blütenweißen Kopfkissen die farbigen Schuppen des Schmetterlings. Es bestand kein Zweifel – jemand musste während ihrer Abwesenheit in der Wohnung gewesen sein.
„Wir müssen hier weg“, beschwor Ari ihre Schwester. „Aber erst morgen, nach der Lesung, ja? Erst morgen.“
„Wir werden erst die Lesung besuchen und dann umziehen. Versprochen.“
Helin kehrte in Aris Zimmer zurück und wechselte die Bettwäsche. Anschließend durchsuchte sie die gesamte Wohnung, um weitere böse Überraschungen auszuschließen. Nach einer heftigen Diskussion konnte sie Ari endlich dazu bewegen, in ihrem Zimmer zu schlafen. Sie wünschte ihr eine gute Nacht und suchte dann ihr Zimmer auf.
Mit verschränkten Armen starrte sie gedankenverloren an die Decke. Bis zum heutigen Tag war es ihr nicht gelungen, das Geheimnis der Schmetterlinge zu lüften. Ari schwieg beharrlich und wollte keinesfalls preisgeben, was sie an diesen wunderschönen Wesen so erschreckte. „Ich werde sterben, wenn ich es dir erzähle“, hatte sie immer wieder verstört behauptet.
Natürlich hatte Helin ihre Schwester schon verschiedenen Psychiatern vorgestellt, die am Ende jeder Sitzung meist genauso ratlos waren wie sie selbst. Ari verweigerte sich, starrte stumm auf ihre Finger und gab keinen Mucks von sich.
Helin drehte sich seufzend auf die Seite und schaute zum Fenster. Die untergehende Sonne tauchte das schmale Zimmerchen in ein sanftes Orange. Die Welt könnte so wunderbar sein ohne die Sorgen, die schwer auf Helins Schultern lasteten.
Ari und sie waren in Älvsered aufgewachsen, nur eine knappe Stunde Fahrzeit von Varberg entfernt. Sie konnte sich noch gut an den Abend erinnern, als ihre Mutter sie als Achtjährige zur Seite genommen hatte.
„Du weißt, wie sehr ich euch lieb habe, nicht wahr?“, hatte ihre Mutter gesagt und Helin ein stummes Nicken abgerungen. „Euer Vater hat sich leider aus dem Staub gemacht, weil er mit dem Autismus seiner Erstgeborenen nicht zurechtgekommen ist. Ich habe schon sehr früh erkannt, dass ich mich nicht auf ihn verlassen kann, und aus diesem Grund bist du geboren worden.“
Ava hatte eine kurze Pause gemacht und die Schultern ihrer Tochter umfasst.
„Sollte mir je etwas zustoßen, dann musst du dich um Ari kümmern, denn das ist deine einzige Bestimmung“, fuhr sie mit eindringlichem Blick fort.
Die Worte ihrer Mutter waren damals für sie ein Schock gewesen. Nicht aus Liebe geboren worden zu sein, sondern als Aufsichtsperson für ihre autistische Schwester zu fungieren, war für Helin ein Schlag ins Gesicht gewesen, von dem sie sich nie richtig erholt hatte.
Schon vorher war ihr bewusst gewesen, dass ihre Mutter Ari bevorzugte, ihr all die Aufmerksamkeit schenkte, nach der sich Helin so verzehrt hatte. So gut wie immer hatte sie an zweiter Stelle gestanden und Verzicht geübt. Wenn ihre Mutter im Schichtdienst arbeitete, dann war es schon damals ihre Pflicht gewesen, auf Ari aufzupassen. Dabei wäre sie viel lieber mit ihren Freunden um die Häuser gezogen oder hätte mit ihnen Verstecken oder Fangen gespielt. Stets hatte sie Ari im Schlepptau und wurde schließlich von ihren Freunden gemieden.
Helin stieß erneut einen tiefen Seufzer aus. Lara, ihre beste Freundin aus Kindertagen, hatte vor einer Woche Zwillinge entbunden und die Fotos waren für Helin ein Stich mitten ins Herz gewesen. Die strahlende frisch gebackene Mutter hatte jeweils rechts und links stolz ihre Kinder im Arm gehalten.
Doch dieses Glück würde Helin niemals zuteilwerden, egal wie sehr sie sich danach sehnte. Schon oft hatte sie darüber nachgedacht, Ari in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen, aber dazu fehlte ihr einfach der Mut. Ihre Schwester war ein schwieriger Mensch, dennoch liebte Helin sie mit all ihren Schwächen.