Todesgischt

Schwedenkrimi

Elin Svensson

Ana Dee

Inhalt

Anmerkungen

Protagonisten

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Anmerkungen

Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.

Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Protagonisten

Prolog

Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie die schnellen Schritte hinter sich vernahm, die ihnen schon eine Weile gefolgt waren. Sie warf einen besorgten Blick zurück und beugte sich hinunter.

„Lauf rasch zu den Büschen rüber und versteck dich. Und du kommst erst wieder raus, wenn ich es dir sage. Haben wir uns verstanden?“

Ein zaghaftes Nicken.

Mit hoch erhobenem Haupt schritt sie weiter, während sich ihre Hände an dem Trageriemen der Handtasche festklammerten. Urplötzlich waren ihre Sinne geschärft und sie konnte instinktiv die Gefahr spüren, die von den Schritten ausging. Kräftig, zielstrebig, hart.

Sie schloss daraus, dass es sich um einen Mann handeln musste und dass er es mit Sicherheit auf sie abgesehen hatte. In Gedanken ging sie sämtliche Personen durch, mit denen sie Kontakt gehabt hatte. Aber ihr fiel niemand ein, der einen Groll gegen sie hegen könnte. Schließlich lebte sie sehr zurückgezogen, ohne flüchtige Bekanntschaften, wie sie heutzutage üblich waren. Mit Sex hatte sie nie viel am Hut gehabt.

Der Abstand verringerte sich zusehends und die Schritte, die auf dem Pflaster hallten, wurden lauter und harscher. Bitte lass den Kelch an mir vorüberziehen, dachte sie besorgt, und erhöhte ihr Tempo. Inzwischen hetzte sie wie ein gejagtes Tier den Weg entlang und wollte nur noch entkommen, bis sie plötzlich an der Schulter zurückgerissen wurde und das Gleichgewicht verlor. Zwei kräftige Hände drückten sie auf den Boden und verschlossen ihre Lippen.

„Halt den Mund“, zischte eine Männerstimme, die sie noch nie zuvor gehört hatte.

Sie nickte unter Tränen, dann schlossen sich die starken Hände um ihren Hals und drückten zu. Genau in diesem Moment setzte ihr Überlebenswille ein, denn sie wollte noch nicht sterben – nicht jetzt und nicht an diesem Ort.

Ihre Nägel hinterließen tiefe Kratzer auf der Haut des Angreifers, doch das hielt ihn nicht davon ab, noch fester zuzudrücken. Sie strampelte mit den Beinen, schlug diesem Monster ins Gesicht, doch er zuckte nicht einmal zusammen.

Ihre Lungen schienen zu zerbersten und sie rang verzweifelt nach Luft. Bitte, flehte sie erneut, lass mich ungeschoren entkommen!

Ein letztes Mal bäumte sie sich auf und versuchte, die Hände von ihrem Hals zu lösen. Doch der Mann schien geübt darin zu sein, so als würde er nicht zum ersten Mal töten. Der Himmel verschwamm vor ihren Augen und sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie würgte, keuchte, schnappte nach Luft. Vergebens.

Leblos rutschten ihre Arme zu Boden, als er endlich von ihr abließ. Ihr eben noch so lebendiger Blick wurde starr und blind. Sie hatte die Welt der Lebenden verlassen.

1

Ich bringe dich um, du Mistkerl“, schrie Helene Lund im Aufenthaltsraum, stemmte sich aus ihrem Rollstuhl und riss Pfleger Fynn, ein schmächtiges Bürschchen, zu Boden. Ihre Fäuste sausten wie im Trommelfeuer auf ihn nieder, doch innerhalb von Sekunden war Fynn wieder auf den Beinen und fixierte Helenes Handgelenke.

Sie schrie und kreischte und er war jedes Mal aufs Neue überrascht, wie viel Kraft noch in dieser Frau steckte. Helin eilte ihm zu Hilfe und zusammen gelang es ihnen, Helene in ihr Zimmer zu bringen und sie ruhigzustellen.

„Puh …“, Fynn wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. „Wann soll Helene operiert werden?“, fragte er.

„In ein paar Tagen wird sie ins Krankenhaus verlegt. Aber die Chancen stehen fifty-fifty, dass der Tumor restlos entfernt werden kann“, antwortete Helin.

„Ihr Zustand hat sich dramatisch verschlechtert, seit der Tumor noch mehr aufs Gehirn drückt.“

„Ich weiß“, seufzte Helin. „Ich kann nur hoffen, dass die OP glückt. Sonst wird sie wohl täglich fixiert werden müssen, die Arme“, erwiderte Helin bedauernd.

„Stimmt, Helenes Aggressivität hat sich enorm gesteigert. Anfangs hatte ich ja den Verdacht, dass es eventuell an Krister liegen könnte, dem neuen Stationsleiter. Aber als kurz darauf der Hirntumor bei Helene diagnostiziert wurde, war alles klar.“

Frida Holm, die Psychiaterin und leitende Angestellte der Klinik, kam ihnen entgegen. Ihr intensives blumiges Parfum kündigte sie schon von Weitem an. Sie trug einen weißen Kittel und darunter ein graues, modern geschnittenes Kostüm, das ihre schlanke Figur betonte. Die Haare waren zu einem strengen Dutt hochgesteckt und wollten so gar nicht zu ihren sanften blauen Augen passen.

Aber hinter der hübschen Fassade verbarg sich ein äußerst wacher und intelligenter Geist, der in Sekundenschnelle die Situation erfassen konnte. Frida Holm leitete die Klinik mit strenger Hand und war sehr auf das Wohl ihrer Patienten bedacht. Eine Seltenheit in diesem Bereich.

„Konntet ihr sie beruhigen?“, wandte sie sich an Fynn.

„Nicht so ganz, wir mussten ihr leider eine Spritze verabreichen“, erklärte er.

„Tja, dann drücken wir Helene die Daumen, dass sie die Operation gut übersteht.“

„Aber immer doch“, antwortete Finn lächelnd.

„Ich wünsche euch einen entspannten Feierabend“, sagte sie.

„Danke“, erwiderten Fynn und Helin zeitgleich.

Unter Fridas Führung herrschte ein angenehmes Arbeitsklima und alle duzten sich. Helin bedauerte, schon bald die Kündigung einreichen zu müssen, aber das war nun einmal ihr Schicksal.

Stationsleiter Krister, ein fitter Mann Mitte vierzig, saß in seinem Büro und brütete über den Berichten.

„Mann, Mann, Mann, immer dieser elende Schreibkram“, fluchte er.

„Hey, du hast dich auf diese Stelle beworben und bist jetzt hier. Also meckere nicht herum“, grinste Fynn.

Krister schnaubte. „Wolltest du nicht Feierabend machen, du Grünschnabel?“

„Bitte keine Beleidigungen“, erwiderte Fynn immer noch grinsend.

Genau wie Frida Holm war auch Krister recht beliebt unter Patienten und Kollegen, nur Helin wurde nicht so recht warm mit ihm. Sie hatte keine Ahnung, woran das liegen könnte, wahrscheinlich, weil sie doch lieber mit weiblichen Pflegekräften zusammenarbeitete.

„Nun kommt schon, Fynn. Oder willst du hier übernachten?“

Sie knuffte ihn sanft in die Seite.

„Wenn, dann nur als Patient“, lachte er und verließ mit Helin das Büro.

„Hast du heute schon etwas vor?“, fragte er Helin.

Sie verkniff sich ein Lachen. Fynn zeigte deutlich sein Interesse an ihr, aber sie war nur auf ein freundschaftliches Verhältnis aus. Was sollte das auch bringen mit ihrer Schwester im Schlepptau? Sie konnte sich nicht eben einmal in die Arme eines Liebhabers flüchten, und sei es nur für zwei Stunden.

„Nein“, lautete ihre knappe Antwort.

„Und morgen?“

Sie stoppte ihre Schritte und schaute zu ihm auf.

„Fynn, ich kann nicht, das weißt du ganz genau“, erwiderte sie und lief weiter.

„Aber das ist doch kein Leben …“, rief er ihr hinterher.

„Wem sagst du das?“

Helin zuckte nur mit den Schultern und ließ ihn stehen. Sie öffnete die Tür zur Umkleide, riss sich die verschwitzen Kleidungsstücke vom Leib und trat unter die Dusche. Das warme Wasser prasselte auf sie nieder und löste einen Teil der Verspannungen. Sie könnte hier ewig so stehen und sich berieseln lassen, aber das war leider nicht möglich. Sie tastete nach dem Handtuch und wickelte es sich um den Oberkörper. Dann wischte sie mit der Handfläche das Kondenswasser vom Spiegel.

Nachdenklich betrachtete sie ihr Spiegelbild. Das blasse sorgenvolle Gesicht einer jungen Frau blickte ihr entgegen und die dichten schwarzen Wimpern verstärkten den Ausdruck von Melancholie. Die vollen Lippen hatte sie zu einem schmalen Strich gepresst und in den blaugrünen Augen schien jede Lebensfreude erloschen.

Frustriert wandte sich Helin ab und streifte sich Jeans und Shirt über. Dann schnappte sie sich ihren Rucksack, verschloss den Spind und lief mit schnellen Schritten zum Wagen. Der alte klapprige Volvo hatte seine besten Jahre schon hinter sich. Sie warf den Rucksack nach hinten auf die Rückbank und startete den Motor.

Ari, ihre ältere Schwester, war in einer speziellen Einrichtung untergebracht. Ari litt seit ihrer Geburt unter Autismus und war auf Helins Hilfe angewiesen. Vor ein paar Tagen hatte sie ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert, während Helin erst fünfundzwanzig Jahre alt geworden war. Seit dem Tod ihrer Mutter vor zehn Jahren kümmerte sich Helin aufopferungsvoll um ihre Schwester. Einen Vater gab es nicht. So lastete die gesamte Verantwortung allein auf ihren Schultern und sie hatte tagtäglich das Gefühl, vom Leben regelrecht erdrückt zu werden.

Und ausgerechnet jetzt schien es so, als würden sich die Sorgen vermehrt häufen. Die Albträume ihrer älteren Schwester, die sie seit dem Tod ihrer Mutter plagten, traten wieder häufiger auf. Dabei hatten sie sich in Varberg richtig wohlgefühlt. Das beschauliche Städtchen lag direkt am Meer mit seinem Kaltbadehaus, das auf Stelzen erbaut worden war, und seiner historischen Altstadt, die die größten Marktplätze Schwedens aufweisen konnte. Auf malerischen Spazierwegen gelangte man an den Strand oder in den Buchenwald Åkulla.

Helin stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie und ihre Schwester blieben nie länger an einem Ort und zogen immer wieder um. Nur ihren positiven Arbeitszeugnissen war es zu verdanken, dass sie stets über ein geregeltes Einkommen verfügte. Gute Pflegekräfte waren rar und Helin wurde meist ohne große Probleme sofort eingestellt.

Der Grund für den immer wiederkehrenden Ortswechsel war Aris Angststörung vor Schmetterlingen, die sie seit dem Tod ihrer Mutter entwickelt hatte. Wann immer ein Insekt über sie hinwegflatterte, fing sie hysterisch an zu kreischen und schlug wild um sich. Sie fühlte sich von ihnen verfolgt und behauptete, dass die Schmetterlinge absichtlich ihre Mutter getötet hätten. Doch ein Zusammenhang konnte damals nie bewiesen werden.

Mittlerweile war es wieder so weit, dass sich Ari in die Enge getrieben fühlte. Sie tobte sich an ihrem Waschzwang aus und behauptete, dass es die Schmetterlinge wiederholt auf sie abgesehen hätten. Dabei wäre Helin diesmal so gern länger geblieben, denn sie hatte einen jungen Mann kennengelernt, den sie sehr mochte. Ein zurückhaltender Mensch mit blitzenden Augen und einem hübschen Gesicht, der auch an ihr schüchternes Interesse gezeigt hatte.

Die wenigen Liebschaften, die es in ihrem Leben gegeben hatte, konnte sie an einer Hand abzählen. Sobald sie das Outing vollzogen hatte, dass sie mit ihrer autistischen Schwester zusammenlebte, waren die meisten Typen auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

Nun gut, nächste Stadt, neues Glück. Helin hatte sogar schon angefangen zu packen. Sie besaßen nicht viel, ihr gesamtes Hab und Gut passte in ein Dutzend Umzugskartons. Es war ein unstetes Leben, dessen sie nicht nur einmal überdrüssig geworden war.

Dabei hatte ihr das Städtchen Varberg ausgesprochen gut gefallen. Das Meer mit seinen flammenden Sonnenuntergängen, der weiche Sand und die herrlich salzige Luft, die sie durchatmen ließ. Helin hatte sich bereits auf die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle begeben und war in Skara fündig geworden. Bereits in zwei Wochen könnte sie anfangen.

Helin bog an der Ampel rechts ab, dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie stellte den Volvo vor dem Gebäude ab und Ari kam ihr entgegengelaufen.

„Du bist zwei Minuten zu spät, ganze zwei Minuten zu spät“, rief sie aufgebracht.

„Tut mir leid, Ari, aber der Feierabendverkehr hat mich aufgehalten.“

Ari erwiderte nichts, umrundete stattdessen den Wagen und ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen. Ihr über alles geliebtes Skizzenbuch hatte sie wie üblich fest an ihren Oberkörper gepresst. Sie malte für ihr Leben gern und konnte sich die Umgebung haargenau einprägen. Inselbegabung war der Fachbegriff dafür und Ari träumte davon, einmal Bücher und Zeitschriften illustrieren zu dürfen. Doch bis jetzt hatte sich kein Verlag ernsthaft dafür interessiert, was Helin sehr bedauerte.

„Warum fährst du nicht los?“

„Entschuldige, ich war in Gedanken“, murmelte Helin und scherte aus der Parklücke. „Was möchtest du essen?“

„Fischeintopf, ich will Fischeintopf, so wie Mama ihn immer gemacht hat.“

„Soll ich kochen oder sollen wir ins Restaurant?“, fragte Helin.

„Restaurant, Restaurant“, antwortete Ari und strahlte. „Du kannst nicht gut kochen.“

Ari fehlte die Empathie. Sie konnte sich weder in andere Menschen hineinversetzen oder noch deren Gesichtsausdrücke richtig interpretieren. Manchmal war Aris Ehrlichkeit für Helin ein Schlag ins Gesicht, wo sie doch tagein und tagaus dazu verdammt war, sich um ihre autistische Schwester zu kümmern. Aufgrund der Anfälle, unter denen Ari litt, war eine spezielle Einrichtung, in der Ari für immer bleiben konnte, keine Option. Denn sobald die Schmetterlinge auftauchten, geriet sie in Panik und wollte nur noch weg. So wie jetzt …

„Fahren wir gleich hin, ja? Gleich?“

Aris Augen blitzten. Wenn sie etwas wollte, war sie nicht zu bremsen und da nützte es wenig, wenn Helin mit Engelszungen auf ihre Schwester einredete.

„Okay, du hast gewonnen. Ich werde abbiegen.“

Helin lenkte den Wagen in Richtung Strand. Dort gab es ein kleines Restaurant, das eine köstliche Fischsuppe preiswert anbot und die große Terrasse mit Blick aufs Meer rundete den Besuch ab. Leider war die Uhrzeit recht ungünstig und Helin bezweifelte, dass sie noch einen freien Tisch ergattern würden.

Sie stellte den Volvo etwas abseits ab und machte sich mit Ari auf den Weg. Die Luft war mild und es roch nach Algen und Sonnencreme. Schon bald hörten sie die Wellen rauschen und die Möwen kreisten über ihnen.

„Ich bin immer gern hier gewesen“, sagte Helin bedauernd.

„Mhm“, antwortete Ari abwesend.

Ihre Schwester hatte den Blick starr nach vorn gerichtet und konnte es kaum erwarten, ihren leeren Magen zu füllen. Als sie einen freien Platz auf der Terrasse entdeckte, stürmte sie los und stieß einen älteren Mann beiseite, die sich gerade an den Tisch setzen wollte.

„Unverschämtheit“, polterte er los und packte Ari am Ärmel, um sie wegzuzerren.

„Fass mich nicht an, fass mich nicht an“, kreischte Ari, die Berührungen von Fremden verabscheute wie der Teufel das Weihwasser.

Helin spurtete, was ihre Beine hergaben, und erreichte atemlos die Terrasse. „Entschuldigen Sie bitte, meine Schwester ist …“

„Es interessiert mich nicht, was Ihre Schwester ist. Ich bin zuerst an dem Tisch gewesen.“

Sein Blick war grimmig, während Ari noch immer angewidert versuchte, seinen Handabdruck abzuwischen. Nochmals versuchte Helin zu vermitteln.

„Sie ist Autistin und ich möchte Sie bitten, Rücksicht zu nehmen.“

Inzwischen waren die Blicke der anderen Gäste auf sie gerichtet und der Mann hielt es nun doch für das Beste, sich zurückzuziehen.

„Ist ja schon gut, ich überlasse Ihnen den Tisch“, erwiderte er peinlich berührt und entfernte sich rasch.

Ari zupfte noch immer am Ärmel ihres Shirts, hatte sich aber so weit beruhigt, dass sie bleiben konnten. Helin gab der Servicekraft ein Zeichen, um die Fischsuppe zu bestellen.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie an Ari gewandt.

„Du musst mein Lieblingsshirt waschen, unbedingt waschen“, antwortete Ari. „Der Mann war gemein, er darf mich nicht anfassen.“

Helin beruhigte ihre Schwester, bevor diese sich wieder hineinsteigerte. Ari konnte in Sekundenschnelle von null auf hundert wechseln und war dann nur schwer wieder auszubremsen.

Nach einer Viertelstunde wurde ihnen die Fischsuppe serviert und sie leerten die Teller.

„Hmmm, das war lecker“, sagte Ari und machte eine kreisende Handbewegung auf ihrem Bauch.

„Das freut mich. Können wir jetzt nach Hause fahren?“

Helin war vom Dienst erschöpft und sehnte sich danach, die Beine hochzulegen.

„Ja, können wir, können wir“, antwortete Ari.

Helin zahlte und sie schlenderten gemächlich zum Fahrzeug zurück. Obwohl es ein entspannter Abend war, drehte sie sich mehrmals um, weil sie sich beobachtet fühlte. Wahrscheinlich spielten nur ihre Nerven verrückt, so wie immer, wenn es an der Zeit war, weiterzuziehen.

„Du hast mir noch gar nicht erzählt, was ihr heute gemacht habt“, sprach Helin, als sie wieder in den Volvo gestiegen waren.

Ari verzog das Gesicht. „Wir haben Türgriffe poliert. Dabei möchte ich viel lieber malen.“

„Ich weiß“, seufzte Helin. „Aber wir bleiben dran, versprochen. Irgendwann wird es klappen, davon bin ich felsenfest überzeugt.“

„Aber morgen fahren wir zu Alvar Lund, ja?“

„Natürlich. Ich habe mir doch extra freigenommen, damit wir uns die besten Plätze aussuchen können.“

Alvar Lund war der Lieblingsschriftsteller von Ari. Sie hatte jedes seiner Bücher verschlungen und war ein begeisterter Fan. Nun würde sie endlich eine seiner äußerst seltenen Lesungen besuchen und ihm zum ersten Mal begegnen. Das absolute Highlight in Aris Leben.

Helin drosselte die Geschwindigkeit, denn sie hatten das Haus, in dem sie wohnten, erreicht. Nachdem sie den Wagen auf dem gemieteten Parkplatz abgestellt hatte, stiegen sie aus und liefen nach oben in den zweiten Stock. Kaum hatte Helin die Tür aufgeschlossen, war Ari auch schon in ihrem Zimmer verschwunden. Na schön, dachte sie, dann habe ich ein wenig Zeit für mich. Sie öffnete das Fenster, um die milde Abendluft hineinzulassen.

Plötzlich begann Ari laut zu kreischen und stürmte ins Badezimmer, wo sie unter lautem Gezeter die Toilettenspülung betätigte.

„Himmel, Ari, was ist in dich gefahren?“, rief Helin bestürzt.

„Schmetterling, Schmetterling …“, rief sie und zeigte auf das WC.

„Schhhhhh … alles ist gut.“

Helin umarmte ihre Schwester und klopfte ihr dabei beruhigend auf den Rücken. Aris Schreie verwandelten sich in ein Schluchzen und ihre Schultern bebten.

Es ist also tatsächlich wieder so weit, dachte Helin betrübt und führte ihre Schwester behutsam ins Wohnzimmer, wo sie sie in den Sessel drückte. Dann kniete sie sich vor ihrer Schwester nieder und ergriff ihre Hände.

„Bitte Ari, was ist passiert?“

„Schmetterling, Schmetterling …“, murmelte ihre Schwester mit einem entsetzten Gesichtsausdruck.

„Bitte, ganz ruhig“, ermahnte Helin sie. „Was hast du in der Toilette hinuntergespült?“, hakte sie nochmals nach.

„Den Schmetterling.“

„Eine richtigen Schmetterling?“

„Mhm.“ Ari nickte.

„Darf ich nachsehen?“

„Mhm.“

Helin verschwand im Badezimmer und sah, dass im Wasser tatsächlich einige dunkle Schuppen eines Schmetterlings schwammen. Das Insekt konnte sich unmöglich in die Wohnung verirrt haben, da Helin während ihrer Abwesenheit sämtliche Fenster verschlossen hatte. Schließlich wusste sie ganz genau, wie ihre Schwester reagieren würde. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, zitterte Ari noch immer wie Espenlaub.

„War der Schmetterling schon tot?“

„Ja, schon tot, schon tot“, echote Ari. „Auf meinem Kopfkissen …“

Helin suchte das Zimmer ihrer Schwester auf, in dem alles seinen festen Platz hatte. Kein Gegenstand durfte bewegt oder gar umgestellt werden, weil das sofort Aris fragiles seelisches Gleichgewicht aus der Balance bringen würde. Helin hockte sich vor das Bett und entdeckte auch auf dem blütenweißen Kopfkissen die farbigen Schuppen des Schmetterlings. Es bestand kein Zweifel – jemand musste während ihrer Abwesenheit in der Wohnung gewesen sein.

„Wir müssen hier weg“, beschwor Ari ihre Schwester. „Aber erst morgen, nach der Lesung, ja? Erst morgen.“

„Wir werden erst die Lesung besuchen und dann umziehen. Versprochen.“

Helin kehrte in Aris Zimmer zurück und wechselte die Bettwäsche. Anschließend durchsuchte sie die gesamte Wohnung, um weitere böse Überraschungen auszuschließen. Nach einer heftigen Diskussion konnte sie Ari endlich dazu bewegen, in ihrem Zimmer zu schlafen. Sie wünschte ihr eine gute Nacht und suchte dann ihr Zimmer auf.

Mit verschränkten Armen starrte sie gedankenverloren an die Decke. Bis zum heutigen Tag war es ihr nicht gelungen, das Geheimnis der Schmetterlinge zu lüften. Ari schwieg beharrlich und wollte keinesfalls preisgeben, was sie an diesen wunderschönen Wesen so erschreckte. „Ich werde sterben, wenn ich es dir erzähle“, hatte sie immer wieder verstört behauptet.

Natürlich hatte Helin ihre Schwester schon verschiedenen Psychiatern vorgestellt, die am Ende jeder Sitzung meist genauso ratlos waren wie sie selbst. Ari verweigerte sich, starrte stumm auf ihre Finger und gab keinen Mucks von sich.

Helin drehte sich seufzend auf die Seite und schaute zum Fenster. Die untergehende Sonne tauchte das schmale Zimmerchen in ein sanftes Orange. Die Welt könnte so wunderbar sein ohne die Sorgen, die schwer auf Helins Schultern lasteten.

Ari und sie waren in Älvsered aufgewachsen, nur eine knappe Stunde Fahrzeit von Varberg entfernt. Sie konnte sich noch gut an den Abend erinnern, als ihre Mutter sie als Achtjährige zur Seite genommen hatte.

„Du weißt, wie sehr ich euch lieb habe, nicht wahr?“, hatte ihre Mutter gesagt und Helin ein stummes Nicken abgerungen. „Euer Vater hat sich leider aus dem Staub gemacht, weil er mit dem Autismus seiner Erstgeborenen nicht zurechtgekommen ist. Ich habe schon sehr früh erkannt, dass ich mich nicht auf ihn verlassen kann, und aus diesem Grund bist du geboren worden.“

Ava hatte eine kurze Pause gemacht und die Schultern ihrer Tochter umfasst.

„Sollte mir je etwas zustoßen, dann musst du dich um Ari kümmern, denn das ist deine einzige Bestimmung“, fuhr sie mit eindringlichem Blick fort.

Die Worte ihrer Mutter waren damals für sie ein Schock gewesen. Nicht aus Liebe geboren worden zu sein, sondern als Aufsichtsperson für ihre autistische Schwester zu fungieren, war für Helin ein Schlag ins Gesicht gewesen, von dem sie sich nie richtig erholt hatte.

Schon vorher war ihr bewusst gewesen, dass ihre Mutter Ari bevorzugte, ihr all die Aufmerksamkeit schenkte, nach der sich Helin so verzehrt hatte. So gut wie immer hatte sie an zweiter Stelle gestanden und Verzicht geübt. Wenn ihre Mutter im Schichtdienst arbeitete, dann war es schon damals ihre Pflicht gewesen, auf Ari aufzupassen. Dabei wäre sie viel lieber mit ihren Freunden um die Häuser gezogen oder hätte mit ihnen Verstecken oder Fangen gespielt. Stets hatte sie Ari im Schlepptau und wurde schließlich von ihren Freunden gemieden.

Helin stieß erneut einen tiefen Seufzer aus. Lara, ihre beste Freundin aus Kindertagen, hatte vor einer Woche Zwillinge entbunden und die Fotos waren für Helin ein Stich mitten ins Herz gewesen. Die strahlende frisch gebackene Mutter hatte jeweils rechts und links stolz ihre Kinder im Arm gehalten.

Doch dieses Glück würde Helin niemals zuteilwerden, egal wie sehr sie sich danach sehnte. Schon oft hatte sie darüber nachgedacht, Ari in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen, aber dazu fehlte ihr einfach der Mut. Ihre Schwester war ein schwieriger Mensch, dennoch liebte Helin sie mit all ihren Schwächen.

2

Alvar saß am Schreibtisch, wandte den Blick von seinem Bildschirm ab und schaute auf die Wiese, die sich hinter dem Haus erstreckte. Ein buntes Blütenmeer, seitdem er dem Gärtner das Mähen verboten hatte.

Das große Gut samt weiß gestrichenem Herrenhaus lag versteckt zwischen unzähligen Feldern und Wald außerhalb von Varberg. Früher hatten die Großeltern väterlicherseits ein Gestüt betrieben und das schwedische Warmblut gezüchtet. Aber das war lange vorbei. Die einst so prächtigen weißen Holzzäune waren größtenteils verrottet und die Natur eroberte sich Stück für Stück alles wieder zurück. Nur die vergilbten Fotografien an den Wänden im Flur erinnerten an den Glanz alter Zeiten.

Das Haus war allerdings gut in Schuss, Alvar hatte ein Vermögen investiert. Sein Vermögen. Er hatte das geschafft, von dem jeder Schreiberling träumte – den ultimativen Bestseller. Und weil er unter einem geschlossenen Pseudonym schrieb und kaum jemand etwas über ihn wusste, wurde er auch nicht von ungebetenen Besuchern behelligt.

Seinem Verlag war dieser Umstand jedoch ein Dorn im Auge, denn man hätte die Bücher mit einem Foto des jungen, gut aussehenden Mannes auf der Rückseite deutlich besser vermarkten können. Das war allerdings ein No-Go für Alvar, der sehr zurückgezogen lebte und nicht viel mit seinen Mitmenschen anzufangen wusste. Er erschuf Welten, in denen nur er zu Hause war, und manchmal beängstigte ihn der Umstand, dass bereits Millionen von Menschen seine Gedanken gelesen hatten.

Er genoss die milde Sommerluft, die eine leichte Brise durch das geöffnete Fenster in sein Büro hereinwehte. Es roch nach Blumen und Heu und er konnte sich glücklich schätzen, hier wohnen zu dürfen. Obwohl es manchmal schon recht einsam war und ihm zeitweise die Decke auf den Kopf fiel. Auch im Haus ging es hin und wieder unheimlich zu. Türen klappten des Nachts oder es verschwanden Dinge, die am nächsten Tag überraschend an anderer Stelle wieder auftauchten.

Aber genau diese teils gruselige Atmosphäre trug dazu bei, seinen Kriminalromanen den richtigen Kick zu verleihen. Alvar nahm den Laptop stets mit ins Schlafzimmer. Sobald er wieder einmal des Nachts aufschreckte und nicht mehr zurück in den Schlaf finden konnte, klappte er das Gerät auf und begann zu schreiben. Sein Allheilmittel gegen die Vergangenheit und die Zukunft.

Hin und wieder war es schon ein beängstigender Gedanke, für immer an diesen Ort gebunden zu sein, nichts Neues zu erleben und im Gleichklang der Tage mitzuschwingen. Aber er machte sich wenig Hoffnung, dass irgendwann jemand kommen würde, um ihn zu lieben und aus diesem Dilemma zu befreien.

Das laute Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ja bitte.“

„Herr Lund, ich habe alle Zimmer geputzt“, sagte Irma Tegnell.

„Wunderbar.“ Alvar erhob sich und griff nach einem Umschlag, den er Irma überreichte. „Dann sehen wir uns in vier Wochen wieder.“

Irma nickte lächelnd und verstaute den Umschlag in ihrer Tasche.

„Falls Sie eine Köchin suchen, meine Nichte hat ihre Ausbildung beendet und ist auf Stellensuche. Ein hübsches junges Ding.“

„Vielen Dank, aber ich kann mich ganz gut selbst versorgen“, antwortete er nun ebenfalls lächelnd.

„Ich will Sie ja nicht rügen, aber Ihr Kühlschrank ist so gut wie leer. Wie wollen Sie sich da gesund ernähren?“

In ihrer Stimme schwang ein vorwurfsvoller Ton.

„Ich weiß Ihre Bemühungen sehr zu schätzen, aber ich brauche absolute Ruhe beim Schreiben.“ Er schob Irma in Richtung Tür. „Nochmals vielen Dank.“

Irma Tegnell hatte endlich verstanden und verließ das Arbeitszimmer. Alvar atmete erleichtert auf. Sie versuchte immer wieder, die Mitglieder ihrer recht großen Familie bei ihm unterzubringen, was ihm ab und zu gehörig auf die Nerven ging. Er mochte Irmas Diskretion und ihre penible Arbeitsweise, und das sollte auch in Zukunft so bleiben. Er ahnte, dass sie diesmal auf sein Singledasein angespielt hatte, aber das ging sie prinzipiell nichts an. Er wollte einfach nur seine Ruhe … und schreiben.

Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und nahm wieder Platz. Kaum hatte er einen weiteren Absatz getippt, fiel direkt über ihm ein Gegenstand zu Boden. Verwundert hielt er inne. War Irma doch noch nicht gegangen?

Er öffnete die Flügeltüren und lauschte. Nichts.

„Irma, sind Sie noch da?“

Stille.

„Irma?“

Alvar wusste, dass sie nicht in seinen Sachen herumschnüffeln würde. Dennoch wollte er auf Nummer sicher gehen und trat in den Flur. Auf leisen Sohlen näherte er sich der Treppe und legte die Hand auf das Geländer. Er vermied es, die obere Etage aufzusuchen. Dort oben befanden sich sein altes Jugend- und das elterliche Schlafzimmer und er verknüpfte keine guten Erinnerungen daran.

Er atmete noch einmal tief durch und setzte den Fuß auf die erste Stufe, die leise unter seinem Gewicht knarrte. So lautlos wie möglich stieg er nach oben und verharrte dann bewegungslos, um zu lauschen. Ausgerechnet jetzt war es still wie in einer Gruft. Manchmal hatte er sogar den Verdacht, dass sich jemand einen üblen Scherz mit ihm erlauben würde, um ihn absichtlich zu verunsichern und aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen.

Vorsichtig drückte er die Klinke zum elterlichen Schlafzimmer herunter und stieß die Tür auf. Gähnende Leere. Nur einige Staubflocken tanzten im einfallenden Sonnenlicht. Die restaurierten Möbelstücke waren mit weißen Laken abgedeckt, was dem Raum einen etwas gespenstischen Touch verlieh.

Erinnerungsfetzen tauchten auf und Alvar verscheuchte sie mit einer imaginären Handbewegung. Seine Eltern waren kein glückliches Paar gewesen und er würde ihre Verbindung als eine Art Hassliebe bezeichnen. Sein Vater Anders hatte die unschöne Angewohnheit gehabt, für einige Tage zu verschwinden, ohne eine einzige Nachricht zu hinterlassen. Das hatte bei seiner Mutter oft zu hysterischen Anfällen geführt. Bis eines Tages die ganze Geschichte eskaliert war …

Alvar drehte sich ruckartig um. Hatte er nicht eben das leise Rascheln von Stoff vernommen?

Mit einem Satz war er an der Tür und scannte den Flur mit Blicken, aber es war niemand zu sehen. Tja, vielleicht sollte er doch das Gut verkaufen und irgendwo neu anfangen. Wobei dieses Anwesen seinem Image als Krimiautor durchaus gerecht wurde.

Er kehrte noch einmal ins Schlafzimmer zurück und kroch auf den Dielen herum, um nach dem Gegenstand zu suchen, der heruntergefallen war.

„War ja klar …“, murmelte er und klopfte sich den Staub von den Hosen. In diesen Zimmern wurde nur einmal jährlich geputzt.

Frustriert stieg er die Treppe wieder nach unten und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Müde rieb er sich über die Augen, für heute hatte er genug. Die Seitenzahl, die er sich täglich auferlegte, war getippt und sein Magen knurrte. Bevor er sich ein Glas Wein einschenkte und ein gutes Buch aus der Bibliothek holte, bestellte er sich noch ein Menü beim hiesigen Lieferservice. Dann zog er sich auf die Terrasse zurück, um den Abend in aller Stille ausklingen zu lassen.

Entspannt lehnte er sich im Korbstuhl zurück und schloss für einen Moment die Augen. Eine sanfte Brise strich über seine Haut und fröhliches Vogelgezwitscher drang vom Waldrand herüber. Der Wind ließ die Baumkronen leise rauschen.

Es war gut, so wie es war.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Alvar an die mit Stuck verzierte Decke seines Schlafzimmers. Der Vollmond schien von einem rabenschwarzen Nachthimmel und erhellte den Raum mit seinem silbernen Licht.

Direkt über Alvar schwebte sein Vater, das Gesicht zu einer grotesken Maske verzerrt. Blut rann aus seinem Mund und tropfte auf die weiße Bettwäsche. Alvar formte den Mund zu einem Schrei, doch nur ein gurgelnder Laut verließ seine Kehle. Er war gefangen in seinem Körper, wieder einmal.

Die Anfälle einer Schlafparalyse häuften sich in letzter Zeit und er hatte sich schon mehrmals gefragt, woran das wohl liegen könnte. Sein Vater war dann in den Albträumen stets präsent – und davor fürchtete sich Alvar am meisten. Er unterdrückte diese Erinnerungen mit aller Macht, doch das Unterbewusstsein belehrte ihn eines Besseren. Es wollte sich Gehör verschaffen, wollte, dass Alvar endlich alles aufarbeitete. Doch genau das wollte er tunlichst vermeiden.

Die Minuten verstrichen und kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Das Atmen fiel ihm schwer und es dauerte, bis das Bildnis seines Vaters über ihm verblasste. Erst als die Morgenröte am Horizont aufzog, war der Spuk vorbei. Warum musste er ausgerechnet einer dieser Fälle sein, die ein Psychiater als Extremfall bezeichnen würde.

3

Aufstehen, mein Schatz, der Kaffee ist fertig.“

Alex küsste Linda flüchtig auf die Stirn und sie schlug blinzelnd die Augen auf.

„Du bist schon wach? Ich habe den Wecker gar nicht gehört“, sagte sie.

„Den habe ich ausgestellt. Unsere erste große Reise, da konnte ich vor Aufregung kaum schlafen. Ich hatte immer das Gefühl, etwas vergessen zu haben.“

Linda strich ihm zärtlich durchs Haar und lächelte. „Du bist schon ein Unikum“, schmunzelte sie.

„Ich muss doch sehr bitten“, erwiderte er mit gespielt ernster Miene.

„Ich bin kurz im Bad“, sagte sie und schlug die Bettdecke zurück. Nachdem sie sich frisch gemacht und angezogen hatte, setzte sie sich zu Alex an den Frühstückstisch. Sie unterdrückte ein Gähnen und griff zum Toast. „Elina schläft noch?“, fragte sie.

„Ja. Lillemor wird pünktlich um halb sieben eintrudeln, um ihr Frühstück zu machen.“

„Ich muss mich noch daran gewöhnen, dass sie ab und zu bei ihrem Freund schläft. Dass sich diese Beziehung so schnell entwickeln würde, hat mich dann doch überrascht“, antwortete Linda.

„Das geht mir genauso“, brummte Alex. „Aber sie wird in Kürze volljährig und es ist ihre erste große Liebe. Wir werden Lillemor ziehen lassen müssen.“

Auch in seinen Worten klang Wehmut mit, obwohl er nicht der leibliche Vater war. Das rechnete Linda ihm hoch an.

„Hauptsache, die Mädchen kommen allein zurecht“, seufzte Linda. „Es fällt mir wirklich nicht leicht, sie …“

„Wir haben uns die Flitterwochen redlich verdient, mach dir bitte nicht so viele Gedanken“, unterbrach Alex sie. „Nach dem Schulschluss wird Elina zu den Nachbarn gehen und dort auch übernachten. Du weißt doch, wie sehr sie sich darauf gefreut hat.“

„Natürlich“, stimmte Linda ihm zu. „Ich muss akzeptieren, dass meine Mädchen flügge werden, egal wie schwer es mir fällt.“

„So gefällst du mir schon viel besser.“

Nach dem Frühstück spülte Linda noch rasch das Geschirr, dann stieg sie mit Alex in den Wagen. Es war kurz nach sechs, als er den Motor startete, um nach Varberg ans Meer zu fahren.

„Jetzt sind wir offiziell in den Flitterwochen“, freute sich Alex, als er auf die Schnellstraße bog. „Mach doch noch ein wenig die Augen zu. Ich werde dich wecken, wenn wir da sind“, schlug er vor.

„Alles klar, dein Wunsch ist mir Befehl“, erwiderte Linda und kuschelte sich in das Polster.

Linda schob die Glastür auf und trat auf den Balkon. Der Blick aufs Meer war überwältigend.

„Das ist herrlich hier“, rief sie, streckte die Arme aus und sog die Meeresbrise in ihre Lungen. Es roch nach Tang und frittiertem Fisch. Die Möwen zogen am Himmel ihre Kreise und hielten nach Fressbarem Ausschau. „Was hältst du von einem Strandspaziergang.“

„Jetzt?“

„Warum nicht? Das Wetter ist bombastisch und vielleicht können wir unterwegs einen Kaffee trinken.“

„Oh ja, gegen einen Kaffee hätte ich nichts einzuwenden“, erwiderte Alex. „Die Koffer können wir schließlich auch später auspacken.“

„Sag ich doch.“

Linda stellte sich auf die Zehenspitzen, um Alex einen Kuss auf die Wange zu drücken. Dann griff sie nach seiner Hand und gemeinsam verließen sie das Hotelzimmer.

Der breite weiße Sandstrand war gut besucht und Alex und Linda schlenderten am Wasser entlang. Die seichten Wellen umspülten ihre nackten Füße und zum ersten Mal nach all der Zeit fiel ein Teil der Anspannung von ihr ab. Der letzte Fall hatte Narben auf ihrer Seele hinterlassen – mehr, als sie sich anfangs hatte eingestehen wollen. Sie schaute auf das antike Badehaus, das auf Stelzen im Meer stand.

„Ein wunderschöner Ort und ich freue mich auf die erholsamen Tage, die vor uns liegen.“

Alex legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie näher zu sich heran. „Und ich erst“, raunte er ihr ins Ohr.

„Alles zu seiner Zeit“, lachte Linda und bückte sich, um ihn mit Wasser zu bespritzen.

„Na warte“, schnappte Alex und pflügte mit seiner Hand einmal durchs Wasser.

„Hör sofort auf, meine Frisur“, beschwerte sich Linda.

„Ach was, du trägst doch einen Pferdeschwanz.“

Kichernd wie Teenager setzten sie den Spaziergang fort und kehrten anschließend in ein gemütliches Café ein.

„Ich wollte dich schon seit Längerem fragen, ob du deinen Job in Ludvika noch sehr vermisst?“, hob Alex seine Stimme.

Linda nickte. „Ich habe all die Jahre für meinen Beruf gebrannt. Ihn jetzt ad acta zu legen, ist schon ein merkwürdiges Gefühl“, antwortete sie.

„Bereust du deine Entscheidung?“

Alex musterte sie mit erstem Blick.

„Nein, auf gar keinen Fall. Ich fühle mich sogar ein wenig befreit und genieße es, für die Mädchen und dich da zu sein.“

Alex schien ihre Antwort zu erleichtern, das konnte sie ihm deutlich ansehen. Dass sie aber fast jeden zweiten Tag mit Eva telefonierte, verschwieg sie ihm wohlweislich. Er hätte es sicher falsch verstanden. Hold hatte ihre Stelle übernommen und sorgte fast wöchentlich für Überraschungen. Hin und wieder verspürte Linda Heimweh nach Ludvika, auch wenn sie sich in Stockholm wirklich gut aufgehoben fühlte.