Die Reihe Management/Organisationsberatung

Die heutige Gesellschaft ist eine organisierte Gesellschaft. Man muss schon lange suchen, um überhaupt noch Bereiche zu finden, die nicht von Organisationen geprägt sind. Unternehmen jedweder Größe und Eigentumsform, Verwaltungen, Schulen, Gerichte, Krankenhäuser, Universitäten, Kirchen, Verbände, Parteien, Vereine etc. – allesamt übernehmen sie gesellschaftliche Funktionen und bestimmen unser Leben. Die Fülle an Aufgaben, die unter den Bedingungen zunehmender Globalisierung und Digitalisierung gleichzeitig zu erfüllen sind, wie auch die Bandbreite an Organisationskonzepten und Führungsansätzen, mit denen der komplexe Alltag bewältigt werden soll, stecken das Feld ab, in dem Management und Beratung mehr oder weniger wirksam werden.

Die Zeiten, in denen es einfache Antworten auf die vielfältigen Fragen zur Überlebenssicherung einer Organisation und auch zur Steuerung tagtäglicher Entscheidungsprozesse gab, sind seit Langem vorüber. Der Komplexität, mit der heute alle konfrontiert sind, die in verantwortlichen Funktionen in und mit Organisationen arbeiten – Führungskräfte, Manager und Organisationsberater etc. –, wird man mit Rezeptwissen nicht mehr gerecht. Hier setzen die neuere Systemtheorie und mit ihr die Reihe Management/Organisationsberatung im Carl-Auer Verlag an. Beide liefern Konzepte und »Landkarten«, die auch im unübersichtlichen Terrain von Wirtschaft und Organisation Orientierung ermöglichen und Handlungsfähigkeit sicherstellen.

Das Ziel der Reihe ist es, empirisch gehaltvolle Forschungen über die Prozesse des Organisierens wie auch theoretisch angemessene Führungs- und Beratungsansätze zu präsentieren. Zugleich sollen bewährte Methoden einer system- und lösungsorientierten Praxis im Kontext von Organisationen überprüft und neue Ansätze entwickelt werden.

Torsten Groth
Herausgeber der Reihe
Management/Organisationsberatung

Torsten Groth/Gerhard P. Krejci/Stefan Günther (Hrsg.)

New Organizing

Wie Großorganisationen
Agilität, Holacracy & Co. einführen –
und was man daraus lernen kann

Mit Beiträgen von: Anette Bickmeyer • Alessandro Camisani
Peter Feneberg • Annette Gebauer • Torsten Groth
Stefan Günther • Susanne Hanke • Rene Hinterberger • Robin
Höher • Menno Huber • Andreas Ingerfeld • Josef Jager • Elena
Kalogeropoulos • Jens Korte • Gerhard P. Krejci • Susanna Maria
Krisor • Nina Kublun • Michael Menchau • Kirsten Meynerts-
Stiller • Kristina Müller • Cornelia Odenthal • Kurt Rachlitz
Timm Richter • Claudia Salowski • Aaron Scheer
Gerlinde Schein • Eva Maria Schielein • Balz Schnieper
Antje Schnoor • Daniel Sely • Martin Sonnert • Manuela Stark
Andre Stuer • Kerstin Till • Barbara Vogel • Sophie von Vogel
Nadja Walser • Simon Weber • Antje Weidling • Jan Weinhold
Roland Wolfig • Julia Wüster • Wolfgang Zimmermann

2021

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Management und Organisationsberatung«

hrsg. von Torsten Groth

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: Takashi Images – stock.adobe.com

Redaktion: Markus Pohlmann

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: TZ-Verlag & Print GmbH, Roßdorf

Erste Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0402-5 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8334-1 (ePUB)

© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren
und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/

Wenn Sie Interesse an unseren monatlichen Nachrichten haben,
können Sie dort auch den Newsletter abonnieren.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

info@carl-auer.de

Inhalt

Vorwort

IDas Forschungsprojekt

New Organizing – Empirie trifft Theorie

Torsten Groth, Gerhard P. Krejci, Stefan Günther

Beginn einer aufregenden Reise

Von der Datenerhebung zur Auswertung

Organisationstheoretische Fundierung

»Neues« trifft auf »Bekanntes« – Leitideen zur Auswertung

Theorie trifft Empirie

IIDie Forschungsergebnisse

New Organizing – Reiseplanungen und Orientierungshilfen

Torsten Groth, Gerhard P. Krejci, Stefan Günther

Zur visuellen Darstellung der Berichte

Ein Reisevorschlag

1Gleichzeitig agil und hierarchisch – Ein Automobilkonzern führt agile Strukturen ein

Annette Gebauer, Simon Weber

1.1Das Unternehmen in seiner Umwelt

1.2Strategie zur Einführung der neuen Formen des Organisierens

1.3Spannungsfelder, die unbearbeitet bleiben

1.4Zusammenschau und weiterführende Fragen

Steckbrief

Wie interessant!

2Mit dem Rücken zur Wand – Start-up-Logiken zur Krisenbekämpfung in einem Technologieunternehmen

Susanne Hanke, Andre Stuer, Robin Höher

2.1Ein Traditionsgeschäft wird zum Sorgenkind

2.2Der andere Weg

2.3Die Organisation ist irritiert

2.4Die neue Rolle des Kunden

2.5Die andere Führung

2.6Ausblick: Agilität um jeden Preis?

Steckbrief

Wie interessant!

3Agilität ist gut – Ein konzerneigener Software-Dienstleister erfindet sich neu

Timm Richter, Andreas Ingerfeld, Michael Menchau, Kurt Rachlitz

3.1Ausgangslage

3.2Aufbruch: Agilität markiert eine neue Identität

3.3Erste Erfolge: Verbesserungen führen zu Vertrauen in Agilität auf allen Seiten

3.4Auf und ab: Es ist doch nicht alles gut

3.5Jetzt erst recht: Aufteilung des Agilitätsverständnisses in Haltung und Praxis

3.6Unter Druck: Eine neue, entscheidende Phase

3.7Fazitv

Steckbrief

Wie interessant!

4Neue Mobilität trifft auf alte Autorität – Ein Automobilkonzern im digitalen Wandel

Eva Schielein, Antje Schnoor, Susanna M. Krisor

4.1Vorherrschende Kultur im Konzern: Fixierung auf den CEO

4.2Emergente Entstehung agiler Arbeitsformen im Konzern

4.3New Organizing bei Unit X: Was ist anders als im Konzern?

4.4Kopplung zwischen Unit X und dem Konzern

4.5Wie geht es mit Unit X weiter?

4.6Fazit

Steckbrief

Wie interessant!

5Macht doch, wenn ihr wollt, aber rechtssicher! – Inseln der Agilität in einem Mobilitätskonzern

Claudia Salowski, Manuela Stark, Kerstin Till

5.1New Organizing in kundenorientierten Bereichen

5.2Selbstorganisation auf Probe beim konzerneigenen Schulungsanbieter

5.3Flexibilität durch Selbstorganisation im Sicherheitsprüfteam

5.4Das Netzwerk »Selbstorganisation und Agilität«

5.5Fazit: New Organizing im Spannungsfeld von zentraler Steuerung und individuellen Lösungen

Steckbrief

Wie interessant!

6Unaufgeregte Lockerungsübungen – Ein Mobilitätsdienstleister führt Neues ein, ohne das Alte über Bord zu werfen

Josef Jager, Gerlinde Schein

6.1New Organizing im Verein

6.2Lockerungsübungen in drei Bereichen

6.3Gemeinsamkeiten und Unterschiede

6.4Fazit

Steckbrief

Wie interessant!

7Stabilagil – Eine etablierte Medienanstalt im experimentellen Suchmodus

Peter Feneberg, Cornelia Odenthal, Barbara Vogel

7.1Das Unternehmen in seiner Umwelt

7.2Bedeutung von New Organizing für das Unternehmen oder: Viele Landkarten

7.3New Organizing als unaufgeregter Veränderungsprozess

7.4Paradox?! – Das Unternehmen in Spannung gesetzt

7.5Ressourcen in der Organisation heben – Ausblick und Anschlussfragen

Steckbrief

Wie interessant!

8Wiener Melange: Die Milch kriegst’ nicht mehr aus dem Kaffee – Agile Inseln in einem Telekommunikationsunternehmen

Nadja Walser, Roland Wolfig, Aaron Scheer, Rene Hinterberger

8.1Das Jahr des Experimentierens

8.2Agile Inseln

8.3Auswirkungen in der Organisation

8.4Was bringt die Zukunft?

8.5Fazit

Steckbrief

Wie interessant!

9PS-starke Unternehmensführung – SIXT im Spannungsfeld von Hierarchie und Selbstorganisation

Kurt Rachlitz, Andre Stuer, Wolfgang Zimmermann

9.1New Organizing als Katalysator für die Umstellung des Geschäftsmodells?

9.2Methodisches Vorgehen

9.3Hintergrund des Unternehmens und seiner Kultur

9.4Aus U-Booten und Tankern werden Sprints und Züge

9.5Der Transformationsprozess

9.6Zwei Kernwidersprüche prägen den Transformationsprozess

9.7Fazit und Ausblick

Steckbrief

Wie interessant!

10Beweglichkeit in Stahl und Beton – Das Medienhaus der Zukunft

Elena Kalogeropoulos, Jens Korte, Nina Kublun, Jan Weinhold, Julia Wüster

10.1Drei Wandlungsmuster

10.2Straff-lockere Führung

10.3»Haus des Unternehmertums«

10.4New Organizing

10.5Zusammenfassung

Steckbrief

Wie interessant!

11Fremdbestimmte Selbststeuerung – Mit Holakratie die Wette auf die Zukunftsfähigkeit in der Finanzwelt gewinnen

Kristina Müller, Daniel Sely, Sophie von Vogel

11.1Das beforschte Unternehmen und sein Weg zur Holakratie

11.2Der tiefere Blick auf die Umsetzung von Kreisorganisation und Führung

11.3Paradoxie der (Selbst-)Steuerung

11.4Paradoxie der Planbarkeit

11.5Paradoxie der Formalisierung

11.6Fazit

Steckbrief

Wie interessant!

12Speed is the name of the game! – Ein Technologieunternehmen springt von einem Organisationsmodell zum nächsten

Balz Schnieper, Menno Huber, Alessandro Camisani

12.1Kontext der Fallstudie

12.2New Organizing – Wie die Veränderung ablief

12.3Paradoxien im Change – Welche Muster werden sichtbar?

12.4Erkenntnisse aus diesem Fallbeispiel

12.5Gleichzeitig schnell und langsam gehen

Steckbrief

Wie interessant!

13Radikale Transformation einer Bank – Die agile Organisation als Tür zum digitalen Geschäftsmodell

Kirsten Meynerts-Stiller, Anette Bickmeyer

13.1Historie

13.2Prozessgestaltung: In drei Wellen zur großen Transformation

13.3Führung und Selbstführung

13.4Der Einzelne und das Team: Nicht nur gemeinsam, sondern »high-performing«

13.5»Fast forward«: Ein Blick in den Rückspiegel

13.6Agile Transformation einer Bank: Auf der Reise und vermutlich nie am Ziel

Steckbrief

Wie interessant!

14Dark side of the moon – Über Unternehmen, die hier nicht porträtiert werden. (K)eine Fallstudie

Antje Weidling

14.1Vom Hinsehen, um sich zu zeigen

14.2Die erfolgreichen Unsichtbaren

14.3Energiequellen für Veränderung

… war doch wirklich interessant!

Alles Graswurzel?

Experimentelles Vorgehen reduziert Unsicherheit

Das Management macht sich bemerkbar

Arbeit in Teams

Räumliche Maßnahmen

Und was ist mit Beratung?

Und schließlich: Die Kontexte

15Wer hat hier eigentlich wen organisiert? – Spiegelphänomene in der Forschung

Claudia Salowski, Peter Feneberg, Martin Sonnert

15.1Blickwinkel »Führung«: Leitung und Forschungsteams

15.2Blickwinkel »Forschungsteams«

15.3Blickwinkel »zwischen den Teams«

15.4Blickwinkel »Prozess des Organisierens«

15.5Blickwinkel »Komplexitätsbewältigung und ihr Nutzen«

15.6Fazit

IIIZum Ende der Reise

Ein zweiter Blick auf New Organizing

Torsten Groth, Gerhard P. Krejci, Stefan Günther

Von Impulsen zu »epistemologischen Irrtümern«

Paradoxiemanagement als Kern eines zukunftsfähigen Umgangs mit Beratungs- und Führungsansätzen

Glossar

Literatur

Über die Autor:innen

Über die Herausgeber

Vorwort

Willst du ein System kennenlernen,
dann interveniere!

Systemische Weisheit

Was passiert, wenn größere Unternehmen Konzepte der Organisationsgestaltung einführen, die gerade im Trend liegen? Wir laden ein zu einer Expedition in die Welt des New Organizing, kurz NO. Auf dieser Reise werden einzigartige Einblicke in die Innenwelt von Konzernen und größeren Organisationseinheiten gegeben, die sich mit der Einführung neuer agiler Methoden und Organisationsformen befassen. In Form von Fallstudien werden erfolgreiche und weniger erfolgreiche Initiativen nachgezeichnet, die in den letzten Jahren von Einzelnen, von Teams, von Netzwerken bis hin zu Unternehmenseinheiten sowie von Vorstandsebenen gestartet wurden. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Auswirkungen der Initiativen gelegt: Zeigen diese das gewünschte Ergebnis, führt z. B. das Streben nach Agilität tatsächlich zu den jeweils gewünschten Veränderungen (einer wie auch immer verstandenen höheren Agilität), und wie neu ist New Work?

In 13 qualitativen Fallstudien, die im Kontext eines gemeinsamen Forschungsprojekts entstanden sind, wird ein von systemischer Organisationstheorie inspirierter und mit Empirie gesättigter Blick auf die Implementierungspraxis all jener Ansätze geworfen, die aktuell in der Diskussion sind. Konkret sind hier Ansätze wie »Agilität«, »Scrum«, »Holacracy«, »Purpose« etc. gemeint, die wir mit dem Begriff »New Organizing« erfassen. Initiiert wurde das Projekt von uns Herausgebern aufgrund sich häufender Berichte sowie eigener Beratungserfahrungen, dass sich eine interessante Kluft auftut zwischen den Verheißungen und Versprechungen dieser Ansätze und deren Umsetzung in der Praxis – gerade im Kontext größerer Organisationen. In den vielen, nicht selten sicher auch geschönten Fallbeispielen, über die in den letzten Jahren ausführlich berichtet und mit denen das Neue als Trend zuweilen gefeiert wurde, war eher wenig über diese »Mühen der Ebene« (B. Brecht) zu erfahren.

Die Forscher:innen- und Autor:innenteams1 haben größtenteils anonymisierte Fallstudien erstellt und lassen in ebenfalls anonymisierten Interviewausschnitten Akteur:innen zu Wort kommen, die in den Unternehmen nah dran waren an New-Organizing-Aktivitäten. Aufgezeigt und empirisch nachgezeichnet wird, in welcher Form diese Ansätze und Konzepte angewendet werden, zu welchen beobachtbaren Reaktionen es bei den erwartbaren »Kulturberührungen« (Bateson) zwischen vorhandener und neuer Organisationspraxis gekommen ist, wie die Unternehmen jeweils gelernt haben und mit welchen Anschlussfragen sie sich auseinanderzusetzen haben.

Weniger wird im Übrigen darauf eingegangen, wie die New-Organizing-Ansätze »eigentlich« und, gemäß den normativen Vorgaben ihrer Vordenker, »richtig« anzuwenden gewesen wären. Dass so verfahren wird, hat mit vorab gesetzten Prämissen zu tun: Die tägliche Praxis ist zunächst als eine »bewundernswerte« Praxis zu betrachten. In ihr werden Risiken eingegangen, fortwährend Probleme gelöst und sicher auch viele Businessprobleme bearbeitet, denen in vielen neuen Ansätzen des Organisierens eher wenig Beachtung geschenkt wird.

Herausgekommen ist eine in dieser Form einzigartige Sammlung von Fallstudien, hinter denen namhafte Unternehmen stehen; herausgekommen ist, offen gesagt, auch etwas leicht anderes als ursprünglich gedacht. Bei der Frage, wie sich die Implementierung von New-Organizing-Praktiken vollzieht, kam es in der Gesamtauswertung zu einer Aufmerksamkeitsverschiebung, ein wenig weg von New-Work-Thematiken, hin zu klassischen und grundlegenden Führungs- und Organisationsfragen. Es zeigten sich vermehrt Grundfragen, wie Unternehmen versuchen, ihren Wandel zu managen, wie sie versuchen zu lernen, wie sie Impulse aufzunehmen versuchen – und all dies ohne zu verlieren, was sie immer benötigen: Stabilität und Verlässlichkeit. Insofern weist das Buch über »Agilitätsfragen« hinaus. Es geht um die Gestaltung der Überlebenssicherung und des nachhaltigen Wandels, mithin um Kernfragen der Führung und des Organisierens.

Mit dem Fokus auf »Prozesse des Organisierens« (Weick 1995) erfahren die Leser:innen viel über die Vielschichtigkeit von Organisation und Führung. Alle Initiativen arbeiten sich an Phänomenen ab, die gerne mit dem Begriff Komplexität bezeichnet werden. Aber was das konkret bedeutet, ist oft nicht fassbar. Anders in diesem Buch. Man lernt den »ganz formalen Wahnsinn der Organisation«2 kennen. Zusätzlich sorgen prägnante Steckbriefe und kurze Beiträge mit dem Titel »Wie interessant!« von uns Herausgebern für Zusammenfassungen und Überleitungen von einem Fall zum nächsten. Für Führungskräfte aller Ebenen und Berater:innen (externe wie interne Unternehmens- wie Organisationsberater:innen, Agile Coachs etc.) bietet dieser Aufbau vielfältige Erkenntnischancen. Es sind tiefe Einsichten in einzelne Fälle möglich, Quervergleiche zwischen den präsentierten Fällen in ähnlichen Branchen oder auch eine Gesamtschau, die trotz der geringen Zahl an Fällen einen Eindruck vermitteln, welche typischen Muster sich bei der Implementierung neuerer (Trend-)Ansätze zeigen.

Ein weiteres interessantes Ergebnis vorweg: Bei den allerwenigsten der 13 Fälle finden sich Beispiele dafür, dass New Organizing nach einem Lehrbuch eingeführt wurde. Stattdessen kann man erfahren, wie sich in einem evolutionären Prozess Neues Platz und Gehör verschafft, wie es inhaltlich, methodisch und auch sprachlich angepasst wird und wie permanent nachgesteuert wird. Oft findet ein Ringen statt: Einzelne, Teams, Abteilungen haben von Agilität erfahren, haben von den IT-Kolleg:innen, für die seit Jahren Scrum-Verfahren zum Alltag gehören, viel Gutes gehört, sind inspiriert, wollen erst im Team, dann organisationsweit etwas ändern … – und dann beginnen alltägliche Auseinandersetzungen mit der Hierarchie, mit dem bisher Bewährten, mit der Kultur, mit überraschenden Folgeproblemen und auch mit der Zeit. Gerade der Faktor Zeit ist nicht zu unterschätzen: Vom Start einzelner Initiativen bis zur wirksamen organisationalen Umsetzung vergehen nicht nur Monate, sondern Jahre, und in diesen langen Zeiten verändern sich Wettbewerb, Strategien, Vorgesetztenkonstellationen – und es kommen neue Moden auf …

Ist dies als ein organisationaler Mangel zu verstehen, oder zeigen sich hier gar zu beklagende Defizite? – Keineswegs, denn wer Organisationen in ihrer Komplexität kennenlernen möchte, sollte nicht nur auf die positiven Beispiele achten (die es natürlich in diesem Buch auch gibt). Gerade in den Prozessen der Teilimplementierung, selbst im Vergessen von Führungsfragen, in der Nichtinanspruchnahme von Beratungsressourcen oder auch im scheinheiligen Umgang mit Neuerungen zeigt sich ein weites Feld der Erkenntnis über die (Un-) Tiefen der Organisation, das für erfolgreiche, zukünftige Wandlungsprozesse genutzt werden kann.

Das Buch im Überblick

Im einführenden Teil I geben wir Herausgeber Einblick in das allen Ausführungen zugrunde liegende Konzept des Forschungsprojekts. Hier verknüpfen wir die Projektfragestellung mit Kernideen der systemischen Organisationstheorie, liefern methodische Hinweise zur Erstellung der Fallstudie wie auch insgesamt zum Vorgehen im Projekt.

Dieser Einführung schließt sich der große Teil II an, in dem die Leser:innen in Form von Fallstudien in und durch die Welt der Agilität und der Konzerne geführt werden. Froh und stolz sind wir, dass es den Forschungsteams gelungen ist, 13 tiefe Einblicke erlangt zu haben in die Implementierungspraxis namhafter Unternehmen aus der Automobilindustrie, der Telekommunikation, den Medien, dem Bankengewerbe, der IT u. v. m.

Die Reise beginnt – wie alle gut vorbereiten Reisen – mit einer Übersichtskarte, auf der die Fälle eingezeichnet sind je nach »Kopplung an Überlebensfragen« und auch, ob die Initiativen eher »bottom-up« oder »top-down« gestartet wurden. Am Ende jeder Fallstudie nehmen wir Reiseleiter unter dem Titel »Wie interessant!« jeweils kurze Zwischenstopps vor, bei denen wir einige Besonderheiten pro Fall, Gemeinsamkeiten mehrerer Fallstudien und sich abzeichnende Muster im Umgang mit neuen Organisationsformen kurz zusammenfassen.

Diesem empirischen Hauptteil schließen sich die zwei kurzen, reflektierenden Kapitel 14 und 15 an. Zunächst folgt ein Essay über mögliche Gründe, weshalb bestimmte, sicherlich interessante Fallstudien nicht zustande gekommen sind. Dem schließt sich ein Beitrag an, der auf Parallelen (Stichwort »Spiegelphänomene«) hinweist zwischen Dynamiken, die sich einerseits in den beforschten Unternehmen und andererseits im Forschungsprojekt mit den mehr als 40 Forscher:innen in ähnlicher Form gezeigt haben.

In Teil III schließlich werden nicht nur Kernergebnisse zusammenfasst, sondern auch Ausblicke gegeben auf eine »postmodische« Welt – eine Welt, in der sich Unternehmen vornehmlich auf das überlebensrelevante Balancieren von Paradoxien konzentrieren und ihnen hierbei die Kunst gelingt, sich mit den wertvollen Impulsen von Trendansätzen zu versorgen, ohne den damit einhergehenden großen Versprechungen zu erliegen.

13 Unternehmen, 45 Alumni von Simon Weber Friends (SWF) als Forscher:innen, mehr als 60 Interviews, 2 Jahre Forschung mit vielen Treffen, erst noch real, dann coronabedingt in diversen Onlinekonferenzen … – das Projekt New Organizing wäre ohne ein co-kreatives Zusammenwirken vieler Personen und Institutionen, ohne Lust am gemeinsamen Nachdenken sowie ohne gemeinsame Anstrengungen nicht zustande gekommen.

Danksagung

Im Namen aller Forscher:innen und Autor:innen danken wir den beteiligten Unternehmen für ihre Bereitschaft und Offenheit, an diesem Projekt teilzunehmen. Speziell zu danken ist den Auskunftgeber:innen in den Unternehmen, die mit ihren Einblicken und Erzählungen erst den empirischen »Rohstoff« geliefert haben, den die Forschungsteams dann interpretativ weiterverarbeitet haben.

Zu guter Letzt ist auch dem Team vom Carl-Auer Verlag zu danken, das, unterstützt durch das Lektorat von Markus Pohlmann, dieses Projekt in gewohnt professioneller Geduld und Umsicht begleitet hat.

Torsten Groth, Gerhard P. Krejci, Stefan Günther
Münster, Wien, Darmstadt im Sommer 2021

1Wir unterstützen einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch und verwenden die für uns schlüssigste Schreibweise mit Doppelpunkt. Zusammengesetzte Wörter wie »kundenseitig« und (oft ebenfalls zusammengesetzte) nichtpersonale Akteure (Lieferant, Hersteller, Dienstleister etc.) gendern wir meist nicht, um die Lesbarkeit zu erhalten. Bei einzelnen Abweichungen von diesen Regeln bitten wir um Nachsicht. Zitierte Auszüge aus transkribierten Interviews wurden sprachlich nicht verändert.

2Eine Formulierung, die auf den gleichnamigen Podcast von Stefan Kühl verweist: https://formaler-wahnsinn.de/podcasts/ [Zugriff: 23.04.2021].

IDas Forschungsprojekt

New Organizing – Empirie trifft Theorie

Torsten Groth, Gerhard P. Krejci, Stefan Günther

Alle in diesem Band vereinten Beiträge sind im Rahmen eines seit 2018 laufenden Forschungsprojekts bei Simon Weber Friends (SWF) entstanden. Wie es dazu kam? – Im Jargon eines Managementbestsellers müsste jetzt eine Story folgen über einzigartige biografische Erweckungserlebnisse oder von Erkenntnissen berichtet werden, die im Beisammensein mit bekannten Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik zustande gekommen sind … – All dies war nicht der Fall. Es war alles profaner, nämlich die pure Neugierde, hinter die Kulissen von New Work, Agilität und der vielfältigen Varianten innovativer Arbeitsmodelle zu schauen. Ziel war es, tiefer gehende Einblicke zu erhalten in Veränderungsprozesse, die, ausgelöst durch ein »agiles Manifest« vor 20 Jahren, einen großen Raum in der Management- und Beratungswelt einnehmen.

Mit dieser Zielsetzung ist die Kernidee unseres Forschungsprojekts »New Organizing – Empirie trifft Theorie« benannt: Wie vollzieht sich die Einführung neuer Organisationsformen in der Praxis? – Der Begriff Organizing im Titel ist bewusst gewählt. Er verweist auf zwei paradigmatische Ansätze in der Organisationsforschung, die für ein hier gewähltes systemisches Verständnis von Organisationen und für die Form und den Fokus der Auswertung von hoher Relevanz sind. Einmal auf den Ansatz von Karl E. Weick und zum anderen auf den Ansatz von Henry Mintzberg.

Beide Vordenker der Organisationsforschung eint die Idee, das in Management und Beratung oft dominierende Strukturdenken mit einem Prozessdenken zu erweitern. Mit diesem Denken ist die Prämisse verknüpft, vermehrt auf die tägliche Praxis des Handelns und Entscheidens zu fokussieren, die sich in den Strukturen (Vorgaben, Abläufen, Organigrammen) vollzieht. Deshalb spricht Weick (1995) vom »Organizing« und Mintzberg (2009) vom »Managing«. Wie sich in den Fallstudien zeigen wird, geht es in der Frage nach Struktur oder Prozess also nicht um ein Entweder- oder. Es geht, vereinfacht gesprochen, um einen Alltag, in dem mit sehr unterschiedlichen Motiven mal in Anlehnung, mal in Anpassung, mal in Änderung oder auch mal in Ablehnung der formellen Strukturen gehandelt wird. Organisationen sind, so Weick (1995, S. 15),

»trotz ihrer scheinbaren Inanspruchnahme durch Fakten, Zahlen, Objektivität, Konkretheit und Verantwortlichkeit in Wahrheit voll von Subjektivität, Abstraktion, Rätseln, Schau, Erfindung und Willkür … ganz wie wir alle. Vieles von dem, was Organisationen Schwierigkeiten bereitet, ist ihr eigenes Produkt.«

Von Mintzberg übernehmen wir die Erkenntnis, dass es sich lohnt, die meist vordergründigen Narrative und Mythen des Managements durch Beobachtung des praktischen Handelns neu zu interpretieren. Eine solche Theorieanlage schien uns passend. Denn schon vor Beginn des Projekts hat uns der Umstand fasziniert, wie sehr es neuere Organisationsansätze geschafft haben, den Alltag in so gut wie allen Unternehmen mit »agilen« Ideen zu infizieren. Man kommt nicht umhin, hier, wie auch bei vielen weiteren neuen Methoden, Anführungsstriche zu setzen, denn in der Praxis wird oft nur lose an die ursprünglichen Konzepte und Begriffe angekoppelt. Dies allein gäbe Anlass, über den Einfluss von Moden auf das Management kritisch nachzudenken (Kieser 1996; Kühl 2015) – wir werden zum Abschluss nochmals darauf zu sprechen kommen. In unserem Projekt interessierte jedoch zunächst, was die Ansätze letztlich in der täglichen Praxis bewirkt haben. – Und mit diesem Fokus auf die Auswirkungen sprach und spricht vieles für den neugierigen Blick auf »New« und »Organizing«: Man mag es Mode nennen oder nicht, es finden sich viele neue Impulse und Anregungen für eine agilere Unternehmenspraxis. Und zugleich sind diese Impulse wirksam in zuvor schon praktizierte Prozesse des Organisierens einzuführen.

Beginn einer aufregenden Reise

Zurück zur Gestaltung des Forschungsprojekts. In der Frage der Durchführung kam die Idee auf, dieses Vorhaben nicht allein umzusetzen. Die Leitgedanken zum New Organizing flossen ein in eine erste Skizze und einen Aufruf, der versendet wurde an einen Kreis von ca. 500 Absolvent:innen unserer Beratungs- und Führungskurse zur systemischen Organisationsberatung wie auch an einen bereits bestehenden Kreis kooperierender Netzwerkpartner:innen.

Zu unserer großen Überraschung fand sich recht schnell eine Gruppe von ca. 45 Personen zusammen, die Interesse an Forschung und an diesem Thema zeigten. Einige Interessent:innen waren vertraut mit dem wissenschaftlichen Arbeiten und hatten schon publiziert, für andere war dies eher Neuland. Doch was heißt Neuland? – Alle Projektbeteiligten sind langjährig in der Beratung oder als Führungskraft tätig. Sie verfügen über einen professionellen Organisationsblick, der zudem individuell und kollektiv geschärft ist durch ähnliche systemische Verständnisse und Weiterbildungen zur Organisationsberatung.

Im ersten Schritt galt es, das Projekt sachlich, sozial, zeitlich zu organisieren. Es folgten, ohne hier zu tief ins Detail zu gehen, mehrere Vorbereitungstreffen zur Fixierung des Forschungsfokus, zur Abstimmung der organisationstheoretischen Fundierung sowie zur Diskussion methodischer Fragen der Interviewführung und -auswertung. Zudem formierten sich letztlich 14 Teams, die jeweils ein Unternehmen beforschen wollten. Da es für uns eher um eine explorative und nicht um eine repräsentative Studie ging, wurde für die Auswahl der Unternehmen ein pragmatischer Zugang gewählt: Unsere Forscher:innen sprachen größere Unternehmen – vorwiegend Konzerne oder Teilbereiche von Konzernen – an, zu denen ggf. bereits Kontakte bestanden. Dieser Größenfokus wurde bewusst gewählt, da viele veröffentlichte Erfolgsberichte aus kleinen oder neu gegründeten Unternehmen stammen und uns die Übertragung der Erfahrungen mit New Organizing auf größere Systeme in der Literatur unterrepräsentiert erschien.

Folgende Fragen wurden den Forschungsteams für ihre Interviews in den Unternehmen mit auf den Weg gegeben:

Fokus »Idee«: Was ist die Leitidee, die Erwartung, mit der neue Organisationsformen eingeführt werden?

Fokus »Bezeichnung«: Wie wird der neue Ansatz »verstanden« und auf welcher Ebene wird er implementiert: als Organisationsänderung, als Führungsänderung, als Team- und Projektveränderung?

Fokus »Auswirkungen«: Welche Wirkungen sind hierbei zu beobachten bzw. welche Resonanzen erzeugt der Eingriff in die Praxis?

Fokus »Unterstützung«: Welche Funktion übernehmen Führung, HR-Abteilungen und/oder Beratungen im Prozess der Implementierung?

Fokus »Implementierung«: Kommt es überhaupt zu einer Transformation »weg von der alten, hin zur neuen Organisationsform«? – Wenn ja, wenn nein (oder auch: wenn halb, wenn anders als gedacht, wenn oberflächlich-scheinheilig) … Wie verläuft der Implementierungsprozess?

Fokus »Reflexion«: Zeigt sich eine Praxis, in der sich die positiven Erwartungen an New Organizing erfüllen, müssen die Ansprüche revidiert werden, bzw. was folgt stattdessen?

Fokus »Lernen«: Welche erfolgskritischen Aspekte in der Implementierung werden bislang übersehen bzw. müssten mehr Beachtung finden?

Zur Strukturierung der Ergebnisse wurde festgelegt, dass im Zuge der Feldforschung insbesondere die Bereiche »Organisation«, »Führung«, »Teams/Projekte« und »Beratung« in den Blick zu nehmen sind.

Und so gerüstet ging es ins Feld. Interviewpartner:innen wurden ausgewählt, Termine vereinbart und Gespräche geführt etc.3

Von der Datenerhebung zur Auswertung

Alle nach dem groben Leitfaden (den die Teams noch weiter verfeinert haben) geführten Interviews wurden transkribiert und anschließend qualitativ ausgewertet. Hierzu bedienten sich die Teams grob einer dreigeteilten Methodik, die von Froschauer und Lueger (2003) entworfen wurde. Die transkribierten Interviews wurden nach dem Konzept der »Themenanalyse«, der »Systemanalyse« und einzelne Passagen auch mit Mitteln der »Feinstrukturanalysen« ausgewertet.

Bei 13 Fallstudien und im Schnitt über vier Interviews pro Unternehmen ist schnell zu errechnen, dass weit mehr als 1000 Seiten an Transkriptionen erstellt wurden, auf denen berichtet wird, was New Organizing im Einzelfall zum Erhebungszeitraum bedeutet und bewirkt hat. Es ist den Forschungsteams nicht hoch genug anzurechnen, welche empirische Arbeit sie jeweils geleistet haben. Deutlich wird auch, dass in die Fallstudien dieses Buches nur ein Bruchteil dessen einfließen konnte, was erfasst wurde.

Damit sind wir beim Prozess der Auswertung. Eines war klar: Mit dem Interesse an der Frage, wie sich die Implementierung neuerer Organisationsansätze in der Praxis vollzieht, sollte dafür gesorgt werden, dass die Forschungsteams ergebnisoffen bzw. nicht normativ an die Auswertung gehen. Will man dieses Ziel präziser fassen, so bietet es sich an, auf methodische Überlegungen zurückzugreifen, die Luhmann recht früh mit der Methode einer »funktionalen Analyse« präzisiert hat (Luhmann 1999). Eine solche Methode lädt dazu ein, alle wiederholt auftretenden Phänomene in den Kontext der Lösung von Problemen zu setzen: »Welche Probleme versuchen Organisationen zu lösen, die neue Organisationsformen einsetzen, und welche Probleme versuchen sie zu lösen, wenn sie diese nur zögerlich oder auch nur scheinheilig einsetzen?«

Mit diesem auf ethnologischen Methoden aufbauenden Vorgehen erhält man einen möglichst bewertungsfreien, lernenden Zugang zu allen denkbaren Formen der Implementierungspraxis. Zusammenfassen lässt sich dieses Denken mit dem Motto »Wie interessant!« – Das Besondere eines solchen Denkens wird deutlich, sobald man dieses mit der alltäglich beobachtbaren Bewertungspraxis in Veränderungsprojekten vergleicht. Zumeist kommt es bei Letzterer sachlich zu einer Positivbewertung des Neuen und einer Abwertung des Bestehenden, was sich sozial in einer Spaltung in Erneuerer und Beharrende zeigt. Eine solche Vorabbewertung würde den für unser Projekt erwarteten Erkenntnisprozessen im Wege stehen (wie es insgesamt produktive Veränderung verhindert, aber das soll hier nicht im Fokus stehen).

Neue Organisationsformen stellen Irritationen einer wie auch immer gearteten funktionierenden Praxis dar. Es sind Eingriffe in eine Praxis der Überlebenssicherung, in und mit der Unternehmen versuchen, am Markt zu bestehen und dabei widersprüchliche Erwartungen aus der äußeren oder inneren Umwelt zu erfüllen. In diesem Streben kann New Organizing für das eine Unternehmen ein wertvoller Impuls sein, für das andere eine mit Skepsis beobachtbare Modewelle und für ein weiteres eine Ansammlung interessant klingender Tools, die im geschützten Rahmen auszuprobieren sind. Wie auch immer: Vorab kann und sollte bewusst nicht festgelegt werden, was als richtig oder falsch zu bewerten ist.

Hinzu kommt ein zeitlicher Aspekt: Die Implementierung neuer Ansätze ist mehr als nur eine punktuelle Intervention. Oftmals sind es mehrjährige Prozesse, in denen die Organisation ja nicht stehen bleibt. Parallel zum New-Organizing-Prozess gewinnen immer wieder andere unternehmensstrategische und -politische Aspekte an Relevanz und wirken auf die neuen Ansätze unterstützend oder auch bremsend zurück.

Die Fallstudien sollten deshalb idealerweise längere Zeiträume erfassen und dort fortgesetzt werden, wo viele andere Veröffentlichungen sich damit begnügen, aufzuzeigen, wie z. B. agile Verfahren initiativ eingeführt wurden, ohne zu zeigen, wie es im Anschluss weiterging. Die Beantwortung der (einfachen, aber wirksamen) systemischen Frage nach dem »Und dann …?« sollte sich in den Beiträgen niederschlagen. Erst in der Form der Fortsetzung von New Organizing – so eine weitere Prämisse unserer Forschung – zeigt sich die Selektionswirkung der Organisation. Erst hierdurch werden Möglichkeiten und Herausforderungen einer langfristig wirksamen Implementierung im Sinne einer organisationalen Veränderungsfähigkeit sichtbar.

Organisationstheoretische Fundierung

Wenn eine »Wie-interessant!«-Erzählung erfolgt ist und anschließend Praktiker die Praxis der Implementierung neuerer agiler Ansätze erforschen, braucht es mehr als nur einen scharfen Blick – es braucht (ein wenig) Organisationstheorie. Wie sonst wüsste man, worauf man achten soll, um vermutete Wirkungszusammenhänge zwischen »New« und »Old Organizing« zu erklären und zu bewerten?

Der Fokus auf Organisation ist auch insofern von Bedeutung, als dass viele neue Ansätze aus dem Projektmanagement stammen und mit diesem Ursprung stark auf Team- und Interaktionsgestaltung fokussieren. In den Fallstudien interessiert New Organizing im Kontext der Organisation (und nicht nur die Gestaltung von Interaktionen im Kontext einer Organisation …). Dieser Schwerpunktsetzung liegt die Prämisse zugrunde, dass erfolgsrelevante Kriterien erst dann in den Blick kommen, wenn man über die Face-to-Face-Koordinierung hinausgeht. Wie sich später zeigen lässt, hat sich dieser geweitete Blick als erkenntnisreich erwiesen, denn viele Initiativen erfahren ihre Grenzen oder ihr Scheitern weniger an sich, sondern am Kontext Organisation.

Theoretische Prämissen

Damit wären wir bei dem von allen Autorenteams angewendeten systemischen Blick auf das Phänomen Organisation. Es finden sich ergiebige Quellen, um sich ausführlich über die soziologische Systemtheorie (Luhmann 1984), das Grundprinzip der Autopoiesis (Maturana u. Varela 1984) und auch über Organisationen als soziale Systeme mit dem Basiselement der Kommunikation von Entscheidungen zu informieren (Luhmann 2000; Baecker 1999; Simon 2007; Wimmer 2012; siehe auch Groth 2019, S. 59 ff.). Wir belassen es bei einer stichwortartigen Auflistung mit kurzen Ergänzungen, inwieweit der systemische Blick einen Unterschied in der Erklärung von Phänomenen macht, die im Kontext von New Organizing auftreten (können).

Organisationen

… folgen selbst gesetzten Zwecken und Zielen, die ihnen Orientierung geben: Alle New-Organizing-Aktivitäten müssen mit diesen verknüpft werden.

… sind um das Problem der Entscheidungsfindung »gebaut« und bilden hierzu »Spielregeln« (Prämissen und Routinen) aus: Alle New-Organizing-Aktivitäten »irritieren« vorhandene Spielregeln positiv wie negativ.

… sind gefordert, in komplexen Umwelten und unsicheren Zukünften ihr Überleben zu sichern, was sie u. a. in die Situation bringt, die beiden gegensätzlichen Pole Exploration und Exploitation (March 1991) zugleich zu bedienen: Alle New-Organizing-Aktivitäten werden in diese notwendigen und zugleich paradoxalen (s. u.) Balancierungsprozesse einbezogen (zumeist verortet auf der Seite der Exploration …).

… streben zwar nach Rationalität und erzeugen dabei vielfältige Irrationalitäten (Brunsson 1985), die durchaus auch funktionale Seiten haben: Forschungen zu den New-Organizing-Aktivitäten – wie auch andere Forschungen – werden erwartungsgemäß Phänomene ans Licht bringen, die für die Beteiligten und vielleicht auch aus Forschungssicht nicht sehr vernünftig klingen; eine systemische Forschung versucht in solchen Fällen gute Gründe für vermeintliche irrationale Verhaltensweisen zu finden.

… sind selbst als komplexe Gebilde zu verstehen, die sich vereinfachende Selbstbeschreibungen geben; sie zeigen eine »formelle«, eine »informelle« und eine »Schauseite« (Kühl 2011): Diese Unterscheidungen werfen die Frage auf, welche der drei Seiten mit New-Organizing-Aktivitäten auf welche Art und Weise bedient werden.

… müssen widersprüchliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Erwartungen bedienen und differenzieren sich hierzu in Untereinheiten, die jeweils eigene lokale Rationalitäten erzeugen: Veränderungsinitiativen allgemein und speziell New-Organizing-Aktivitäten bedienen oft nur einzelne lokale Sichten und werden von diesen erwartungsgemäß positiv beobachtet wie auch von vielen anderen Einheiten, die andere Teilrationalitäten bedienen, erwartungsgemäß skeptisch.

… sind »um Paradoxien herum gebaut« (Simon 2007): Sowohl die diversen Umwelterwartungen als auch die erwähnten internen Teilrationalitäten spitzen sich erwartbar zu in Fragestellungen und Situationen, in denen Widersprüche auftreten, die nicht lösbar erscheinen. In dem Zusammentreffen von »agil« und »klassisch« oder auch »neu« und »alt« sind solche paradoxen Dynamiken vermehrt erwartbar. Vereinfacht gesagt, nutzen wir die Theoriefigur der pragmatischen Paradoxien, um diese unvermeidbaren Spannungen in der Art ihrer Bearbeitung beobachten und interpretieren zu können.

… binden ihre Mitglieder vertraglich und binden sie damit ein in ein Netz generalisierter Verhaltenserwartungen, sodass Einzelne »nur« als »Personen« in ihren »Rollen« agieren: Dies richtet den Blick auf die Frage eines implizit oder explizit entstehenden neuen »sozialen Kontrakts« durch New-Organizing-Aktivitäten und verweist grundlegend darauf, dass die Antworten in den Interviewausschnitten immer als Zusammenspiel von Erwartungen, Rollenausübungen und Personenanteilen zu »lesen« ist.

Die aufgelisteten Stichworte geben verdichtet wieder, was alles mitgemeint ist, wenn von »Organisation« die Rede ist und eine systemische Perspektive eingenommen wird. Zugleich geben sie Hinweise, wie die in den Interviews getätigten Äußerungen bezüglich New-Organizing-Aktivitäten von den Verfassern der Fallstudien eingeordnet werden sollten und wurden. Der Blick auf Paradoxien nimmt – so viel vorab – eine Sonderstellung ein und wird sich wie ein roter Faden durch die Fallstudien ziehen.

Noch ein kurzer methodologischer Hinweis: Empirisch in Unternehmen zu forschen bedeutet, Beobachter beim Beobachten ihrer eigenen Organisation in der Beziehung zu ihren Umwelten zu beobachten. Dass hiermit kein Anspruch auf objektive Wiedergabe von Realitäten abgeleitet werden kann, lässt sich leicht erschließen. Es ist eine Setzung von uns, eine funktionale Methode vorzugeben, es ist eine Setzung, Interviews qualitativ auszuwerten, es ist eine Setzung, systemtheoretische Erklärungen anzulegen. Das Problem der Selbstbezüglichkeit von Erkenntnis bleibt.

Alle Methoden »sind dafür gut, sich selbst zu überraschen« (Luhmann 1997, S. 37). Niklas Luhmann fasst so pointiert zusammen, was es heißt, empirisch zu forschen. Natürlich kreieren die Forschungsteams ihre Bilder, natürlich lassen sie sich in ihrer Exploration mehr oder weniger durch die Fokussierung ihrer Interviewpartner:innen leiten, natürlich hätte man alles auch anders formulieren können, natürlich sind es nur zeitpunktbezogene Einblicke. Keineswegs jedoch sind die Ergebnisse zufällig. Als das hier am besten passende Konzept erscheint uns das von Nassehi und Saake (2002) formulierte »methodisch kontrollierte Vorgehen«. Es geht darum, so reflektiert wie möglich den eigenen Gebrauch von Theorie und Methoden offenzulegen und auch die jeweiligen Beschränkungen in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne sind die im Zuge des fortschreitenden Forschungsprozesses entstandenen Leitideen und Leitlinien zur Formulierung der Fallstudien zu verstehen.

»Neues« trifft auf »Bekanntes« – Leitideen zur Auswertung

Aufbauend auf den theoretischen Grundlagen diente das folgende Ablaufschema (Abb. 1) als Grundlage der Darstellung und Zusammenfassung der Fallstudien.

In sechs Schritten (die Theorieprämissen sind im vorangehenden Abschnitt eingeführt worden) sind hierin Kontexte und Fragestellungen angedeutet, wie New Organizing zu erforschen ist. Zugleich sind Wirkungsvermutungen mitgedacht, wie »Neues« (das muss nicht unbedingt New Organizing sein) bestehende Formen des Organisierens irritiert. Insofern könnte man das Schaubild mitsamt den nachfolgend aufgelisteten Erläuterungen auch als ein generelles Schema lesen, wie sich tiefer gehende Veränderungsprozesse vollziehen.

Abb. 1: Kreislauf tiefgreifender Veränderungen am Beispiel von New Organizing

Schritt 1: Organisation im Kontext