ADAM SASS

 

 

 

 

KEIN PARADIES FÜR CONNOR MAJOR

 

 

Aus dem Amerikanischen von Hannah Revilo

Über das Buch

Gibt es etwas Schlimmeres, als ein Siebzehnjähriger mit Hausarrest im ländlichen Illinois zu sein? Ja, gibt es. Nämlich, wenn dich deine streng religiöse Mutter eines Nachts auf eine einsame Insel verschleppen lässt, damit dir dein »abartiger schwuler Lebensstil« ausgetrieben wird. Statt im Paradies landet Connor in der Hölle. Denn in diesem Camp voller Lügen, Angst und Geheimnisse ist mehr als nur eine Leiche begraben …

Über den Autor

Die Idee für seinen ersten Roman kam Adam Sass während der Arbeit bei Starbucks. Seine Einfälle hielt er mit Filzstift auf allen möglichen Zetteln fest – und war beim Kaffeezaubern vielleicht ein klitzekleines bisschen abgelenkt. Sein Thriller »Surrender Your Sons« wurde in den USA als eines der besten Jugendbücher des Jahres 2020 gefeiert. Adam Sass lebt mit seinem Ehemann und seinen Hunden in North Carolina. Seine Romane begeistern durch starke queere Charaktere und die drei H im queeren Leben: Humor, Herz, Horror.

Die englische Ausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Surrender Your Sons« bei Flux.

Deutsche Erstausgabe Oktober 2021

 

© der Originalausgabe 2020: Adam Sass

© Verlagsrechte für die deutschsprachige Ausgabe 2021

Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth

Eisenbahnweg 5, 98587 Steinbach-Hallenberg

 

Original English language edition published by North Star Editions 2297 Waters Drive, Mendota Heights, MN, 55120, United States. Arranged via Licensor's Agent: DropCap Rights Agency. All rights reserved.

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch auszugsweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

 

Umschlaggestaltung: Jervy Bonifacio

Umschlagmotive: Depositphotos, unter Verwendung von Motiven von

Vika200581.mail.ru, shock, Lvovich17

 

Lektorat: Michaela Kolodziejcok

Korrektorat: Ulrike Gerstner

 

 

ISBN 978-3-948457-39-6

 

 

www.second-chances-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über den Autor

Impressum

Widmung

Vorbemerkung des Autors

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EPILOG

DANKSAGUNG

 

Für meinen Mann:

Du hast nie aufgehört, an mich zu glauben.

Für meine Eltern:

Mein Coming-out hat uns nur stärker gemacht.

Für die Ausgestoßenen:

Findet zueinander und überlebt gemeinsam.

VORBEMERKUNG DES AUTORS

UND EIN PAAR WORTE DER WARNUNG

Dieses Buch ist ein Thriller. Aber wie bei Fahrgeschäften und Achterbahnen müssen für den perfekten Nervenkitzel ein paar Sicherheitsvorkehrungen beachtet werden. Zunächst einmal möchte ich voranschicken, dass in diesem Buch queerer Schmerz vorkommt. Aber das ist nicht das, worum es in diesem Roman geht. Es geht darum, wie queere Menschen mit ihrem Schmerz umgehen. Queerer Schmerz wurde in den Medien entweder schon allzu oft breitgetreten oder irgendwie verhackstückt. Queere Menschen sind ständig mit Schmerz konfrontiert, und sei es nur mit dem gelegentlichen Gefühl der Andersartigkeit und Isolation. Meiner Erfahrung nach verarbeiten queere Menschen Schmerz auf vielfältige Weise, aber ein häufig beschrittener Weg ist Humor. In »Kein Paradies für Connor Major« werdet ihr queeren Jugendlichen begegnen, die Schlimmes erleben, und manchmal reißen sie dann einen Witz darüber.

Aber die universelle queere Erfahrung gibt es nicht, und so habe ich für dieses Buch eine Vielzahl unterschiedlichster Jugendlicher erfunden. Zur queeren Community zu gehören, ist sozusagen das ultimative Gruppenschulprojekt. Man sollte nicht die Person sein, die die ganze Arbeit den anderen überlässt! Die kann niemand leiden!

Als letzten Punkt möchte ich die »S«-Wörter ansprechen. Für viele Menschen kann schon die Erwähnung von Selbstverletzung verstörend sein. So sehr ich mir auch gewünscht hätte, »Kein Paradies für Connor Major« zu einer suizidfreien Zone zu machen, empfand ich es als meine Pflicht, die Folgen der Konversionstherapie zu zeigen, und ich hätte diese Geschichte nicht vollständig erzählen können, wenn ich den Suizid dabei ausgespart hätte. Suizid macht zwar nicht das ganze Buch aus, aber er kommt vor.

Ich verspreche euch, liebe Leserinnen und Leser: In »Kein Paradies für Connor Major« gibt es auch Licht in der Dunkelheit.

In diesem Buch passieren schlimme Dinge, aber wie im richtigen Leben werdet ihr, wo das Schicksal zuschlägt, auch Humor, guten Freunden und Mut begegnen, den ihr euch in euren kühnsten Träumen nicht vorgestellt hättet.

Nachdem dies nun geklärt ist, freue ich mich, euch »Kein Paradies für Connor Major« vorzustellen.

Euer Adam Sass

1

MOMS ULTIMATUM

Dieser Krieg dauert schon viel zu lange, aber nicht für meine Mutter. Obwohl sie seit ihrer Rückkehr von der Arbeit gute Laune hat, hüte ich mich, unvorsichtig zu werden. Irgendwie ist das eine Falle. Ihre Fröhlichkeit hängt über unserem Abendessen wie die Sonne über der Sahara – allgegenwärtig und erbarmungslos. Sie glaubt, ich hätte nicht den Mut, die Frage zu stellen, die unseren zerbrechlichen Waffenstillstand zerstören wird – die Frage, die mich schon seit über einer Woche beschäftigt –, aber ich habe den Mut sehr wohl:

»Übrigens … wann bekomme ich mein Handy wieder?«

Ich stelle die Frage ganz ruhig, ohne Nachdruck oder Wut. Dennoch flackert in den Augen meiner Mutter das Feuer auf, das während unseres unerträglich gesitteten Abendessens vor sich hin geschwelt hat. Mom schiebt ihren Teller mit dem halb aufgegessenen Hähnchen weg und fragt: »Dein Handy?« Offenbar ist meine Frage der Skandal des Jahrhunderts. »Ist das dein Ernst?«

Es ist mir bitterernst, aber ich zucke mit den Schultern: Ich muss unbedingt gleichgültige Gelassenheit ausstrahlen, auch wenn mir mit jedem Tag, an dem ich von Ario und meinen Freunden getrennt bin, elender zumute ist. Wenn Mom könnte, würde sie mir mein Handy für immer vorenthalten. Beim letzten Thanksgiving hat mein Onkel sich bei mir beschwert: »Du behandelst dieses Ding wie einen zweiten Schwanz!« Da hat er zwar nicht ganz unrecht, aber ich bin jetzt schon seit fast zwei Wochen ohne Handy, und dieser Kampf um meine geistige Verfassung hat sich zu einem Gemetzel ausgeweitet.

»Ich wollte ja nur wissen …«, beginne ich vorsichtig, erneut auf der Hut, »ob du mir einen Zeitrahmen nennen könntest, in dem ich es wiederbekomme?«

»Soll das ein Witz sein?« Mom wird von Sekunde zu Sekunde entschlossener, während sich in meinem Nacken sämtliche Muskeln anspannen. »Es handelt sich hier um eine Strafe, Connor …«

»Ich habe nichts falsch gemacht!« In einem Anfall von Leichtsinn springe ich von meinem Stuhl auf, in dem idiotischen Versuch, sie mit meiner Körpergröße einzuschüchtern (nach meinem siebzehnten Geburtstag habe ich akzeptiert, dass ich mit meinen eins achtundsechzig den Kürzeren gezogen habe).

»Jetzt werd bloß nicht unverschämt! Und ich habe dir nicht erlaubt, vom Tisch aufzustehen.« Mom nimmt das silberne Kreuz, das sie über ihrem Schwesternkittel trägt, und küsst es – nein, sie presst ihre Lippen darauf; ihr typischer Bittruf an Christus, er möge ihr aus einem weiteren Schlamassel helfen, in den ihr ungläubiger Sohn sie gestürzt hat. Mit einer Geste fordert sie mich auf, mich zu setzen, und ich gehorche mit einem extra lauten Schnauben. Mom und ich übertrumpfen uns gegenseitig, während wir uns höhnisch anstarren, als wollten wir uns beweisen, wer von uns beiden es schwerer hat. Sie atmet durch die gespitzten Lippen aus, und ich schnippe genervt eine schweißfeuchte Locke aus meinem Gesicht.

Unser scheppernder Sumpfkühler von einer Klimaanlage verschafft uns keinerlei Erleichterung von der jüngsten Hitzewelle, die Ambrose zusetzt, aber der Gestank der hochsommerlichen Hühnerkacke von der Nachbarfarm wird selbst noch vom leisesten Lüftchen problemlos getragen. Ich schaufele mir in schwindelerregendem Tempo Pfefferminzeis in den Mund, bis mir ein klebriger rosa Tropfen auf die Shorts platscht, neben einen Fleck Chilisoße von gestern. Es ist das gleiche laufstegverdächtige Outfit, das ich schon die ganzen Sommerferien trage: eine kurze Sporthose und ein weiter Hoodie mit abgeschnittenen Ärmeln.

Was kümmert mich mein Aussehen? Wegen Mom werde ich meinen Freund womöglich nie wiedersehen.

Vor meinem Coming-out hat mein Freund Ario die ganze Zeit davon gequatscht, wie wichtig es sei, dass ich mich endlich oute: Es würde mir das Leben retten, das Essen würde besser schmecken, und der Duft nach frischem Lavendel würde die Luft erfüllen. Nun, ich habe es getan – ich bin jetzt schon seit Monaten geoutet, aber langsam habe ich den Verdacht, dass er nur irgendwelche YouTuber zitiert hat, die entweder gelogen haben oder Glück hatten.

Wenn offen schwul sein so ist, kann er es gern behalten.

Als ich es meiner Mom sagte, habe ich meinen Freund nicht erwähnt. Ich durchlebte einen frostigen – aber straflosen – Sommer, in dem Mom mein Schwulsein behandelte, als wäre es nur ein hypothetisches Ärgernis. Aber dann fand sie heraus, dass es da einen realen Jungen gab, mit Lippen und Bartstoppeln und schmutzigen, unanständigen, unguten Absichten. Das war der Punkt, an dem sie mir das Handy wegnahm. Ab da ging es rasend schnell: der Laptop – konfisziert, das WLAN – gestrichen. Meine Freunde dürfen mich nicht mehr besuchen – außer Vicky, meiner besten Freundin (und gleichzeitig meine Ex-Freundin), die letzte Hoffnung meiner Mutter auf einen normalen Sohn. Nicht dass das eine Rolle spielen würde. Seit der Geburt ihres Sohnes hat Vicky keine Zeit mehr, sich mit mir zu treffen – keine Ahnung, wie sie ihren Abschluss schaffen will, während sie sich um ein Neugeborenes kümmert. Das Baby ist zwar nicht von mir, aber erzählt das mal meiner Mutter, die plötzlich unbedingt Großmutter werden will.

Schwul? Das würde Jesus nicht gefallen.

Deine Freundin schwängern? Nun, Kinder sind ein Segen, und wenigstens bist du nicht schwul.

Mit finsterem Gesicht lecke ich mir das trocknende Pfefferminzeis von den Fingern, wo sich unter den Nagelhäutchen noch Überreste meines grell-lila Nagellacks verstecken. Als Mom mir das Handy wegnahm, hat sie auch den Lack entfernt – es war eine erbarmungslose Razzia. Sie ging dabei mit eigentümlicher Heftigkeit vor. Tunkte meine Hände in eine Schale mit Alkohol, und voilà, keine lila Fingernägel mehr. Nur männliche, blasse Würstchen, wie Gott sie gewollt hat.

Wenn Ario hier wäre, würde er mir die Fingernägel neu lackieren. Ario macht alles wieder heil.

»Ich hatte vorhin vergessen, dir zu sagen …«, beginnt Mom und beruhigt sich ein wenig. »Offenbar hatte ich recht – das Geburtstagsgeschenk deines Vaters ist in der Post hängen geblieben.«

Ich schneide eine Grimasse und kratze die letzten Reste von meinem Eis aus der Dessertschale. Mein Geburtstag war am Memorial Day im Mai, und mittlerweile ist auch der Vierte Juli längst vorbei. »Es ging zurück an den Absender.« Er hat meinen Geburtstag natürlich vergessen. Ich habe mich inzwischen damit abgefunden, dass er jedes Detail meines Lebens verpasst und ignoriert und dass er nicht mehr da ist, aber … tu doch nicht so, als würde ich ihm etwas bedeuten.

An einer Kerze, die auf dem Tisch platziert ist, lehnt ein dicker gelber Umschlag, auf dem mein Name steht. Was auch immer mir Dad in diesem Umschlag geschickt hat, es wird irgendetwas Halbherziges sein. Ich ignoriere den Brief.

»Weißt du, wahrscheinlich lag es am internationalen Versand. Auf den ist einfach kein Verlass«, fährt Mom fort, die mir unbedingt diese Lüge andrehen will, ob es sich nun um ihre eigene Erfindung handelt oder um etwas, das Dad ihr verkauft hat.

»Ja, klar, internationaler Versand«, sage ich. »Da braucht alles zwei Monate, schließlich leben wir noch im achtzehnten Jahrhundert. Und die Post wird immer noch mit der Titanic durch die Gegend geschickt.«

»Connor …«

»Dir kann man wirklich alles erzählen, was?«

Moms Lächeln friert ein und erlischt. Sieg. Eine bösartige Wärme füllt meine Lunge, während ich das Gefühl auskoste, sie endlich getroffen zu haben. Leider folgt prompt das schlechte Gewissen, wie immer. Dad hat Mom jahrelang durch die Hölle gehen lassen – mit seinen Lügen, seinen Wutanfällen, seiner Sauferei und indem er sie schließlich verlassen hat – und ich habe gerade Salz in die Wunde gestreut. Aber ich behalte meine unfreundliche Miene bei. Solange Mom verletzbar ist, besteht eine kleine Chance, dass sie einknickt und mir mein Handy zurückgibt.

»All diese Streitereien«, sagt Mom und führt mit zitternder Hand die Gabel zum Mund. »Ich versuche hier, zivilisiert mit deinem Dad umzugehen. Kannst du in diesem Punkt nicht einfach … auf meiner Seite sein?«

Ein Feuer lodert in meinem Inneren auf. Noch mehr Gewissensbisse. Das ist ihre Masche: Sie fährt die Mitleidstour, und irgendwann fühle ich mich dann wie der letzte Dreck, nur weil ich mit ein bisschen Anstand und Würde behandelt werden will. Am Ende überwiegen dann die Gewissensbisse, und ich gebe klein bei. »Ich bin ja auf deiner Seite, Mom.« Sie legt das Kinn auf ihre verschränkten Finger, stößt einen tiefen Seufzer aus und weint in ihr Essen. Die Schuldgefühle fressen mich auf. »Jetzt wein doch bitte nicht …«

»Es ist so schwer, einen Jungen allein großzuziehen«, wimmert sie und tupft sich die Augen mit der Serviette ab.

»Mom, bitte, nicht schon wieder«, stöhne ich, und die Gewissensbisse verflüchtigen sich, als neue Wut in mir aufflackert.

»Du weißt ja nicht, was du Vicky damit antust, dass du die Sache nicht richtigstellst …«

»Ich bin nicht der Vater!«

»Wer dann? War das etwa eine Jungfrauengeburt?«

»Keine Ahnung. Das geht mich nichts an …«

»Du warst über ein Jahr mit ihr zusammen. Dann bekommt sie auf einmal ein Baby und du erzählst mir, dass du … Männer magst.«

»Du glaubst, ich hätte einen Freund erfunden, um mich vor der Vaterschaft zu drücken?«

»Und, war es so?«

»Wenn du mir mein Handy gibst, kann ich dir gerne Fotos zeigen. Mein Freund ist real.«

»Dein Dad wollte auch keine Verantwortung für ein Kind übernehmen. Nicht, dass ich euch einen Vorwurf mache. Es ist schwer, ein Kind großzuziehen, sehr schwer. Man ist die ganze Zeit so machtlos.«

»Hör auf, Mom! Du klingst wie eine kaputte Schallplatte!«, knurre ich. Nichts wird sie je überzeugen, weil sie nicht überzeugt werden will. Selbst wenn ich einen Vaterschaftstest machen lassen würde und ihr das Ergebnis unter die Nase hielte – sie würde glauben, ich hätte es gephotoshoppt. Diese Babygeschichte dient einfach nur dazu, das Unbehagen zu kaschieren, das sie wegen mir empfindet. Dabei ist es noch nicht mal das Gleiche wie bei Dad; er hat mich nie verleugnet. Er ist elf Jahre lang geblieben und dann nach England abgehauen, zu seiner Ex-Freundin. Er ist ein Scheißkerl, aber für meine Mom ist mein Coming-out mindestens genauso unverzeihlich.

Die letzten Wochen waren eine Qual für uns beide. Ich vermisse meine normale Mom.

»Diese ganzen Streitereien führen zu nichts«, sagt sie und wischt sich die nassen Wangen mit einer weiteren Serviette ab.

»Wir sind doch ein Team, oder?« Ich nehme ihre Hand – alles, wenn nur dieser Sturm sich legt. Sie schließt die Augen und lächelt.

Jetzt, Connor.

Während sich ein Kloß in meiner Kehle bildet, frage ich: »Können wir die Sache nicht begraben? Kann ich nicht einfach mein Handy wiederhaben, und wir ziehen einen Schlussstrich?«

»Connor«, stöhnt Mom und reißt ihre Hand weg, von plötzlichem Ekel gepackt, als hätte ich sie angeniest. Das abrupte Ende unseres Waffenstillstands jagt mir einen Schauer über den Rücken. Sie legt die Hände aneinander und drückt sie an den Mund. Die Gebetshaltung! Marcia Major fährt die ganz großen Geschütze auf. »Du solltest deine Prioritäten überdenken. An deiner Stelle würde ich mir weniger Gedanken über mein Handy machen und mehr über meine Noten in der letzten Zeit. Den College-Test noch einmal machen. Dich an deine Motivationsschreiben setzen. Der Gedanke, dass deine Freunde auf gute Colleges gehen werden, während du zu Hause sitzt und fernsiehst und rumkicherst, oder was auch immer du tust, während Vicky ihren Sohn Avery alleine großzieht, sollte dir wirklich Kopfzerbrechen bereiten. Ich würde mir darüber Gedanken machen, irgendwann fünfundzwanzig zu sein und immer noch so zu leben wie jetzt. Oder vierzig, während du in meiner Küche über irgendeinen angeblichen Freund fantasierst ...«

»Ich habe einen Freund.«

»Nein. Jedenfalls nicht, solange du hier wohnst.«

Mom beendet ihren Satz, und ich wende mit einer Kopfbewegung, wie man sie nur aus Telenovelas kennt, abrupt das Gesicht ab. Sie verdient es nicht, dass ich sie ansehe. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, und ich bekomme nicht genug Luft, um ihr ins Gesicht zu schreien, was für einen Scheiß sie da redet. Durch unser riesiges Panoramafenster blicke ich hinaus auf die Landstraße und das weite Farmland, in dem ich festsitze. Die einzigen Häuser in unserer Straße sind unseres und die Hühnerfarm der Familie Packard. Reverend Packard, der Besitzer der Farm, ist außerdem der Pfarrer der Gemeinde und der einzige Freund meiner Mom. Sie will sich nach der Arbeit nicht mit den anderen Krankenschwestern treffen. Sie meidet den Kontakt mit allen Leuten, die ihr sagen könnten, was für eine verbohrte Fanatikerin aus ihr geworden ist.

Über Reverend Packards Sojafeldern verwandeln sich die Sturmwolken in eine widerliche gelbe Masse. Die Packards wechseln bei ihren Feldfrüchten jährlich ab – ein Jahr Mais, ein Jahr Sojabohnen. Mais, Sojabohnen, Mais, Sojabohnen. In den Mais-Jahren liegt ein Hauch von Magie und Möglichkeit in der Luft. Als ich noch klein war, habe ich mir immer vorgestellt, dass sich zwischen den dicken Stängeln schuppige, blaue Geschöpfe und Elfen verstecken und Schabernack aushecken. Aber in den Soja-Jahren – so wie in diesem Jahr – sieht man meilenweit, und Ambrose, Illinois, zeigt sich als das, was es ist: Getreidesilos, Kirchen, und das wars.

Während ich wie hypnotisiert auf die Straße starre, die unser Haus von den endlosen Sojafeldern trennt, fährt dort eine schwarze Großraumlimousine vorbei. Es ist der einzige Wagen, seit wir uns zum Essen hingesetzt haben, aber ich sehe ihn schon zum dritten Mal. Die schwarze Limousine – auch die Fenster sind schwarz getönt – umkreist unser Haus wie ein Bussard. Wahrscheinlich haben die sich verfahren. Niemand kommt jemals absichtlich nach Ambrose (abgesehen von mir und meiner sitzen gelassenen Mutter).

»Das hier ist für dich gekommen«, sagt Mom und tippt auf den gelben Umschlag auf dem Tisch.

»Von Dad«, erwidere ich verächtlich. »Das hattest du bereits gesagt.«

»Nein, sein Geschenk hängt auf dem Postweg fest, das hatte ich bereits gesagt. Erinnerst du dich noch an Ricky Hannigan? Dem du sein Essen auf Rädern gebracht hast?« Ein Kribbeln fährt durch meine Finger, wie Glühwürmchen, die über einem Sumpf ausschwärmen. Unter anderen Umständen wäre ich dankbar für den Themawechsel, aber allein schon die Erwähnung von Mr Hannigan bewirkt, dass sich meine Eingeweide zusammenziehen. Ricky Hannigan war ein älterer Kunde, der seit dem Ende des Schuljahres jedes Wochenende von meiner Wenigkeit Essen auf Rädern geliefert bekam.

Aber das ist jetzt vorbei.

»Ja, ich erinnere mich an Mr Hannigan«, sage ich und schüttele den Kopf, um das Gefühl der Benommenheit loszuwerden.

»Also, er ist gestorben.«

»Ich weiß, dass er gestorben ist. Hallo? Deswegen beliefere ich ihn nämlich nicht mehr. Hast du gedacht, ich sitze hier freiwillig den ganzen Tag herum und gehe dir auf die Nerven?«

»Jedenfalls sieht es so aus, als hätte er dir etwas hinterlassen.« Wieder klopft Mom auf den dicken Umschlag. »Ist das nicht nett? Der Reverend hat den Brief vorbeigebracht. Er wollte ihn dir selbst geben, aber du warst ja so lange unter der Dusche

Meine Wangen werden tiefrot bei der Vorstellung, dass meine Mom mit dem verdammten Reverend darüber geredet hat, wie lange ich unter der Dusche war. Na und? Dann war ich eben eine Weile da drin und habe mir vorgestellt, dass Ario bei mir ist und wir uns unter dem herabrauschenden Wasser eng zusammendrängen. Ich habe kein Handy, keine Freunde und den lieben langen Tag nichts anderes zu tun, als mich auf ein bisschen Wichsen unter der Dusche zu freuen – während ich von Arios perfekter, behaarter Brust träume … von seinen Locken … davon, wie seine Füße in die Luft ragen …

»Danke«, sage ich und lasse den Umschlag neben die vom Kondenswasser feuchte Eiscremepackung fallen. Rickys Päckchen ist federleicht – ob da wohl Bargeld drin ist? Ein Scheck? Seltene Briefmarken? Ricky Hannigan hat in einer miesen Bude gewohnt, und jeder Penny, den er besaß, floss in seine medizinische Versorgung, ich sollte mir also nicht zu viel erhoffen. Dennoch, er hätte mir nichts hinterlassen müssen. Irgendwie ist mir die Sache peinlich, ich habe ihn doch kaum gekannt.

»Willst du den Umschlag nicht aufmachen?«

»Ich warte, bis ich allein bin.« Ich wende mich ihr zu, die Hände gefaltet, und zwinge mich, nicht zu blinzeln. Sie wird kein Jota von dem erfahren, was in mir vorgeht. Das geht alles auf das Connor-Major-Neues-Handy-Leck-Mich-Konto. »Mr Hannigan war ein netter Mann, aber sehr zurückhaltend. Er hätte nicht gewollt, dass ich den Brief in Gegenwart von anderen Leuten aufmache.«

Das ist eine Lüge. Ricky Hannigan war mit allen befreundet, die ihn besuchten. Ein paar Wochen, bevor mein vorletztes Highschooljahr zu Ende ging (und ich mich unklugerweise outete), brachte Mom den Reverend dazu, mich bei Essen auf Rädern unterzubringen, damit ich meine Sommerferien damit vergeudete, christliche Dinge für christliche Menschen zu tun. Die meisten meiner Kunden waren unfreundliche Schwachköpfe, aber nicht Ricky. Er lächelte immer, wenn er mich sah.

Ich werde nicht oft angelächelt.

Ricky war zwar genauso alt wie der Reverend, aber er war auf Essenslieferungen angewiesen, weil er vor Ewigkeiten einen Unfall gehabt hatte. Er konnte kaum sprechen, weshalb ich ihn nie viel wegen seiner Verletzung löcherte. Als ich dann letztes Wochenende mit der üblichen Liefermahlzeit zu Ricky kam, war sein Krankenbett leer. Er war gestorben. Danach stellte der Reverend meine Liefertouren ganz ein, so als wäre Ricky der einzige Kunde gewesen, auf den es ankam.

Vor unserem Fenster fährt die schwarze Limousine ein viertes Mal vorbei. Diesmal sehen Mom und ich sie beide. Sie zuckt zusammen, ihre Hand fährt nach unten, die Gabel klappert gegen den Teller, und bei dem plötzlichen Lärm bleibt mir fast das Herz stehen. Das Panik-Gen habe ich offenbar von ihr, vielen Dank auch, Marcia. Nachdem sie den Soßenfleck von unserer Plastiktischdecke gewischt hat, streicht Mom ihren Vorhang aus dunklem Haar nach hinten und verkündet: »Connor, deine Bestrafung ist zu Ende.«

Zum ersten Mal seit Wochen erfüllen Honig und Sonnenschein mein Herz. Echt jetzt? Einfach so? Nach diesem langen, blutigen Krieg bin ich so verblüfft über ihre Hundertachtziggradwendung, dass ich unwillkürlich herausplatze: »Wieso?«

»Willst du denn nicht, dass sie vorbei ist?«

»Doch! Entschuldige, das sollte nicht pampig klingen. Es ist nur … Wieso hast du deine Meinung geändert?«

Mom schließt die Augen und lässt mich leiden, bis sie sie wieder öffnet. »Weil meine Strafen nichts ändern.«

Heiliger Strohsack! Jetzt keine Frechheiten, Connor, einfach nur lächeln und nicken.

Nach einem langen Augenblick schiebt Mom es mir über den Tisch zu – mein Handy in seiner türkisfarbenen Hülle. Mein Tor zu anderen Welten als dieser hier. Ich schließe die klammen Finger um meinen alten Freund; das kühle Metall ist pure Glückseligkeit und lässt mein Herz bereits langsamer schlagen. Ohne ein weiteres Wort nehme ich das Handy, um mich an den Dutzenden von Nachrichten, Bildern und »Ich vermisse dich« von Ario zu erfreuen.

Aber da ist nichts von alldem. Das Display bleibt dunkel. Mom hat das Handy nicht aufgeladen.

Sie atmet langsam aus, entfaltet einen zerknitterten Zettel, streicht ihn neben ihrem halb leeren Teller glatt und überfliegt die Seite. Während Mom liest, atmet sie bewusst tief und gleichmäßig. Ich habe keine Ahnung, ob ich sitzen bleiben oder ihr aus den Augen gehen soll, weshalb ich »Danke« murmele und meinen Stuhl zurückschiebe.

»Da ist nur noch eins, was ich dir sagen muss«, flüstert sie, den Blick immer noch auf das Papier gerichtet. Ich sinke wieder auf meinen Stuhl zurück, mit nichts als diesem bedrohlichen Ziehen im Magen. »Ich habe einiges darüber gelesen, wie man ein Ultimatum stellt und Grenzen setzt« – sie schluckt –, »und ich werde dir meine jetzt vorlesen.«

»Okay«, sage ich mit angehaltenem Atem. Sie schmeißt mich raus. Bisher war sie noch nie nervös, wenn sie mich herunterputzen wollte, und jetzt gibt sie mir auf einmal mein Handy wieder und kann nicht mehr weiteressen?

Jetzt kommt es. Das Ultimatum.

»Connor«, liest Mom vor, »offenbar hast du beschlossen, deine Pflichten zu ignorieren, um mit einem anderen Jungen zusammen zu sein. Diese Entscheidung wird Konsequenzen haben. Dieser Junge, oder auch ein anderer Junge, oder ein Mann … ich will ihn nicht treffen. Ich will ihn in keiner Weise kennenlernen. Solltest du einen Mann heiraten, werde ich nicht zur Hochzeit kommen, und er wird niemals Teil unserer Familie sein. Solltest du eines Tages weitere Kinder haben – gekauft, oder wie auch immer –, werden sie nicht zu unserer Familie gehören. Du selbst bist hier immer willkommen. Aber niemand, mit dem du verheiratet bist – es sei denn, es handelt sich um Vicky. Das sind meine Bedingungen, und das ist der Preis für dieses Handy. Bist du damit einverstanden?«

Sie sieht auf, die Augen gerötet.

»Ähm … klar doch … ist gut«, sage ich, wobei ich mit meiner benutzten Gabel auf dem Teller herumspiele. Wieso konnte sie nicht einfach schreien? Mir ist nicht mal nach Weinen zumute. Das flaue Gefühl in meinem Magen ist verschwunden, und ein großes, fettes, leeres Nichts hat seinen Platz eingenommen. Ein Kind großziehen, das nicht von mir ist – und meine beste Freundin zur Ehe mit einem Typen zwingen, der auf Typen steht –, oder für immer alleine bleiben. Das ist die Entscheidung, vor die Mom mich stellt.

»Das war wohl nicht das, was du erwartet hattest?«, fragt sie, während Tränen ihre Augen und ihre Nase verstopfen. »Was hattest du denn erwartet? Dass mir das alles egal ist? Dass es keinen Einfluss auf meine Gefühle für dich hat?«

»Hat es denn … einen Einfluss auf deine Gefühle für mich?«

Ein ausdrucksloser Blick begegnet mir. Die Angst fährt mir in die Glieder, schnell und heftig, als würde ich eine vibrierende Rüstung tragen. Ich will lieber Ario schreiben, statt einen Zusammenbruch am Esstisch zu haben, also nehme ich mein Handy und Mr Hannigans Umschlag und stehe auf. Ich bin bereits um die Frühstücksinsel herum und fast an der Treppe angekommen, als Mom hinter mir mit neuer, wütender Energie auf mich losgeht:

»Und geh ja nicht online und zieh über mich her! Ich weiß, dass du das tust.«

»Das ist nicht wahr.«

»Oh doch.«

»Woher willst du das wissen? Du kennst meinen Account doch gar nicht!«

»Gina hat mir Screenshots geschickt.«

Gina. Ich fahre betroffen herum, im Durchgang zwischen Küche und Flur, wo Fliesen auf Teppichboden treffen. VERRAT. Meine Cousine Gina, mit ihrem selbstgefälligen Arschloch-Ehemann, der Rechtsanwalt ist, hat nichts Besseres zu tun, als mir hinterherzuspionieren und ihr potthässliches Baby zu stillen. Wieso nur will meine ganze Familie mich buchstäblich umbringen?

»Ihr seid Abschaum, alle miteinander!«, brülle ich. Aber Wut funktioniert bei Mom nie, davon wird sie nur noch selbstgerechter. Ihre Tränen sind bereits getrocknet.

»Besprich unsere Privatangelegenheiten mit niemandem, auch nicht online. Hast du mich verstanden? Und Bilder, auf denen ihr euch küsst, wirst du löschen.«

»Nein.«

»Entweder du löschst sie, oder du kannst nicht …«

»Dann gehe ich eben!« Ich gönne ihr nicht die Genugtuung, ihre Drohung zu beenden: … oder du kannst nicht länger hier wohnen. Ich stampfe so fest mit dem Fuß auf den Fliesenboden, dass er eigentlich bersten müsste.

Mom zuckt immer noch mit keiner Wimper.

Sie tut es wirklich. Echt jetzt, sie schmeißt mich raus? Wo soll ich denn hin? Dad lebt in einem ganz anderen Land und macht sich noch weniger aus mir als sie, soweit das überhaupt möglich ist. Ich könnte vielleicht bei Ario unterkommen … Es wäre mir zuwider, ihn noch mehr in mein Familiendrama hineinzuziehen, als ich das ohnehin schon getan habe, aber ich habe keine Wahl, und seine Mom würde mir sofort helfen.

Sie ist so nett. Sie ist so normal.

Wieso nur haben alle anderen eine nette, normale Mom und ich diese Vollkatastrophe?

Mühsam versuche ich zu atmen, während mir ein Angstschauer über den Rücken jagt. Jetzt nicht ohnmächtig werden! Ich brauche Musik – Carly Rae. Ariana. Im Moment würde ich alles nehmen, solange es mich nur aus dieser Spirale befreit. Schließlich nicke ich – von Kopf bis Fuß gefühllos – und schleppe mich nach oben. Ich komme an einer Wand vorbei, an der Kruzifixe aus glasiertem Porzellan und gerahmte Porträts von der Hochzeit meiner Eltern hängen – billige bunte Kleider und elegante Männer in Anzügen. Eine wahre Karambolage zwischen Floridianern und Engländern. Irgendwo auf diesen Bildern bin auch ich, ein sechzehn Wochen alter Fötus. Ein heimlicher Hochzeitsgast. Und meine Eltern, die fröhlichen Lügner. Sie sind fast mein halbes Leben getrennt gewesen, und sie will mir erzählen, was Gott gutheißt und was nicht.

Es ist ja nicht für immer, Connor, rufe ich mir ins Gedächtnis.

Ich habe noch Zeit, sie umzustimmen.

***

Endlich bin ich in meinem Zimmer und allein. Das Ladekabel gleitet in die Buchse, und nach dreißig endlosen Sekunden erwacht mein Handy aus seinem Koma. Diese Oase der Ungestörtheit. Ich war schon seit Wochen nicht mehr ungestört (Einsamkeit und Ungestörtheit sind nicht das Gleiche). In meiner untersten Schreibtischschublade liegt dort, wo früher meine Nintendo Switch war, ein übergroßes Buch für die Vorbereitung auf den College-Test. Auf dem Haftzettel, der daran klebt, steht:

Switch stattdessen hierher.

Mein Leben ist ein einziger Tatort. Mom geht ständig in mein Zimmer, an mein Handy und durch meine Gaming-Sachen, um Beweise dafür zu finden, dass ich tatsächlich nicht der Sohn bin, für den sie mich gehalten hat.

Ein Feuerwerk von Nachrichten ploppt auf meinem Handydisplay hoch, aber ich will erst meinen Rucksack packen, bevor ich sie lese – bevor ich Gelegenheit habe, meine Meinung zu ändern. Ich stopfe T-Shirts und Socken in einen verschlissenen JanSport-Rucksack, bis er beinahe platzt. Was Hosen angeht, wird mich die Shorts, die ich gerade trage, über den Sommer bringen. In diesem Schätzchen kann ich es wochenlang aushalten. Mehr ist nicht nötig. Mom hat immer noch meinen Laptop, also brauche ich sonst nichts, abgesehen von meinem Fahrrad, damit ich zu Ario komme. Ich werde warten, bis sie schläft, und über alle Berge sein, bevor ich je die Worte Verlass mein Haus hören muss.

Ich lege Kacey Musgraves auf. »High Horse« hat einen guten Beat; wenn ich »Space Cowboy« oder eines ihrer langsameren Lieder spiele, werde ich nur weich wie Butter. Unten singt Mom – ohne Ausdruck – während des Geschirrspülens bei Karen Carpenter mit, und ich drehe Ms Musgraves auf meinem Handy voll auf. Durch das offene Fenster kommt eine kühle, nächtliche Brise, aber ich schalte trotzdem den Ventilator auf der Fensterbank ein. Wenn ich so aufgewühlt bin wie jetzt, überhitze ich leicht. Ich ziehe meinen ärmellosen Hoodie aus, rolle mich neben dem Ladekabel an der Wandsteckdose zusammen und lasse mich von den rauen Teppichfasern massieren, während ich meiner hinterhältigen Cousine Gina schreibe:

du beschissene Verräterin

dein Baby ist hässlich

Nach getanem Werk blockiere ich Ginas Nummer und alle ihre Accounts in den sozialen Medien. So wie ich sie kenne, wird sie einen Fake-Account einrichten, um mir zu folgen, weshalb ich mein Konto auf privat stelle. Jetzt kommen die wichtigen Dinge an die Reihe. Ich sende zwei identische Nachrichten an Ario und Vicky: Hab endlich mein Handy wieder.

Sofort erscheinen die drei Punkte, die anzeigen, dass geschrieben wird.

Ario: OMG, geht es dir gut???

Ich: Ich bin so dermaßen am Ende. Du fehlst mir.

Ario: Du fehlst mir auch! Hat sie dir wehgetan?

Ich: Was? Nein, so ist sie nicht. Sie ist einfach nur gemein.

Ario: :-(

Sorry, warte kurz, meine blöde Schwester lässt mich nicht in Ruhe, bin gleich wieder da.

Ich: Ist gut! Alles klar.

Aber es ist nicht gut.

Ich würde Ario gerne sagen, dass ich bereits einen Rucksack gepackt habe, um zu ihm zu fliehen, aber dieser Plan fällt bereits in sich zusammen. Will ich wirklich während meines Abschlussjahrs weglaufen? Wäre es überhaupt legal, wenn die Navissis mich aufnähmen? Was, wenn seine Mom doch Nein sagt? Auch wenn sie das niemals tun würde. Aber selbst wenn sie einverstanden ist, was wird dann aus der Schule? Ario und ich gehen auf verschiedene Schulen, aber seine ist viel cooler. Ich könnte vielleicht auf seine Schule wechseln – er hat sich dort bereits geoutet und ist wahnsinnig beliebt. Ständig hängt er mit ungefähr einer Million Leuten ab. Ihm kommt niemand blöd. Letzten Monat hat er seinen Abschluss gemacht, wir könnten also nicht das offen schwule Pärchen sein, das zwischen den Schulstunden in den Gängen herumknutscht, aber wenigstens hätte ich es dort leichter.

Ario lebt in White Eagle, einer viel schöneren Stadt, die etwa fünfzehn Meilen entfernt liegt und in der es echte Kultur wie Kinos und Buchhandlungen gibt. Wir haben uns in der dortigen Buchhandlung kennengelernt; er kam direkt auf mich zu, während ich mich in der LGBTQ-Abteilung herumdrückte wie eine verängstigte Katze. Dieser blendend aussehende, ältere Junge mit den Grübchen und der glatten Haut stellte sich mir vor, und ich konnte nur schwitzen, als hätte er mich beim Ladendiebstahl ertappt. Er merkte, wie nervös es mich machte, in dieser Abteilung gesehen und von jemandem angesprochen zu werden, der so … anziehend war. Er fragte mich nach meiner Nummer, und vor lauter Schreck konnte ich mich nicht mehr daran erinnern (war es 4731 oder 3471?). Behutsam nahm er mir das Handy weg, wobei unsere Finger sich kurz berührten, und trug sich selbst als neuen Kontakt ein, unter »Ario, der Hübsche aus dem Buchladen« (was ich später in »Arios Buchladen« änderte, um meiner schnüffelnden Mutter keinen Hinweis zu liefern).

Als ich Ario kennenlernte, fühlte es sich an, als wäre ein langjähriger Fluch endlich gebrochen. Von jetzt an würde mein Leben ein verträumter, schwuler Teenie-Film sein, so wie es sich gehörte. Aber dazu kam es nicht. Ario brachte zwar Licht in mein Leben, aber die Schatten wurden nur umso tiefer. Mit meiner Mutter fertig zu werden, mit dem Reverend, der Schule, Vicky, ihrem Baby-Drama, der räumlichen Entfernung, die mich von Ario trennte … all diese Hindernisse machten meine neue Beziehung keineswegs spannend. Sie raubten mir mit jeder Wendung Energie und Freude.

Das war der Punkt, an dem Ario dachte, mein Coming-out wäre die Lösung. Er hat sich geirrt.

Was stimmt nur nicht mit mir? Es ist, als wollte mir das Universum sagen, dass ich keinen Freund verdiene. Und bald werden die Hürden nur noch größer werden. Ario und ich haben nicht mehr viel Zeit im richtigen, analogen Leben – ab dem nächsten Monat geht er auf ein College in Chicago. Drei Autostunden von hier entfernt.

Endlich vibriert mein Handy, und Vickys Antwort erscheint: Hi!! Tut mir leid, hab geschlafen. Meine Mom hat mir Avery kurz abgenommen. Ist bei dir alles in Ordnung??

Ich: Sorry! Schlaf weiter – mir gehts gut. Du kriegst ohnehin kaum Schlaf ab.

Vicky: Schon gut, jetzt bin ich wach. Diese Hitze ist so ätzend!

Ich: Meine Mom redet sich ein, dass ich Averys Dad bin und dich verlassen habe – sie projiziert ihren Mist mit meinem Dad auf uns.

Vicky: Oh Gott.

Vicky schickt mir ein GIF aus Real Housewives, in dem Bethanny Frankel die Augen verdreht.

Vicky: Du hast ihr doch nicht erzählt, wer Averys Dad ist, oder?

Ich: Natürlich nicht.

Vicky: Ich weiß ja, wie sie sein kann. Es wäre okay, wenn du es ihr sagen müsstest, damit sie den Mund hält.

Ich: Vicky, hör auf, ich würde niemals irgendjemandem was sagen. Ehrenwort.

Vicky: Danke :-( Tut mir leid. Ich weiß ja, dass es leichter für dich wäre, wenn sie die Wahrheit wüsste.

Damit hat sie allerdings recht. Wir wissen schließlich beide, wer der wahre Vater ist: Als Vicky und ich zusammen waren, hat sie mich mit Derrick »betrogen« – ihrem Chef vom Multiplexkino in White Eagle (allerdings habe ich sie damals sträflich vernachlässigt, was macht es also schon?). Derrick ist dreiundzwanzig, und sie ist total in ihn verknallt. Selbst nachdem er Hals über Kopf die Stadt verlassen hat und sie ihr Kind allein bekommen musste, erzählte sie es niemandem. Ihr Dad würde Derrick anzeigen, das lehnt sie ab. Sie glaubt allen Ernstes, dass Derrick es sich anders überlegen und zu ihr zurückkehren wird.

Am liebsten würde ich sie anschreien, dass sie sich etwas vormacht und Derrick alles verdient, was ihm blüht, aber sie würde mir nicht zuhören. Das würde nur damit enden, dass sich meine einzige Verbündete in Ambrose von mir zurückzieht. Außer mir hat sich Vicky niemandem anvertraut. Zu meinem Unglück war ich, als sie schwanger wurde, gerade mit Vicky zusammen. Je länger diese Scharade also andauert, desto mehr wirke ich wie der Große Schwule Versager.

Ich: Vielleicht wäre es ja leichter, wenn wir wieder zusammenkämen. Dann würde man mich in Ruhe lassen, und du hättest Hilfe.

Vicky: LOL, und was ist mit Ario?

Ich: Na ja, es dürfte dich eben nicht stören, dass ich mich nebenbei mit Typen treffe.

Nachdem Vicky eine Ewigkeit getippt hat, besteht ihre Antwort nur aus einem simplen haha. Ich sollte keine Witze reißen (oder vielleicht nur halbherzige). Vicky steckt genauso tief in der Scheiße wie ich, und wenn ich ihr anbieten würde, Averys inoffizieller Vater zu sein, würde sie allein schon Ja sagen, um mehr Schlaf zu bekommen.

Vicky: Ich muss Schluss machen, aber ich hab dich lieb. Du kannst mir jederzeit schreiben.

Ich wechsele wieder zu Ario, der, wie sich herausstellt, mir die ganze Zeit geschrieben hat, während ich mit Vicky gechattet habe, nur leider hat mein beschissenes Handy kein einziges Mal vibriert. Er hat mir ein GIF von sich geschickt – Rehaugen, schwarze Locken, und er formt mit den Fingern ein Herz.

Ich: <3 Meinst du, ich könnte für ein paar Tage bei euch bleiben? Hier drehe ich noch durch.

Als er nicht antwortet, merke ich, dass ich seine Nachricht nach dem GIF verpasst habe: Bin gleich wieder da, muss nur kurz weg – hab meiner Schwester versprochen, sie und ihre Freundinnen aus der Hölle zum Jahrmarkt zu fahren. Ungefähr eine Stunde Fahrt, ächz. Schreib mir später wieder, ja?? Halt durch!

Verdammte Scheiße!

Ich habe das Zeitfenster verpasst, um Ario meine wichtigste Frage zu stellen. Meine Ohren brennen. Ich lege mein Handy mit dem Display nach unten hin und berühre den Anhänger auf meiner nackten Brust. Es ist eine handgeschnitzte, fingergroße Blockflöte aus Bambusholz; wenn ich sie spüre, habe ich das Gefühl, Ario nahe zu sein. Ich muss ihm schreiben, sonst stehe ich buchstäblich auf der Straße. Vicky kann ich damit nicht belasten. Sie hat schon genug am Hals, außerdem wären bei Mom sämtliche Zweifel beseitigt, wenn Vicky und ich in wilder Ehe zusammenleben würden.

Ricky Hannigans Umschlag liegt beinahe vergessen auf meinem ungemachten Bett mit den zerknitterten Laken. Mr Hannigan, dieser nette, hohläugige Mann, hat mir in seinem Testament ein Geschenk hinterlassen. Ich entferne die Messingklammer, die den Umschlag verschließt; er enthält eine zusammengefaltete Zeitschrift. Kein Geld. Ich weiß nicht recht, was ich erwartet habe, der Umschlag war ohnehin viel zu leicht. Ich erkenne das hellgelbe Cover der Zeitschrift sofort wieder – es ist ein Heft des Theatermagazins Playbill. Rickys Zimmer war übersät mit denen. Hauptsächlich ältere Ausgaben – Chicago, Dreamgirls, Sweeney Todd, A Little Night Music, Into The Woods – alles Inszenierungen aus Zeiten, in denen Ricky noch ausgehen konnte. Dieses hier ist von South Pacific. Die lebhaften Kreidezeichnungen auf dem Cover zeigen Matrosen, die über eine tropische Insel tanzen. Ricky hat immer Musicals gehört, wenn ich zu ihm kam, aber an dieses hier kann ich mich nicht erinnern. Als ich das Heft aufschlage, offenbart sich mir ein barbarischer Anblick: Jemand hat die Seiten mit schwarzen, ungleichmäßigen Filzstiftbuchstaben dermaßen verunstaltet, dass auf den ersten Blick nicht einmal Wörter erkennbar sind.

Dann begreife ich: Ricky hat mir eine Abschiedsbotschaft hinterlassen. Er konnte den Stift nicht mehr richtig halten, weshalb die Buchstaben unterschiedlich groß und an manchen Stellen zittrig sind. Dennoch ist die Botschaft deutlich lesbar:

HILFE CONNOR.

Meine Lippen öffnen sich, aber ich bekomme keine Luft. Ich blättere um. Quer über das Impressum hat Ricky ein Wort gekritzelt: NIGHTLIGHT.

Wieder und wieder. Auf jeder Seite, quer über die Schauspieler-Biografien geschmiert:

NIGHTLIGHT. NIGHTLIGHT. HILFE CONNOR. NIGHTLIGHT.

Die Playbill fällt auf die zerknüllten Shirts in meinem offenen Rucksack, und ich weiche zurück, als wäre sie eine Bombe. Meine Fingerspitzen kribbeln, und auf meinen Schultern bildet sich Gänsehaut; die nächtliche Brise, die durch mein Fenster hereinkommt, ist mit einem Mal nicht mehr angenehm. Ich versuche, den ärmellosen Hoodie anzuziehen, aber meine Arme haben sich in plumpe Anhängsel verwandelt. Während ich mit dem Shirt kämpfe, explodiert die Panik in meinem Kopf wie eine Nagelbombe, die Angstsplitter füllen mich aus und zerreißen sämtliche Gedanken.

Irgendetwas stimmt hier nicht.

Die kleinen Härchen in meinem Nacken stellen sich auf, während Rickys verworrene Botschaft immer weitergeht, Echos, die sich wie Schreie lesen: Hilfe Connor. Nightlight. Ricky hat in seinem Testament diese Nachricht an mich hinterlassen. Nicht, als er noch am Leben war. Wobei hätte ich ihm seiner Meinung nach also nach seinem Tod helfen können? Er ist an einem infizierten Dekubitus-Geschwür gestorben, was nicht seltsam oder verdächtig erscheint. Er hatte den Reverend, seine Mom und eine Million anderer Menschen, die ihm bei allem geholfen haben, was er brauchte oder sich wünschte. Warum ich? Warum gerade jetzt? Und was bedeutet »Nightlight«?

Die Paranoia droht meine Brust zu sprengen. Ich habe das Gefühl, in meinem einsamen Zimmer nicht mehr allein zu sein. Rasch drehe ich mich zu meiner Tür um, in der Erwartung, dass mich dort das flehende Gesicht von Ricky ansieht, als Gespenst, als lebender Toter. Aber da ist niemand. Hastig drehe ich mich wieder zum offenen Fenster um, aus Angst, der faulige, von Erde bedeckte Leichnam dieses netten Mannes könnte hereinklettern. Nichts.

Aber das Gefühl von Blicken, die mich verfolgen, will nicht verschwinden. Irgendwie ist Rickys Geist wirklich hier. Er versucht, mich mit seiner Nachricht zu erreichen, über seinen Tod hinaus.

Ein Hilfeschrei. Rickys krakelige Handschrift sieht so schmerzerfüllt aus.

Ich lasse einen tiefen Atemzug der Vernunft zu, um meinen Herzschlag zu beruhigen.

Ricky ist tot, Connor. Was auch immer hier los ist, du kannst ihm nicht mehr helfen.

Ich muss raus hier.

Der Druck auf meiner Brust will zwar nicht nachlassen, aber er wird von der Frage verdrängt, was zum Teufel ich wegen heute Nacht unternehmen soll. Ich glaube, sie will mich rausschmeißen, schreibe ich Ario schnell. Dann rolle ich mich wieder auf dem Fußboden zusammen und warte eine halbe Stunde darauf, dass mein Handy aufleuchtet und mich aus diesem Schlamassel wegteleportiert.

Noch während ich warte, schlafe ich ein.

***

»Connor, du musst aufwachen«, sagt eine raue, britische Stimme.

»Dad?«, stöhne ich. Meine Träume waren ein Durcheinander aus Schritten und Geflüster. Ich liege immer noch auf dem Fußboden, aber jetzt sind lauter schwarz gekleidete Fremde im Zimmer. Zwei Männer stehen vor mir, nächtliche Schatten verdecken ihre Gesichter. Nicht Schatten – Sturmhauben.

Das ist kein Traum. Und das ist nicht mein Dad.

Es sind Fremde im Haus.

»Hallo«, sagt ein anderer Mann und lässt meinen Rucksack von seinem Finger baumeln. »Wir haben deine Tasche.«

»Du musst mitkommen«, befiehlt der Brite. »Wir können das hier auf die leichte oder auf die harte Tour machen.« Ich verschwende keine Sekunde. Im Dunkeln rappele ich mich auf, aber meine Füße rutschen auf dem Teppichboden weg, und ich pralle mit der Hüfte gegen den wegrollenden Schreibtischstuhl. »Also auf die leichte Tour.«

Mein Handy. Es hängt immer noch am Ladekabel. Ich bin nur wenige Zentimeter von seinem Lichtschein entfernt. Ich hechte nach vorn, aber die Männer reagieren mit schlangengleicher Geschwindigkeit. Meine Arme und Schultern klatschen leblos wie nasses Brot auf den Fußboden. Ich kann mich nicht einmal wehren, als sie mich mit ihren kräftigen Händen nach unten drücken. »MOM!«, schreie ich in den Teppichboden.

Ehe ich wieder Luft holen kann, werde ich aus dem Zimmer und zum Treppenabsatz geschleift. Meine Füße heben vom Fußboden ab, als einer der Männer mich – mit meinen ganzen dreiundsechzig Kilo – über seine Schulter wirft. Er geht mit mir die Treppe hinunter, und ich greife mit klammen, nutzlosen Händen nach der Wand. Dutzende von Familienfotos, die ich mit der Hand streife, knallen auf die Treppenstufen. Drei Kruzifixe von Precious Moments fallen herunter und zerschellen zu Goldfiligran und rosa Tonstaub.

»Mach nicht die hübschen Sachen von deiner Mama kaputt«, knurrt der Brite, während ich um mich schlage.

Du musst lauter sein, Connor. Weck Mom auf!

Endlich dringt die Stimme meiner Mutter aus dem Nebenzimmer: »Schatz?« Kopfüber hängend verdrehe ich den Hals, bis ich um den schweißfeuchten Rücken des Einbrechers herum einen Blick auf meine Mutter erhasche, die im Durchgang zur Küche steht. Sie trägt immer noch den Schwesternkittel, den sie beim Abendessen anhatte. »Ich hab dich lieb.«

»Moment mal!«, rufe ich, während mir Speichel über das Kinn rinnt. »Was soll das alles …?«

»Er hat versucht, wegzulaufen, Mrs Major«, erklärt der Einbrecher. »Tut mir leid, aber es war notwendig. Bitte entschuldigen Sie die Unordnung.«

»Ich verstehe schon«, sagt Mom. »Bitte seien Sie vorsichtig mit ihm.«

»Mom?!«, quieke ich.

»Es wird alles gut, Connor …« Ihr Gesicht fällt in sich zusammen, und sie wird von Schluchzern geschüttelt. Sie lässt zu, dass die mich mitnehmen. Sie will, dass die mich mitnehmen!

»Ich gehe nirgendwohin!« Aber der massige Brite schleppt mich bereits durch die Haustür, die ihm ein kleinerer, gedrungenerer Mann mit Sturmhaube aufhält. »Mom, was haben die mit mir vor?!«

Draußen in der Nachtluft, wo die Grillen zirpen, wirft mich der Brite wie einen Sack Kartoffeln von seiner Schulter, und ich lande rücklings auf dem Rasen im Vorgarten. Mir bleibt die Luft weg. Vier behandschuhte Hände packen mich unter den Armen, und wieder bin ich schwerelos, als mich zwei Männer unseren Hügel hinunter zur Landstraße tragen. Meine nackten Fußspitzen streifen über das taufeuchte Gras, bis wir zu einer parkenden Limousine gelangen.

Die schwarze Limousine.

Die Limousine, die während des Abendessens unser Haus umrundet hat, aber jetzt mit laufendem Motor neben den Packard-Feldern steht und auf mich wartet. Das kann nicht sein. Es kann verdammt noch mal nicht sein, dass das passiert. Der Brite lässt die Tür der Limousine aufgleiten, und ein schwarzer Abgrund grinst mich an.

»MOM!«, schreie ich, als sich meine Lunge viel zu spät wieder mit Luft füllt.

Das Echo meiner Schreie hallt über Reverend Packards Farm, aber meine Mom steht nur oben an der Auffahrt und weint hinter vorgehaltener Hand, während die Tür hinter mir zufällt und der Wagen sich mit mir entfernt.

2

ALLE MANN AN BORD

Summ. Da summen die ganze Zeit Hummeln unter mir, während ich versuche, ein bisschen zu schlafen. Als ich mühsam die Augen öffne, sehe ich draußen in der Nacht verschwommen das Licht von Straßenlaternen vorbeihuschen, und Dutzende von Autos hupen, während das Summen weiter die Sitze der Limousine vibrieren lässt.

Die Limousine …

Das einzige andere Geräusch ist ein tiefes, sonores Brummen – ein permanenter Ton, der mich beunruhigt.

Summ. Als ich zwölf war, flohen Mom und ich auf der Suche nach einem ruhigeren, frommeren Leben aus Florida nach Ambrose. Damals brachte die Schnellstraße nach Illinois unseren überladenen Hyundai zum Vibrieren … Und die Vibrationen klangen wie das Summen von Hummeln.

Summ.

Wir befinden uns auf einer Schnellstraße. Mein Herz hämmert wie wild, als ich ganz aus meinem Traum auftauche und mich mit entsetzlicher Klarheit daran erinnere, dass ich entführt wurde. Ich fahre von der Bank hoch – wobei sich die Haut an meinem Arm in der stickigen Hitze schmerzhaft von dem Kunstlederbezug löst – und erblicke meine Entführer.