Lust auf mehr?
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Für Stefan
Wer bin ich?
Wer zum Teufel bin ich eigentlich, wenn alles, was ich für richtig hielt, falsch war?
Wenn das, was sicher schien, nichts weiter war als trügerische Fassade?
Wieso habe ich nichts bemerkt?
Bin ich schuld?
Auf dem kurzen Weg zur Bushaltestelle stolpere ich zwei Mal, so als wären die Sandalen, die ich trage, plötzlich zu groß geworden.
Wo soll ich hin?
»Wohin soll denn die Reise gehen, wohin, sag wohin …?« Die Worte schwirren durch meinen Kopf. Ich höre mich nervös summen. Mein Vater hat dieses Lied oft gesungen, wenn er am Steuer seines Wartburgs saß und wir in den Urlaub an die Ostsee fuhren. Und natürlich habe ich mitgesungen, als ich klein war. Fröhlich, gut gelaunt, eine tolle Familie. Das Rauschen des Meeres schon im Ohr … Dem bunten Sommer entgegen. Die Zöpfe von der Mutter geflochten, ordentlich und nett.
Wo soll ich jetzt bloß hin?
Weg. Weg von zu Hause. Ich bin achtzehn. Zeit, auf eigenen Füßen zu stehen. Auch wenn die Beine sich grad anfühlen wie aus Gummi. Auch wenn sich alles plötzlich fremd anfühlt.
Ich bin mir selbst eine Fremde.
Hätte es wissen müssen … wenigstens ahnen.
Jetzt klebt mir die Schuld am Hacken.
Ich lege meinen Rucksack auf die Bank. Meine Hände schwitzen, als wären sie erschöpft vom Umblättern der Seiten. Eine Seite schwerer als die andere.
Klar, ich wollte Antworten haben. Aber darauf war ich nicht gefasst.
Warum? Warum war ich so dumm?
Kleine Pfützen vom letzten Regen glänzen und spiegeln sich in den Schaufenstern. Es ist, als würde auch die Erde schwitzen.
Ich ziehe meine Sandalen aus, meine nackten Füße schweben über dem schmutzigen Wasser. Die strenge Sonne wird die Bäche bald verdampfen lassen. Und irgendwann wird dann neuer Regen kommen und sich rächen. Vielleicht reicht seine Wut eines Tages aus, die Welt zu überschwemmen.
In der Straße riecht es nach Bier, Coca-Cola und heißem Fett. Der Lärm von einer Baustelle schallt herüber. Arbeiter klettern auf einem Gerüst umher. Mit nacktem Oberkörper; nur jeder Zweite trägt einen Helm. Über die alten Fassaden werden neue geklebt. Und an jeder Ecke steht eine Imbissbude.
Ich sitze auf der Bank, mit dem Geruch des ranzigen Fetts in der Nase und der Übelkeit im Bauch. Meine nicht gerade sauberen Füße kreisen über der Pfütze. Schmutzig. Du hast dich schmutzig gemacht. Ich will das nicht denken. Aber ich denke es.
Mein Blick folgt den Tauben, die grau aussehen, gefräßig, wie gefiederte Ratten, und die im Zickzack über das Kopfsteinpflaster hetzen, mal hier, mal dort picken. Der Gott der Tauben weiß, wonach. Die Geschäftigkeit der Vögel lässt mich an meine Mutter denken. Sie wird nervös lächeln, wenn sie dem Vater den von der Tochter beschriebenen Zettel reicht. ICH MUSS ICH WERDEN. Eilig hingekritzelt, die Buchstaben scheinen zu tanzen.
Der Vater wird sich den Kopf kratzen, und sie wird ihn ansehen, warten, dass er etwas sagt. Ich habe ihre säuerliche Miene vor Augen, dieses verletzt-empörte »Womit haben wir das verdient«-Gesicht.
Ein Kind hüpft in eine Pfütze, sodass das Wasser überschwappt und braune Regentropfen auf meinen nackten Füßen hinterlässt. Aus meinem Mund dringt ein erstauntes »He!«, aber das Kind hört mich nicht; es springt einfach weiter – mit einer seltsamen Ernsthaftigkeit, als müsste es einen Auftrag erfüllen.
Das Wort Erfüllungsgehilfe kommt mir in den Sinn. Ein Schauer läuft mir über den Rücken.
Hastig ziehe ich mir die Schuhe wieder an, rutsche von der Bank. Wann kommt der Bus endlich? Ich muss hier weg.
So. Schnell. Wie. Möglich.
Ich starre auf die Zahlen, die Uhrzeiten des Fahrplans, als könnten diese etwas in mir ordnen.
Zu spät. Zu spät … Alles zu spät.
Was hätte ich getan, wenn ich es gewusst hätte?
Die Hitze staute sich in dem kahlen, unpersönlichen Raum, und der Staub fraß sich mir in die Augen und in die Nase. Der Staub der Akte. Das Gift der Vergangenheit. Ich musste niesen und suchte vergeblich nach einem Taschentuch. Dann blätterte ich wieder eine Seite um. Der nächste Bericht. Schwarz auf weiß.
Der Bus kommt und ich steige ein.
Nur weg hier. Weg.
Wo bist du?
Jakob?
Das erste Mal seit Langem, dass ich seinen Namen wieder denke.
Ich sehe ihn vor mir, so deutlich wie am Tag unserer ersten Begegnung.
Wohin, sag wohin, ja, wohin?
1 Ihr Herz klopfte in einem schnellen, nervösen Rhythmus, als sie das fremde, wuchtige Gebäude betrat. Ein Lächeln lag auf ihrem Mund, wie hastig aufgetragene Farbe von Lippenstift. Irgendwie verschmiert. Nicht besonders glaubwürdig. Sie hoffte bloß, dass man ihr ihre Unsicherheit nicht anmerkte.
Sie war neu in der Schule und musste sich erst zurechtfinden. Den Blicken, die sie auf den Korridoren und in den Unterrichtsräumen trafen, wich sie nicht aus, erwiderte sie aber nur kurz.
Die erste Überraschung, auf die sie zu Beginn der dritten Stunde stieß, war ein großer klebriger, offenbar frisch ausgespuckter Kaugummi. Sie fand ihn in dem Ablagefach unter dem Tisch, an dem sie saß.
Eigentlich hätte sie ihn gleich bemerken müssen – er duftete fruchtig-süß, irgendwie aufdringlich und gleichzeitig verführerisch. Also aus dem Westen, dachte sie. Die Ostkaugummis rochen eher nach nichts, jedenfalls wenn man sie länger als eine Minute gekaut hatte. Auch wurden sie im Mund schnell hart wie Holz. Und dieser hier war weich, beinahe schlabbrig.
Sie hatte natürlich voll hineingefasst, als sie ein Schulbuch in das Fach legen wollte. Vorsichtshalber lächelte sie, als wäre nichts.
War das Absicht? Ein Willkommensgeschenk für die Neue?
Ihre Mundwinkel verzogen sich spöttisch.
Bild dir nichts ein, Jana.
Es war nur ein Kaugummi. Etwas Harmloses also. Etwas, das man in einem Klassenraum erwarten konnte. Warum war sie dann so nervös?
Sie fühlte sich unbehaglich. Die vielen Blicke, die sie streiften, gingen ihr allmählich auf die Nerven.
Die Gänsehaut auf ihren Armen rührte allerdings eher daher, dass sie im T-Shirt in der letzten Reihe saß. Immerhin war sie so clever gewesen, vor Unterrichtsbeginn auf der Toilette die FDJ-Bluse auszuziehen, die ihre Mutter ihr aufgezwungen hatte. »Es ist dein erster Schultag, Jana. Du willst bei deinen Lehrern doch nicht gleich unangenehm auffallen?«
Sie hatte den Kopf geschüttelt und sich gefügt. Jedenfalls scheinbar.
Natürlich saß hier niemand in FDJ-Hemd herum. Sie hätte sich zum Affen gemacht schon am ersten Tag.
Sie wollte vor allem bei ihren Mitschülern nicht unangenehm auffallen.
In der Dorfschule, die sie bisher besucht hatte, war es üblich, jeden Montag im Blauhemd zu erscheinen und beim Fahnenappell vor der ersten Unterrichtsstunde mehr oder weniger gelungen strammzustehen. Jeden Montagmorgen hielt der grauhaarige Direktor die gleiche langweilige Rede. Immer ging es um den Sozialismus, der die großartigste Sache war, die es auf der Welt gab, mal abgesehen vom Kommunismus, der noch viel großartiger war, aber den mussten sie ja erst noch erreichen. Manche der Jungs aus der Neunten und Zehnten hielten die Augen geschlossen, schwankten in der letzten Reihe wie der Fahnenmast im Wind und rochen noch auffällig nach dem Alkohol, den sie am Wochenende konsumiert hatten.
An ihrer neuen Schule schien man dieses Wochenanfangs-Ritual nicht zu kennen. Auch die Begrüßung »Freundschaft!« zu Beginn der Stunde klang so genuschelt, dass es genauso gut »Feindschaft« heißen konnte.
Würde sie hier Freunde oder Feinde finden?
Jana fühlte, wie sich ihre Schultern wie von selbst leicht hoben.
Sie hatte bisher nie Probleme gehabt. Sie wurde akzeptiert von den anderen. Sie war eine gute Schülerin, die – wie die Lehrer sagten – »noch Reserven« besaß. Was nur bedeutete, dass sie nicht immer fleißig genug war. Genauer gesagt, dass man sie gelegentlich für faul hielt. Sie träumte manchmal lieber vor sich hin, statt Russisch-Vokabeln zu pauken. Ihre Gedanken gingen spazieren, öffneten die Tür des Klassenzimmers oder huschten einfach aus dem Fenster hinaus. Mit der Zeit gelang es ihr immer besser, da zu sein, sich zu melden, etwas in den Hefter zu schreiben und gleichzeitig in einem ihrer Tagträume zu versinken, in denen zunehmend auch Jungen mit grünblau schillernden Augen und mysteriösem Lächeln auftauchten. Jungen, die es in Wirklichkeit nicht gab, jedenfalls nicht in ihrer Wirklichkeit. Aber was nicht war, konnte ja noch werden.
Der Junge, der Jakob hieß, kam erst zur vierten Stunde. Er murmelte eine Entschuldigung und legte einen Zettel auf den Lehrertisch. Dann trabte er auf die letzte Reihe zu und blickte Jana erstaunt an.
»Sitz ich auf deinem Platz?«, fragte sie unwillkürlich.
Er schüttelte den Kopf und ließ sich mit einem Grinsen neben ihr nieder. Die Art, wie er sie musterte, gefiel ihr nicht.
»Kommst du jetzt öfter?«, flüsterte er.
»Sieht ganz so aus«, flüsterte sie zurück. »Und du?«
Er lachte und zeigte ihr den Daumen.
Sie tat so, als bemerke sie die Geste nicht, und rückte mit dem Stuhl ein Stück von ihm ab. Aber er kam ihr immer noch zu nah vor.
Mit dem Tagträumen im Unterricht war es jetzt wohl vorbei. Nicht nur, weil ihr dieser Jakob mit seiner langen, hageren Gestalt und seinem struppigen Haarschopf die Sicht zum Fenster versperrte.
Irgendetwas Beunruhigendes ging von ihm aus.
Sie wusste nur noch nicht, was.
2 Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, und noch bevor sie die Tür öffnen konnte, wurde sie schon aufgerissen.
»Na, wie war der erste Schultag?«
Ihre Mutter strahlte sie an, als hätte sie im Lotto gewonnen. Ihr Gesicht war mit kleinen Klecksen übersät, die aussahen wie weiße Sommersprossen. Sie hielt einen Pinsel in der Hand und trug eine blaue Badekappe, die ebenfalls mit Farbe bespritzt war.
Jana zeigte ihr schmales Nerv-mich-nicht-Lächeln und sagte frostig: »Gut.«
Es war ja nicht ihre Idee gewesen, umzuziehen. Wieso sollte sie also so tun, als wäre sie glücklich? Zwar wohnten sie am Rande von Berlin und nicht mittendrin in diesem Moloch. Alles wirkte grün und friedlich. Auch die Flugzeuge der Interflug, die manchmal schwer wie vollgefressene Riesenvögel über ihnen ihre Bahnen zogen, störten Jana nicht. Im Gegenteil: Sie verrieten ihr, dass es auch noch andere Länder gab und dass die Welt groß war. Dennoch hatte sie eine Menge verloren: den Bäcker gegenüber, der die besten Plätzchen der Welt backen konnte, das Kino, in dem es vor jedem Film drei Mal gongte, den Park mit den Pferden, die sie als Kind immer mit Möhren und Würfelzucker gefüttert hatte; vor allem aber ihre besten Freundinnen – Bea, Karen und Simone. Klar, sie konnten sich Briefe schreiben oder in den Ferien gegenseitig besuchen. Aber es würde nicht dasselbe sein wie vorher.
»Wie sind deine Mitschüler so?«, fragte ihre Mutter etwas verzagt.
Jana zuckte mit den Achseln. »Ganz nett, glaub ich.«
In Wirklichkeit hatte sie mit kaum jemandem ein Wort gewechselt, mal abgesehen von diesem Jakob, der erst drei Stunden zu spät kam und ihr dann die Sicht aus dem Fenster nahm.
Ihre Mutter nickte mit ernster Miene, als müsste sie über die tiefschürfende Antwort ihrer Tochter erst einmal nachdenken. »Und die Lehrer?«
Jana unterdrückte ein Stöhnen. »Ganz nett«, murmelte sie.
Sie dachte an Frau Lehmann, ihre Klassenlehrerin. Sie hatte eine Birnenfigur, rote Apfelbäckchen und einen schnurgeraden Pony – als würde sie sich die Haare selbst schneiden. Sie wirkte netter als nett und hatte Jana sogar nach ihren Hobbys gefragt – allerdings vor versammelter Mannschaft. Wie peinlich!
»Häkeln, stricken, kochen … gehören jedenfalls nicht dazu«, hatte Jana geantwortet. Es war lustig gemeint, aber niemand lachte.
»Was denn?«, zischte ein Mädchen mit großen dunklen, fast schwarzen Augen. »Hühner füttern und Kühe melken?«
Jana ignorierte die Frage, aber das Gekicher hörte sie nur allzu deutlich. Sie bekam also jetzt schon ihren Stempel aufgedrückt: die aus dem Dorf. Das Landei.
»Ich interessiere mich für Musik«, erklärte sie schließlich hölzern, um das peinliche Frage-Antwort-Spiel abzukürzen.
Vor wenigen Monaten hatte ihr Vater dieses Angebot bekommen: Er sollte die Leitung eines Hotels übernehmen – nicht irgendeiner zweitklassigen Absteige, sondern eines Hotels auf dem Gelände des Flughafens Berlin-Schönefeld.
Natürlich war Jana stolz auf ihn: Ihr Vater brachte es zu etwas. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Nun ja, oder vom Bediensteten in einer Bar zum Hoteldirektor. Natürlich hatte es ein paar Stationen dazwischen gegeben. Vom Kellner zum Restaurantchef, schließlich zum stellvertretenden Leiter eines FDGB-Erholungsheims. Ihr Vater schaffte es eben mit Charme und Beflissenheit, die Leute um den Finger zu wickeln. Ein »Hansdampf in allen Gassen«, sagten manche. Jana hatte keine Ahnung, was diese Bezeichnung bedeuten sollte; sie stellte sich einen kleinen, dicken Mann vor, der in wehendem Mantel und mit Hut in einen nebligen Gang tauchte. Ein Bild wie aus einem Edgar-Wallace-Film, aber was hatte es mit ihrem Vater zu tun? Jedenfalls schien dieser Hansdampf mysteriös und wichtig zu sein und das gefiel ihr.
Bisher hatten sie jedoch nie umziehen müssen.
Das war neu. Eine neue Erfahrung. Irgendwie ein neues Leben. Und das gefiel ihr weniger. Eigentlich überhaupt nicht. Sie war in ihrem alten gut zurechtgekommen.
Jana betrat ihr Zimmer, das grauenhaft nach Farbe stank, trotz der geöffneten Fenster. Vermutlich würde es ein paar Tage dauern, ehe der Geruch verflogen war. Mit den Fingerspitzen fuhr sie vorsichtig über die Raufasertapete. Sie schien immerhin schon trocken zu sein. Nach den Hausaufgaben konnte sie also loslegen und die Regale aus der alten Wohnung aufbauen und Bücherkisten auspacken. Jana seufzte tief. Ein bisschen Unterstützung wäre nicht schlecht. Aber wen sollte sie darum bitten? Ihre Mutter malerte und ihr Vater arbeitete und würde sicher erst spät nach Hause kommen. Sie kannte hier niemanden, das wurde ihr schlagartig klar. Sie musste ganz allein klarkommen.
»Das schaffst du schon«, sprach sie sich selbst Mut zu. Herausforderungen schreckten sie nicht ab, im Gegenteil. Sie stachelten sie an, sich selbst zu beweisen, dass sie alles erreichen konnte, wenn sie wollte. Nun ja, fast alles.
Sie zog ihren alten Teddy aus einer Umzugskiste, mit dem sie schon als Kindergartenkind geschmust hatte, besonders dann, wenn sie traurig war, und sah ihm tief in die schwarzen Knopfaugen.
»Du schaffst das«, flüsterte sie ihm zu.
3 »Darf ich dich was fragen?«, sprach Jakob sie am nächsten Tag von der Seite an.
»Das machst du doch schon«, gab sie schnippisch zurück.
»Du bist ein braves Mädchen, oder?«
Sie antwortete nicht. Was sollte das? Was wollte er von ihr? Sie auf den Arm nehmen?
Irgendwie wirkte er heute noch wilder als am Tag zuvor. Sein Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. Die Jeans, die er trug, war zerfranst und hatte beeindruckend große Löcher, sodass sie seine nackten Knie sehen konnte.
Er seufzte. »Bestimmt bist du das. Aber ich bin kein braver Junge. Und ich hab leider die Mathe-Hausaufgaben vergessen.«
Er schielte auf ihren Hefter und sie lachte unwillkürlich auf. »Vergiss es.«
»Ich revanchier mich auch«, versprach er vage und zeigte sein schiefes Lächeln, das sie schon kannte.
Sie schüttelte den Kopf, sie mochte keine Betrügereien – sollte er sein Hirn doch selbst anstrengen. Aber dann fiel ihr der Kleiderschrank ein, der gestern Abend nach mühevollem Aufbau einfach nach vorne gekippt und in sich zusammengefallen war.
»Du revanchierst dich auch?«, fragte sie vorsichtig nach. »Im Ernst?«
Er antwortete nicht, sondern legte die Hand auf seine Brust, auf die Stelle seines Herzens.
Die Geste versetzte ihr einen kleinen Stich. Vielleicht war es auch der Ausdruck seiner Augen, der einen Moment merkwürdig intensiv wurde. Sie spürte ein Kribbeln auf der Haut und ein seltsamer Gedanke kam ihr in den Sinn: Was würde wohl ihre Mutter dazu sagen, wenn sie einen Typen wie diesen Jakob mitbrachte? Vermutlich würde sie in Ohnmacht fallen über sein Äußeres. Ein bisschen Revanche für den ungewollten Umzug konnte doch nicht schaden, oder? In ihrem alten Leben hatte sie nie einen Jungen zu Hause angeschleppt. Sie war immer brav gewesen und hatte getan, was ihre Eltern wollten. Aber die Zeiten änderten sich eben gerade … Innerlich kicherte sie schadenfroh, aber natürlich ließ sie sich nichts anmerken.
»Bist du handwerklich begabt?«, fragte sie steif.
»Ausgesprochen«, behauptete er. »Handwerker ist mein zweiter Vorname.«
Sie zuckte mit den Achseln. Mir doch egal, hätte sie beinahe gesagt. Stattdessen schob sie ihm ihren Ordner mit den Hausaufgaben zu. »Aber mach schnell.«
Es sah aus, als würde er ihre Aufforderung wörtlich nehmen. Seine Hand kritzelte in wahnsinniger Geschwindigkeit Zahlen aufs Papier.
»Na, hoffentlich kannst du das wenigstens selbst lesen«, meinte sie.
»Das lass mal meine Sorge sein«, gab er zurück und benutzte rasch einen Tintenkiller. Von Pelikan, registrierte Jana. Ob er ihn ihr wohl mal leihen würde?
Sie selbst hatte noch nie etwas von drüben besessen. Nicht einmal eine Tafel Schokolade von Sarotti oder Milka. Sie hatten keine Westverwandtschaft. Und das war auch gut so.
Jedenfalls meinte das ihr Vater. »Wenn du Karriere machen willst, stören eine Tante in Mainz und ein Onkel in München bloß«, erklärte er seiner Tochter.
Jana nahm das so hin. Was sollte sie auch mit Familie, die »drüben« lebte? Sie könnte sie ohnehin nicht besuchen. Nur manchmal hatte sie Neid empfunden: Wenn ihre beste Freundin Simone wieder mit einer neuen schicken Jeansjacke in die Schule kam oder wenn die anderen nach Weihnachten mit leuchtenden Augen von ihren Westpaketen erzählten.
Doch sie konnte sowieso nichts daran ändern. Und der Erfolg schien ihrem Vater recht zu geben, oder nicht? Sie wohnten jetzt in einem Einfamilienhaus. Ihr neues Zimmer war viel größer als ihr altes. Der Wartburg, den ihr Vater fuhr, war erst drei Jahre alt. Und in wenigen Tagen würden sie sogar einen Telefonanschluss bekommen. Allerdings hatte keine ihrer Freundinnen einen Apparat. Sie mussten extra zur Post gehen oder in eine Telefonzelle, wenn sie Jana anrufen wollten.
Und natürlich konnte Jana nicht zurückrufen.
Der Speisesaal roch genauso wie in ihrer alten Schule: Ein Hauch von Spülmittel und altem Putzlappen lag auf jedem Tisch und mischte sich mit dem Essensgeruch. Heute gab es »Jägerschnitzel« mit Tomatensoße und Nudeln. Ein Essen, das Jana als einigermaßen genießbar akzeptierte.
Nach einer halben Stunde Anstehen setzte sich Jana an einen der wenigen freien Tische. Sie rechnete nicht damit, dass sich jemand zu ihr gesellen würde. Und eigentlich wollte sie lieber allein bleiben. Sie mochte nicht reden müssen, während sie aß.
»Was für eine Mission hast du denn für mich?«, fragte Jakob und ließ sich ungebeten an ihrem Tisch nieder.
Jana widmete sich der gebratenen und panierten Jagdwurstscheibe auf ihrem Teller und zerschnitt sie sorgfältig wie eine Geburtstagstorte.
Sie schob sich ein Stück in den Mund, kaute und erst dann hob sie den Blick.
»Kannst du einen Schrank aufbauen?«
Jakob stutzte einen Moment.
War das zu viel verlangt? Jana spürte, dass sie rot wurde. »Ach, vergiss es«, murmelte sie.
»Klar, kann ich. Wenn’s weiter nichts ist.« Jakob grinste.
»Weiter ist es nichts«, sagte Jana betont sachlich. Erst jetzt sah sie, dass er sich nur den Pudding geholt hatte: Vanillepudding mit einem Klecks Apfelmus.
»Okay.« Er klang etwas verwundert.
»Du musst aber nicht«, beteuerte sie schnell. »Ich kann auch … jemand anderen fragen.«
»Sag einfach Bescheid und ich bin da.«
»Danke.« Sie nickte ihm zu. »Das ist wirklich nett von dir.« Sie dachte an ihre Mutter, die es sicher weniger »nett« finden würde, wenn Jakob bei ihnen auftauchte. Geschah ihr recht.
»Wie gefällt’s dir bei uns?« Seine Frage klang belanglos, doch er musterte sie so neugierig, als wollte er tatsächlich wissen, mit wem er es zu tun hatte.
Jana zuckte mit den Achseln. »Ganz okay. Die Lehrer sind so weit in Ordnung.«
Jakob lachte auf, als hätte sie einen Witz gemacht. »Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben«, meinte er. »Den Schlimmsten hast du noch nicht kennengelernt.«
Jana schluckte. Den Schlimmsten? Sie sah ihn fragend an, aber Jakob winkte ab.
»Keine Sorge. Zu den Mädchen ist er eigentlich recht nett. Also nett für seine Verhältnisse.«
Jana nickte automatisch, obwohl sie nicht wusste, von wem die Rede war.
Jakob rührte mit dem Löffel hektisch in seinem Pudding herum. Als hätte er ganz vergessen, dass er ihn essen wollte. Und als hätte er ganz vergessen, dass sie ihm gegenübersaß.
4 Beim Zusammenschrauben waren Jana Teile aus dem Holz gebrochen, zwei Griffe hatten sich gelöst und es war ihr nicht gelungen, sie wieder zu befestigen. An der Stelle klafften nun hässliche Löcher im Schrank. Die Türen und die Schubladen hatten sich nicht mehr richtig schließen lassen. Zuletzt war auch noch die Rückwand herausgefallen und der Schrank zusammengebrochen, als hätte er einen Herzinfarkt.
Jakob besah sich die Misere mit seinem schrägen Lächeln, das sie versuchte zu ignorieren. Schließlich seufzte er leise und rieb sich die Hände. »Dann wollen wir mal. Hast du ’nen Schraubenzieher und so?«
»Klar«, sagte sie und es klang schnippischer, als sie beabsichtigt hatte. Immerhin riet er ihr nicht, die Schrankruine in den Sperrmüll zu geben.
»Hast du auch ’n Bier?«, fragte Jakob unvermittelt, als sie ihm den Werkzeugkasten reichte.
Jana zuckte leicht zusammen. »Muss ich … muss ich nachsehen«, stammelte sie.
»Nicht nötig. Nicht unbedingt. Aber wenn du eins hättest …«
Jana runzelte die Stirn. Dann nickte sie. Immerhin half er ihr. Und es würde ihrem Vater kaum auffallen, wenn eine Flasche fehlte.
Sie lief die Treppe hinunter und durchsuchte den Kühlschrank. Sie nahm auch noch zwei Wiener Würstchen und einen Becher Bautz’ner Senf mit.
»Wo willst du denn damit hin?« Ihre Mutter trug schon wieder die blaue Badekappe mit den weißen Spritzern und sah ziemlich verboten aus. Jana musste auf einmal kichern. Sie fühlte sich ertappt und gleichzeitig kitzelte es in ihrem Bauch. Ihre Mutter schaute so streng, so misstrauisch, als hätte ihre Tochter gerade eine Bank überfallen.
»Jakob aus meiner Klasse«, erklärte sie. »Er baut den Schrank auf.«
»Und dazu braucht er Alkohol?«
Jana stöhnte leise. »Ach, Mama. Er trinkt ja nur eins, ein Bier. Ist das schlimm? Er ist sechzehn.«
»Du solltest schon darauf achten … mit wem du dich einlässt.«
»Mit wem ich mich … was?« Jana starrte ihre Mutter entgeistert an. »Er geht in meine Klasse!«
Wie wär’s, wenn du dich um deinen eigenen Kram kümmerst, dachte sie plötzlich wütend. Der Groll, den sie empfand, überraschte sie. Er schwappte in ihr hoch wie eine Welle. Doch dann verebbte er wieder. Ihre Mutter war einfach gestresst. Sie hätte auch ein bisschen Hilfe gebrauchen können.
Etwa eine Stunde später stand der Schrank gerade wie ein Soldat in ihrem Zimmer. Dass er schon einmal verwundet gewesen war, sah man ihm nicht mehr an. Sogar die Griffe saßen da, wo sie sitzen sollten.
»Wie neu, oder?«, fragte Jakob, als ahnte er ihre Gedanken.
Jana nickte und musterte ihn. Warum hatte er das getan? Wieso half er ihr?
Jakob wirkte zufrieden. Er klopfte sacht gegen das Holz, als wollte er sich selbst auf die Schulter klopfen.
»Danke. Ohne dich hätte ich das nicht …«
»Schon gut«, unterbrach er sie. »Ich mache gern was … Sinnvolles … Es lenkt mich ein bisschen ab.«
Wovon?, dachte Jana. Aber sie traute sich nicht zu fragen. Wenn er irgendwelche Probleme hatte, ging sie das wohl nichts an, oder?
Ehe sie es verhindern konnte, steckte er sich eine Zigarette an.
»Oje«, entfuhr es ihr. Auch noch Karo. Einen ekligeren Gestank gab es kaum. Hoffentlich roch ihre Mutter nichts. Sie konnte Zigarettenqualm nicht ausstehen!
Klar, Jana wollte ihre Mutter ein bisschen piesacken … Aber Lust auf richtigen Stress hatte sie eigentlich nicht.
Jakob machte es sich auf dem Fensterbrett gemütlich und schaute sich in dem Raum um, als würde er ihn jetzt zum ersten Mal richtig sehen. »Nicht schlecht. Mein Zimmer ist ungefähr halb so groß und wir wohnen in einer Bruchbude, in der das fließende Wasser direkt aus der Decke kommt – wenn du verstehst, was ich meine.«
Jana strich sich verlegen das Haar hinters Ohr. Was sollte sie dazu sagen?
»Deine Wände sind noch ein bisschen kahl«, stellte Jakob fest. »Wenn du willst, kannst du ein paar Poster haben. Ich hab welche doppelt. Wie wär’s mit … Michael Jackson?«
»Michael Jackson?«, fragte sie, als hörte sie diesen Namen zum ersten Mal. Das erlauben meine Eltern nie, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Nicht dein Fall?«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Depeche Mode? Udo Lindenberg?« Er warf die Kippe aus dem Fenster, als wäre die Wiese sein Aschenbecher.
»Wo hast du die her?« Gegenfragen sind immer gut, dachte sie.
»Nur aus der Bravo. Nichts Besonderes.«
»Und wo hast du die her?«
»Woher schon? Vom Klassenfeind.« Er sprach jetzt ungeduldig und spöttisch, als wäre sie etwas begriffsstutzig.
Plötzlich stand ihre Mutter in der Tür. Hatte sie angeklopft?
»Möchte dein Schulkamerad vielleicht ein Stück Kuchen?«, fragte sie Jana, als wäre Jakob gar nicht da.
Ihre Stimme klang frostig. Als hätte sie in Wirklichkeit etwas anderes gemeint.
Wenigstens trug sie die blaue Badekappe nicht mehr.
»Im Kühlschrank ist noch kalter Hund.«
Jana grinste. Dann prustete sie los. »Im Kühlschrank ist noch kalter Hund.«
Ihre Mutter sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Ja, den magst du doch.«
Im Warmschrank ist noch warmer Hund, dachte Jana, aber die missbilligende Miene ihrer Mutter hielt sie davon ab, die Albernheit auszuplaudern.
»Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass in unserem Haus nicht geraucht wird.«
Statt ihm ins Gesicht zu sehen, blickte sie auf Jakobs Füße, die in verschiedenfarbigen löchrigen Strümpfen steckten.
»Mama!«, entfuhr es Jana empört.
»Schon in Ordnung«, sagte Jakob schnell. »Das mit dem Kuchen ist wirklich nett von Ihnen, aber ich muss jetzt sowieso los.«
Jana fühlte Trotz in sich hochschießen. »Das ist nicht in Ordnung! Du bist mein Gast und das ist mein Zimmer!«
Ihre Mutter öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, aber dann ging sie nur rückwärts aus dem Raum und zog die Tür hinter sich zu.
»Scheiße«, sagte Jana. »Tut mir leid.«
Jakob zuckte mit den Schultern. »In einer Bilderbuchfamilie in einem Bilderbuchhaus hat eine stinkende Karo eben nichts zu suchen.« Er streifte sie mit einem Blick. »Und einer wie ich auch nicht«, fügte er hinzu und zupfte an seinem verwaschenen Hemd herum.
Jana schluckte. »Das ist doch Quatsch«, brachte sie heraus. »Möchtest du noch ein Bier?«
Vermutlich würde sie Ärger bekommen, wenn sie ihrem Vater noch ein Wernesgrüner klaute, aber das war ihr egal.
»Nee, lass mal.«
»Meine Mutter ist nur gestresst durch den Umzug und die Renoviererei.«
Er nickte. »Schon kapiert. Ihr habt es hier ganz schön …« Er machte eine Handbewegung, als suchte er nach einem Wort.
»Spießig?«, schlug Jana vor.
Er lachte. »Das meinte ich nicht.« Er sah ihr direkt in die Augen. Im Schwarz seiner Pupillen saß auf einmal ein winziges Leuchten. »Ihr wohnt auf der anderen Seite«, sagte er leise. »Hier ist alles so … hell. Als gäbe es keine Nacht. Nichts Düsteres.«
Sein Blick hielt sie fest und kam ihr beinahe magnetisch vor. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Was steckte hinter seinen Worten? Was meinte er mit »andere Seite«? Aber sie fragte nicht nach, starrte ihn nur an. Dann räusperte sie sich. »Hell? Na ja, wie du schon gesagt hast: eher noch etwas kahl. Es fehlen Bilder und Pflanzen und so.«
Das Funkeln erlosch in seinen Augen. »Ich werd dann mal los. Muss noch Hausaufgaben machen.« Er zwinkerte ihr zu.
Sie lächelte. »Vielen Dank für deine Hilfe.«
Er betrachtete ihre ausgestreckte Hand einen Moment verblüfft, als wäre die Geste für ihn ungewohnt. Aber dann nahm er sie doch, behutsam und kräftig zugleich, und er ließ sie nicht sofort wieder los.
»Bis morgen, Jana«, sagte er leise.
Irgendwie schwang etwas mit in seinem Ton. Oder bildete sie sich das nur ein?
Sie brachte ihn die Treppe hinunter zur Tür, obwohl er das auch irgendwie komisch zu finden schien.
Doch sie beachtete sein fragendes Grinsen nicht weiter, dirigierte ihn an der Küche vorbei, in der ihre Mutter betont laut mit dem Geschirr klapperte, und murmelte ein paar Abschiedsfloskeln. Einen kurzen Moment lang dachte sie daran, mit ihm mitzugehen. Egal, wohin. Doch er bat sie nicht darum. Warum sollte er auch?
Jana trat in die Küche und beobachtete ihre Mutter, die ihm aus dem Fenster argwöhnisch hinterherstarrte. Als könnte er es sich plötzlich anders überlegen und zurückkommen. Und als wäre das etwas Schlimmes.
Langsam wandte ihre Mutter sich um und Jana begegnete ihrem Blick mit leichtem Trotz und versuchte, sich gegen die Vorwürfe zu wappnen, die sie erwartete. »Sag mal, trägt er diese Kette etwa auch in der Schule?«, fragte ihre Mutter jedoch bloß.
»Welche Kette?«, fragte sie irritiert zurück. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass er Schmuck getragen hatte.
»Ach, schon gut, Schätzchen. Alles in Ordnung.«
Jana hörte an dem falsch klingenden Tonfall, dass das nicht stimmte. Dass irgendetwas nicht in Ordnung zu sein schien. Aber sie fragte nicht nach.
5 »Wie ich höre, hast du schon einen Freund gefunden?«, fragte ihr Vater betont munter. Er nahm die edel glänzende dunkelblaue Krawatte ab, die er sich für seinen neuen Job im Exquisit gekauft hatte.
Jana erstarrte kurz in der Bewegung. Dann stellte sie die Flasche Ketchup wie in Zeitlupe auf den Esstisch im Wohnzimmer und setzte sich.
»Wie kommst du darauf?«
»Na, deine Mutter erzählte von deinem … Herrenbesuch.« Er lachte, als wäre das, was er sagte, lustig, und hängte den Schlips sorgfältig über die Stuhllehne. Jana starrte das Kleidungsstück einen Moment befremdet an. Eigentlich hasste ihr Vater Krawatten doch.
»Jakob … aus meiner Klasse … hat den Schrank aufgebaut«, gab sie mürrisch zurück. »Sonst nichts. Ich habe hier keine Freunde.«
Das klang schroffer, als sie beabsichtigt hatte, und einen Moment herrschte frostiges Schweigen – unterbrochen nur durch das Geschirrklappern in der Küche. Offenbar ließ sich ihre Mutter Zeit mit der Zubereitung des Abendbrots. Es roch nach in der Pfanne brutzelnden Buletten.
Ihr Vater schob den Salzstreuer sorgfältig in die Mitte des Tisches, als gäbe es nur diesen einen Platz für ihn. »Alles braucht seine Zeit«, sagte er beinahe sanft. »Es ist schwer, auf Gewohntes zu verzichten, und ich weiß, dass ich dir viel zumute, Liebes. Du kannst ja schließlich nichts für deine Eltern und ihre Pläne, richtig?«
Er blickte sie forschend an, als erwartete er tatsächlich eine Antwort.
»Aber glaub mir, man kann einiges erreichen, wenn man nur will. Nicht alles, aber einiges. Und natürlich nur dann, wenn man sich an die Spielregeln hält. Du hältst dich doch daran?«
Sie zuckte mit den Schultern. Was meinte er?
»Ja, sicher«, antwortete er sich selbst. »Ich weiß ja, dass ich mich auf dich verlassen kann. Also es gibt keinen Grund, sich Gedanken zu machen; du wirst deinen Weg schon finden.« Er lächelte aufmunternd. »Und neue Freunde, die zu dir passen«, fügte er hinzu.
Jana hörte die leise Kritik, die in dem Halbsatz mitschwang. Ach ja? Und wer legt fest, wer zu mir passt? Etwa du?
Aber sie unterdrückte den Anflug von Ärger. Ihr Vater meinte es gut mit ihr. Er versuchte ja, freundlich zu sein und geduldig. Er war immer freundlich und geduldig gewesen, seit sie denken konnte. Wieso sollte sie also den vagen Tadel – wenn es denn überhaupt einer war – zurückweisen? Die meisten Eltern sorgten sich nun mal um ihre Kinder – auch dann, wenn es keinen Grund zur Sorge gab.
»Weißt du, Jana, viele halten Glück für Zufall. So wie einen Lottogewinn. Aber man kann nur gewinnen, wenn man auch vernünftig spielt. Also wenn man Einsätze wagt, sich orientiert am Erfolg anderer und seine Chancen real einschätzt. Und wenn man vermeidbare Fehler vermeidet. Weißt du, was ich meine?«
»Ja, klar«, antwortete Jana leichthin. »Glück ist planbar, das sagst du doch immer.« Das Gespräch wurde ihr langsam peinlich. Worauf wollte ihr Vater hinaus? Dass sie sich mehr Mühe geben sollte, in ihr neues Leben einzusteigen? Aber sie gab sich ja Mühe.
»Deine Startbedingungen sind nicht gerade die schlechtesten, wie du zugeben musst«, meinte ihr Vater und wies mit beiden Händen in die Höhe. Einen Moment blickte Jana verwirrt zur Lampe hinauf, die über ihnen hing und ein blassgelbes Licht verströmte. »Jetzt kommt es auf dich an. Es kommt immer drauf an, was man aus sich selbst macht. Die gute Zensur wird dir nicht hinterhergeworfen. Du musst etwas dafür tun, nicht wahr? Und so ist es mit allen anderen Dingen auch.«
Jana starrte die Ketchup-Flasche an und fragte sich, wieso er ihr diese Predigt eigentlich hielt.
Hatte sie irgendeinen Fehler gemacht, von dem sie nichts wusste? Oder wollte er sie vorbereiten auf die Fehler, die sie machen würde, wenn sie nicht aufpasste? Wollte er sie warnen? Wovor?
6 Die Woche war fast gelaufen.
Die Schule fürs Erste beinahe überstanden.
Sie war immer noch das Landei in der Klasse. Na und?
Die hämischen Bemerkungen nahm sie wahr wie Blätterrascheln. Loreen, das Mädchen mit den fast schwarzen Augen, lachte über sie. Nicht nur über ihre Herkunft. Auch über die Klamotten, die sie trug, die geblümte Bluse mit dem Rüschenkragen, über ihre Sommersprossen, über ihre provinzielle Art. Über die »Dorftusse«, die sich nicht schminkte und keinen Nagellack benutzte. Über die »Streberin«, die sich zu viel meldete und sich bei den Lehrern lieb Kind machte.
Jana war es nun mal gewohnt, die Hand zu heben, wenn sie eine Frage beantworten konnte. Was war daran verkehrt?
Das Gerede machte ihr nicht viel aus. Sie konnte auch allein sein. Sie kam auch so klar.
Wenn sie es recht bedachte, brauchte sie niemanden.
Der Lehrer, der eintrat, wirkte klein und dick. Wie ein Teddybär.
Er hatte eine Beinaheglatze und grimmig dreinblickende kleine Knopfaugen.
Hässlicher Anzug. Schlips. Parteiabzeichen am Kragen.
Janas Eltern trugen ihre »Bonbons« nur am 1. Mai oder 7. Oktober, am Tag der Arbeit oder zum Republikgeburtstag. Sie waren in der SED wie andere im Kleingartenverein: Es gehörte nun mal dazu, wenn man gut leben wollte.
Wer das Ding jeden Tag trug, galt als »Hundertprozentiger«. Als »Rote Socke«.
Zwei winzige gelbe Hände, die irgendwie abgehackt aussahen, vor der Arbeiterfahne.
Wenn es nach ihren Eltern ging, würde sie mit achtzehn auch in die Partei eintreten.
Sie sollte Genossin werden wie sie.
Jana fühlte ein Unbehagen bei dem Gedanken und schob ihn aus ihrem Kopf.
Es wurde plötzlich still im Klassenraum. Als hätte jemand den Ton ausgestellt.
Sie wechselte einen Blick mit Jakob oder jedenfalls versuchte sie es. Er starrte geradeaus. Seine Fäuste lagen auf dem Tisch. Die Knöchel zeichneten sich deutlich unter der Haut ab.
Aha. Das war dann wohl der Problemfall-Lehrer.
Der Mann stand vor der Klasse, die Arme hinter dem Körper verborgen, als würde er etwas verstecken, und wippte auf den Fußballen hin und her.
Es sah lächerlich aus. Aber niemand lachte.
Die Stille hielt sich über den Köpfen wie dicker Nebel.
Jana hätte Jakob gern etwas gefragt. Aber er wirkte starr und nicht ansprechbar.
Sie spürte, dass sie nervös wurde. In ihrer Nase begann es zu kribbeln. Das passierte ihr manchmal, wenn sie sich unwohl fühlte. Und sie wusste, was gleich passieren würde, wenn sie nichts unternahm. Ohne groß darüber nachzudenken, sagte sie plötzlich deutlich vernehmbar: »Hatschi!«
Alles lachte und Jana lachte mit. Wenigstens bekam sie keine Niesattacke jetzt.
Nur der Mann, der vor ihnen stand, zeigte keine Regung.
Er wartete. Und fixierte Jana mit strengem Blick.
»’tschuldigung«, murmelte sie.
»Die kommt vom Dorf«, erklärte Loreen. »Da niesen die Leute so.«
Der Lehrer schien sie nicht zu hören. Doch dann knallte es unvermittelt.
Jana zuckte zusammen.
Es war ein Zeigestock, der auf einen Tisch geschlagen wurde. Aber es klang wie ein Schuss. Wie ein Warnschuss.
7 Freitag, erste Stunde und Musik. Wer auch immer sich diese Stundenpläne ausdachte, musste ungefähr so viel Verständnis für Schüler haben wie ein australisches Känguru für ein Lama in Peru, fand Jakob. Wie ein Schatten lag der verhasste Unterricht auf dem Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag. Scheinbar nur einen Katzensprung entfernt vom Wochenende, von ein paar Stunden Freiheit.
Jakob beobachtete Herrn Frenzel, den Musiklehrer, der mit dem Zeigestock in der Hand durch die Reihen ging. Seine kurzen fleischigen Finger spielten mit dem Stock und alle in der Klasse wussten natürlich, dass er ihn unversehens auf einen Tisch knallen lassen konnte. Alle außer Jana. Nur sie war bei dem Geräusch zusammengezuckt. Hätte Jakob sie warnen sollen? Vielleicht. Doch ein schlechtes Gewissen spürte er nicht. Sie musste wohl oder übel ihre eigenen Erfahrungen sammeln mit diesem Kerl. Dass selbst ein Niesen in der Minute, in der Herr Frenzel seine Runde drehte, gefährlich sein konnte, war Lektion Nummer eins.
Der Lehrer duldete keine Geräusche; abgesehen von jenen, die er selbst produzierte.
Es war still, wie an jedem Freitagmorgen. Jakob kam es vor wie eine Prüfung: Herr Frenzel spitzte die Ohren, um jedes noch so leise gewisperte Wort zu hören. Er schaute auf ihre Hände, als wollte er die Länge und Sauberkeit ihrer Fingernägel kontrollieren. Und manchmal blieb er stehen und nahm Witterung auf. Es war schon vorgekommen, dass er einen Jungen wegen seiner Schweißfüße nach Hause geschickt hatte. Er prüfte, ob sie würdig waren, von ihm unterrichtet zu werden.
Auch sonst konnte man in etliche Fallen treten.
Alles, was aus dem Westen kam, war sowieso verboten bei diesem Herrn, der auch der Parteisekretär der Schule war.
Keine Tüte aus dem anderen Deutschland durfte zu sehen sein. Und es nutzte einem nichts, den Plastikbeutel von Aldi oder Karstadt noch schnell auf links zu drehen. Entdeckt war entdeckt.
Jakob trug seine Kette mit dem Peace-Symbol lieber unter dem T-Shirt. Jedenfalls im Musikunterricht. Alle anderen Lehrer störten sich nicht an dem pazifistischen Emblem.
Zwar wurde im Staatsbürgerkunde-Unterricht der verbotene Slogan »Frieden schaffen ohne Waffen« umgemünzt in »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen«, aber Herr Körner, der Stabilehrer, achtete nicht auf Schmuck oder Klamotten der Schüler. Für ihn war nur wichtig, dass sie erklären konnten, dass der Sozialismus den Kapitalismus überholen würde, ohne ihn einzuholen, und warum. Dabei musste man die Antwort, die man gab, nicht selbst verstehen. Es genügte, wenn man sie auswendig konnte.
Herr Frenzel begann zu pfeifen, irgendeine Melodie, die Jakob bekannt vorkam.
Das Aufatmen im Klassenzimmer war mehr zu spüren als zu hören. Noch war die Gefahr nicht vorüber, noch konnte er plötzlich losbrüllen oder seinen Stock ein zweites Mal auf einen Tisch schlagen – das war auch nach der »Entwarnung« schon vorgekommen.
Herr Frenzel war um die fünfundsechzig. Es hieß, er habe schon als Junglehrer in der Nachkriegszeit den Rohrstock tanzen lassen und nicht gerade zaghaft.
Jakob versuchte sich vorzustellen, wie es damals in den ersten Unterrichtsminuten beim Frenzel gewesen sein musste.
Der Lehrer hörte auf zu pfeifen. Die Jungen und Mädchen warteten, waren immer noch mucksmäuschenstill.
»Wer kann mir sagen«, fragte er gedehnt, »wer von euch kann mir wohl sagen, von wem diese hübsche, kleine Melodie stammt …«
Etwas schwang mit in dieser Frage, etwas, das die Blicke hinabzog auf Schulbücher, Hefte und erstarrte Hände oder auf den Fußboden, der am Freitagmorgen noch leergefegt war.
Jakob versuchte sich an das Pfeifen zu entsinnen, aber es war, als hätten sich die Töne schon verflüchtigt.
»Nun …? Noch müde, die Herrschaften? Wer es weiß, möge doch jetzt die Güte besitzen, sich zu melden.«
Drei Mädchenhände schossen in die Höhe wie auf Befehl.
Aber der Mann schaute über sie hinweg oder durch sie hindurch, als wären sie nicht da.
Beethoven, Mozart, Bach, Wagner … Die Namen standen Schlange in Jakobs Kopf. Namen für eine vergessene Melodie.
Plötzlich meldete sich Timo, ausgerechnet Timo, der in der ersten Reihe saß, damit Frenzel ihn sich greifen konnte wie ein Stück Kreide. Auch Frenzel blinzelte überrascht. Er baute sich vor Timo auf. Die Daumen, die so kurz waren, als wären sie ihm irgendwie abgebrochen, steckte er in den Gürtel. Er nickte ein Mal und Timo erhob sich.
Jakob hielt den Atem an.
»Schiller«, sagte Timo knapp, und obwohl Jakob ihn nicht von vorn sah, wusste er, dass er nicht mit der Wimper zuckte.
Ein paar Mädchen glucksten hinter vorgehaltener Hand. Jana kicherte. Jakob spürte ihre Anstrengung, damit aufzuhören, aber sie lachte, ihre Schultern bebten. Er hätte am liebsten mit ihr gelacht. Aber er war beim Frenzel schon unten durch. Er konnte sich nicht leisten, noch mehr Ärger zu bekommen. Timo allerdings auch nicht.
Jakob rührte sich nicht; starrte in Frenzels verkrampftes Gesicht. Einen Moment hoffte er, dass sich der Mann entspannte, dass er die Provokation ignorierte – so reagierte wie andere Pauker, die ihren Unterricht einfach weiterführten, als wäre nichts. Doch Frenzel ging stumm an den Lehrertisch und schlug das Buch auf, das Buch, in dem alle Sünden sorgfältig aufgelistet wurden. Notierte er einen Punkt oder ein Kreuz? Ein Punkt wog schwerer als ein Kreuz, eine Fünf gab es schon bei zwei Punkten, aber erst bei drei Kreuzen. Bei drei Fünfen kassierte man eine Verwarnung vor der Klasse, bei drei Verwarnungen einen Tadel in Anwesenheit des Klassenlehrers, die Eltern wurden informiert. Bei drei Tadeln bekam man einen Verweis vor allen Schülern und Lehrern der Schule, und die Eltern mussten zum Direktor. Bei drei Verweisen schließlich wurde der Schüler von der Schule geworfen.
Timo bastelte an seinem zweiten Tadel; es schien ihm nichts auszumachen.
Ein Kreuz oder ein Punkt? Herr Frenzel schlug das Buch zu, blieb stumm wie ein Fisch.
Jana seufzte laut. Es klang erleichtert. Der Mann warf ihr einen schnellen, warnenden Blick zu.
Jakob blickte auf ihre Hände, die nervös mit einer Haarklammer spielten. Ihre Finger waren lang, schmal und zart. Sie wirkten beinahe zerbrechlich.
Jakob fand, dass Hände eine Menge über einen Menschen aussagten. Etwas über seine Persönlichkeit, vielleicht sogar über seine Seele. Und Jana schien ihm wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Irgendwie … verloren … Wieso bloß?
Für einen Augenblick überkam ihn das seltsame Gefühl, sie schützen zu müssen.
Die Musik rollte plötzlich durch den Raum wie eine Welle.
Jakob lehnte sich zurück, die Arme verschränkt, schaute an die leere Tafel, um nicht den kleinen, dicken Mann sehen zu müssen, der die Arme anwinkelte und im Walzertakt tanzte. »Und eins, zwei, drei. Und eins, zwei, drei.«
Frenzel tanzte wie ein alter schwachsinniger Bär in einem Zirkus.
Ein Knattern und ein Quietschen zerriss unvermittelt die Musik. Herr Frenzel sprang an das Gerät, und während er am Plattenspieler herumhantierte, erzählte er etwas von einem Mann namens Strauß. Herr Strauß begab sich in die geräumige Halle in Jakobs Kopf zu den anderen Komponisten.
Der Lehrer bewegte sich von ihnen abgewandt, als hätte er sie vergessen. Sein Rücken schien beinahe so rund zu sein wie sein Bauch. Überhaupt sah Frenzel wie eine Kugel aus, an die jemand wie an eine Knetfigur Arme, Beine, einen kaum sichtbaren Hals und einen übermäßig großen Kopf mit Pausbacken und Doppelkinn geklebt hatte.
Und dann … passierte es: Eine Papierkugel landete auf ihrem Tisch, direkt vor Jana.
Jakob blickte auf und erkannte das Grinsen in Timos Gesicht. Auch Loreen drehte sich zu ihnen um, verzog ihre Miene spöttisch. Beide deuteten auf seine Nachbarin. Was lief hier?
Jana wollte nach dem zusammengeknüllten Papier greifen, aber Jakob war schneller.
Er faltete den Fetzen auseinander und vergaß zu atmen, während er die winzige Schrift entzifferte:
»Macht der Frenzel
ein Tänzel,
juckt ihm sein Schwänzel
und bei dem Geleier
hüpfen seine Eier.«
Jakob stöhnte und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Was sollte das? Timo musste lebensmüde sein oder reif für die Klapsmühle.
Jakob spürte den Mann, ohne ihn zu sehen: kein lächerlicher Zirkusbär jetzt, sondern ein Grizzly, der sich aufrichtete und brüllte, ohrenbetäubend, während Jakob das Stück Papier kaute. Es war geschmacklos und erstaunlich zäh. Die Worte, die auf ihn einprasselten, verstand er kaum, konnte sie nicht auseinanderhalten. Irgendetwas Feuchtes spritzte ihm ins Gesicht. Jakob sah den Mund des Mannes über sich, diesen großen runden Mund, aus dem es tropfte wie aus einem lecken Wasserhahn. Der Speichel ließ die Lippen glänzen, als wären sie mit Hass überzogen.
Jakob sprang auf und schrie zurück: »Das lass ich mir nicht mehr bieten!« Etwas in der Art, er wusste es hinterher nicht mehr genau.
Der Lehrer taumelte ein Stück zur Seite, als wäre er gestoßen worden. Und Jakob nutzte die Chance. Davonlaufen hatte etwas Befreiendes – und Türenknallen auch.
8 Jakob wusste nicht, wohin er gehen sollte, und deshalb ging er den gewohnten Weg. Quetschte sich durch das Loch im Zaun, das immer mal wieder vom Hausmeister geflickt und anschließend von den Rauchern unter den Schülern erneut aufgerissen wurde, schlüpfte durch das Gebüsch. Zündete sich eine Zigarette an, so wie er es hier gewohnt war. Auf der Raucherinsel standen sie sonst in Grüppchen herum, doch jetzt blieb er allein. Und wenigstens darüber war er froh. Er hätte jetzt kein belangloses Gespräch führen können.
Er stand auf dem blassgrünen, mit Kippen übersäten Stück Wiese, inhalierte drei, vier Züge, so tief, dass ihm schwindlig wurde. Sein Verhalten würde nicht ohne Konsequenzen bleiben, das war ihm klar. Er hatte den Bogen überspannt und der abgeschossene Pfeil würde ihn selbst treffen.
Er dachte an Frenzel, der jetzt vor der Klasse stand und lauerte, auf eine verräterische Bewegung lauerte, einen Ton, einen Blick. Ein Schüler hatte ihm die Stirn geboten, das war ihm sicher noch nie passiert. Nicht irgendein Schüler, sondern ausgerechnet Jakob, dieser negativ-dekadente Jugendliche, Sohn von Ausreiseantragstellern. Und jetzt musste Frenzel wieder Herr der Lage werden. Wie viele Punkte und Kreuze trug er für Jakob wohl in das Buch ein?
Und wennschon. Er musste ihm weiter Paroli bieten. Er konnte sich nicht ewig ducken und verstecken.
Jakob spuckte in weitem Bogen. Nickte anerkennend dem Stein zu, den er getroffen hatte.
Ein wenig tat es ihm leid, dass Timo nicht hier war, der diese Leistung mit einem leisen Pfiff würdigen würde. Timo war zwar ein Idiot, aber außer ihm der einzige Rebell in der Klasse.
Ohne ihn würde Jakob vermutlich seltener in Schwierigkeiten geraten. Und ohne ihn wäre der Schulalltag noch langweiliger. Aber dass Timo zusammen mit seiner Freundin Loreen Jana hereinlegen wollte, nahm er ihm wirklich übel. Wäre Jana beim Zettellesen erwischt worden, hätte sie die geballte Wut des Lehrers abbekommen.
Jakob atmete tief die Luft ein, die ihm auf einmal klar und rein vorkam. Er hörte in der Ferne die Klingel, die die Unterrichtsstunde beendete. Aber er dachte nicht daran, zurückzugehen. Es war richtig, hier zu sein, und gleichzeitig war es falsch. Er würde sich Ärger einhandeln. Nun ja, war das etwas Neues?
Schließlich fiel ihm der Baum auf, in dessen Schatten er stand und der besorgt seine Arme und Hände nach ihm auszustrecken schien. Er lächelte ihm zu, lehnte sich an den Stamm – wie an einen Freund, bei dem er einen Moment ausruhen konnte.
Dann straffte sich sein Körper plötzlich, als hätte er einen eigenen Willen. Jakob sprang, seine Hände umklammerten den untersten Ast. Er rutschte ab, und ohne sich zu besinnen, sprang er erneut. Diesmal fand er Halt, blieb eine Weile so hängen. Jana kam ihm in den Sinn, ihr blasses Gesicht mit den Sommersprossen. Der leere Platz neben ihr. Er sah es vor sich wie ein Bild. Dann griff seine rechte Hand nach oben, und ohne dass er sehen konnte, woran er sich festhielt, zog er sich hoch. Er spürte einen leichten Schmerz an der Wange und entdeckte erst dann die Spitze eines abgebrochenen Astes. Das Holz knarrte leise – mitfühlend, wie es ihm vorkam. Er spürte eine Träne über seine Wange laufen. Komisch, er weinte doch gar nicht. Als er sich aufstützte, tropfte es rot auf ein Blatt.
Er wischte das Blut von seinem Gesicht und kletterte höher, hinauf in den Himmel, wie es ihm schien, in den leeren, farblosen Himmel. Doch auch da oben fühlte er sich nicht freier.
Und dann fielen ihm plötzlich die Flugblätter ein. Er hatte ein paar Exemplare aus dem Geheimversteck seines Vaters genommen und in seine Mappe geschoben – aber sich nicht getraut, sie in der Schule zu verteilen.
Scheiße! Was, wenn Frenzel nun seine Sachen kontrollierte?
Für den Lehrer wäre so ein Pamphlet ein gefundenes Fressen.
Jakob klammerte sich an den Stamm des Baumes. Vielleicht sollte er einfach hier hocken bleiben? Sich weigern herunterzukommen?
Er bekam plötzlich Kopfschmerzen – als würde die Ahnung nahenden Unheils in seinen Schläfen pulsieren.
9 Sie fühlte ihr Herz dumpf schlagen. Wieso war dieser Lehrer so? Warum brüllte er hier herum, als wären sie … ja, was … Feinde?
Jähzornige Pädagogen kannte sie auch aus ihrer alten Schule. Hin und wieder flog Kreide quer durch den Klassenraum. Aber meist beruhigten sich die Erwachsenen schnell wieder.