Jesper Juul
Schulinfarkt
Was wir tun können, damit es Kindern, Eltern und Lehrern besser geht
Unter Mitarbeit von Knut Krüger
Mit einem Vorwort von Mathias Voelchert
Kösel
Jesper Juul
Schulinfarkt
Was wir tun können, damit es Kindern, Eltern und Lehrern besser geht
Unter Mitarbeit von Knut Krüger
Mit einem Vorwort von Mathias Voelchert
Kösel
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Originalausgabe
Copyright © 2013 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlag: Weiss Werkstatt, München
unter Verwendung eines Bildes © Shutterstock
ISBN 978-3-641-09893-3
V003
www.koesel.de
»Lehrer, Schüler und Eltern sollten gemeinsam auf die Straße gehen und gegen das Schulsystem demonstrieren. Wenn es so weit ist, dann komme ich und gehe mit.«
Jesper Juul
Inhalt
Vorwort
Schule unter Druck
Kinder wollen lernen
Bildungsrecht statt Schulpflicht
Verlust gemeinsamer Wertvorstellungen
Querdenker statt Befehlsempfänger
Erziehungsauftrag der Schule
Wofür sind Eltern zuständig?
Was können Schulpsychologen ausrichten?
Was brauchen Kinder?
Das lernende Dreieck
Frauen als Wegbereiter für die Kinder
Welche Schüler will die Schule?
Die Schulen in der Defensive
Beziehungskompetenz statt Abwehrhaltung
Wie zeigt ein Lehrer seine Beziehungskompetenz?
Das Teilen der Definitionsmacht
Die Kunst des Dialogs
Sind Medien eine Gefahr an sich?
Konfliktherd Hausaufgaben
Offenheit und Anerkennung
Wie kann sich die Schule entspannen?
Mit Eltern im Gespräch
Unser tragisches Versagen im Umgang mit »schwierigen« Jugendlichen
Überverantwortlichkeit
Gibt es unerreichbare Jugendliche – oder sind unsere Arme zu kurz?
Junge und Alte im Abseits
Alle Macht den Spezialisten?
Die Notwendigkeit, sich verwundbar zu machen
Gehorsam um jeden Preis?
Die pädagogische Absicht
Selbstgefühl und Selbstvertrauen
Wie gelingen Zusammenarbeit und Beziehung?
Was macht einen guten Pädagogen aus?
Welche Erziehungsziele haben wir?
Persönliche Autorität entwickeln
Subjekt-Subjekt-Beziehung
Pädagogisches Handwerk und Beziehungskompetenz
Integrität und Zusammenarbeit
Auf dem Weg zu einer Schule von morgen
Die Intelligenz des Herzens
Literatur- und DVD-Hinweise
Bücher von Jesper Juul
DVDs mit Jesper Juul
Über den Autor
Vorwort
Das Entscheidende in jeder Schule sind die Menschen. Es gibt auf der ganzen Welt wohl keine größere Berufung, als Lehrer sein zu dürfen für Kinder, die sich einem voller Hingabe anvertrauen. Dieses Buch gibt Eltern und Lehrern das Rüstzeug an die Hand, um in unübersichtlichen Zeiten individuelle Entscheidungen zu treffen und im Schulalltag bzw. mit der Schule, wie sie heute ist, besser zurechtzukommen. Zudem zeichnet es ein Bild von dem, wie sich Schule verändern muss, um den Anforderungen gerecht zu werden, die als Gesellschaft vor uns liegen. Diese Veränderungen benötigen, anders als viele Menschen denken, durchaus nicht unbedingt jahrelange Umstrukturierungen, Lehrplanveränderungen oder Schulreformen. Denn sie betreffen vor allem das Miteinander der Menschen in der Schule, allen voran zwischen Lehrern und Schülern.
Die folgenden Seiten bringen Jesper Juuls Analysen, Vorschläge und Provokationen zum Thema Schule auf den Punkt und enthalten auch Dialoge zwischen dem Familientherapeuten und besorgten Eltern sowie zwei Gespräche, die er mit einem Schulpsychologen und dem Gründer einer demokratischen Schule geführt hat. Darin wird vor allem Position für die Schüler bezogen, aber nicht gegen die Lehrer. In seinem Plädoyer, die bestehenden Zustände an Schulen nicht mehr länger hinzunehmen, beschreibt Juul die Bausteine, die eine neue Schule braucht – damit sie nicht länger eine Institution ist, die Kindern die natürliche Freude am Lernen austreibt. Unser Schulsystem ist gekennzeichnet durch wachsenden Druck und reine Leistungsorientierung, sodass wirkliches Verständnis des Stoffes, Kompetenzvermittlung und menschliche Beziehungen immer mehr auf der Strecke bleiben. Es erzeugt frustrierte, resignierte Lehrer, die den Druck weitergeben, und verzweifelte Eltern und Kinder, für die Noten und Hausaufgaben zum Streit- und Stressthema Nummer eins geworden sind.
Juul stellt die für Eltern wie Lehrer unangenehme Frage, warum sich alle über das System beklagen, es aber weiter brav unterstützen, als wäre es, wie er schreibt, »eine Naturerscheinung, mit der man sich eben abfinden müsse«. Er ermutigt Eltern, die Verantwortung für den fälligen Paradigmenwechsel nicht länger anderen zuzuschieben und darauf zu warten, dass die Politik dafür sorgt, dass sich etwas ändert.
Jesper Juul, der selbst Lehramt für Religion und Geschichte studiert hat und in der Lehrerfortbildung tätig ist, drückt es in einem Gespräch, das kurz vor Drucklegung dieses Buches entstand, so aus: »Ich möchte deutlich machen, dass unsere Schulen die Illusion aufgeben müssen, sie wären nur für die Köpfe der Kinder zuständig und der Rest hinge allein von den Eltern ab. Schule und Lehrer sind ein so wichtiger, einflussreicher und direkter Bestandteil des Lebens der Kinder und ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung, dass es an der Zeit ist, Verantwortung zu übernehmen. Das kann nur in enger Zusammenarbeit mit den Eltern und Schülern geschehen und muss auf gegenseitigem, persönlichem Vertrauen basieren, wenn es Erfolg haben soll. Die Kinder müssen einbezogen und ihre Stimmen gehört werden. Sowohl die Kinder wie die Eltern brauchen eine offene und ernst gemeinte Einladung des Lehrers, denn das Wohlergehen der Kinder hängt von einer guten Beziehung zwischen ›ihren‹ Erwachsenen ab. Nicht eine nette und korrekte Beziehung, sondern eine, die auch Konflikte und Krisen aushalten kann, und die Lehrer müssen dabei eine Führungsrolle einnehmen.«
Wer in diesem Buch jedoch eine Methode erwartet, um Schule schnell zu kurieren, wird enttäuscht. Wie immer in der Arbeit von Jesper Juul ist auch dieses Buch keine Anleitung, um in »five easy steps« zur guten Schule zu gelangen. Wer das erwartet, kann schon hier aufhören zu lesen. Dieses Buch stellt hingegen einen wertvollen Leitfaden dar, wie Eltern, Lehrer, Schulleitungen, ebenso wie Entscheider und Verantwortliche in Ministerien den Weg ebnen können hin zu einer zeitgemäßen Schule, die sich eingesteht, was die systemische Forschung seit den frühen Sechzigerjahren weiß: Die Beziehungsebene bestimmt die Inhaltsebene.
Problemlösungsprozesse zwischen Menschen spielen sich zu achtzig Prozent auf der Beziehungsebene ab, sagte Prof. Dr. Paul Watzlawick schon vor fünfzig Jahren. In Schulen versuchen wir jedoch bislang, die Beziehungsebene auszuschalten. Die fachliche Kompetenz eines Lehrers sowie seine methodischen Fähigkeiten (das Schulinteresse der Schüler) sind daher zwar notwendig, reichen aber keineswegs aus, um erfolgreichen Unterricht zu garantieren. Folgt man Watzlawick, dann wirken sie sich zu allenfalls zwanzig Prozent auf den Unterrichtserfolg aus. Achtzig Prozent der Unterrichtswirksamkeit – also des Unterrichtserfolges der Schüler – definieren sich hingegen primär über die Beziehungsqualität zwischen Lehrern und Schülern. Im besten Sinne erfolgreicher Unterricht hat also gute, vertrauensvolle Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler zur Voraussetzung.
Wir machen Schule für uns schwerer, als es sein müsste. Schauen wir darauf, was nach der Schule passiert: »Alle Überprüfungen des Wissens, das junge Menschen fünf Jahre nach Schulabschluss noch besitzen, laufen darauf hinaus, dass das Schulsystem einen Wirkungsgrad besitzt, der gegen Null strebt«, konstatiert der Gehirnforscher Prof. Dr. Gerhard Roth, ehemaliger Präsident der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Veröffentlichungen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages belegen, dass fast die Hälfte der Unternehmer mehr Wert auf »gute persönliche und soziale Kompetenzen« als auf schulische Leistungen legt. »Für 71 Prozent der Unternehmer und Personalverantwortlichen ist Teamfähigkeit die bedeutendste Kompetenz, die sie von Hochschulabsolventen erwarten. 63 Prozent der Unternehmen bezeichnen selbstständiges Arbeiten/Selbstmanagement als eine der wichtigsten Kompetenzen, gefolgt von Einsatzbereitschaft (60 Prozent) und Kommunikationsfähigkeit (59 Prozent).«*
Die inhaltliche Stoffvermittlung wird ganz offensichtlich weit überschätzt. Einige der nötigen Maßnahmen sind daher vor allem die Entwicklung von Beziehungskompetenz der Lehrer, die Stärkung ihres Selbstgefühls und die Entwicklung ihrer persönlichen und fachlichen Führungskompetenz. Juul benennt diese Punkte im Folgenden ausführlich und gibt dazu auch ganz konkrete Anregungen, besonders was die Übernahme der Verantwortung für die Qualität der Beziehungen in der Schulklasse angeht.
Druck, Misstrauen und Kontrolle: Diese Elemente gehören zum Arbeitsalltag zu vieler Lehrer und Schüler – Untersuchungen sprechen von sechzig Prozent und mehr. Alle Arbeitspsychologen wissen: Das sind krank machende Umstände. Der Gehirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther schreibt dazu: »Jede Form von Druck führt immer zum Rückfall in bereits bewährte Strategien. Bisweilen sogar zu Reaktionen, die schon während der frühen Kindheit gebahnt worden sind, und – wenn es besonders eng wird – sogar zum Rückfall in anarchische Notfallreaktionen.«
Gesund machende Umstände hingegen sind, einen Sinn in meiner Tätigkeit zu sehen, Selbstwirksamkeit und Handlungsspielräume zu erleben, das Gefühl, nicht ausgeliefert zu sein, und Transparenz. Unsere Lehrpläne schaffen das Gegenteil: Sie fördern Bulimielernen (kurzfristig Wissen anfressen, um es schnell wieder auszuspucken und anschließend zu vergessen) und fordern Prüfungen dann, wenn sie angeordnet sind, und nicht, wenn die Kinder verstanden haben. (Argumente, die ich dazu gehört habe, sind: »Man kann ja schließlich nicht auf jeden warten. Wir brauchen Transferaufgaben zur Selektion, wenn alle es verstanden und bessere Noten haben, sollen dann alle studieren? Es muss auch Schlechte geben, wenn es Gute gibt.«) Da haben wir noch viel zu tun.
Lehrer, die daran interessiert sind, die jungen Menschen, die sie vor sich haben, zu erreichen, sollten also zuerst eine tragfähige Beziehung schaffen, bevor die Kinder überhaupt sinnvoll von ihnen lernen können. Alle Lieblingslehrer der Kinder wissen das, genau dieses Verhalten macht sie ja zu Lieblingslehrern. Das Wissen um die Wichtigkeit der Beziehung – um lernen zu können – wird in der Lehrerausbildung kaum vermittelt und völlig unterschätzt. Wir bereiten unsere Lehrer schlecht auf die Realität an unseren Schulen vor. Und unsere Schulen bereiten unsere Kinder schlecht auf das Leben vor. Schule hat sich ein künstliches Feld geschaffen, das kaum mehr mit der beruflichen Lebenswelt »da draußen« zu tun hat. Ein Beispiel sind die vielen Abiturienten, die direkt nach dem Abitur studieren und nach dem Studienabschluss am liebsten die Praxis vermeiden würden, weil sie spüren oder schon wissen, dass im Beruf Fähigkeiten von ihnen gefordert werden, die sie nie erworben haben. Da geht es ihnen wie den meisten Lehrern.
Viel zu viele Jugendliche haben längst das Vertrauen in Erwachsene verloren, und Schule hat dabei eine unrühmliche Hauptrolle gespielt. Es ist an uns allen, dieses Vertrauen wiederherzustellen. Eine Gesellschaft, die so tut, als brauche sie einen großen Teil ihrer jungen Menschen nicht, lähmt sich selbst und zieht ihre eigenen Zerstörer groß. Eine Gesellschaft, die ihre Kinder in Schulen zwingt und mit Lehrplänen abfüllen will, die nicht einmal der Frage standhalten, wozu sie dienen, erzeugt Ignoranz gegenüber der Schule und gegenüber dem Lernen an sich.
Dabei ist ein Mangel an guter Führung eklatant. Es gibt Menschen, die an der Führung sind, und es gibt Menschen, die führen. Führungsmenschen haben eine Position, die mit Macht und Autorität ausgestattet ist. Aber Menschen, die wirklich führen, inspirieren uns! Solchen Lehrern folgen wir nicht, weil wir müssen, sondern weil wir wollen. Kinder wissen: Dieser Mensch behandelt mich nicht so, dass ich mir falsch vorkomme, von ihm bekomme ich etwas, mit dem ich wachsen kann. Von ihm/ihr will ich lernen.
Lehrer haben allerdings gelernt, zu Schülern zu sagen: »Das Problem mit dir ist ...«, und sie haben einen großen Wortschatz dafür entwickelt, anderen Menschen mitzuteilen, was mit ihnen nicht in Ordnung sei. Dabei ist jede Art von Sprache, die sich für andere wie Kritik anhört, ein tragischer Ausdruck dafür, dass die eigenen Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Wir sollten ab sofort aufhören, uns gegenseitig zu beschämen.
Defizitorientierung und Entwicklung von Beziehungskompetenz sind unvereinbare Haltungen. Lernen braucht verbindliche und vertrauensvolle Beziehungen, braucht Ermutigung und Wertschätzung. Dann entsteht Freude am Lernen. Diese Freude braucht es, um auch die harten Zeiten zu überstehen, wenn Kinder lernen, auch Dinge zu tun, die sie nicht mögen.
Schule kann sich nur selbst verändern – selbst, aber nicht alleine. Zu starr, zu bequem und defensiv hat sich dieses System eingerichtet. Die Veränderung muss von den beteiligten Lehrern, Eltern und Schülern kommen. Bislang vertrauen die Nutznießer noch auf die Uneinigkeit der Beteiligten. Doch die Not wird uns zusammenschweißen, das zeigen viele Initiativen, wie etwa auch familylab mit seinen Weiterbildungen für Pädagogen.
Dieses Buch ermutigt Eltern, nicht länger darauf zu warten, dass die Politik dafür sorgt, dass sich etwas ändert. Es ermutigt Eltern und Lehrer zusammenzuarbeiten, und es ermutigt Eltern und Lehrer, die Schüler als Gesprächspartner und Mitspieler in diesem System ernst zu nehmen. Dabei zeigt es ganz konkrete Wege auf, wie man damit heute anfangen kann. Wer für sich selbst als engagierte Lehrerin und qualifizierter Lehrer eine stärkende Umgangsweise mit einem der schönsten Berufe der Welt sucht, findet auf den folgenden Seiten die Inspiration, die nötig ist, um Schule und Miteinanderlernen neu zu definieren und in seinem Umfeld selbst aktiv zu werden.
Mathias Voelchert
Gründer & Leiter familylab.de – die familienwerkstatt in Deutschland
*Abgerufen unter http://www.career.uni-hannover.de/imperia/md/content/careerservice/dokumente/dihk_erwartungenderwirtschaftanhochschulabsolventen.pdf