»Die Türen sind offen, um aufregende, befreiende Räume des Alters zu betreten. Man muss es nur wagen.«

Reimer Gronemeyer1

INHALT

Über den Autor

Anstelle eines Vorwortes: Ein herzliches Danke

Vom ungebetenen Gast A wie Alter

Kapitel 1  Zwischen 40 und 70 – so ticken wir

Ein offener Brief an die 68er-Generation – so kennen wir euch

Wir Babyboomer – so umschreibt man uns

Wir Babyboomer: Zwölf Besonderheiten und Merkmale

Nach uns: Die Generation Golf

Von den Großeltern zur Generation Y

Kapitel 2  Irritierendes auf dem Weg in unsere Zukunft

Die kommenden Jahre – womit wir gesellschaftlich zu rechnen haben

Und dann: Unsere Eltern – mehr Fragen als Antworten

Älterwerden: Lebensplanung erschwert

Die gute Nachricht: Wir Babyboomer lassen uns gerne einspannen

Kapitel 3  Vom ungebetenen Gast A wie Alter – ganz anders als gedacht

Ein Blick in die Geschichte des Alters – eine Zuversichtsquelle

Von einigen Missverständnissen im Zusammenhang mit dem Alter

Der Mensch – was ist er eigentlich? Vier Kennzeichen

Das Alter: Ohne Skript und Regisseur – das darf unmöglich so bleiben

Kapitel 4  »Schönes Alter« – Eine zaghafte Spurensuche

Midlife-Booming – das finden wir gut

Höhepunkte am Ende des Lebens – Beispiel Johann Sebastian Bach

Palliative Care – eine altbewährte Sache

Was Alte zu sagen haben, wenn wir sie fragen

Jede Phase des Lebens hat ihre Bestimmung – bis zum Ende des Lebens

Alter und Giftbecher – von der gebrochenen Liebe zum Alter

Kapitel 5  Vergangenheit und Zukunft: Die großen Ressourcen für meine Gegenwart

Meine Vergangenheit – vom unerschöpflichen Potenzial meiner bisherigen Geschichte

Zukunft – was ich sehen darf

Beflügelte Gegenwart: Ergebnis mündigen Umgangs mit Vergangenheit und Zukunft

Kapitel 6  Das Land entdecken – Eckpfeiler eines erfolgreichen Abenteuers

Die Innen- und Außenseite des Lebens – von ablaufender und anlaufender Geschichte

Das Leben in gesunder Identität

Den Urfeinden des Älterwerdens widerstehen: Gegenwartsoptimierungswahn – Jugendwahn – Selbstbestimmungswahn

Schreckgespenster Demenz – Pflegeheim – Abhängigkeit: Ein neues Verständnis gewinnen

Das Alter ergibt Sinn – die Sinnfinsternis überwinden

Milieu der Hoffnung – zu Hause, in Schule, Gemeinde, Kaufhaus, Rathaus und …

Kapitel 7  Als Babyboomer in Schlüsselposition – Darum wird es gehen

Das Alter neu erfinden: Die Landkarte zeichnen – Wegweiser im Land benennen

Wir Babyboomer: Das können wir – von den Stärken, die wir einsetzen sollten

Wir Babyboomer und die Herausforderungen – hier haben wir zu lernen

Vom guten Vermächtnis, über das kommende Generationen reden werden

Das Bewegende – von der Melodie des Älterwerdens in unserer Stadt und auf unserem Dorf

Die Hohe Schule des Älterwerdens – jetzt wird es gut mit uns

Alte werden mit Jungen, Junge mit Alten lachen

Kapitel 8  Als Babyboomer glücklich sterben

Sterben – ein Teil des Lebens

Der Tod – nur der Erzfeind?

Das Schönste kommt noch – vom Finale

Zum Schluss: Ein Plädoyer

Literaturverzeichnis

Abbildungen

Anmerkungen

Über den Autor

Dr. Markus Müller, Jahrgang 1955, studierte Behindertenpädagogik mit den Nebenfächern Erziehungswissenschaft und Philosophie. Zehn Jahre lang war er Direktor der Pilgermission St. Chrischona und arbeitet heute als Heimpfarrer mit alten, sehr alten und sterbenden Menschen. Er ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem über gesellschaftliche Trends, schreibt für verschiedene Zeitschriften und hält Referate über den Themenbereich »Älterwerden«.

Anstelle eines Vorwortes: Ein herzliches Danke

»Die größte Kraft des Lebens ist der Dank.«

Hermann von Bezzel (1861–1917), Theologe und Schulrektor

Lebensplanung für Fortgeschrittene. Das wird eine Abenteuerreise sein. Das wusste ich immer. Was ich auch weiß: In meiner eigenen Lebensplanung und -gestaltung habe ich von zahllosen Menschen unendlich viel empfangen und profitieren dürfen. Zu diesen Menschen gehörten eine Reihe von Verantwortungsträgern in unserer Gesellschaft und Leitern in christlichen Gemeinden, dazu gehört ebenso eine stattliche Anzahl Freunde in meinem Alter, dazu gehören meine Frau und meine vier Kinder, dazu gehören meine eigenen Eltern und Geschwister, dazu gehören junge Studierende auf der Suche nach den Geheimnissen und Rätseln des Lebens, und dazu gehören viele ältere, alte und sterbende Menschen, die mir während der vergangenen Jahre in den wirklichen Fragen des Lebens wesentlich weitergeholfen haben.

Ihnen allen gilt mein Dank. Meistens sahen sie mehr als ich selbst. Was verantwortliche Leiter mit mir, in mir und für mich gesehen haben, hat wesentlich zu meiner Reifung beigesteuert. Meine Eltern sorgten für tragfähige Fundamente im Leben. Sich untereinander auf eine gute Art zu messen, lernte ich unter anderem zusammen mit meinen leiblichen Geschwistern. Zur Verankerung im ganz realen Leben haben meine Frau und meine Kindern Entscheidendes beigetragen. Was wäre ich ohne Freunde, die auch mal ein kritisches Wort wagten, die mich unentwegt inspirierten und Eigenartiges einzuordnen vermochten? Und ohne die besondere Gabe unterschiedlichster Studierender, die nie müde wurden und werden, mit ihren Fragen zu neuen Gedanken zu reizen? Danke! Schließlich die Dimension der Weisheit, die ich bei älteren, alten und sterbenden Menschen lernen konnte. Es ist weise, sorgsam auf sie achtzuhaben. Eines Tages werden auch wir zu ihnen gehören. Gut, wenn wir mündig auf unsere nächste Lebensphase zugehen und heute lernen, was wir morgen brauchen – als einzelne Personen wie auch als Gesellschaft in all ihren vielseitigen, aktuellen und kommenden Herausforderungen.

Dr. Markus Müller

Vom ungebetenen Gast A wie Alter

»Hallo, du altes Haus, wie geht’s denn?« Auf einmal wurde ich auf dem linken Fuß erwischt. War diese Anrede nur ein kleiner Spaß, vielleicht im Sinne eines gut gemeinten Stimmungsaufheiterers? Oder hat mein Gegenüber tatsächlich etwas von dem wahrgenommen, was ich weder für möglich hielt, geschweige denn für möglich halten möchte? Könnte es wahr sein, dass der Gast A wie Alter, ohne zu fragen und ohne anzuklopfen, in mein Leben eingetreten ist, ja, sesshaft wurde und keine Anstalten macht, sich wegschicken zu lassen? Eigentlich will ich es nicht hoffen.

Szenenwechsel: Gebe ich auf Google »Babyboomer« ein, lese ich heute, am 31. Dezember 2015, oben links: »Ungefähr 1 370 000 Ergebnisse (0,31 Sekunden)«. Ganz dumpf erinnere ich mich: So einer bin ich auch, wenngleich ich den Ausdruck nie geliebt habe. Aber ich stelle fest: Das ist die Generation, von der es zurzeit in Deutschland, Österreich und der Schweiz am meisten Menschen gibt – rund ein Viertel bis ein Drittel, je nach Rechnungsart. Es ist zudem die Generation, die drauf und dran ist, mehr Leben hinter als vor sich zu haben. Und es ist die Generation, die unseren Sozialstaat mit seinen Renten- und Pflegeversicherungen ab 2025 aufs Äußerste strapazieren wird beziehungsweise, wie es die Schwarzmaler ausdrücken, ihn kollabieren lässt.

Szenenwechsel: Im Regal einer Bahnhofsbuchhandlung entdecke ich ein Buch mit dem Titel: »Wir werden älter. Vielen Dank. Aber wozu?«. Geschrieben von Peter Gross, dem Autor des 1994 erstmals erschienenen Bestsellers »Die Multioptionsgesellschaft«. Der Schock lässt nicht lange auf sich warten: Peter Gross schreibt von einer »Sinnfinsternis«, die sich über das Alter spannt. Was, so der Autor, machen wir eigentlich mit den rund 30 Jahren nach dem Austritt aus dem offiziellen Erwerbsleben? Was wird aus uns, wenn wir die Lebensmitte überschritten haben und sich die ersten Gedanken an das Älterwerden in unser Bewusstsein schieben? Uns, sagt Gross, fehle ein Muster, uns fehle das Vorbild, uns fehle Skript und Regisseur.

Szenenwechsel: Wieder einmal feiern wir einen sechzigsten Geburtstag. Eigentlich widersteht mir dieses Feiern, bei dem es – ehrlich gesagt – niemandem ums Feiern ist. Und doch. Manchmal kommen Fragen auf wie: Ist es nicht doch gut, dass wir älter werden dürfen? Oder: Könnte das Alter nicht trotz einiger Unannehmlichkeiten etwas Schönes und Zufriedenstellendes werden, falls wir es richtig angehen? Oder: Haben wir uns nicht ein ziemlich falsches Selbstverständnis angeeignet, wenn wir dachten, es käme im Leben nur auf Leistung, Aussehen, Besitz, Status, Genuss und ein »immer mehr« an?

Letzter Szenenwechsel: Ich kann es kaum fassen, wie viele Gleichaltrige und Ältere mir ermutigende und gute Geschichten und Erfahrungen erzählen. Ich habe – gerade auch dann, wenn mir viel Übles über das Alter und Älterwerden zu Ohren kommt – gelernt, genau hinzuhören. Könnte es nicht sein, so muss ich dann unweigerlich fragen, dass uns mit dem Alter etwas Einzigartiges, jetzt noch Unentdecktes, aber Abenteuerlich-Spannendes bevorsteht? Könnte es sein, dass wir das Alter nochmals ganz neu erfinden und mit großer Überzeugung leben werden? Ich glaube es. Ich glaube, dass das Alter eine genauso erstrebens- und liebenswerte Lebensphase ist wie die Kindheit, die Jugend und das sogenannte Erwachsenenalter. Ich glaube, dass wir, die wir auf das Rentenalter beziehungsweise die Pensionierung zugehen, als letzte wirklich große Herausforderung in unserem Leben das Meisterstück abzuliefern haben, wie es sich sinnvoll und sinnstiftend, mündig und froh, zufrieden und als freie Menschen alt werden lässt. Darüber haben sich die uns vorangehenden Generationen nur wenig Gedanken gemacht, und darauf werden die nach uns kommenden Generationen angewiesen sein.

Dazu will dieses Buch Mut machen: dass Sie sich als Leser trotz unzähliger Widerstände aufmachen, das bisher nur wenig oder allzu einseitig entdeckte Land Alter zu erkunden, zu entdecken und für sich zu erfinden.

Eines ist klar: Der Gast A wie Alter kommt und bleibt. Das Beste: Sie schließen Freundschaft mit ihm. Wer weiß, ob er sich nicht eines Tages als sinnvoller Gast erweist, für den Sie dankbar sind und mit dem Sie richtig entspannt und hoffnungsfroh umzugehen wissen?

Ich möchte Sie dazu ermutigen, dass Sie ein Beispiel und Muster für Ihre Kinder, Neffen und Nichten, Enkel und vielleicht noch kommenden Urenkel geben, von dem diese sagen: Wenn das mit dem Alter so ist, dann ist alle Ängstlichkeit und Abwehr fehl am Platz. Ob wir, die wir den fünfzigsten, teilweise den sechzigsten Geburtstag hinter uns haben, wollen oder nicht: Wir werden im Zusammenhang mit dem Älterwerden ein Vermächtnis an die kommenden Generationen hinterlassen. Die Frage ist nur, welches. Mut also, das uns zunächst fremd und eher abweisend erscheinende Land »Alter« zu erobern und zu gestalten, in besonderer Weise auch um der kommenden Generationen willen!

Und nicht zuletzt geht es darum, dass wir, die wir mitten im Leben stehen, nie vergessen: Wir haben viel und wirkungsvoll dazu beigetragen, dass die vergangenen 40 Jahre in der westlichen Welt unübertrefflich gute Jahre waren. Wenn Sie dieses Buch in den Händen halten, dann in der unbändigen Hoffnung des Autors, dass Sie mithelfen, dass auch die kommenden 40 (und mehr) Jahre für unsere Gesellschaften lebenswerte, sinn- und hoffnungserfüllte, inspirierende Jahre werden – trotz allem Gerede rund um die Altersfalle, das Mammutaltersheim Europa und den drohenden Kollaps der Rentensysteme.

Die folgenden Seiten nehmen Sie mit auf eine einzigartige, manchmal bedrohlich erscheinende, meist aber mitreißende, einzigartige, packende Abenteuerreise. Bei uns selbst – wer wir sind und wie wir ticken – wird die Reise beginnen. Willkommen zum Aufbruch!

KAPITEL 1
ZWISCHEN 40 UND 70 – SO TICKEN WIR

»Wer bin ich überhaupt?«,

fragte der 58-Jährige, der sonst leidenschaftlich gern in die Zukunft schaut und im Rückblick humorvoll mit sich selbst umzugehen pflegte.

Großartig, meist beflügelnd und manchmal abschreckend. Wann immer ich eine mir bisher unbekannte Stadt besuche, besteige ich als Erstes die höchstmögliche und aussichtsreichste Plattform, meist eine Kathedrale, eine Burg oder ein Hochhaus. Mein Bedürfnis: Überblick, Blick für das Ganze, Orientierung. In nahezu allen Völkern zu fast allen Zeiten versuchten Menschen den Blick von oben, nicht nur auf die eigenen und fremden Städte, sondern auf ihr eigenes persönliches und gesellschaftliches Leben. So fragten sie dann etwa: Wer sind wir eigentlich? Was treibt uns? Was bewegt und erregt uns? Was erfreut und ängstigt uns? Was glauben und hoffen wir? Was war’s bisher, und was wird kommen? Wie agieren und reagieren wir? Kurz: Wie ticken wir?

Drei Generationen sind es, die in den ersten drei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts dabei sind, die Lebensmitte zu überschreiten. Sie leben wohl oder übel, gewollt und ungewollt, reflektiert und unreflektiert auf jene Lebensphase zu, die im Allgemeinen als nur bedingt erstrebenswert gilt. Es handelt sich um die 68er-Generation, die sogenannten Babyboomer und die Generation Golf. Zahlenmäßig weit an der Spitze liegen die Babyboomer, geboren zwischen 1950 und 1968. Im Bewusstsein unserer Gesellschaft allerdings stehen sie ganz im Schatten der 68er. Ob sich dies nochmals ändern wird?

Ein offener Brief an die 68er-Generation – so kennen wir euch

Liebe 68er-Generation,

ihr seid’s, über die so unendlich viel zu hören und zu lesen ist. Erbauliches und Kränkendes, Mutiges und kaum Nachvollziehbares. In jedem Fall zutreffend: »Die 68er« ist ein Begriff, den wir alle kennen.

Ihr seid’s, die ihr so viel von euch haltet, die aber wie wohl keine andere Generation kritisiert, hinterfragt, idealisiert, verabscheut und verleumdet worden ist. Vor euch waren die Kriegsgeneration und die »Trümmerfrauen«. Geboren seid ihr kurz vor dem Krieg, im Krieg oder unmittelbar nach dem Krieg. Kriegsverarbeitung war unweigerlich euer ganz großes Thema.

So viel wissen wir: Im Jahr 1968, dem »wilden Jahr«, hat sich für euch Entscheidendes zugespitzt. Die bestehende, nach dem Zweiten Weltkrieg über zwanzig Jahre hinweg erschaffene Welt hat euch nicht zufriedengestellt. Viele Antworten, Entscheidungen und Verhaltensregeln haben unter euch Unwohlsein, Abscheu oder gar Verachtung hervorgerufen. Vieles, was vor euch selbstverständlich war, wurde euch zunehmend frag- und kritikwürdig.

Insgesamt waren es wohl drei Dinge, die euch unerträglich erschienen. Da waren zunächst die schweigenden Eltern, also die Kriegsgeneration, die euch nie wirklich erzählt hat, was im Krieg war, wie sie mit dem Schrecklichen umgegangen sind und wie sie es verarbeitet haben beziehungsweise es zu verarbeiten gedenken. Es waren dann die nationalen und vor allem internationalen politischen Entscheidungen, die euch den Kragen platzen ließen. Beispiele: Nicht nachvollziehbare Notstandsgesetze wie der Bonner Beschluss, dass in Spannungszeiten die Grundrechte außer Kraft gesetzt werden können, oder der pompös gefeierte Besuch des Schahs von Persien in Berlin. Schließlich war es das materialistische Programm der Moderne auf dem Boden der analytischen Wissenschaftslehre, das euer Unbehagen ins Uferlose wachsen ließ. Adorno und Horkheimer, Habermas, Marcuse und eine Reihe anderer waren eure Meinungsmacher. Als Professoren waren sie bereit, euch zu stützen. Sie waren bereit, das Gespräch mit euch auf öffentlichen Plätzen und in euren neu gegründeten Kommunen zu führen. Eine neue Gesellschaft, eine gerechte Gesellschaft, eine lebensorientierte statt unterdrückende Gesellschaft, eine menschliche und nicht traditionsdiktierte Gesellschaft sollte entstehen. Das war euer Wunsch, eure Sehnsucht und euer Programm.

In und aufgrund dieses Unbehagens seid ihr aufgestanden und habt euch zur Wehr gesetzt. Mehr noch: Ihr habt euer Leben für das Neue gegeben, investiert und riskiert. Ihr wart bereit, »dicke Bretter zu bohren« und »den Marsch durch die Institutionen« anzutreten, ja, ihr wart womöglich die Letzten in unserer westlichen Gesellschaft, die bereit waren, für eine Idee das Leben zu opfern. Tote gab es in der Tat, in Deutschland etwa Rudi Dutschke oder Benno Ohnesorg. Und dann wart ihr Zeuge davon, wie sich die Welt, in der ihr lebtet, stürmisch, weitreichend und tief greifend verändert hat. Ihr wart ein Teil davon, bewusst und unbewusst, gewollt und ungewollt.

Neidlos müssen wir bekennen: Unvorstellbar, was ihr erreicht habt! Die Welt nach 1968 war nicht mehr die Welt vor 1968. Lebensmittelpunkt etwa war nicht mehr zwingend Elternhaus, Schule und Universität. Tabus wurden großzügig, oft lustvoll, gebrochen. Die Erfahrung mit der Droge galt als erstrebenswert, die sexuelle Freizügigkeit war selbstverständlich. Und über alles durfte und sollte geredet werden. Verpönt war, auch unter den Braveren, was nicht hinterfragt worden war. Das Neue war grundsätzlich besser als das Bestehende, auch ohne Tatbeweis. Allen Respekt!

Deshalb hört auch dies: Mag es manche Menschen irritieren, aber hier ist auch mal ein Dank fällig. Ihr hattet Vorstellungen einer kommenden Gesellschaft. Ihr habt sie euch etwas kosten lassen. Ihr wart bereit, euch nicht von kleinsten Widerständen in die Schmollecke treiben zu lassen. Unbequeme und irritierende Fragen habt ihr nicht nur toleriert, sondern willkommen geheißen. Kritik habt ihr als Chance gesehen. Dem Streitgespräch seid ihr nie ausgewichen. Euch stand nicht zuerst die gesellschaftliche und politische Korrektheit vor Augen, sondern das, was ihr für richtig hieltet. Eure Träume und Utopien habt ihr nicht nur benannt, sondern gelebt. Theorie war immer gleichzeitig Praxis. »Langer Atem« war kein Fremdwort. In der Tat habt ihr Menschen hervorgebracht, die zwanzig oder dreißig Jahre später maßgebliche Ämter in unserem Staat zu besetzen vermochten. Ihr wart, so stellen wir unumwunden fest, buchstäblich eine erfolgreiche Bewegung. Und – für uns später Geborene das Beste – ihr habt uns nahezu unendlich viel Frei- und Gestaltungsraum geschaffen und freigekämpft. Wir hatten das unbezahlbare Vorrecht, diese Räume zu füllen. Das war dann sozusagen das Lebensmotto von uns, das, worin wir uns seit Kindesbeinen üben konnten. Ohne euch hätten wir Boomer niemals so viel Freiheit, derart viele Gestaltungsräume und dermaßen viele Verantwortungsmöglichkeiten in unserem Leben gehabt. Deshalb: Vielen Dank!

Am Rande: Nehmen wir euch heute – 45 oder 50 Jahre danach – wahr, werden wir das Gefühl nicht ganz los, dass ihr da und dort müde seid, manchmal auch mutlos oder gar resigniert, zum Teil richtiggehend verunsichert. Zu finden seid ihr – falls nicht schon pensioniert und als Frauen noch öfter als Männer – vor allem im Medienbereich und auf Ämtern. Viele von euch haben sich in Gelungenem und Gescheiterten eingerichtet. Von euch hört man Sätze wie: »Mein Leben war so unruhig, so rastlos – jetzt habe ich das Recht und den Anspruch auf …« Ziemlich sprachlos empfinden wir euch, wenn es um eure Zukunft, eure nächste Lebensphase, euer Älterwerden geht. Deshalb eine Frage: Könnte es stimmen, dass ihr wenig Lust habt, jetzt auch noch das mit dem Älterwerden – persönlich wie gesellschaftlich – zu entdecken und konstruktiv zu gestalten, also auch das Alter, wie ihr öfter gern gesagt habt, umzupflügen?

Sollte dem so sein, dann haben wir als Babyboomer eine Bitte. Wir, die wir so oft in eurem Schatten, aber auch in euren Fußstapfen gegangen sind und gehen durften, merken, dass das mit dem Älterwerden und dem Alter in der Tat eine Mammutherausforderung ist, persönlich wie gesellschaftlich. Deshalb: Warum nicht mal einen Rollentausch? Gebt uns doch einfach mal Vertrauen! Mutet uns etwas zu, unterstützt uns! Um der Zukunft eurer und unserer Gesellschaft, eurer und unserer Kinder und Enkelkinder willen: Das Land des Alters muss gewonnen und erobert werden – als sinnvolles, Hoffnung stiftendes Lebensgelände, auf das zuzugehen Freude macht. Solltet ihr nicht noch einmal aufbrechen wollen oder können: Wir tun es, auch wenn es uns Überwindung kostet. Genial, wenn ihr uns Vertrauen schenkt! Wir nämlich möchten, dass nicht nur unser, sondern auch euer Älterwerden gelingt.

Respektvoll – ein nach euch Geborener

PS: Wir sind etwas unsicher, wie ihr uns, die sogenannten Babyboomer, wahrgenommen habt. Wir laden euch einen Moment ein, einfach hinzuhören, wenn wir im Folgenden versuchen zu sagen, wer wir sind, wie wir uns empfinden, was uns entspricht, wie wir »funktionieren«. Danach werden wir versuchen, auch über die uns folgende Generation, die Golfer, ein paar Sätze zu formulieren.

Wir Babyboomer – so umschreibt man uns

»Wir sind das unsichtbare Skelett und Nervensystem unserer Gesellschaft.«

Berhard von Becker2

Was nun verbindet uns, die wir als »Babyboomer« gelten und grob gesagt zwischen 1950 und 1968 geboren wurden? Zunächst ganz einfach: Wir kamen in jenen Jahren zur Welt, in denen alles boomte oder zu boomen begann: die Wirtschaft, der Konsum, der Immobilienmarkt – und das Kinderkriegen. Kein Wunder, dass es uns so zahlreich gibt. Zu uns gehören viele, sehr viele ohne besonderen Rang und Namen, aber auch Personen, die bekannt sind wie ein bunter Hund, etwa Maybrit Illner, Monika Strauß, Christian Wulff, Walter Kohl, Joachim Löw, Guido Westerwelle, Til Schweiger, Doris Leuthard, Martin Bühlmann, Jürgen Werth, Andreas Malessa, Roland Werner und viele, viele andere. Eine richtige Kohorte, sagt man, ist diese Sandwichgeneration zwischen Krieg (bis 1945) und Postmoderne (ab 1970).

Wer sind wir? Pasqualina Perrig-Chiello und François Höpflinger, zwei Schweizer, charakterisieren uns so: »Als Babyboomer werden die Vertreter der geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegsjahre bezeichnet.«3 »Speerspitze«, so wird in der Literatur darüber generell betont, sind die Jahre zwischen 1960 und 1965. Die höchste Geburtenzahl findet sich in Deutschland im Jahre 1964. Da wurden 1 357 304 Babys geboren, also mehr als doppelt so viele wie rund fünfzig Jahre später: Im Jahr 2011, dem Jahr mit der tiefsten Anzahl Geburten seit 1960, wurden in Deutschland 662 685 Babys geboren. In der Regel – auch in diesem Buch – rechnet man zu den Babyboomern Menschen der Jahrgänge 1950 bis 1968. In den USA, wenn wir den Blick weiten wollen, begann der »Babyboom« unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Schweiz wiederum gab es zwei boomende Zeiträume: In den Jahren 1943 bis 1950 lagen die Geburtenraten bei rund 240 Kindern pro 100 Frauen, und nach 7 Jahren schwächerer Geburtenzahlen kam es 1957 bis 1966 nochmals zu Geburtenzahlen von 240 bis 260 Kindern pro 100 Frauen. Entsprechend unterscheidet man in der Schweiz die »Nachkriegs-Babyboomer« und die »Wohlstands-Babyboomer«. Nach 1966 brach die Anzahl der Geburten in nahezu allen westlichen Ländern dramatisch ein. Gründe gibt es viele: die zunehmende Verbreitung von Familienplanung und Verhütung (»Antibabypille«), die Abkehr von traditionellen Ehe- und Familienvorstellungen, die Trennung von Sexualität und Kinderwunsch, die später einsetzende Familiengründung, die zunehmenden nicht ehelichen Lebensgemeinschaften, die erhöhten Scheidungszahlen.

Es boomt, will sagen: Es dröhnt und brummt, blüht und floriert

»Boom« ist ein Reizwort. »To boom« ist englisch und »bezeichnet einen meist mit Lärm verbundenen Vorgang des Beschleunigens«4. »Dröhnen« oder »brummen« bedeutet es im Zusammenhang mit einem Flugzeug, »mit vollen Segeln unterwegs« bei einem Schiff. Man spricht auch von einer Wirtschaft, die boomt, also »blüht und floriert«.

Vor diesem Hintergrund verstehen wir, wenn der altgediente Politiker Franz Müntefering gesagt haben soll: Die Generation, die 10 bis 15 – wir ergänzen: 10 bis 25 – Jahre nach dem Krieg geboren worden ist, »hat in ihrem ganzen Leben immer nur mehr gehabt: mehr Geld, mehr Freizeit, mehr Urlaub, mehr Sicherheit, mehr Chancen, mehr Freiheit, mehr Unterhaltung, immer nur mehr. Diese Generation stellt nun fest, dass es nicht mehr mehr gibt.«5 Man ist irritiert bis geschockt. So klar wollten wir uns eigentlich nicht verstehen, so einfach ist es nun doch nicht. Doch irgendwie hat die Beschreibung etwas Wahres an sich: Wir sind eine Art »Generation mehr«. Prompt kam ja dann in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Diagnose zum Ergebnis der Boom-Jahre: Unsere Gesellschaft wird ganz schlicht als Multioptionsgesellschaft beschrieben, als Gesellschaft also, deren Problem nicht der Mangel, sondern der Überfluss, insbesondere an Wahlmöglichkeiten, ist. Das »mehr, besser, schneller, schöner« liegt uns.

Wir Babyboomer: Zwölf Besonderheiten und Merkmale

»Ich weiß gar nicht, dass ich ein Boomer bin«, sagte ein Freund.

Und ein anderer fügte hinzu: »Ich weiß, dass ich ein Boomer bin. Das genügt.

Warum darüber nachdenken? Ich ticke, wie ich ticke.

Was will ich mehr?«

Was eint uns, die wir rund ein Viertel bis ein Drittel der Menschen in unserer mitteleuropäischen Gesellschaft ausmachen? Eine spannende Frage! Wir fragen noch etwas tiefer nach unserer Identität, unseren Prägungen, unserem psychischen und sozialen »Erbgut«, unserer tief sitzenden Mentalität, unseren Ängsten und Sehnsüchten, unseren Nöten und Sorgen, unserer Lebensphilosophie, unserem Lebensmuster. Was, so zusammenfassend gefragt, hält uns, die wir auch »Midlife-Boomer«, »Best-Ager«, »Best-Age-Shoppers« und etwas deutsch-schwerfälliger »Junge Alte« oder »Jung-Senioren« genannt werden, im Innersten zusammen? Im Folgenden zwölf Besonderheiten und Merkmale.

Merkmal Nr. 1: Ohne schmerzhaft prägendes Schlüsselerlebnis

Im Kern erlebten wir friedliche Jahre in zunehmendem Wohlstand und Wohlergehen. Unsere Eltern, meist vor, teilweise noch im Zweiten Weltkrieg geboren, haben existenzbedrohende Erinnerungen an Krieg, Hunger, Armut. Wir wissen davon bloß vom Hörensagen. Nicht der Schutz vor und der Umgang mit Lebensbedrohlichem hat uns geprägt, sondern höchstens die Frustration in jenem Moment, in dem sich unsere Pläne nicht so verwirklichen ließen, wie wir es uns vorgestellt haben. Es herrschte, als wir zwischen null und zwanzig waren, unter uns eine Art Goldgräberstimmung. Das Leben war negativitätsfrei, tendenzmäßig eine kampffreie Zone. Der Rasen ersetzte den mit Schweiß zu bearbeitenden Acker, Küchenmaschinen und Haushaltsgeräte das harte Handanlegen an der Seite der Mutter. Es kam der Supermarkt, in dem wir uns nach Gutdünken selbst bedienten. Fernsehapparate brachten die weite Welt ins Wohnzimmer. Vollbeschäftigung und steigende Löhne der Eltern (Letzteres dann auch bei uns) sowie der Rückgang überlebenssichernder Pflichten erlaubten uns, gut gelaunt, frecher und anspruchsvoller zu werden. Bloß 20 Prozent der zwischen 1950 und 1959 Geborenen geben an, so sagt uns die Statistik, eine schwere Jugend gehabt zu haben. Wer will widersprechen, wenn gesagt wird, dass wir die glücklichste Generation des 20. Jahrhunderts sind, die tief verinnerlicht hat, dass alles immer besser wird und dass die Behebung des Mangels nur eine Frage der Zeit ist?

Merkmal Nr. 2: Glückliche Eltern, wenn wir glücklich waren

Sie, unsere Eltern, waren glücklich, wenn sie uns glücklich machen konnten. Vermutlich waren unsere Eltern die letzte Generation aus den vergangenen Jahrhunderten, die nichts so sehr wünschten und wollten, als dass es ihren Kindern besser ging als ihnen selbst. Völlig neu: Die Eltern fragten uns, was wir gerne essen möchten, welcher Urlaub uns am meisten reizen würde und welche Hose oder welche Bluse uns denn gefallen könnte. Wir als Kinder, und das ist neu in der Geschichte, hatten plötzlich das Recht, zu bestimmen. Das Antiautoritäre lag in der Luft, auch wenn längst nicht alle Eltern solches Gedankengut bewusst vertreten haben. Zum Teil haben sie es sogar massiv bekämpft, wenn auch meist mit mäßigem Erfolg. Wir nämlich waren erfinderisch und fanden außerhalb des Elternhauses genügend Ermutigung und Unterstützung. Fragen wir uns umgekehrt, was wir von den Eltern hielten, so kam ziemlich deutlich zum Ausdruck: Sie waren ganz okay. Am Rande: Das Wort »okay« gilt als Lieblingswort unserer Generation. Vielleicht schade, aber nicht wirklich tragisch erwies sich, dass die Eltern tendenzmäßig abwesend (die Väter) oder anderweitig engagiert (die Mütter) waren. Berührungsängste kannten wir kaum, auszusetzen gab es wenig, und ein Gespräch mit ihnen war eher selten, eigentlich auch kaum notwendig, denn Nöte gab es ja nicht. In diesem Sinne müssen wir unseren Eltern zugestehen: Im Anliegen, uns glücklich zu machen, waren sie ausgesprochen erfolgreich. Unser eigenes Interesse wiederum galt nicht so sehr ihnen. Unser Lebensraum wurde mehr und mehr die Nachbarschaft und der Sportplatz. Dort entdeckten und definierten wir unter uns den auf uns zugeschnittenen Lebensentwurf. Die Schule, ein notwendiges Übel, nahmen wir als Unannehmlichkeit in Kauf. Interesse für uns persönlich bestand – nicht zuletzt aufgrund der Klassengröße von manchmal 40 oder mehr Kameraden und Kameradinnen – ohnehin kaum. Meist war es eher langweilig, und so war uns schnell klar: Auch hier war, zumindest in den hinteren Reihen des Klassenzimmers, Raum und Zeit, uns unsere eigene Welt zu schmieden. Im Kern entwickelten wir uns eigenständig, autark. In Notfällen gab es genug Mit-Boomer, die uns unter die Arme griffen.

Merkmal Nr. 3: Im Auftritt als Rudel, aufgehoben in der Community

Der Verband, etwas herablassend als »Rudel« oder »Kohorte« bezeichnet, liegt uns nahe. Wir selbst reden von »Community«. In ihr sind wir zu Hause und verankert, ohne sie empfinden wir uns sofort verloren, alleingelassen in der Unendlichkeit des Universums. Verbindlichkeit allerdings ist da eine ganz andere Sache. Man wünscht sie uns, doch wenn wir eines nicht lieben, dann das ideologieverdächtige Diktat durch Festlegungen und Strukturen. Wir lieben flexible Daseinsmodelle. Sogar den Teamleader mögen wir nur, solange das Team das Sagen hat. »Ego-Nummern« allerdings liegen uns nicht, weder bei uns noch bei andern. Dabei gestehen wir, dass wir leicht – und manchmal stark – dazu neigen, unorganisiert und chaotisch zu sein und die Übersicht zu verlieren. Streit wiederum, falls es ihn gibt, genügt noch längst nicht, das ausgeprägte Gruppenbewusstsein hinter sich zu lassen. Viel näher liegt es uns, die »Community« eben einfach zu wechseln. Nur ungern reflektieren wir, ob das neu gefundene Rudel tatsächlich tragfähiger und verheißungsvoller ist als das bisherige. Hauptsache, die Gruppe bleibt – wenn immer möglich mit viel Wachstumsdynamik und wenig Vorgabe. Sicher ist: Das Lebenskonzept muss flexibel und ergebnisoffen sein und bleiben.

Merkmal Nr. 4: Hinreichend beachtet?

Unser einziges Problem ist nicht geschenkte Aufmerksamkeit. »Anything goes«, grenzenloser Optimismus, unbegrenzte Möglichkeiten: Das haben wir eingeatmet und verinnerlicht. Und natürlich war es schön, zahlenmäßig viele zu sein. Gleichaltrige zu finden, war nicht schwer. Doch einen Preis mussten wir bezahlen. Weil wir so viele waren, mussten wir teilen und mit ständiger Konkurrenz rechnen. Mit Kollektivstrafen in der Schule, und manchmal auch beim Vater, haben wir uns abgefunden. Wir sahen ja ein, dass vor allem der Lehrer angesichts der Übergröße unserer Klassen nicht Zeit und Kraft hatte, sich dem einzelnen Schüler zuzuwenden. Auch an der Uni haben wir es, andeutungsweise verärgert, hingenommen, dass die Plätze im Hauptraum längst besetzt waren und wir uns so mit dem Nebenraum und der halbwegs funktionierenden Übertragungsanlage zufriedengeben mussten. Die Begleiterscheinung war aber offensichtlich: Sobald die Plätze definitiv begrenzt waren, etwa im Fußballklub, im zu kleinen Auto unserer Familie, im schulischen Freiwahlfach, später im Zusammenhang mit freien Lehrstellen und schließlich bei den verfügbaren Arbeitsstellen, wurde die Situation ungemütlich und die Atmosphäre gereizt. Schmerzlich wurde uns bewusst, dass wir ersetzbar sind. Ganz leise und unscheinbar wurde eine Art Ängstlichkeit in Bezug auf unsere eigene Zukunft zum ständigen Begleiter auf unserem Weg. Im guten Fall haben wir die Selbsthilfe und das Improvisieren gelernt, im schlechten Fall dann aber auch den einen oder andern nicht immer fairen Trick. Mit dessen Hilfe gelang es uns dann doch meistens, die nötige Aufmerksamkeit im »Aufmerksamkeitswettbewerb« zu erlangen. Die einen hatten hier dickere, die andern dünnere Haut, die einen schneller, die andern erst später ein schlechtes Gewissen.

Merkmal Nr. 5: Veränderung ist unser täglicher Begleiter

Eine Welt ohne Veränderung ist für uns genauso wenig vorstellbar wie ein Schwimmbad ohne Wasser. Weil wir mit Dauerveränderungen groß geworden sind, merkten wir kaum, wie einschneidend die technischen, gesellschaftlichen und weltpolitischen Veränderungen waren, und wie heute nichts mehr ist wie zu Zeiten unserer Großeltern. Das Besondere und sehr wohl Beängstigende am Ganzen: Uns scheint auch nichts mehr wirklich schockieren zu können. Weder Vietnam noch der russische Einmarsch in Prag – ich erinnere mich vage an die von uns Schülern an die Schultafel geschriebenen Namen Dubcek und Swoboda – noch Willy Brandts Ostverträge noch die RAF noch die atomare Aufrüstung und Ölkrise inklusive allen entsprechenden Gegenbewegungen noch Zürich 1980 noch Nicaragua noch – einige Zeit später – das Methusalem-Komplott von Frank Schirrmacher haben uns wirklich existenziell irritiert. Alles fundamentale Ereignisse, doch (fast) alles ging kampf- und scheinbar spurlos an uns vorbei. Gegen Weltuntergangsszenarien waren und wurden wir resistent und immun. Fernsehen, welch ein Geschenk, erlaubte das Zuschauen aus der Ferne. Unsere Revolte war höchstens passiv, etwa mit den langen Haaren, die bei unseren Eltern nicht sonderlich gut ankamen, oder mit den zerschlissenen Jeans, die unsere Lehrer verachteten. Wirklich schlimm war es nie. Es war okay, vor allem, wenn andere wieder für Ruhe gesorgt hatten. Überhitzte Alarmrufe nahmen wir sportlich – wir gelten ohnehin als Erfinder des Breitensports. Zu existenzieller Betroffenheit waren wir nicht bereit. Der Plattenladen mit tollen Covers und die ersten überdimensionalen Plakate (»Poster«) standen uns näher, und so veränderte sich die Gesellschaft »leise nachhaltig«6, später auch von uns betrieben. Immer unmerklich und lautlos – aber wirkungsvoll.

Merkmal Nr. 6: Lieber moderieren als vorangehen

Was tut der klassische Babyboomer am liebsten? Ausgesprochen spannend, was nach Jahren und Jahrzehnten so aus uns geworden ist, in der Politik, in der Wirtschaft, in den Medien, in der Kunst. Eines ist auffällig: In der Politik sind wir kaum anwesend. Es war 2012 Christian Wulff, der als echter Boomer auf dem politischen Parkett nicht bestehen konnte. Die deutsche FDP ist aktuell »boomerfrei«, und auch im Kabinett von Angela Merkel sitzt zurzeit nicht wirklich ein Boomer im strengen Sinne. In der Politik sind, so sagt man, die Boomer ein Total- und Komplettausfall. Kaum besser sieht es in der Wirtschaft aus, wesentlich anders allerdings in den Medien und – bezeichnenderweise, wie Bernhard von Becker feststellt,7 – im Kabarett unter den Komikern. Echte Bedrohungen gibt es ja in unserer Wahrnehmung nicht. Alles ist im Fluss, da werden Vermittler und – scheinbar – die Spaßmacher gebraucht. Gefragt sind die Versteher und Frager, es gilt, die Anders- und Querdenkenden zu verstehen und mit Fragezeichen statt mit Ausrufezeichen zu arbeiten. Unser Handwerk ist die Vermittlung. Auffallen ist kontraproduktiv. »Passt schon« geht uns leicht über die Lippen, ähnlich wie das bereits erwähnte »Okay«. Maybrit Illner, Kai Diekmann, Sandra Maischberger, Anne Will und andere stehen recht hoch in unserem Ansehen. Sie tun, was wir auch gerne tun: Unaufgeregt und unbeschwert für den Ausgleich sorgen, eben moderieren. Leichte Sorgenfalten belegen, dass uns doch nicht alles egal ist. Unbeabsichtigt werden wir zu den Bewahrern. Entscheidend ist, dass sich Lösungswege im Miteinander finden. Dass uns da und dort Kraftlosigkeit und Kurzatmigkeit vorgeworfen werden, ist wenig erstaunlich, dramatischer schon, wenn man von uns als der »erschöpften Generation« spricht, die dazu prädestiniert sei, nach der Frühpensionierung mit dem Wohnmobil durch Europa zu reisen.

Merkmal Nr. 7: Zukunft – nicht unser Lieblingsthema

Aktives Gestalten liegt uns nicht, eher schon das Abwarten. Der Begriff »to boom« bedeutet unter anderem ja auch »streunen«. Wir »streunen in der Zukunft«, sagte jemand. Wir sehen, dem Fernseher sei es gedankt, gerne fern, aber ungern blicken wir in die Zukunft. Natürlich ahnen wir, dass nicht alles immer mehr, besser, schöner und angenehmer werden kann. Doch statt dass wir uns ernsthaft mit der Zukunft auseinandersetzen, beschränken wir uns lieber auf unser privat-individuelles Leben. Bezeichnende Beispiele finden sich im schon erwähnten Buch »Die Babyboomer«8. Die Autoren befragten und fotografierten in ihrem Buch rund 30 Personen nach ihren Zukunftswünschen. Neben der Großaufnahme der Babyboomer-Person findet man im großformatigen Buch klein gedruckt deren Wünsche für die Zukunft. Wir finden bezeichnende Sätze wie: »Arbeit langsam reduzieren« (S. 7), »sein im Sein« (S. 13), »die Welt noch besser kennenlernen« (S. 25), »fröhlich älter werden« (S. 29), »Ferien, nie mehr Stress« (S. 58), »weiterhin mit interessanten Menschen leben« (S. 99), »gesund und glücklich die eiserne Hochzeit feiern« (S. 121). Fragt man tiefer, merkt man, dass das Leben, als wir heranwuchsen, in der Tat auch ohne Vision funktionierte. Bis heute haben wir »wie immer keinen Plan«, sagt Bernhard von Becker.9 Der Weg lässt sich im Getümmel der Zeit auch ohne festgelegtes Ziel finden. Das Risiko zu wirklichem Fiasko halten wir letztlich für gering. Zudem: Wer weiß denn schon, was wirklich kommt? Unaufgeregt nehmen wir denn auch zur Kenntnis, dass es mit unserer Identität nicht besonders gut bestellt ist. Im Moment lebt es sich ja ganz gut: materiell einigermaßen abgesichert, hinreichend versichert und in einigermaßen friedliebendem Umfeld weit weg von bedrohlichem Konfliktpotenzial. Wieso also Sorge um die Zukunft? Es genügt, dass die Anti-Aging-Industrie blüht und boomt. Wir bewältigen das, was uns vor die Füße kommt. So oder ähnlich kamen wir ja bisher gut über die Runden – eigentlich recht glücklich, im Notfall auch ohne Zukunft.

Merkmal Nr. 8: Staat und Gesellschaft sind gut, solange sie für uns da sind

Politik und Staat sind nicht unsere Kernanliegen. Bin ich okay und bist du okay, dann liegt es auf der Hand: Politik und Staat sind gut und wichtig, aber nicht der Raum, in den wir unser Leben investieren. Das sollen andere tun. Staat ereignet sich wie alles in der Gesellschaft – mit und ohne uns. Recht so! Wieso soll ich mich bei Wahlen der Konkurrenz aussetzen und Kopf und Kragen riskieren? (Allzu) öffentliches Engagement ist nicht Sache der Boomer. Eine Pilgerfahrt machen und darüber ausführlich berichten – wie Hape Kerkelings »Ich bin dann mal weg« –, das entspricht uns mehr. Zwei Dinge fallen in diesem Zusammenhang besonders auf: Zum einen steckt in uns so etwas wie ein »Unentschiedenheitsgen«.