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Hinter dem Eisregenschleier erhob sich die riesige Silhouette von Bluff House über Whiskey Beach. Das Herrenhaus trotzte dem kalten, aufgewühlten Atlantik, als wollte es sagen: Ich weiche dir nicht.
Mit seinen drei beeindruckenden Stockwerken thronte es über der rauen, zerklüfteten Küste und schaute aus augen-gleichen Fenstern auf die anbrandenden Wellen wie schon seit drei Jahrhunderten. Nur seine äußere Form hatte sich im Lauf der Zeit gewandelt.
Das kleine Steincottage, das heute Werkzeug und Gartengeräte beherbergte, erinnerte an die bescheidenen Ursprünge. Es erinnerte an diejenigen, die sich über den unberechenbaren Atlantik gewagt hatten, um auf dem steinigen Boden der Neuen Welt ein neues Leben zu beginnen. Die Grandezza des Haupthauses mit seinen goldenen Sandsteinmauern, geschwungenen Erkern und großzügigen Natursteinterrassen stellte diese Ursprünge in den Schatten und kündete von Wohlstand.
Bluff House hatte schon vieles überlebt – Stürme, Vernachlässigung, übertriebene Verschwendung, zweifelhaften Geschmack, Aufstieg und Niedergang.
Innerhalb seiner Mauern hatten bereits Generationen von Landons gelebt und gelitten, gefeiert und getrauert, Pläne geschmiedet, sie umgesetzt, triumphiert und gedarbt.
Es hatte mit dem Leuchtturm an der felsigen Nordküste von Massachusetts um die Wette gestrahlt und mit geschlossenen Fensterläden im Dunkeln verharrt.
Es stand schon so lange hoch über dem Meer, dem Strand und dem Dorf Whiskey Beach, dass es inzwischen einfach nur noch Bluff House war.
Für Eli Landon war es der einzig mögliche Rückzugs- oder, besser gesagt, Zufluchtsort. Er wollte alles hinter sich lassen, was sein Leben in den letzten elf Monaten so unerträglich gemacht hatte.
Er erkannte sich selbst kaum wieder.
Nachdem er von Boston zweieinhalb Stunden über vereiste Straßen hierhergefahren war, fühlte er sich erschöpft. Doch er musste zugeben, dass ihm diese Müdigkeit sehr willkommen war. Umgeben von Dunkelheit saß er da, während der Eisregen laut auf Windschutzscheibe und Dach prasselte, und wusste nicht, ob er sich mit letzter Kraft ins Haus schleppen oder einfach sitzen bleiben und im Auto schlafen sollte.
Quatsch! Natürlich würde er nicht sitzen bleiben und im Wagen schlafen, wenn das Haus nur wenige Meter vor ihm lag und über jede Menge bequemer Betten verfügte.
Andererseits konnte er sich einfach nicht aufraffen, das Gepäck aus dem Kofferraum zu holen. Stattdessen griff er nach den zwei kleinen Taschen auf dem Beifahrersitz mit seinem Notebook und dem Allernotwendigsten.
Beim Aussteigen schlug ihm Graupel ins Gesicht, die Kälte und der pfeifende Atlantikwind rissen ihn aus seiner Lethargie. Unter fauchendem Gebrüll schlugen Wellen an die Felsen und brandeten über den Strand. Eli zog den Schlüsselbund aus der Jackentasche, trat in den Schutz des ausladenden, steinernen Vordachs und ging auf die massive Eingangstür zu, die vor mehr als einem Jahrhundert aus burmesischem Teakholz gezimmert worden war.
Zwei Jahre, nein, fast schon drei, war er nicht mehr da gewesen. Sein Leben, seine Arbeit, seine katastrophale Ehe hatten ihn so sehr in Anspruch genommen, dass er keine Zeit gefunden hatte, seine Großmutter für einen Kurzurlaub, ein Wochenende oder einen Sonntag zu besuchen.
Natürlich hatte er sich der unverwüstlichen Hester Hawkin Landon gewidmet, sobald sie nach Boston kam. Er hatte sie regelmäßig angerufen, ihr gemailt und über Facebook und Skype Kontakt gehalten. Hester ging zwar schon auf die achtzig zu, stand aber neuen Dingen seit jeher aufgeschlossen gegenüber.
Er hatte sie zum Essen ausgeführt, war mit ihr etwas trinken gegangen und konnte sich noch gut an die Blumen, Karten und Geschenke erinnern, die an Weihnachten und wichtigen Geburtstagen ausgetauscht worden waren.
Und all das nur, um nicht nach Whiskey Beach fahren zu müssen, den Ort, den sie über alles liebte, und wirklich Zeit mit ihr zu verbringen.
Er fand den richtigen Schlüssel, sperrte auf und machte das Licht an.
Ihm fiel auf, dass sie ein paar Dinge verändert hatte. Seine Gran liebte Veränderungen mindestens genauso wie Traditionen – vorausgesetzt, sie konnte etwas damit anfangen.
Er entdeckte ein paar neue Bilder. Seestücke und Landschaften setzten an den tiefbraunen Wänden sanfte Farbakzente. Er ließ seine Taschen gleich hinter der Eingangstür fallen und sah sich ausgiebig in der auf Hochglanz polierten Eingangshalle um.
Sein Blick huschte zur Treppe – über die mit grinsenden Fratzen verzierten Treppenpfosten hinweg, die ein exzentrischer Landon in Auftrag gegeben hatte – und weiter nach oben, wo sich die Stufen elegant nach rechts und links schwangen, um zum Nord- beziehungsweise Südflügel zu führen.
Zimmer in Hülle und Fülle, in denen er übernachten konnte. Er brauchte nur die Treppe hinaufzugehen und sich eines auszusuchen.
Aber nicht sofort.
Er ging weiter zum sogenannten Salon mit den hohen Bogenfenstern, die auf den Vorgarten hinausgingen – beziehungsweise auf das, was davon übrig blieb, wenn der Winter darüber herfiel.
Seine Großmutter war seit über zwei Monaten fort, trotzdem konnte er nirgendwo auch nur ein Staubkorn entdecken. Holzscheite lagen zum Anzünden bereit im Kamin, der von glänzendem Marmor eingefasst war. Frische Blumen standen auf dem Hepplewhite-Tisch, den sie so liebte. Kissen lagen aufgeschüttelt und einladend auf den drei Sofas. Das Kastanienparkett war frisch poliert.
Sie musste eine Putzfrau beauftragt haben. Eli rieb sich die Stirn, um den beginnenden Kopfschmerz zu verscheuchen.
Hatte sie nicht so etwas erwähnt? Dass sich jemand um das Haus kümmerte? Eine Nachbarin, die ihr auch sonst half, alles in Ordnung zu halten. Die Information war ihm nur vorübergehend entglitten, wie so vieles in letzter Zeit.
Nun war es seine Aufgabe, sich um Bluff House zu kümmern. Es zu pflegen, ihm neues Leben einzuhauchen, wie sich seine Großmutter das gewünscht hatte. Vielleicht würde das ja auch ihm neues Leben einhauchen, hatte ihre Bemerkung gelautet.
Er nahm seine Taschen, sah zur Treppe hinüber und erstarrte.
Dort, am Fuß dieser Treppe, war sie gefunden worden. Eine Nachbarin hatte sie entdeckt – dieselbe, die bei ihr putzte? Gott sei Dank hatte jemand nach ihr geschaut und sie bewusstlos, blutend, mit blauen Flecken, einem zertrümmerten Ellbogen, einer gebrochenen Hüfte, gebrochenen Rippen und einer Gehirnerschütterung dort gefunden.
Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre gestorben. Die Ärzte hatten gestaunt, wie zäh sie war. Keiner aus der Familie kümmerte sich regelmäßig um sie, keiner kam auf die Idee, täglich bei ihr anzurufen. Niemand, auch er nicht, hätte sich Sorgen gemacht, wenn sie ein, zwei Tage nicht ans Telefon gegangen wäre.
Hester Landon: unabhängig, unbesiegbar, unverwüstlich.
Trotzdem wäre der böse Sturz tödlich ausgegangen, wenn diese Nachbarin und Hesters eiserner Wille nicht gewesen wären.
Im Moment erholte sie sich bei seinen Eltern von ihren Verletzungen. Dort würde sie bleiben, bis sie wieder zu Kräften gekommen war und nach Bluff House zurückkehren konnte – oder für immer, wenn es nach seinen Eltern ging.
Er stellte sie sich lieber hier vor, in dem Haus, das sie so liebte. Draußen auf der Terrasse mit ihrem allabendlichen Martini, während sie aufs Meer hinausschaute. Oder im Garten, während sie dort herumwerkelte, ihre Staffelei aufstellte.
Er wollte sich an die lebenslustige Person erinnern, nicht an das hilflose Wesen am Boden. Vermutlich hatte er sich zu dieser Zeit gerade seine zweite Tasse Kaffee gegönnt.
Er würde sich bemühen, ihrem Haus neues Leben einzuhauchen. Und sich auch.
Eli nahm seine Taschen und ging langsam nach oben. Er beschloss, das Zimmer zu nehmen, in dem er immer schlief, wenn er auf Besuch kam, auch wenn diese Besuche selten geworden waren. Lindsay hatte Whiskey Beach gehasst. Sie hatte Bluff House gehasst und seine Großmutter bekriegt, die stur höflich blieb, während der Ton seiner Frau immer abfälliger wurde. Und er hatte zwischen den Stühlen gesessen.
Deshalb hatte er sich für die einfachste Lösung entschieden – etwas, das er genauso bereuen konnte wie seine ausbleibenden Besuche und die Ausreden dafür. Aber rückgängig machen ließ es sich nicht mehr.
Er betrat das Zimmer. Dort erwarteten ihn ebenfalls Blumen und die vertrauten hellgrünen Wände mit den zwei Aquarellen seiner Großmutter, die ihm ganz besonders gefielen.
Er stellte seine Taschen auf die Bank am Fußende des antiken Betts und legte seinen Mantel ab.
Alles war beim Alten geblieben: das Tischchen unter dem Fenster, die breiten Terrassentüren, der Ohrensessel und der kleine Hocker mit dem Polster, das seine Großmutter vor langer Zeit selbst bestickt hatte.
Ihm fiel auf, dass er sich zum ersten Mal seit Langem wieder heimisch fühlte, zumindest beinahe. Er öffnete seine Tasche, nahm seinen Kulturbeutel heraus und entdeckte frische Handtücher im Bad sowie niedliche kleine Seifen in Muschelform. Es duftete nach Zitronen.
Eli zog sich aus, ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen. Er hatte im letzten Jahr stark abgenommen und wollte daran nicht unbedingt erinnert werden. Er hoffte, unter der Dusche etwas von seiner Erschöpfung abwaschen zu können. Denn er wusste aus Erfahrung, dass er sonst unruhig schlafen und mit einem dicken Kopf aufwachen würde.
Nach dem Duschen rubbelte er sich die Haare mit einem Handtuch trocken. Sie ringelten sich feucht und dunkelblond im Nacken – seit seinem zwanzigsten Lebensjahr waren sie nicht mehr so lang gewesen. Kein Wunder, schließlich war er seit fast einem Jahr nicht mehr bei Enrique gewesen. Er hatte keinen Bedarf für einen Hundertfünfzig-Dollar-Haarschnitt gehabt, genauso wenig wie für seine inzwischen eingelagerten italienischen Anzüge und Schuhe.
Er war kein perfekt angezogener Strafverteidiger mehr, der in Kürze zum Partner aufsteigen würde. Dieser Mann war mit Lindsay gestorben, ohne dass er es bemerkt hätte.
Er schlug die Steppdecke zurück, schlüpfte darunter und löschte das Licht.
Im Dunkeln konnte er das Meer hören, ein ständiges Brausen, und den Eisregen, der gegen die Fenster schlug. Er schloss die Augen und sehnte sich wie jede Nacht danach, wenigstens für ein paar Stunden alles zu vergessen.
Mehr war ihm nicht vergönnt.
*
Meine Güte, war er sauer! Niemand, wirklich niemand, konnte ihn so zur Weißglut bringen wie Lindsay!
Schlampe, dachte er, während er durch den Graupelschauer fuhr.
Sie hatte wirklich höchst eigene Vorstellungen von Moral. Es war ihr doch glatt gelungen, sich, ihren Freunden, ihrer Mutter, ihrer Schwester und allen anderen weiszumachen, dass ausschließlich er für ihre Ehekrise verantwortlich war. Dass aus der Paartherapie erst eine Trennung auf Probe und dann ein Rosenkrieg geworden war.
Dass er daran schuld war, acht Monate von ihr betrogen worden zu sein: fünf Monate länger, als die probeweise Trennung dauerte, auf der sie so beharrt hatte. Und aus irgendeinem Grund war es auch seine Schuld, dass er sie beim Lügen und Betrügen erwischte, bevor er seine Unterschrift unter jene Vereinbarung gesetzt hatte, die ihr eine dicke Abfindung zusicherte.
Sie waren also beide sauer: er, weil er so ein Idiot gewesen war, und sie, weil er es endlich geschnallt hatte.
Sicherlich war er nicht unschuldig daran, dass sie am Nachmittag in der Kunstgalerie, in der sie halbtags arbeitete, eine erbitterte, lautstarke Auseinandersetzung wegen ihres Ehebruchs gehabt hatten. Schlechtes Timing und nicht ganz die feine Art von seiner Seite. Aber im Moment war ihm das egal.
Sie wollte ihm die Schuld daran geben, dass sie leichtsinnig geworden war. So leichtsinnig, dass seine Schwester seine Ehefrau dabei gesehen hatte, wie sie mit einem anderen Mann in einer Hotellobby in Cambridge herumknutschte. Danach waren die beiden in den Lift gestiegen.
Gut möglich, dass Tricia ein paar Tage gewartet hatte, bevor sie es ihm erzählte, aber das konnte er ihr schlecht vorwerfen. Solche Nachrichten überbringt man nicht gern. Er selbst hatte mehrere Tage gebraucht, bis er die Information verarbeitet und einen Detektiv beauftragt hatte.
Acht Monate, dachte er erneut, in denen sie mit dem anderen geschlafen hatte – in Hotels, Pensionen und wer weiß, wo noch. Immerhin war sie so klug gewesen, es nicht in ihrem gemeinsamen Haus zu tun. Was sollten sonst die Nachbarn denken?
Vielleicht hätte er nicht mit dem Bericht des Privatdetektivs wutentbrannt in die Galerie stürmen und sie damit konfrontieren sollen. Vielleicht hätten sie beide die Geistesgegenwart besitzen sollen, sich nicht gegenseitig in Grund und Boden zu brüllen, sodass man es bis auf die Straße hören konnte.
So peinlich das auch war, damit würden sie leben müssen.
Er wusste nur eines: Ihre Abfindung würde nicht mehr so üppig ausfallen. Von wegen fair sein und nicht auf dem Ehevertrag beharren! Die würde sich noch wundern, wenn sie von ihrer Wohltätigkeitsauktion zurückkam und entdeckte, was er alles mitgenommen hatte. Das Gemälde aus Florenz, den Art-déco-Ring, den er von seiner Urgroßmutter geerbt hatte, und das silberne Kaffeeservice, an dem sie kein Interesse gehabt hatte und das als Familienerbstück auf keinen Fall zum gemeinschaftlichen Hausrat gehörte.
Die würde Augen machen!
Vielleicht war das kleinlich, vielleicht dumm, vielleicht aber auch bloß fair. Er konnte in seiner Wut über den Betrug kaum einen klaren Gedanken fassen, was ihm aber ebenfalls egal war.
In dieser Verfassung hatte er in der Auffahrt seines Hauses in Boston gehalten. Das Haus, das er für ein solides Fundament einer Ehe gehalten hatte, die schon einige Risse bekommen hatte. Ein Haus, von dem er gehofft hatte, dass eines Tages Kinder darin aufwachsen würden. Das sie kurzfristig als Paar zusammengeschweißt hatte, als Lindsay und er es eingerichtet, über Möbel diskutiert und gestritten hatten, um sich letztlich zu einigen.
Nun würden sie es weit unter Wert verkaufen müssen. Und anstatt sich eine Wohnung zu mieten, was nur eine Übergangslösung hätte sein sollen, hatte er eine gekauft.
Ganz für mich allein, dachte er, als er aus dem Wagen stieg und in den Regen hinaustrat. Keine Streitereien und keine Kompromisse mehr.
Während er zur Haustür rannte, merkte er, welch eine Erleichterung das war. Schluss mit der Ungewissheit, der Illusion, seine Ehe wäre noch zu retten.
Vielleicht hatte sie ihm mit ihrem Lug und Betrug sogar einen Gefallen getan.
Jetzt konnte er gehen, ohne Schuld oder Bedauern zu empfinden.
Aber nicht ohne mitzunehmen, was ihm gehörte.
Er schloss die Haustür auf und betrat das elegante Foyer. Er gab den Alarmcode ein. Für den Fall, dass sie ihn geändert hatte, trug er seinen Personalausweis bei sich. Er hatte sich bereits zurechtgelegt, was er der Polizei oder Wachleuten sagen würde: Er würde einfach behaupten, seine Frau habe den Code geändert und er sei ihm entfallen. Das wäre nicht einmal gelogen.
Aber sie hatte ihn nicht geändert. Einerseits war er erleichtert, andererseits fast beleidigt. Sie glaubte, ihn zu kennen. Sie glaubte, dass er das Haus ohne ihre Erlaubnis niemals betreten würde, obwohl es zur Hälfte ihm gehörte. Er hatte eingewilligt auszuziehen, damit beide etwas auf Distanz gehen konnten. Und deshalb würde er bestimmt niemals einfach so eindringen.
Sie hatte geglaubt, dass er sich zivilisiert benehmen würde.
Schon bald würde sie merken, dass sie ihn kein bisschen kannte.
Er blieb kurz stehen und lauschte, ließ das Haus auf sich wirken. Neutrale Farben bildeten den Hintergrund für bunte Akzente. Eine stilvolle Mischung aus alt, neu und flippig.
Darin war sie gut, das musste man ihr lassen. Sie wusste, wie man repräsentiert und gelungene Partys gibt. Sie hatten auch schöne Zeiten gehabt: Momente des Glücks, Phasen der Zufriedenheit mit gutem Sex und faulen Sonntagvormittagen.
Wieso war das alles bloß so schiefgegangen?
»Vergiss es«, murmelte er.
Rein und schnell wieder raus. In diesem Haus zu sein deprimierte ihn. Er ging nach oben, ins Wohnzimmer, das vom Schlafzimmer abging, und entdeckte ihre halb gepackte Reisetasche.
Von ihm aus konnte sie sonst wohin fahren – mit oder ohne Lover.
Eli konzentrierte sich auf das, wofür er hergekommen war. Er gab die Zahlenkombination für den Safe ein, ignorierte das Bargeld, die Ausweise, die Schatullen mit dem Schmuck, den er ihr im Laufe der Jahre geschenkt oder den sie sich selbst gekauft hatte.
Nur den Ring, den Landon-Ring, ermahnte er sich. Er öffnete das Kästchen, sah ihn aufblitzen und steckte ihn in seine Jackentasche. Nachdem er den Safe wieder geschlossen hatte, fiel ihm ein, dass er Luftpolsterfolie oder etwas Ähnliches zum Schutz für das Gemälde hätte mitnehmen sollen.
Er würde es einfach ein paar Handtücher wickeln, um es vor dem Regen zu bewahren. Also nahm er welche aus dem Wäscheschrank und ging weiter.
Rein und schnell wieder raus, ermahnte er sich erneut. Ihm war gar nicht klar gewesen, wie dringend er wegwollte, um sowohl den schönen als auch den scheußlichen Erinnerungen zu entfliehen.
Im Wohnzimmer nahm er das Bild von der Wand. Er hatte es auf ihrer Hochzeitsreise gekauft, weil Lindsay so begeistert von dem Charme und der Schlichtheit der Sonnenblumen vor einem Olivenhain gewesen war.
Danach haben wir noch viele Kunstwerke gekauft, dachte er, als er es in die Handtücher einwickelte. Gemälde, Skulpturen, Keramik – alle deutlich wertvoller als das Bild. Aber die konnten beim gemeinsamen Hausrat bleiben, als Verhandlungsmasse sozusagen. Nur das Bild nicht.
Er legte das gut eingepackte Gemälde aufs Sofa und ging quer durchs Wohnzimmer, während draußen das Unwetter weitertobte. Ob sie wohl gerade nach Hause fuhr, um für ihren Romantiktrip zu packen?
»Genieß es, solang es noch geht«, murmelte er. Denn morgen früh würde er den Scheidungsanwalt anrufen und ihr auf den Hals hetzen.
Er betrat den Raum, aus dem sie eine Bibliothek gemacht hatten. Als er gerade den Lichtschalter betätigen wollte, sah er sie im hellen Blitzlicht daliegen.
Bis es donnerte, war sein Kopf einfach nur leer.
»Lindsay?«
Er betätigte den Lichtschalter und machte einen Satz nach vorn. Er traute seinen Augen nicht.
Sie lag auf dem Boden, direkt vor dem Kamin. Der weiße Marmor, der dunkle Boden – überall Blut.
Ihre schokoladenbraunen Augen, die ihn einst so betört hatten, schienen aus beschlagenem Glas zu sein.
»Lindsay.«
Er ließ sich neben sie fallen, griff nach ihrer Hand – und merkte, dass sie eiskalt war.
*
Eli erwachte in Bluff House. Es dauerte ein wenig, bis er sich von seinem blutrünstigen, entsetzlichen, ständig wiederkehrenden Albtraum befreit und an die Sonne gewöhnt hatte.
Desorientiert und leicht benebelt setzte er sich auf. Er sah sich um, und während sein Puls langsam zur Ruhe kam, fiel ihm alles wieder ein.
Bluff House. Er war nach Bluff House zurückgekehrt.
Lindsay war seit fast einem Jahr tot. Das Haus in Boston war endlich zum Verkauf freigegeben worden. Der Albtraum war vorbei, auch wenn er ihn nach wie vor verfolgte.
Am liebsten wäre er gleich wieder eingeschlafen, doch dann würde er sich erneut in der kleinen Bibliothek neben seiner ermordeten Frau wiederfinden.
Trotzdem fiel ihm kein Grund zum Aufstehen ein.
Er glaubte, Musik zu hören – ganz leise in der Ferne. Was zum Teufel sollte das?
Hatte er das Radio oder den Fernseher eingeschaltet und dann vergessen? Das wäre nicht das erste Mal, seit er sich in dieser Abwärtsspirale befand.
Gut, immerhin ein Grund aufzustehen.
Da er sein Gepäck nicht mitgenommen hatte, schlüpfte er in die Klamotten vom Vortag und verließ das Zimmer.
Nach Radio klingt das eigentlich nicht, dachte er, als er die Treppe erreichte. Zumindest nicht ganz. Als er das Erdgeschoss durchquerte, konnte er Adele ausmachen, aber auch eine zweite Frauenstimme, die lautstark mitsang.
Er folgte ihr bis in die Küche.
Adeles Gesangspartnerin griff in eine der drei Jutetaschen auf der Küchentheke, holte Bananen heraus und legte sie zu Äpfeln und Birnen in eine Bambusschale.
Er verstand das alles nicht.
Sie sang aus voller Kehle, nicht mit Adeles fantastischer Stimme, aber durchaus gut.
Lange walnussbraune Locken fielen über ihre Schultern auf einen dunkelblauen Pulli. Ihr Gesicht sah ungewöhnlich aus, anders konnte man das nicht nennen: Die großen mandelförmigen Augen, die markante Nase und die hohen Wangenknochen, der Mund mit der vollen Oberlippe und dem Muttermal links davon wirkten zusammen wie aus einer anderen Welt.
Aber vielleicht lag das an seiner derzeitigen geistigen Verwirrung.
An ihren Fingern funkelten Ringe, an ihren Ohren baumelten Ohrringe. Sie trug eine Halskette mit einem mondförmigen Anhänger und eine Uhr mit einem weißen, runden Ziffernblatt.
Immer noch lauthals singend nahm sie Milch und Butter aus der Tasche und wollte sich gerade zum Kühlschrank umdrehen, als sie ihn sah.
Sie schrie nicht, taumelte aber nach hinten und hätte beinahe die Milch fallen lassen.
»Eli?« Sie fasste sich mit der beringten Hand ans Herz. »Meine Güte, haben Sie mich erschreckt.« Mit einem heiseren, atemlosen Lachen strich sie ihre Mähne aus dem Gesicht. »Sie sollten doch erst heute Nachmittag eintreffen. Ich habe Ihren Wagen gar nicht gesehen, aber ich habe auch die Hintertür genommen und Sie bestimmt den Haupteingang. Sind Sie nachts gefahren? Dann ist weniger Verkehr, aber bei dem Eisregen waren die Straßen sicherlich glatt. Wie dem auch sei, jetzt sind Sie da. Möchten Sie einen Kaffee?«
Sie sieht aus wie eine langbeinige Fee, dachte er und starrte sie einfach nur an. »Wer sind Sie?«
»Oh, entschuldigen Sie. Ich dachte, Hester hätte Ihnen Bescheid gesagt. Ich bin Abra, Abra Walsh. Hester hat mich gebeten, alles für Ihre Ankunft vorzubereiten. Ich fülle nur die Küchenvorräte auf. Wie geht es Hester? Ich habe seit Tagen nicht mehr mit ihr gesprochen, sondern nur per E-Mail und SMS mit ihr kommuniziert.«
»Abra Walsh«, wiederholte er. »Sie haben sie gefunden.«
»Ja.« Sie holte eine Packung mit Kaffeebohnen aus einer Jutetasche und schüttete den Kaffee in die Maschine, die genauso aussah wie die in seiner Kanzlei. »Sie war nicht zum Yoga gekommen, obwohl sie sonst nie eine Stunde versäumt hat. Ich habe angerufen, aber es ist niemand drangegangen. Also habe ich nach ihr geschaut. Ich habe einen Schlüssel, weil ich für sie putze.«
Während der Kaffee gemahlen wurde, fuhr sie damit fort, die Einkäufe zu verstauen. »Ich habe den Hintereingang genommen und nach ihr gerufen – keine Antwort. Da habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen. Was, wenn es ihr nicht gut ging? Deshalb bin ich zur Treppe geeilt, und da lag sie. Ich dachte schon, sie wäre … Aber ich konnte ihren Puls fühlen, und als ich ihren Namen gesagt habe, kam sie kurz zu sich. Ich habe den Krankenwagen gerufen, der im Nu da war, aber für mich hat es sich angefühlt, als hätte er Stunden gebraucht.«
Sie ließ den Kaffee durchlaufen, holte Sahne aus dem Kühlschrank und goss sie in den Becher.
»Frühstück an der Theke oder am Tisch?«
»Wie bitte?«
»Theke.« Sie stellte den Kaffee auf die Kücheninsel. »So können Sie sitzen und sich mit mir unterhalten.« Als er verdattert auf den Kaffee starrte, musste sie lächeln. »Das stimmt doch so, oder? Hester meinte, ein Schuss Sahne und kein Zucker.«
»Stimmt genau. Danke.« Wie ein Schlafwandler ging er zur Kücheninsel und nahm auf dem Barhocker Platz.
»Sie ist so stark, so intelligent – und wieder ganz die Alte. Ich verehre Ihre Großmutter. Als ich vor einigen Jahren hergezogen bin, war sie die Erste, mit der ich mich angefreundet habe.«
Sie redete einfach weiter, egal, ob er ihr zuhörte oder nicht. Manchmal war der Klang einer Stimme tröstlich, und er sah so aus, als könnte er Trost gebrauchen.
Sie dachte an die Fotos, die Hester ihr vor einigen Jahren gezeigt hatte. An das offene Lächeln, das Leuchten in seinen knallblauen Landon-Augen mit dem dunklen Ring um die Iris. Aber heute sah er erschöpft aus, traurig und viel zu dünn.
Sie würde sich bemühen, das zu ändern.
Deshalb nahm sie Eier, Käse und Schinken aus dem Kühlschrank.
»Sie ist so dankbar, dass Sie hierbleiben, denn sie macht sich Sorgen, wenn Bluff House leer steht. Sie hat mir erzählt, Sie arbeiten an einem Roman?«
»Ich … ähm …«
»Ich habe einige Ihrer Kurzgeschichten gelesen, sie haben mir gefallen.« Sie stellte eine Omelettpfanne auf den Herd und erhitzte sie. Währenddessen goss sie ein Glas Orangensaft ein, wusch Beeren in einem kleinen Sieb und steckte Brot in den Toaster. »Als Teenager habe ich peinliche Liebesgedichte geschrieben. Noch peinlicher wurde es, als ich sie vertonen wollte. Ich lese wahnsinnig gern und bewundere jeden, der eine gute Geschichte erzählen kann. Hester ist so stolz auf Sie.«
In diesem Moment sah er ihr direkt in die Augen. Sie waren meergrün und ebenso wenig von dieser Welt wie alles andere an ihr.
Vielleicht gab es sie gar nicht.
Doch dann legte sie ihre Hand auf seine, nur ganz kurz, und die fühlte sich sehr warm und wirklich an. »Ihr Kaffee wird kalt.«
»Stimmt.« Er hob den Becher, trank daraus und fühlte sich ein klitzekleines bisschen besser.
»Sie waren lang nicht mehr hier«, fuhr sie fort und goss die Eiermischung in die Pfanne. »Es hat ein nettes kleines Lokal im Ort aufgemacht, und die Pizzeria ist auch noch da. Sie dürften fürs Erste versorgt sein. Wenn Sie etwas brauchen, aber nicht in den Ort wollen, sagen Sie mir einfach Bescheid. Ich wohne im Laughing-Gull-Cottage. Kennen Sie das?«
»Ich … ja. Sie … arbeiten für meine Großmutter?«
»Ich komme ein- bis zweimal die Woche zum Putzen, je nach Bedarf. Ich putze für mehrere Leute im Ort. Fünfmal die Woche unterrichte ich Yoga im Gemeindehaus und einmal die Woche in meinem Cottage. Als ich Hester überredet habe, es mit Yoga zu probieren, war sie auf Anhieb begeistert. Ich mache auch Massagen.« Sie sah sich kurz um und grinste ihn an. »Medizinische natürlich, ich bin ausgebildete Masseurin. Ich mache alles Mögliche, weil mich alles Mögliche interessiert.«
Sie gab das Omelett, die frischen Beeren und den Toast auf einen Teller, stellte ihn vor ihn hin und legte eine rote Leinenserviette mit Besteck daneben.
»Ich muss los, ich bin spät dran.«
Sie faltete die Jutetaschen zusammen und legte sie in eine riesige rote Umhängetasche, schlüpfte in einen dunkelvioletten Mantel, schlang sich einen bunt gestreiften Schal um den Hals und setzte eine lila Wollmütze auf.
»Wir sehen uns übermorgen, so gegen neun.«
»Übermorgen?«
»Dann komme ich zum Putzen. Wenn Sie vorher irgendetwas brauchen: Meine Telefonnummern für Festnetz und Handy hängen am Schwarzen Brett. Und wenn Sie Lust auf einen Spaziergang haben, dürfen Sie gern bei mir vorbeischauen. Also dann, willkommen in Whiskey Beach, Eli.«
Sie nahm die Tür zum Innenhof und drehte sich noch einmal lächelnd um. »Essen Sie Ihr Frühstück«, befahl sie und verschwand.
Er starrte erst auf die Tür und dann auf seinen Teller. Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, griff er zur Gabel und aß.