Ralph Ardnassak

Malleus communisticarum oder der Stiefel Gottes

Roman einer Entmenschlichung

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

XXX

XXXI

XXXII

XXXIII

XXXIV

XXXV

XXXVI

XXXVII

XXXVIII

XXXIX

XL

XLI

XLII

XLIII

XLIV

XLV

XLVI

XLVII

XLVIII

XLIX

L

LI

Impressum neobooks

I

 

Die Rache ist eine Art von wildwachsen-

der Gerichtsbarkeit, die das Gesetz, je

mehr die menschliche Natur dazu hin-

neigt, umso dringender ausrotten

sollte.

 

(Francis Bacon)

 

 

 

Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

 

(Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 101, Satz 1)

 

 

 

Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Straftat gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

 

(Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 103, Satz 2)

 

 

 

Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.

 

(Bärbel Bohley)

 

 

 

Gelegentlich kam es in den neuen Bundesländern im Zusammenhang mit den Ereignissen der „Wende“, der sogenannten friedlichen Revolution, zur Selbsttötung von Menschen. Darunter waren politisch Verantwortliche unterschiedlicher Ebenen, aber auch einfache Bürger. Die Motive waren verschieden und komplex, sie reichten offenbar von Angst vor Rache und juristischer Vergeltung bis hin zur Einsicht der kommenden eigenen Perspektivlosigkeit, Scham oder Schuldgefühlen.

Studien und diverse Artikel, unter anderem im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, negieren das Problem oder bezeichnen es offen als DDR-Nostalgie (http://www.spiegel.de/einestages/selbstmorde-nach-der-wende-a-946683.html). Die exakte Zahl der wendebedingten Suizidhandlungen ist bis heute ungeklärt. An einer emotionslosen und sachlichen Aufklärung der Problematik besteht aktuell offenbar keinerlei Interesse.

 

 

 

Diejenigen mögen auch einmal die gerechte Strafe erhalten, die mich zu diesem Schritt trieben.

 

(aus dem Abschiedsbrief des LPG-Vorsitzenden der Harzgemeinde Rieder, Helmut Dube, verfasst vor seinem Suizid)

 

 

 

II


Der einstige Minister ohne Geschäftsbereich hatte es vollbracht! Er hatte sich, gegen die Widerstände zahlreicher politischer Gegner, ja selbst gegen die Widerstände verschiedener seiner eigenen Anhänger, durchgesetzt!

Er wusste, es kam im Leben eines Menschen entscheidend darauf an, sich durchzusetzen, vor allem dann, wenn dieser Mensch sich für einen bedeutenden Menschen hielt, der sich dazu berufen fühlte, Geschichte zu schreiben, um auf diese Weise selbst in die Annalen der Historie einzugehen!

Die letzten Jahre, die Jahre der politischen Wende, sie waren zweifellos turbulent gewesen. Sie hatten ihn, so fühlte er sich jedenfalls, von ganz unten nach ganz oben gespült. Dorthin, wo er meinte zu fühlen, dass sich ein zumindest angemessener Platz für ihn befände. Dorthin, wo er meinte, hingehören zu müssen. Er fühlte sich wie ein Getretener, der nun endlich selbst dazu berufen war, zum Stiefel Gottes zu werden und kräftig zu treten!

Eigentlich meinte er oft, dass die Bezeichnung Stiefelknecht Gottes für ihn, den einstigen Jugendpfarrer und jetzigen Politiker, passender gewesen wäre, aber andererseits fand er auch, dass jetzt nicht die Zeit für Bescheidenheit war. Zu lange schon war er bescheiden gewesen, hatte er kleine Brötchen gebacken. Zu kleine, ja eigentlich mickrige Brötchen, wie er fand. Und wer jetzt leise und bescheiden war, in dieser neuen Zeit des Aufbruchs, der eitlen Spreitzerei, der Erhebung von Ansprüchen und der Umverteilung von Macht, Ämtern und Vermögen, der würde es später umso schwerer haben, der würde niemals mehr Gehör finden!

Er hatte sie erlebt und kennengelernt, die vielen politischen Mitkämpfer und Kollegen, wie sie, sobald Opposition gefahrlos möglich geworden war, aus ihren Löchern heraus gekrochen kamen, in denen sie sich ganz komfortabel eingerichtet hatten, um nun auf Opfer zu machen und lauthals nach Vergeltung zu schreien, um sich auf diese Weise in Szene zu setzen und eine, oftmals späte, Karriere einzufordern, für die es, angesichts des fortgeschrittenen Alters und des einsetzenden rücksichtslosen Gedränges um Pfründe und Ämter, keine zweite Chance mehr geben würde. Bereits in einigen Jahren, das ahnten die Meisten, würden alle lukrativen Posten auf diese Art schon vergeben und somit verloren sein!

Der einstige Minister ohne Geschäftsbereich hatte viel über die französische und die russische Revolution gelesen. Er wusste, dass der Volkszorn ungerecht, dumm, dafür aber geradezu allmächtig und gefürchtet war. Er hatte erlebt, wie die johlenden Massen, die an den Montagen auf den Straßen Leipzigs unterwegs gewesen waren, die allmächtige Staatsmacht, bestehend aus dem gefürchteten Ministerium für Staatssicherheit, der Nationalen Volksarmee, der Volkspolizei und den Kampfgruppen, einfach hinweg gejohlt und hinweg demonstriert hatte! Es war eine eindrucksvolle Lektion gewesen, wie der Volkszorn einiger zehntausend Demonstranten die einst omnipotente Staatsmacht dazu bewegt hatte, völlig kampf- und widerstandslos den Schwanz einzuziehen, ja mehr noch, sich schließlich in die Demutsgeste zu begeben und sich so unter tausenden von quälenden Rechtfertigungs- und Schuldanerkenntnistiraden die eigene wirtschaftliche Existenzgrundlage willig und ergeben entziehen zu lassen.

Die Erkenntnis der Möglichkeit, sich wie einst Napoleon an die Spitze dieses unberechenbar, aber allgegenwärtig kochenden Volkszornes zu stellen, um sich wie jener kurzleibige Korse davon zum höchsten Ruhm empor tragen zu lassen, hatte ihm eine regelrechte Gänsehaut beschert und er hatte damals sofort beschlossen, zu einer solchen Art Volkstribun zu werden!

Im Grunde verabscheute er sein Volk, von dem er meinte, es habe sich zum Knecht und Büttel zweier Diktaturen in Folge machen lassen. Erst zum Büttel der Hitlerschen Diktatur und dann zum Büttel Stalins. Ein solches Volk war nicht nur dumm und berechnend, es war vor allem vollkommen amoralisch und ohne jedweden Ehrbegriff, wie er fand. Es handelte aus reinem Opportunismus, indem es sich sofort und bereitwillig jeder neuen Art von Macht andiente.

Es war gefährlich, sich der wechselnden Gunst eines solchen Pöbelhaufens anzuvertrauen und darauf seine eigene wirtschaftliche Zukunft zu gründen! Andererseits war es jedoch auch einfach, denn man brauchte nur auf die beinahe stündlich wechselnden Forderungen des Volkes zu lauschen, stets noch eins drauf zu setzen und diese Meinung dann mit Vehemenz und lautstark in der Öffentlichkeit zu vertreten. Schon war der Volkstribun oder der basisdemokratische Politiker geboren!

Der Minister ohne Geschäftsbereich hatte also beschlossen, dass es ihm zustehen würde, ein wichtiger Mann in der deutschen Geschichte zu werden und dass dies am einfachsten über den Weg des Volkstribuns zu bewerkstelligen sei. Also schickte er sich an, ein solcher Volkstribun zu werden! Ein Mann wie Luther, den Willen des Volkes in der rechten und den protestantischen Glauben als Waffe in der linken Faust!

Mitunter plagten ihn deswegen Ansätze eines schlechten Gewissens. Er sagte sich, dies aber nur in ganz wenigen lichten Momenten, dass er im Grunde doch eitel sei. Aus seiner theologischen Ausbildung wusste er nämlich noch, dass Eitelkeit eine Sünde darstellte. Sie war deswegen eine Sünde, weil sie das Denken des Menschen von Gott ab- und stattdessen zum eigenen Körper und zu dessen Äußerlichkeiten hinlenkte.

Aber dann beruhigte er sich sogleich mit der Erkenntnis, dass er schließlich ein protestantischer und kein katholischer Theologe sei. Rechnete schließlich lediglich die katholische Theologie die Eitelkeit als Superbia zu den Haupt- oder Todsünden des Menschen, den peccati mortiferi, zu denen weiterhin Avaritia, Luxuria, Ira, Gula, Invidia und Acedia, nämlich Habgier, Wollust, Selbstsucht, Rachsucht, Missgunst und Ignoranz gezählt wurden.

Im Grunde war er jetzt, angesichts der Wende, sogar ganz besonders glücklich darüber, dass er Protestant und nicht Katholik war. Hätte die Wende in Bayern oder in Baden-Württemberg stattgefunden, so wäre es sicherlich für ihn vorteilhafter gewesen, Katholik zu sein. Nicht aber hier, in der Mitte Deutschlands, der Heimat und Zufluchtsstätte Luthers, wo man das protestantische Bekenntnis noch immer mit Rechtschaffenheit, Opposition gegen die kommunistische Obrigkeit und mit dem Ideal der lange verpönten bürgerlichen Lebensformen a la Graf Stauffenberg in Verbindung brachte. Nein, daran konnte kein Zweifel mehr bestehen, die letzten Monate und Jahre hatten es einmal mehr eindrucksvoll belegt: Bot früher, vor der politischen Wende, das in rotes Kunstleder gebundene SED-Parteibuch die Gewähr für Karriere und Aufstieg, so war in der neuen Zeit mit dem protestantischen Glaubensbekenntnis nunmehr dafür eine wichtige Voraussetzung geschaffen. Zumal, wenn man sie mit ein wenig Opfergeruch, ob nun gerechtfertigt oder nicht und einigen Beziehungen zu wichtigen und einflussreichen Personen aus dem Westen der Republik, anreichern und würzen konnte. Eine interessante Mischung, wie er fand und hoffentlich genau die richtige Art von Tinte, um damit den eigenen Namenszug mit fester Hand und auf ewig ins Buch der Geschichte eintragen zu können!

Mitunter wurde es allerdings schwierig, den Menschen seines Umfeldes begreiflich zu machen, dass Forderungen, die er selbst an sein Umfeld stellte, für ihn nicht gelten durften und dass er selbst, der pausenlos kritisierte und schwadronierte, grundsätzlich außerhalb jeder Art von Kritik stand. Er hatte gelegentlich sogar Angst, die Menschen könnten dies erkennen und ihn, den Angreifer, deswegen in ihrer rigorosen Aufbruchsstimmung selbst angreifen, ihn hinweg fegen, so wie die Französische Revolution einst ihre eigenen Anführer und Köpfe hinweg gefegt und guillotiniert hatte. Aber zu seiner Erleichterung erkannte er auch, dass der deutsche Charakter anders war. Er war eher geneigt, sich der Macht zu beugen und der Charakter des deutschen Volkes zur Macht ließ sich wohl am ehesten mit einem Gleichnis von Konfuzius beschreiben, wonach sich das Gras stets dem über es hinweg fegenden Wind beugte. Und die Staatsmacht war nun einmal der Wind in Deutschland und das Volk war das Gras. Das war vor der politischen Wende so gewesen und es würde zweifellos nach der politischen Wende noch ebenso sein. Von dieser Tatsache konnte man das Volk jedoch ablenken, indem man seinen Zorn bündelte, ihn kanalisierte und lenkte. Man musste ihm nur vermitteln, dass es während der 40 Jahre DDR um sein Recht auf Reisen, auf Wohlstand, auf Bananen und Westgeld betrogen worden war. Und zwar von einigen wenigen alten Männern und jenen Organisationen, die sie lenkten und steuerten. Besonders ließ sich da der Hass auf das Ministerium für Staatssicherheit instrumentalisieren! Wer damit beschäftigt war, Menschen aufzuspüren, die ihn einst bespitzelt hatten, erregte sich möglicherweise weniger darüber, dass er entlassen wurde, weil sein Betrieb gerade abgewickelt worden war. Innenpolitik bestand stets auch in der Kunst, Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen, auf denen man dem Volke Schuldige zum Steinigen präsentieren konnte, damit man ihm unterdessen unbemerkt das Fell über die Ohren ziehen durfte.

Wer sich schuldig fühlte oder damit rechnen musste, sich möglicherweise schuldig fühlen zu müssen, der muckte nicht auf und dessen Gegenwehr fiel weniger selbstbewusst und offensiv aus, wenn man ihm Hemd und Hose wegnahm! Schließlich durfte sich glücklich schätzen, wer nicht gelyncht, sondern am Leben gelassen wurde!

Ja, auch dies war ein weites Feld gewesen, ein Thema über welches er erhitzt debattiert hatte! Das bestraft und abgerechnet werden musste, stand außer Frage. Es ging lediglich um die Diskussion, wie weit dabei zugehen zu war und wie konkret vorgegangen werden sollte. Wenn er sich also zum Wortführer jener aufgeheizten Stimmen und Stimmungen aus dem Volke machen würde, die Rache und Bestrafung für tatsächlich oder vorgeblich erlittenes Unrecht forderten, wenn er sich an die Spitze eines noch zu schaffenden Revolutionstribunales stellen und dem Volke dasjenige Blut geben würde, nach dem es gierig forderte, dann würde er selbst zum Danton, zum Martial Joseph Armand Herman, zum Antoine Quentin Fouquier-Tinville der Moderne und damit unsterblich werden!



III


In jenen Jahren, als er noch ein einfacher und bedeutungsloser Jugendpfarrer gewesen war, den die Öffentlichkeit noch nicht kannte und beachtete, hatte sich der Minister ohne Geschäftsbereich einen strotzigen und struppigen Vollbart wachsen lassen, so wie einst Karl Marx und Friedrich Engels.

Er kannte weder die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels, keine einzige Zeile davon, die er beide allein aufgrund der Tatsache verabscheute, weil sie das verhasste kommunistische Regime beständig zu seiner Legitimierung heran zog. Aber wie jene ließ er sein Gesichtshaar üppig wuchern und sprießen, um dadurch wie sie seine Verachtung des herrschenden Establishments zum Ausdruck zu bringen.

Glatt rasiert war nämlich in jenen Jahren vornehmlich die Staatsmacht gewesen. Glatt rasiert waren Honecker und Mielke und Ihresgleichen. Glatt rasiert waren die Parteifunktionäre und die Bonzen aller Hierarchiestufen, an deren Revers das Bonbon, das Parteiabzeichen, blitzte wie eine Eintrittskarte in die bessere Gesellschaft der DDR. Glatt rasiert waren die Vopos, die Stasis, die Offiziere, die Schließer in den Gefängnissen, die Spitzel und Aufpasser und die FDJ-ler, die die Fahnen und Fackeln zu den Republikgeburtstagen an der hölzernen Tribüne in der Karl-Marx-Allee mit all den winkenden Greisen um den vertrottelten und autoritären Honecker vorbei trugen!

Glatt rasiert waren die Schuldirektoren und die Generaldirektoren der volkseigenen Kombinate! Glatt rasiert waren die Offiziersschüler. Glatt rasiert und dressiert waren die gegenwärtigen und die künftigen Eliten der sozialistischen Gesellschaft der DDR! Die privilegierten Leistungssportler und die Schriftsteller, die gehätschelten Künstler, die Ideologen und Strategen und die Wirtschaftslenker. Die Jagdgenossen Honeckers, die linientreuen Familien, die nicht auffallen, sondern aufsteigen wollten und die mit dieser Angst, um ihre Pfründe gebracht zu werden, all die tausend Ungerechtigkeiten des Regimes erst ermöglichten.

Glatt rasiert und sauber, so meinte der Minister ohne Geschäftsbereich, trug das Regime, das sich dreist Arbeiter- und Bauern-Staat nannte, ungeniert seine Bestialität zur Schau!

Er aber, der sich seinerzeit stets auf das Wort Gottes berufen und seinen persönlichen Trost daraus bezogen hatte, der meinte, für die Bedrängten und Verfolgten da sein zu müssen, wie jeder gute Hirte seit Jesus und Petrus, er trug seinen üppig wuchernden Vollbart vor sich her, wie er selbst noch aus dem Kragen des Talars heraus wuchs, als wäre er ein Angehöriger jener rebellischen und selbstbewussten Bauern, die sich weiland um den unglücklichen Thomas Müntzer geschart und gegen die adelige Obrigkeit aufbegehrt hatten. Wie Moses seinen üppigen Vollbart einst stolz gegen den Pharao gereckt hatte, gestützt auf jenen mystischen Stab, den der Gott der Israeliten mit der Fähigkeit versehen hatte, Zauber zu wirken und Wunder zu vollbringen, so hatte der Minister ohne Geschäftsbereich seinen eigenen wuchernden Vollbart gegen die Vertreter der Staatsmacht der DDR gereckt, gestützt auf seinen Glauben, von dem er meinte, er könne das Wunder vollbringen, auch jene Tyrannei eines Tages zu brechen.

Verächtlich hatte er einen bestimmten Parteibonzen damals seines Büros verwiesen, der ihn eifernd daran gemahnen wollte, wonach in der Bibel geschrieben stand, dass alle Obrigkeit doch gottgewollt sei.

Heute hatte sich der Minister ohne Geschäftsbereich jedoch den Gegebenheiten angepasst. Er hatte sich sofort und trotz heftiger Reaktionen seiner irritierten Haut, den Vollbart rigoros abrasiert, sobald er in das gesamtdeutsche Parlament eingezogen war und den muffigen Talar, der immer nach Schweiß und Räucherkerzen und nach Aufrechtsein und Trotz gerochen hatte, gegen einen teuren Anzug eingetauscht, der beim Sitzen im Schritt kniff und nach Wohlstand und Machtfülle duftete. Ein teurer Anzug, in dem er sich anfangs noch ein wenig unbeholfen, zunehmend jedoch immer sicherer, bewegte.

Und immer wenn er heute vor politischen Freunden davon sprach, dass die neue Obrigkeit doch von Gott gewollt und eingesetzt worden sei, vor Freunden, die ihn erzürnt daran erinnern wollten, für welche Ideale sie im Herbst 1989 doch eigentlich auf die Straße gegangen waren, so sandte er ein Stoßgebet gen Himmel, dass sich niemand an seine Polemik gegen die frühere Obrigkeit erinnern möge!

Er begriff, dass die Wende tatsächlich etwas mit einem physischen und gedanklichen Umwenden und Umdrehen zu tun hatte und dass auch ein Opfer der DDR-Diktatur wie er, der einstige Jugendpfarrer, nicht umhin kommen würde, sich zu wenden und sich vollständig zu drehen, sofern er in der neuen Zeit politisch und wirtschaftlich noch irgend Bestand haben wollte.

Und immer dann, wenn ihm noch Zweifel kamen, immer dann, wenn seine Frau ihm leise mahnend zu raunte: „Du musst Dich arrangieren! Nutze doch endlich die Gunst der Stunde! Und mach Dir deswegen keine Gedanken!“, dann kamen ihm ganz leise und ganz am Grunde seines Wesens Bedenken deswegen, wie sie gerade im Begriff waren, gegen jene Spitzel und Mitläufer vorzugehen, die sie in ihren Schlupflöchern unnachsichtig aufstöberten, um sie quasi gewaltsam heraus zu zerren und in das Licht des Tages, heraus, in die lodernde Flamme des unaufhörlich befeuerten Volkszornes. Waren nicht auch jene nur Leute wie er gewesen, die sich angepasst hatten, so wie er sich jetzt anpasste? Und war es nicht gerade eine grundlegende Eigenschaft des Menschen, sich anzupassen, sich der Evolution zu beugen, so wie er es jetzt tat?

Aber diese Gedanken schob er sogleich mit dem inneren Argument zur Seite, dass jene sich mit dem Bösen arrangiert hatten, während er selbst doch im Begriff war, sich mit dem Guten zu arrangieren!

Aber war eine politische und wirtschaftliche Theorie nur allein deswegen gut, weil sie gerade zufällig siegreich war?

Und sehr fern wetterleuchtete eine vage Befürchtung durch sein Hirn, er könne möglicherweise eines Tages ebenso für jenes zur Rechenschaft gezogen werden, was er gerade anderen Menschen vorwarf oder antat.

Aber auch diese vage Befürchtung schob er sogleich beiseite, denn er wusste, dass ein Volkstribun nur dann ein Volkstribun sein konnte, wenn er, selbst das eigene Leben verachtend, vollkommen frei von Angst war und auf diese Weise agieren konnte, wie einst Heinrich Kramer, wie Giulio Antonio Santorio, wie Tomás de Torquemada, wie Danton oder wie Andrei Wyschinksi und Roland Freisler!



IV


Die Vorfahren des Ministers ohne Geschäftsbereich stammten samt und sonders aus Ostpreußen, wo die Männer als Handwerker, meist als Dachdecker oder Zimmerleute, ihr Auskommen gefunden hatten.

Die Tatsache, von Zimmerleuten abzustammen, machte den Minister ohne Geschäftsbereich bereits seit frühester Jugend stolz, stellte dieser Umstand doch bereits eine wichtige Parallele zu einer wesentlichen biblischen Gestalt dar, dem Messias!

Umso stolzer war er auch ob der Tatsache, dass sein Vater mit Vornamen Jakob hieß und einer von zwölf Brüdern war. Der spätere Minister ohne Geschäftsbereich wurde schließlich zu Beginn der 1940er Jahre, noch in der kleinen ostpreußischen Kirche seiner heimatlichen Gemeinde, auf den Namen Josef getauft.

Josef, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, wurde zum erklärten Lieblingssohn seines Vaters Jakob. Schon früh inspirierten den Jungen die Wundergeschichten aus der Bibel und er fühlte sich zum Messias und zum Heilsbringer der ganzen Welt berufen.

Der junge Josef liebte es, sich in Laken zu hüllen, sich mit dem Ruß des Ofens die Konturen eines schwarzen Vollbartes ins Gesicht zu malen, um so stundenlang in der elterlichen Wohnung zu wandeln, wobei er mitunter so stark von seiner eigenen Allmacht und seinem vorgeblichen Sendungsauftrag inspiriert wurde, dass er von seinen Eltern und von seinen vier älteren Brüdern ernsthaft und mit großem Nachdruck verlangte, sie sollten sich aus Ehrfurcht vor ihm auf den Boden werfen. Die finstere und ingrimmige Ernsthaftigkeit, mit der er dieses immer wieder wütend von seinen Brüdern verlangte, führte schließlich dazu, dass die Brüder die biblische Josefsgeschichte ebenso ernst nahmen, indem sie ihren jüngsten Bruder einfach in einen ausgetrockneten Brunnen warfen.

Als der grollende Donner der Geschütze und Panzer der sich nähernden Roten Armee immer bedrohlicher aus dem Osten über die Felder und Ebenen herüber klang, hatten die Parteigrößen die Evakuierung Ostpreußens zunächst verboten, nachdem der Führer, getreu seinen Erlebnissen aus dem Westen im Ersten Weltkriege, einige der wichtigsten Städte der Provinz zu sogenannten „Festen Plätzen“ erklärt hatte.

Die Furcht vor den Russen, Gerüchte über verübte Gräueltaten der Russen, in Verbindung mit dem allmählichen Zusammenbrechen jeder staatlichen Ordnung in der Provinz, hatten schließlich jedoch buchstäblich in allerletzter Minute in jenem bitterkalten Januar des Jahres 1945 dazu geführt, dass sich auch die Eltern mit ihrem damals knapp fünfjährigen Sohn Josef von Ostpreußen aus auf die Flucht zu ihrer Verwandtschaft im nahezu ausgebombten Berlin begaben.

Die Gefahr, möglicherweise im Chaos der Reichshauptstadt in die Bombenangriffe zu geraten, wog ihnen angesichts der zahlreichen Gerüchte von Luftschutzbunkern und Flaktürmen in Berlin, weniger schwer als die Möglichkeit, auf heimischem ostpreußischem Boden von den heranrückenden Russen massakriert zu werden, wie die Bewohner jener Grenzdörfer, die von Wehrmacht und SS nach ihrer anfänglichen Einnahme durch die Rote Armee noch einmal zurück erobert werden konnten.

Da bereits kein einziger Zug mehr nach dem Reichsinneren fuhr, musste die in letzter Minute kopflos organisierte und hastig durchgeführte Flucht der Familie des späteren Ministers ohne Geschäftsbereich unter den nur denkbar schlechtesten Bedingungen erfolgen.

Es herrschte tiefster Winter und beinahe stündlich drohte die vollständige Abschnürung des Landweges ins Reich durch die Rote Armee, so dass sich ein Großteil der Flüchtenden vollkommen schutzlos den immer heftiger aufflammenden Kampfhandlungen und dem Zorn der unbarmherzig vorstoßenden Russen ausgesetzt sah.

Immer wieder, während sie irgendwo vor Kälte und Schneetreiben in verlassenen Gutshäusern, Gehöften und Feldscheunen verzweifelt Schutz suchten, jammerte Vater Jakob hilflos davon, er habe irgendwo irgendjemanden sagen hören, dass es in diesem Kriege keine Zivilisten gäbe und die deutsche Zivilbevölkerung, gerade jedoch jene von Ostpreußen, der noch das Stigma der Schlacht von Tannenberg anhaftete, daher durch die Russen nicht geschont würde. Sie müssten daher letztendlich alle hilflos auf der Flucht sterben.

Josef, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, träumte sich noch immer, selbst unter jenen dramatischen und bedrohlichen Ereignissen des bitterkalten Januar 1945, ins Heilige Land!

Er sah sich als jenen Josef, der den Mordversuch seiner Brüder in einer Zisterne überlebt hatte und der nun nicht inmitten eines zerlumpten, frierenden und zunehmend verzweifelten Flüchtlingstrecks Entwurzelter und Heimatloser gen Westen zog, sondern er träumte sich in die Rolle jenes Josefs, den seine Brüder weder in der Zisterne ertränken, noch verkaufen konnten. Er wähnte sich inmitten einer ihn aus Drangsal rettenden Karawane, die ihn nach Ägyptenland bringen würde, damit er dort als gottesfürchtiger Diener im Hause des hohen Beamten Potiphar arbeiten konnte, wo der Allmächtige selbst dafür Sorge tragen würde, dass ihm alles gelänge, was er begann. So würde er schließlich in Ägyptenland wie jener biblische Namensvetter wichtige Ämter gewinnen. So das Amt des Traumdeuters und des Obermundschenks, ehe er endlich zum Vizekönig von Ägypten ernannt würde, um die Tochter des Priesters von On zu heiraten.

Gerade noch rechtzeitig genug wälzte sich jener erbärmliche Flüchtlingstreck, in welchem der junge Josef mit seinen Eltern nach Westen mit schwamm, wie quellendes Treibholz mit der Flut, über den Landweg ins Reich.

Gerade noch rechtzeitig vor der fürchterlich wütenden Roten Armee, die mit ingrimmiger Wut die kümmerlichen und ausgedünnten Linien der erschöpften und resignierten deutschen Verteidiger in der Schlacht um Ostpreußen vollends zertrümmerte, ehe sie schließlich bei Elbing das Frische Haff erreichte und damit den Landweg ins Reich vollständig abschnitt.

Die großen Flüsse, die aus dem Landesinneren in das Frische Haff mündeten, Nogat und Pregel, waren dick zugefroren, ebenso das Frische Haff selbst.

Und während Josefs Familie nunmehr längst viel weiter westlich und beinahe schon in der trügerischen Sicherheit des inneren Reichsgebietes waren, hörten sie von jenen Verzweifelten ganz im Osten, denen nun jeder Landweg nach Westen verlegt worden war.

Da der Russe nun siegreich in Elbing stand, zogen jene Unglücklichen zu Zehntausenden über das dick zugefrorene Frische Haff gen Westen. Unzählige erfroren dabei, starken bei Luftangriffen der Roten Armee durch das Feuer der Bordwaffen oder infolge gezielter Bombardierungen der Eisdecke.

Dennoch verhieß allein die Frische Nehrung ihnen Rettung, denn nur auf diesem Wege konnten sie dem Russen entkommen, um über das zugefrorene Eis der Nehrung endlich Danzig zu erreichen.

Ebenso wie Küstrin, Kolberg und Gotenhafen, war auch Danzig zu diesem Zeitpunkt noch in deutscher Hand. Und so wälzten sich Trecks, bestehend aus Deutschen und aus den einheimischen Kaschuben, zitternd vor Kälte und Todesangst, in Richtung auf Danzig, das erst im März 1945 von der Roten Armee und von polnischen Einheiten eingeschlossen werden konnte.

Noch trotzte die uralte Stadt, getreu ihrem Wahlspruch Nec temere, nec timide (Weder unbesonnen, noch furchtsam), dem Ansturm.

Noch wälzten sich die Trecks der Frierenden, Hungernden und Verzweifelten, vollkommen schutzlos und unter dem beinahe ständigen Beschuss der russischen Jagdflugzeuge, auf die Stadt zu, während jene Anderen, immer noch in den Häfen der Ostsee, vor allem jedoch in Pillau, ausharrten und hofften, darauf, dass Großadmiral Dönitz endlich die Schiffe und Boote der Kriegsmarine schicken würde, um sie zu retten!

Josef aber, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, war zu dieser Zeit mit seinen Eltern längst in Sicherheit!

Sie hatten auf abenteuerliche Weise, zwar hungernd und frierend, aber an Leib und Seele unbeschadet, das sandige Land Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin erreicht, wo die Verwandten lebten.

Noch immer lagen die Föhrenwälder an der Peripherie der zerstörten, aber vorerst noch nicht durch den Feind besetzten Metropole, finster und nahezu märchenhaft unberührt.

Noch immer lagen die zahlreichen kleinen Fließgewässer und Seen des Stadtgebietes unter dem schützenden Eis jenes harten Winters 1944/45.

Noch immer führten die großen Flüsse des Stadtgebietes, die Spree, die Havel und die Dahme, ihre Wasser ungehindert zum Meer, ohne von feindlichen Einheiten forciert zu werden.

Die massenhaften Deportierungen der Berliner Juden in den Osten hatten längst aufgehört und seit jenem ersten nächtlichen Angriff britischer Bomber auf die Metropole, der im Herbst 1940 stattfand, hatte sich die Intensität der Bombardierungen zu derartiger Wut gesteigert, dass nunmehr nahezu die Hälfte aller Gebäude der Hauptstadt zerstört war.

Nur annähernd ein kümmerliches Viertel aller einstigen Wohnungen der Reichshauptstadt war bis zu diesem Zeitpunkt intakt geblieben und die 226 Brücken Berlins waren bis auf 98 verbliebene nahezu vollkommen zerstört worden.

Experten hatten errechnet, dass sämtliche Trümmer und sämtlicher Schutt, den man in Berlin im Frühjahr 1945 vorfand, ausgereicht hätten, um einen Damm von 35 Metern Höhe bis nach der Stadt Dortmund zu errichten.

Josef, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, empfand die in Trümmern liegende Reichshauptstadt, wie sein biblischer Namensvetter das reich an landwirtschaftlichen Erträgen gewesene Ägypten während der von ihm geweissagten sieben trostlosen Jahre der völligen Dürre empfunden haben mochte.

Es war eine gigantische Ödnis und Wüste. Eine Trümmerlandschaft, beinahe jener apokalyptischen Umgebung vergleichbar, wie sie die Amerikaner nur wenig später in den Städten Hiroshima und Nagasaki hinterließen. Sie barg eine moderne westeuropäische Zivilisation, die auf das Niveau steinzeitlicher Sammler und Jäger zurück gebombt worden war. Sammler und Jäger, die in zertrümmerten Höhlen hausten und in Lumpen gekleidet waren.

Sammler und Jäger, die tatsächlich die Ankunft des Antichristen auf Erden in Gestalt entmenschlichter russischer Soldatenhorden erwarteten.

Und wie der biblische Josef beim Auszug nach Ägypten seine Lehren gezogen hatte, so hatte auch Josef, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, bei der winterlichen Flucht aus Ostpreußen seine Lehren fürs Leben gezogen.

Die eine Lehre war die Gewissheit, ein außerordentlicher Mann zu sein, eine Art biblischer Messias, dem daher eine besonders herausragende Stellung innerhalb der menschlichen Gesellschaft zustand. Die andere Lehre fußte jedoch in der Erkenntnis, dass man alles fürchten und hassen musste, was aus dem Osten kam und mit dem roten Banner den Anspruch vor sich her trug, die Menschen von der Ausbeutung durch ihresgleichen endgültig zu befreien.



V


Josef, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, war zu diesem Zeitpunkt mit seiner Familie nichts weiter als ein üblicher Bestandteil jenes menschlichen Strandgutes, welches der verlorene Krieg in die Trümmeroase der Hauptstadt getrieben hatte.

Wie tausende andere Flüchtlinge auch, die zwischen den Trümmerbergen umher wankten, immer auf der Furcht vor den Nachstellungen der Russen, immer auf der Suche nach Irgendetwas zum Essen, zum Rauchen oder wenigstens doch zum Tauschen, so glich auch Josef, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich, damals einem welken brüchigen Blatt im Herbstlaub, das morsch und schimmelnd vom Frühjahrssturm des Jahres 1945 durch die Straßen und Gassen der Hauptstadt geweht wurde, weil kein Besen mehr existent gewesen war, es noch zu bändigen.

Zunächst stieß ihn der hässliche hauptstädtische Dialekt ab. Hastig hingestoßen, wie gehässige Dolchstiche, so nahm er ganze Wortfetzen und Sätze wahr, ohne ihren Sinn dabei zu verstehen.

Er empfand das Berlinische als unfein und plebejisch. Es schien ihm eine Sprache der intellektuell minderbemittelten städtischen Unterschicht zu sein. Ein übler Jargon der Gangster und Ganoven, wie er in dunklen Gassen und Hinterhöfen zu Hause war.

Die Stadt selbst empfand er als gigantischen Schmelztiegel. Als eine Art von Höllenofen, in welchem menschliches Rohmaterial beständig erhitzt und immer wieder durchgeglüht wurde.

Letztendlich wurde er, wie bereits Hitler, in der Hauptstadt emotional nie warm und heimisch, obwohl er doch über Jahrzehnte dort leben und arbeiten sollte.

Mit großem inneren Unwillen nahm er daher im Juni 1991 den sogenannten Haupstadtbeschluss des deutschen Bundestages zur Kenntnis, dem er damals bereits selbst angehörte, wonach die Stadt zum Sitz der deutschen Bundesregierung und des deutschen Bundestages bestimmt wurde.

Er selbst wäre stattdessen weitaus lieber ins feine Bonn nach Nordrhein-Westfalen gezogen. Hätte im schicken Parlaments- und Regierungsviertel gearbeitet und gern vielleicht in Bad Godesberg gelebt.

Er schätzte den Blick auf den Rhein, die Kölner Bucht, den Godesberger Rheintaltrichter, die Rheinische Küche und vor allem das Rheinische Brauchtum. Gern wäre er ein fester und geachteter Bestandteil der hiesigen Karnevalssession geworden! Er liebte das Flair der rheinischen Diplomatenstadt, das sich in seinen Augen überaus wohltuend vom plebejischen Berlin abhob, welches er immer noch mit dem Sitz des SED-Zentralkomitees und mit der allmächtigen Staatssicherheit in Verbindung brachte! Mit grauen Hinterhöfen, in denen die blechernen und verbeulten Mülltonnen überquollen, tote Tauben in dunklen Ecken verwesten und johlende vorlaute Kinder Gummihopse oder Fußball spielten. Mit nach Fisch stinkenden und zischenden S-Bahn-Zügen, in denen man auf mit Klarlack lackierten harten Holzbänken Platz nehmen musste. Mit toten Fischen, die auf der Oberfläche des Kupfergrabens an der Museumsinsel trieben. Mit dem aufdringlichen grellen Schmuck der Fahnen und Spruchbänder anlässlich der Republikgeburtstage. Mit dem stets misstrauischen Blick der grün uniformierten Volkspolizisten, an deren Seiten gleichsam drohend die Utensilien der Pistolentasche und des rechteckigen Sprechfunkgerätes baumelten.

Er konnte in dieser Stadt notgedrungen wohnen und sein Geld verdienen. Er konnte diese Stadt benutzen, um in ihr Karriere zu machen, weil sie eine geeignete Plattform dafür bot, sich dafür eignete, wie eine Bühne für den Auftritt eines ehrgeizigen Schauspielers. Heimisch werden jedoch konnte der spätere Minister ohne Geschäftsbereich in dieser Stadt nicht!

Sein Vater Jakob fand rasch Arbeit in einem der zahlreichen mittelständischen Berliner Baubetriebe als Zimmermann und Ausbauhelfer. Es war einer von hunderten Berliner Baubetrieben, die mit der Beseitigung der Kriegstrümmer und der Wiederherrichtung der zerstörten Wohnungen beschäftigt waren.

Und der spätere Minister ohne Geschäftsbereich empfand es erneut mit besonderem Stolz und mit Genugtuung, dass er von sich sagen konnte, er sei der Sohn eines Zimmermannes. Er sprach jedoch nie nur davon, dass er der Sohn eines Zimmermannes sei. Nein, er sagte stattdessen stets mit besonderer Betonung, er sei der Sohn des Zimmermannes. Und immer, wenn sein Gegenüber dann verwundert drein blickte, so zeigte dies dem späteren Minister ohne Geschäftsbereich bereits an, dass er vollständig verstanden worden war!

Nun, da er reifer und verständiger geworden war, ersetzten ihm die besonderen Betonungen dieser beiden Artikel das Bettlaken und den mit Ruß aus dem Ofen angemalten Vollbart. Die Wirkung blieb jedoch dieselbe.

Nun allerdings bedauerte er stets, dass er mit Vornamen Josef hieß. Der Name Josef erschien ihm für seine selbst auferlegte Mission unpassend und viel zu profan. Er nannte sich selbst daher stets Issa, in der westafrikanischen Variante des alten arabischen Vornamens Isa oder auch gern Joshua, Josua oder Jeschua.

Nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht wurde die ehemalige Reichshauptstadt nun, spiegelbildlich zu ganz Deutschland, in vier Besatzungszonen eingeteilt.

Ganz im Osten saßen die Russen, wobei er den rot markierten Umriss des sowjetischen Sektors Berlins, der ihn von seinen Umrissen her stets an eine hässliche Larve oder Raupe erinnerte, innerlich als einen bösen Parasiten empfand, der am in Blautönen gehaltenen Westteil der Stadt parasitierte.

Kurz: Der Russe saß komplett im Ostteil der Stadt. Der Amerikaner residierte im Südwesten. Darüber, im Nordwesten, saß der Engländer und ganz im Norden fanden sich die Franzosen.

Betrachtete er die Umrisse der einzelnen Sektoren näher, besonders jedoch jene des sowjetischen und des französischen Sektors, so glich der sowjetische Sektor Berlins tatsächlich auf verblüffende Weise dem im 45-Grad-Winkel schräg gestellten Umriss der kompletten Sowjetunion und der französische Sektor im Norden der Stadt schien ein deutlich verkleinertes Abbild des Umrisses ganz Frankreichs zu sein.

Es gab für Groß-Berlin nun also einen parteilosen Oberbürgermeister, 4 Stellvertreter und insgesamt 16 Stadträte. Und einer davon hieß Sauerbruch!

Weil die Familie des späteren Ministers ohne Geschäftsbereich im Osten der Stadt, also im sowjetischen Sektor, lebte, war auch Josefs Familie dorthin gezogen, obwohl sie gegen die Russen und gegen den Kommunismus war und obwohl bereits im Jahre 1952 die Stadtgrenzen der Westsektoren gegenüber den umliegenden Gebieten der DDR mit Stacheldrahtzäunen abgegrenzt worden waren.

Der spätere Minister ohne Geschäftsbereich lebte mit seiner Familie also im Ostteil der Hauptstadt, im sowjetischen Sektor. Zum sowjetischen Sektor Berlins zählten die Stadtbezirke Pankow, Weißensee, Prenzlauer Berg, Berlin-Mitte, Friedrichshain, Lichtenberg, Köpenick und Treptow.

Dies waren jene Stadtbezirke, in welche sich die Rote Armee, nachdem sie ursprünglich das gesamte Stadtgebiet Berlins erobert hatte, gemäß den Alliierten Beschlüssen der Konferenz von Jalta zurückgezogen hatte.

1949 waren die Westsektoren Berlins, allerdings mit erheblichen Einschränkungen, zum Land Groß-Berlin innerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland geworden. Der Russe verweigerte sich gegenüber der Anwendung des Grundgesetzes auf seinen Sektor von Berlin.

Obwohl die Familie im sowjetischen Sektor Berlins, im Stadtteil Köpenick wohnte, wurde der spätere Minister ohne Geschäftsbereich im feinen Westen, in Dahlem, eingeschult und besuchte auch dort das Gymnasium.

Er wurde damit beizeiten zum Pendler zwischen den Welten der Machtblöcke in Europa.

Dahlem war ein Ortsteil der amerikanischen Besatzungszone, ganz im Südwesten der Stadt und im Stadtbezirk Steglitz-Zehlendorf gelegen. Zweifellos bildete Dahlem traditionell eines der wohlhabendsten Gebiete innerhalb der Hauptstadt.

Zwischen Zehlendorf und Steglitz, zwischen dem Grunewald und der imposanten Villenkolonie von Lichterfelde-West gelegen, ist es selbst durch seine Villen und seine Parks bestimmt.

Das historische und von zahlreichen militaristischen Bauten bestimmte Ambiente des nahen Stadtteiles Lichterfelde mit seiner Preußischen Hauptkadettenanstalt und den Gebäudekomplexen der ehemaligen Leibstandarte SS Adolf Hitler sowie der Fliegeberg, von welchem der deutsche Flugpionier Otto Lilienthal seine ersten Flugversuche unternommen hatte, inspirierten den späteren Minister ohne Geschäftsbereich schließlich bei seiner Berufswahl. Er wünschte, einmal ein Jagdflieger im Militär zu werden.



VI


Ein Pendler zwischen den beiden Welten Berlins zu sein, hatte seinerzeit zahlreiche Vorteile, vor allem jedoch finanzieller Natur.

Auch Jakob, der Vater des späteren Ministers ohne Geschäftsbereich, war in den Westsektoren der Stadt beschäftigt und verdiente Westgeld, während man gleichzeitig von den niedrigen Lebenshaltungskosten im sowjetischen Sektor profitieren und das verdiente Westgeld dort teuer auf dem Schwarzen Markt in ein geradezu unanständig Vielfaches der im Westen verpönten Ost-Berliner Klebe- oder Tapetenmark umtauschen konnte.

Wie viele andere Familien, waren auch die Angehörigen des späteren Ministers ohne Geschäftsbereich Profiteure der Teilung der Stadt.

Man stieg im Ostteil der Stadt in die S-Bahn oder in die Straßenbahn und man fuhr damit ganz einfach in den Westteil. Dort war man vollständig in einer anderen Welt.

Weder die zeitweilige Berlin-Blockade und die Luftbrücke, noch der Aufstand des 17. Juni 1953 im Ostteil der Stadt, vermochten diese Idylle, in der man sich erfolgreich eingerichtet hatte, ernsthaft zu stören. Die Verhältnisse schienen für die Ewigkeit zementiert.

Zu Beginn der 1950er Jahre verätzte sich der spätere Minister ohne Geschäftsbereich beim Spielen mit einem Chemiebaukasten im Keller eines Freundes im heimischen Köpenick die Hornhaut in beiden Augen.

Unerfahren und in heller Panik rieb sich der spätere Minister ohne Geschäftsbereich laut schreiend die Augen, anstatt die Verätzung mit reichlich klarem fließenden Leitungswasser zu spülen.

Auch musste die Mutter desjenigen Freundes, in dessen Keller sich der Unfall ereignet hatte, aufgrund der schlechten Versorgung Ostberlins mit den knappen und geradezu kostbaren privaten Telefonanschlüssen fast eine Viertelstunde durch die Straßenzüge der Stadt laufen, ehe sie eine öffentliche Telefonzelle fand, von der aus die einen Krankenwagen alarmieren konnte.

In der Poliklinik des Krankenhauses wurde der spätere Minister ohne Geschäftsbereich schließlich durch Augenärzte behandelt. Allerdings war bereits zu viel Zeit verstrichen, so dass eine zumindest teilweise, wenn auch minimale Trübung der Hornhaut zurück blieb.

Jakob, der Vater, schimpfte lauthals auf die schlechte und seiner Meinung nach schlampige medizinische Versorgung der Bevölkerung im Ostteil der Stadt und meinte resigniert, das Augenlicht seines jüngstes Sohnes hätten ebenfalls die verdammten Kommunisten auf dem Kerbholz. Ebenso, wie den Verlust von Hab und Gut in Ostpreußen.

Eine Bemerkung, die sich bei dem späteren Minister ohne Geschäftsbereich unauslöschlich einprägte. Mit einer erhofften Tätigkeit als Flieger oder Flugzeugführer würde es nun aufgrund der zumindest teilweise vorhandenen Sehbehinderung, die das lebenslange Tragen einer starken Brille erforderlich machte, endgültig vorbei sein. Eine schwere Schuld, die er der DDR zeitlebens anklagend anlastete und die er ihr nie vergab. Es blieb nun lediglich die Alternative, den messianischen Traum aus der frühesten Kindheit in Ostpreußen wieder aufzunehmen, um ihn fort zu spinnen. Der spätere Minister ohne Geschäftsbereich beschloss notgedrungen, ein evangelischer Pfarrer zu werden!



VII


Der spätere Minister ohne Geschäftsbereich spürte in jenen Jahren drohend und stetig anschwellend jene aus der Sowjetunion kommende Tendenz der Militarisierung und Vereinnahmung der gesamten Gesellschaft. Sie kam über die ostdeutschen Menschen wie eine Epidemie!

Sie hatten auf dem Gymnasium in Dahlem besorgt darüber gesprochen und auch am heimischen Esstisch, wo Jakob, der Vater, den Begriff der „Sowjetisierung“ dafür geprägt hatte.

„Sie werden uns alle ins Straflager sperren, wenn wir nicht das machen, was Moskau von uns verlangt!“, so hatte er angstvoll verkündet und sein Sohn meinte, die Bedrohung beinahe körperlich zu empfinden, wie sie unsichtbar im Raum hing und von den nach Machorka, Benzin und Schweiß riechenden Soldaten auszugehen schien, die das Straßenbild hier im Osten der Stadt zunehmend beherrschten.

Der Westen der Stadt: Das waren die Amerikaner, die Briten und Franzosen! Das waren Wirtschaftswunder, Jazzmusik und Glamour und scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten! Der Osten Berlins jedoch schien im Begriff, sich in ein einziges Straflager zu verwandeln, in dem alles die Fahnen schwenkte und zum Gesang von Kampfliedern marschierte. Und jeder, der nicht mittat, wurde weggesperrt!

Auch hier in Köpenick installierten sie nun die FDJ, den Jugendverband ihrer kommunistischen Partei, der in uniformähnlichen Aufzügen daher kam, wie weiland der Rote Frontkämpferbund. Und es schien ganz und gar offensichtlich, was sie damit bezweckten. Es war Dasselbe, was schon Hitler und Reichsjugendführer Artur Axmann mit ihrer Jugendpolitik bezweckt hatten!

Und jeder der nur wollte, konnte sich ganz genau der Worte Hitlers entsinnen:


„Diese Jugend lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs und sieben Monate geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deutschen Spaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewusstsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach zwei oder drei Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben…“


(Quelle: http://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/lebensstationen/ns_4.htm)


Nein, der spätere Minister ohne Geschäftsbereich würde hier keinesfalls mittun, bei der FDJ! Darin war er sich mit seinen Eltern einig!

Er würde sich nicht blenden lassen, vom Freizeitangebot dieser FDJ! Nicht von all den Pionierferien- und Expertenlagern, nicht von den Stationen ihrer Jungen Naturforscher und Techniker! Nicht von ihrer Pionierrepublik Wilhelm Pieck am Werbellinsee! Nicht von ihrem immer wieder gebetsmühlenartig und lautstark malträtierten Prinzip des sogenannten demokratischen Zentralismus in der FDJ!

Auf Antrag hätte er ab dem 14. Lebensjahr der FDJ beitreten können. Das Statut verkündete, dass die Mitgliedschaft freiwillig sei. Zwar war der spätere Minister ohne Geschäftsbereich dem Druck der Werber zunächst erst einmal enthoben, da er im Westteil der Stadt, in Dahlem, das Gymnasium besuchte, doch drohten Konsequenzen bei der späteren Zulassung zum Theologiestudium und diverse Arten von beruflichen Beeinträchtigungen, wenn er nicht der FDJ beitreten würde!

Beinahe jeder Jugendliche aus dem Köpenicker Umfeld des späteren Ministers ohne Geschäftsbereich trat daher dem Jugendverband FDJ in dieser Zeit bei und trug das blaue Hemd mit dem Symbol der gelben aufgehenden Sonne auf dem linken Ärmel. Der Mitgliedsbeitrag war im Grunde lächerlich. Abhängig vom Einkommen betrug er monatlich zwischen 30 Pfennig und 5 Mark der DDR.

All die politischen Großveranstaltungen, das theatralisch vorgetragene und inszenierte Bekenntnis zum Sozialismus und zur Sowjetunion, das Fahnenschwenken, das Singen und Marschieren im Karree, das Pseudomilitärische, als müsse man zu einem neuen Weltkrieg rüsten: Es stieß den späteren Minister ohne Geschäftsbereich ab! Es ekelte ihn fööüüü