Felix A. Münter

ARCADIA

Felix A. Münter

ARCADIA

Roman

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage
Veröffentlicht durch den
MANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYK
Frankfurt am Main 2015
www.mantikore-verlag.de

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
MANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYK
Text © Felix A. Münter

Titelbild: Ignacio Bazán Lazcano
Lektorat: Nora-Marie Borrusch
Satz: Matthias Lück
Bildbearbeitung: Thomas Michalski
Covergestaltung: Karolina Gardovic

ISBN: 978-3-945493-15-1

Für K. Prost

Ein besonderer Dank gebührt Oliver, Markus und Christian, die mich bei der Entstehung dieses Buchs begleitet haben.

Inhalt

I.

DER JOB MEINES LEBENS

II.

PACKEIS, PINGUINE UND SÜSSE ROBBEN

III.

FUNKSTILLE

IV.

DAS GEISTERSCHIFF

V.

WILLKOMMEN AUF DEM WEISSEN KONTINENT

VI.

BÖSES ERWACHEN

VII.

AUF SPURENSUCHE

VIII.

EIN TOTER …

IX.

… UND SEINE GESCHICHTE

X.

INVASION

XI.

AUF SEE

XII.

FEUER UND ANDERE VORZEICHEN

XIII.

KEINE ATEMPAUSE

XIV.

BELAGERT

XV.

FLUCHT

XVI.

GERETTET

I.

DER JOB MEINES
LEBENS

Meteoriten. Steinbrocken aus den Weiten des Kosmos, die es irgendwie zu uns auf den blauen Planeten geschafft haben. Bemerkenswerte Dinger, wie Postkarten von Orten, an denen noch nie ein Mensch war und auf absehbare Zeit auch nicht hinkommen wird. Zumindest macht das diese Gesteinsbrocken für die Forscher so interessant. Sie können daraus Informationen ableiten, auf die ein Normalsterblicher gar nicht kommt. Ich gehöre zu der zweiten Gruppe. Für mich sind Meteoriten nichts anderes als Steine. Wenn mir vor einigen Monaten jemand prophezeit hätte, dass ich einmal für einen Stein in Richtung Südpol reisen würde, hätte ich ihn ausgelacht.

Doch während jetzt die Nimrod durch die Wellen des Südatlantiks stampfte, wechselte ich zwischen meiner harten Matratze und der matten Kloschüssel in der Nasszelle hin und her. Es war scheißegal, dass ich seit Stunden darauf verzichtet hatte, feste Nahrung zu mir zu nehmen – in regelmäßigen Abständen stieg die Übelkeit derartig in mir auf, dass ich wie ein Wahnsinniger aufsprang und auf die Toilette stürzte.

Ich hatte früher einmal von der Seekrankheit gelesen. Reisekrankheit eigentlich. Ausgelöst durch ungewohnte Bewegungen des Fortbewegungsmittels. Ich war in meinem Leben in genug Flugzeuge, Fernbusse und Züge gestiegen und hatte nie irgendwelche Probleme gehabt. Daher hatte ich der längeren Schiffstour gelassen entgegengesehen. Was ein dummer Fehler. Mein Gleichgewichtssinn und mein Magen hatten offenbar keine Probleme damit, wenn ich mich in einem Flugzeug einige tausend Meter über dem Boden mit Geschwindigkeiten von ein paar hundert Stundenkilometern fortbewegte, aber wenn ich mich auf einem Schiff befand, mussten sie natürlich Alarm schlagen.

Vielleicht lag es aber auch nur an der Nimrod. Eisbrecher haben aufgrund ihrer speziellen Formgebung nicht die stabilste Lage im Wasser. Eigentlich aber auch scheißegal. Ob Eisbrecher oder Kreuzfahrtschiff, so schnell würde ich in meinem Leben nie wieder auf ein Hochseeschiff steigen, das war schon jetzt klar.

Jedes Mal, wenn ich mich vom Übergeben wieder erhob, fiel mein Blick automatisch auf den kleinen Spiegel über dem Waschbecken. Ich hatte das Gefühl, von Mal zu Mal übler auszusehen. Zuerst war da diese kränkliche, beinah gelbliche Färbung, doch die war mittlerweile einer kalkweißen Gesichtsfarbe gewichen. Ich sah so elend aus, wie ich mich fühlte, und einer der Anfälle hatte eine Ader in meinem rechten Auge zum Platzen gebracht. Wie der Tod auf Urlaub.

Die Tabletten, die der Doc mir gegen die Übelkeit gegeben hatte, waren es nicht wert, Medikament genannt zu werden. Zumindest schlugen sie bei mir nicht an, ich hatte vielmehr das Gefühl, dass sie mein Martyrium nur noch weit schlimmer machten. Abgesehen davon hatte der Schiffsarzt gute Ratschläge für mich, auf die ich ehrlich gesagt scheißen konnte. Jemandem, dem es gerade beschissen geht, zu sagen, dass das alles in zwei bis drei Tagen vorbei ist, ist so klassisch wie die Lüge, die jedem Arzt leicht über die Lippen kommt, wenn er sagt, dass es nicht wehtun wird, bevor er dir die Injektionsnadel in den Arm rammt.

Über den Schwindel und den dumpfen Kopfschmerz hinweg fragte ich mich, welcher Teufel mich geritten haben musste. Hätte ich gewusst, in welches Elend mich eine einfache Schiffsreise stürzt, hätte ich sicher nicht zugestimmt. Das Problem war: Laut der ganzen Seebären war das hier ein milder Seegang. Allein bei dem Gedanken kam es mir schon wieder hoch. Wenn es mir jetzt schon so beschissen ging und ich mich fühlte, als ob ich an der Schwelle zum Tod stand, wie sollte es dann erst werden, wenn die Wellen meterhoch waren?

Und wieder eine Ladung Schleim und Galle in die Schlüssel. Ich blieb einfach entkräftet auf dem Boden sitzen, entdeckte beiläufig die Spritzer um das blanke Metall. Großartig. Wenn es mir besser ging, brauchte ich dringend einen Lappen und irgendeinen scharfen Reiniger.

Also, noch einmal. Was hatte mich dazu gebracht, an Bord dieses Schiffes zu steigen? Ach, genau, der allmächtige Dollar. Ich dachte an das großzügige Vorschusshonorar auf meinem Konto und den Batzen Geld, der mir in einigen Wochen winkte. Es ist schon seltsam, welch beruhigende Wirkung Geld auf dich machen kann, wenn es dir schlecht geht.

Vor gut sechs Wochen hatte Bailey mich aus heiterem Himmel kontaktiert und mir das Angebot gemacht, das mich letztlich in die missliche Lage gebracht hatte, in der ich mich jetzt befand. Wissen Sie, eine wissenschaftliche Expedition pressewirksam zu dokumentieren, ist wohl eine Anfrage, die bekommt man nicht täglich auf den Tisch. Und ich schon gar nicht. Sicher, ich hielt mich für einen der besten Journalisten auf diesem Planeten, aber wie mein Name in Zusammenhang mit seriöser Forschung gekommen war, konnte ich mir nicht erklären. Meinem Ego hingegen tat das Angebot gut. Und die Kohle war nicht von schlechten Eltern. Mehr, als ich sonst so in zwei Jahren verdiente.

Früher, kurz nach der Uni, hätte ich vielleicht andere Motive gesucht, die die Strapazen hätten rechtfertigen können. Heute sah ich das alles nüchterner. Es ging mir bei diesem Auftrag nicht um Ruhm, nicht um Anerkennung, sondern verdammt noch mal nur um das Geld. Dass die ersten beiden Dinge vielleicht im Kielwasser der Bezahlung schwammen, war ein netter Nebeneffekt.

Ich atmete durch und dachte daran, was mein früheres Ich wohl sagen würde, wenn es mich hier und heute so sähe. Damals, kurz nach dem Studium, war ich ein anderer Mensch. Voller Enthusiasmus, mit einer rosaroten Brille vor den Augen. Ich hatte Journalismus studiert, weil ich die Welt ein klein wenig besser machen wollte. Skandale aufdecken, auf das Leid irgendeiner bedrohten Minderheit am Arsch der Welt hinweisen, so was eben. Ich hatte das Glück, aus reichem Haus zu kommen, und bis zum Ende meines Studiums nie Geldsorgen gehabt. Die Gewissheit, auf einmal selbst für meinen Lebensunterhalt aufkommen zu müssen, traf mich ziemlich unsanft. Denn die Geschichten, über die ich immer schreiben wollte, die gab es da draußen zwar, aber mehr als ein Mittagessen in irgendeiner Fast-Food-Kette konnte man sich von solchen Jobs kaum leisten. Ich war damals zu stolz, meinen Eltern weiter auf der Tasche zu liegen. Der Ansporn, ihnen endlich zu zeigen, dass aus mir etwas geworden war, war einfach zu groß. Meiner Mutter brach es das Herz, als sie mich in meiner ersten eigenen und selbstfinanzierten Wohnung besuchte, einer Bruchbude über einem Schnapsladen und neben einer Bowlingbahn. In einem alten Reflex wollte sie mir wohl einen Scheck zustecken, doch ich war zu stolz, ihn anzunehmen.

Irgendwann gab ich mein ursprüngliches Vorhaben auf, kam einige Zeit bei einem lokalen Käseblatt unter. Das sorgte zwar für ein festes Einkommen, aber dauernd über Hotdog-Wettessen oder Kirchenbasare zu schreiben, war mir zu langweilig. Das, was andere Menschen wohl Midlifecrisis nennen, hatte ich mit Ende zwanzig. Ich hatte einen guten Abschluss in der Tasche, doch mich trieb die Frage um, ob das wirklich der Weg war, den ich gehen wollte. Wahrscheinlich hätte es irgendwo einen Platz bei einer renommierten Zeitung für mich gegeben, aber ich hatte keinen Bock darauf, jahrelang die Ärsche irgendwelcher Redakteure zu lecken, bis sie mir endlich einen ordentlichen Auftrag gaben. Ich wollte sofort die guten Storys. Eine Einstellung, die sich mit den Strukturen der Presselandschaft nicht vertrug. Ich hatte es kaum ein Jahr bei diesem Käseblatt ausgehalten. Kurz nach meinem dreißigsten Geburtstag schmiss ich den Job.

Meine Mutter hatte es sich nicht nehmen lassen, mir eine hübsche Summe Geld zum Geburtstag zu schenken. Naja, zumindest waren zehntausend Dollar für mich eine hübsche Summe, für sie Kleingeld. Mir war klar, was sie damit bezweckte, und ich konnte sie unmöglich vor den Kopf stoßen. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, so heißt es doch.

Mein letztes Gehalt und ihren Scheck nutzte ich für einen Neuanfang. Ich mietete ein kleines Büro, leistete mir einen für meine Bedürfnisse eigentlich viel zu teuren Computer, dazu einen Laptop und eine ordentliche Kamera. Freischaffender Journalist. Das klingt aufregender, als es ist. Im Grunde durchforstest du das Internet nach Hinweisen auf eine gute Story, dann setzt du dich ins Auto, fährst unzählige Kilometer und hoffst, dass noch niemand anders vor dir da war. Und dass es überhaupt eine Story gibt.

Die Anfangszeit war hart. Es gab Tage, da wusste ich nicht, was ich zu Mittag essen sollte. Aber so ist das wohl. Letzten Endes hatte ich genau gewusst, auf welche Risiken ich mich einließ und hatte ohne Not diesen Weg gewählt. Ich machte aus der Not eine Tugend, klagte nicht, sondern biss mich durch.

Die Zeiten wurden besser, und je mehr ich von meinen verträumten Idealen abließ, umso besser konnte ich über die Runden kommen. Der Betreiber einer örtlichen Supermarktkette suchte damals nach jemandem, der sein Image aufpolierte. Er war in die Kritik geraten, weil er angeblich wie ein Plantagenbesitzer des neunzehnten Jahrhunderts mit seinen Angestellten umgegangen war – zahlte keine Löhne, überwachte sie. Ein Kotzbrocken der ersten Güte. Völlig von sich überzeugt – und jedes Gerücht, das man sich über die Zustände in seinen Läden erzählte, stimmte. Klar, ich hätte ablehnen können, so wie mein Gewissen es mir zuschrie, und stattdessen einen Artikel schreiben können, der die Missstände zum Thema hatte. Aber dafür winkten mir keine dreitausend Dollar, bar auf die Kralle. Das war das erste Mal gewesen, dass ich meine Ideale über Bord schmiss und mein Gewissen mit Geld beruhigte. Der Umstand, endlich all meine Rechnungen zahlen zu können und mir noch dazu ein paar Annehmlichkeiten zu leisten, trug sehr dazu bei, die Gewissensbisse im Keim zu ersticken.

Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein. Aufträge wie diesen gab es immer wieder und irgendwie hatte ich mir bald einen Ruf als Wundermittel aufgebaut. Es gab eine Reihe wirklich unseriöser Geschäftsleute, die mich baten, ihr Image aufzupolieren. Solange sie bezahlen konnten, hatte ich kein Problem damit, einen Wahnsinnigen in meinen Artikeln zu einem Heiligen zu stilisieren. Ich tat natürlich nicht nur das. Nebenher gab es auch noch seriösen Journalismus, doch die Wahrheit ist, dass die Bezahlung dabei viel schlechter ist.

Und nun hockte ich hier, kotzte mir die Seele aus dem Leib und umarmte dabei die Kloschüssel, als sei die das Einzige, was mir auf diesem Schiff Halt bieten konnte. Ich fühlte mich elend und stellte mir die Frage, warum Bailey sich gerade die Meteoritenforschung als Fachgebiet ausgesucht hatte. Hätte es nicht irgendetwas anderes sein können? Aber immerhin, wer hätte gedacht, dass man mit kotzen im Namen der Wissenschaft einmal eine Menge verdienen kann?

Jedenfalls trat Bailey über einige Umwege vor sechs Wochen mit mir in Kontakt. Sein voller Name lautet George Henry Bailey, aber so weit, dass wir uns duzen, sind wir nicht, werden es wahrscheinlich auch nie sein. Er war einer dieser Leute, die es in den neunziger Jahren mit Börsenspekulation, Teilhaberschaften und .com-Geschäften zu einem sündhaft großen Vermögen gebracht hatten. Und wie das so mit reichen Säcken war, sie langweilten sich, suchten nach Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben. Er hatte die sechzig Jahre mittlerweile überschritten und konnte offensichtlich nichts mit den Hobbys anfangen, die man landläufig so als alterstypisch bezeichnet. Sie wissen schon: Golf, Pferdewetten, Motorsport, Freizeitbeschäftigungen, die ein gut gefülltes Konto voraussetzen.

Mr. Bailey fand seine Erfüllung in der Forschung. Nicht, dass er ein Forscher war, ihm ging es nur um den Ruhm bei der ganzen Angelegenheit. Darum, sich mit einer bahnbrechenden Entdeckung auf ewig einen Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern. Dieser Wunsch zieht sich wie ein roter Faden durch seinen Lebenslauf. Er oder seine Unternehmungen haben in der Vergangenheit zahlreiche Preise abgeräumt, sind in der Fachpresse immer wieder lobend erwähnt worden. So wie ich es verstanden habe, geht es bei diesen Preisen und Ehrungen immer nur darum, dass dein Name bekannt wird, nicht um die Dotierungen. Der Aufwand steht in keinem ökonomischen Verhältnis, weswegen die meisten renommierten Firmen gerne ihre Finger davon lassen. Bei Bailey war es anders. Er suchte offenbar ein Feld, das weit weniger schnelllebig war als die, in denen er sein Vermögen gemacht hatte. Er finanzierte also Expeditionen und strich am Ende den Ruhm ein, als wäre es eine Trophäe. Wir alle brauchen Hobbys, oder?

Eine seiner Expeditionen war vor einigen Monaten in der Antarktis auf etwas Riesiges gestoßen. Das meine ich im Übrigen wörtlich. Der Fund war ihm so wichtig, dass er kurzerhand eine zweite Expedition unter seiner Leitung organisierte und in Richtung Antarktis aufbrach. Und was war meine Rolle bei der Angelegenheit? Nun, ich war Journalist und sollte ihm die passenden Zeilen und die richtigen Bilder dafür liefern.

Dabei hatte ich mich nie mit der Antarktis auseinandergesetzt, hielt den Kontinent für einen riesigen Brocken Eis am Ende der Welt und konnte mir nicht vorstellen, dass es dort irgendetwas gab, das einen Bericht wert war. Bailey belehrte mich eines Besseren. Er erklärte mir, dass es in der Antarktis sogenannte „Meteoritenfallen“ gab: Blaueisfelder, in denen wohl besonders viele dieser Brocken aus dem All liegen. Ich habe es ein paar Mal nachgeschlagen, aber bis heute nicht genau verstanden, wie so was funktioniert. Für die Story, die er wollte, war es wohl auch egal.

Warum Bailey für die Dokumentation seines weltbewegenden Fundes eine Kanaille wie mich engagiert hatte, verstand ich nicht, und es hätte mich vom ersten Moment an stutzig machen sollen. Ich meine, ich mag meine Arbeit, bin überzeugt von ihr und muss mich sicher nicht verstecken – aber wenn es um positive Berichterstattung geht, nun, dann habe ich eben einen Namen. Und vielleicht ist es nicht ratsam, wenn dieser Name unter Zeitungsartikeln und Berichten steht. Wirkt dann nicht so seriös, verstehen Sie? Und kann die Ergebnisse einer solchen Expedition ziemlich verunstalten. Meine Skepsis stellte er mit einem großen Batzen Geld ruhig, aber aus reiner Neugierde hatte ich mich noch einmal umgehört, nachdem ich sein Angebot angenommen hatte. Ich war noch nicht einmal seine zweite Wahl. Vor mir hatte er mit einer ganzen Reihe renommierter Journalisten gesprochen, die meisten davon konnten sogar Erfahrungen in dem Gebiet vorweisen. Aber sie alle hatten abgelehnt.

Ich bin nicht ganz auf den Kopf gefallen, wissen Sie? Nachdem Bailey mir sein Angebot unterbreitete, machte ich ein paar Anrufe und schrieb ein paar Mails, denn ich konnte mir nicht vorstellen, warum irgendwer den sprichwörtlichen Haufen Geld, den Bailey da in Aussicht stellte, wirklich ablehnte. Vielleicht lag es an meinem Namen, der einigen meiner Kollegen sauer aufstieß, vielleicht auch daran, dass ich mir in ihren Augen noch keinen Namen gemacht hatte: Jedenfalls wollten die meisten nicht mit mir sprechen oder versuchten, mich mit Floskeln abzuwimmeln. Aus der ablehnenden Haltung meiner Kollegen konnte ich mir keinen Reim machen, denn besonders gefährlich erschien mir das Unterfangen nicht. Ich meine: Eis und ein großer Felsblock, es ging ja nicht um die Expedition zu irgendeinem Urwaldstamm, der Kannibalismus pflegte. Während die meisten meiner werten Kollegen es also nicht für nötig hielten, mit mir zu sprechen, hatte ich bei zweien Glück. Zumindest bekam ich weitreichende Antworten. Der eine beschrieb es als Bauchgefühl: Bailey und das Geld, das er um sich warf, waren ihm nicht geheuer. Dazu muss man verstehen, dass Wissenschaft schon immer von Förderern abhängig war, aber selbst großzügige Spender hatten am Ende des Tages immer die Kosten im Blick. Mein Auftraggeber schien da ein ganz anderer Schlag zu sein. Expeditionen sind eben nicht ökonomisch, man gibt viel Geld aus und bekommt oft einen viel geringeren Gegenwert heraus. Entweder war Bailey so reich, dass ihm das egal war, oder er spekulierte bei dieser Expedition auf etwas ganz anderes.

Die zweite Antwort kam von einer Kollegin, die mir eine ethische Sichtweise näherbringen wollte. Baileys Reichtum war ja nicht auf mysteriöse Art und Weise entstanden. Wie ein Raubtierkapitalist handelte er mit abstrakten Werten und Zertifikaten an der Börse. Mag sein, dass er sich aus Eigenschutz nie Gedanken darüber gemacht hatte, was sich hinter den Kürzeln und Wertpapieren verbarg, aber es wäre zumindest keine unlösbare Aufgabe gewesen. Was das mit den Ablehnungen meiner werten Kollegen zu tun hat? Der gute Bailey hat sein Geld auch mit solchen Firmen gemacht, denen unser Planet am Arsch vorbeigeht, die ihren Profit daraus generieren, möglichst viel Zerstörung bei der Produktschaffung anzurichten. Die ganze Palette: Abholzung des Regenwalds für Weideflächen oder Palmölplantagen, Rinderzucht, Pelzzucht, Walfang und noch einige Nettigkeiten mehr. Offenbar konnte sich niemand in der Fachwelt vorstellen, dass Bailey mit seinen Vorhaben etwas Gutes im Schilde führte. Und selbst wenn, dann war sein Name eh schon verbrannt, sodass niemand, der noch auf eine Karriere in diesem Sektor hoffte, mit ihm in Zusammenhang gebracht werden wollte. Glücklicherweise hatte ich gar nicht vor, mir einen Namen auf diesem Gebiet zu schaffen, weshalb mir die Bedenken am Arsch vorbeigingen. Und mir wurde auch klar, warum Bailey nicht Abstand von meinem Namen genommen hatte: Ich konnte es wohl kaum schlimmer machen, sein Ruf war offensichtlich schon ruiniert.

Ich hätte nachbohren können. Ich hätte dranbleiben können. Aber falls Sie es noch nicht gemerkt haben: Ich bin ein Kind des Kapitalismus und glaube an die Maxime, dass jeder Mensch seinen Preis hat. Mit den Geldbündeln, mit denen Bailey vor meinem Gesicht winkte, hatte er meinen Preis zumindest erreicht und weit übertroffen. Die Aussicht auf den süßen Luxus und das einfache Leben, das ich mir nach der Expedition würde leisten können, ließen mein Gewissen verstummen und meine Neugier verfliegen.

Meine Gier hatte das als Chance entschlüsselt, aber wie ich schon sagte: Vielleicht hätte ich skeptisch bleiben sollen.

Zurück zu den Meteoritenfallen. Tatsächlich steuerten zahlreiche Expeditionen diese Fallen immer wieder an, auf der Suche nach irgendwelchen Fragmenten aus den Weiten des Alls. Schon komisch, ich dachte immer, dass die NASA mit ihren milliardenschweren Raumfahrtprogrammen unsere Fragen über das Weltall beantworten würde. So konnte man sich irren. Eine von Baileys Expeditionen hatte Erfolg und fand in einem Blaueisfeld einen kosmischen Brocken. Nicht irgendeinen Meteoriten, sondern einen Koloss von mehr als achtzig Tonnen. Als Laie kannst du solche Zahlen gar nicht einordnen. Ist das viel für einen Meteoriten? Ist das wenig? Keine Ahnung.

Unwissend wie ich war, trug Bailey mir schnell die Fakten zusammen. In Namibia liegt der bisher größte Fels, der je gefunden wurde. Es handelt sich um den Hoba-Meteoriten, sechzig Tonnen schwer. Als ich dann Bilder von dem Ding in Afrika sah, war ich enttäuscht. Der Meteorit sah nicht nach Kampfgewicht von sechzig Tonnen aus, eher wie ein großer Fels. Ich hingegen hatte etwas von der Größe eines Hauses erwartet. Bailey erklärte mir, dass das Gewicht von der Dichte des Materials abhängig ist. Ich erinnerte mich an den Physikunterricht in der Schule und konnte das akzeptieren: Eine Tonne Gold nahm auch weniger Platz ein als eine Tonne Stahl.

So schwere Brocken waren eine Seltenheit und geradezu prädestiniert, nach ihrem Finder benannt zu werden. Und mal ganz im Ernst: Wer kann von sich schon behaupten, dass ein Meteorit nach ihm benannt wurde? Der Personenkreis an lebenden Menschen musste unheimlich klein sein. Tja, da war sie also, die Trophäe, nach der Bailey so gierte. Um es ganz genau zu nehmen: Bailey hatte ihn zwar nicht gefunden, aber er hatte die Expedition bezahlt und sich daher wohl auch dieses Vorrecht erkauft. Und wie ich schon sagte: Die Dinger kommen von irgendwo aus unserem Sonnensystem und halten vielleicht Erkenntnisse verborgen, die unsere Wissenschaft revolutionieren können. Und schon sind wir wieder beim Platz in den Geschichtsbüchern. Zumindest in der Forschung konnte einen solch ein Fund unsterblich machen.

Der Mann schwadronierte weiter, erzählte von den Möglichkeiten, die sich ergeben konnten: die Entdeckung unbekannter Elemente, die Aufdeckung eines Geschichtskapitels unseres Sonnensystems. Die Klärung von Fragen, die wir uns schon lange stellten.

Mein Auftraggeber köderte mich mit zwanzigtausend Dollar an Vorschusshonorar und weiteren achtzigtausend bei Einreichung meines Artikels. Eine ganz hübsche Summe, und auch wenn ich damit die Rechte an meinen schreiberischen Ergüssen abtrat – war die Entdeckung wirklich so bedeutend, wie er mir suggerierte, war das wahrscheinlich mein Ticket zu den guten Storys.

Nun, was würde mein jüngeres Ich zu mir sagen, wenn es mir heute eine Botschaft übermitteln könnte? Ich kann die Verachtung förmlich spüren. Wahrscheinlich wäre es wütend darüber, dass ich bereit war, mich zu prostituieren. Aber hey, das sehe ich meiner jüngeren Version nach. Wir waren alle mal jung, oder?

Irgendwann schob ich mich wieder in die Höhe, keine Ahnung, wie lange ich auf dem Boden gesessen hatte. Tatsächlich war die Übelkeit für den Moment zurückgegangen, und es war vielleicht wieder Zeit, mich auf die harte Matratze zu legen. Ein bisschen Schlaf – allein der Gedanke war verlockend. Aber da war noch dieser ekelerregende Geschmack in meinem Mund und meine Zunge fühlte sich pelzig an. Erst jetzt fiel mir wirklich auf, wie durstig ich war. Kein Wunder bei den gefühlten Litern an Flüssigkeit, die meinen Körper in den letzten Stunden auf Wegen verlassen hatten, die eigentlich nicht dafür gedacht waren. Ich angelte nach der Wasserflasche, schraubte den Verschluss auf und sah sie nachdenklich an. Meine Übelkeit war im Moment erträglich und ich hatte die berechtigte Befürchtung, ein paar Schlucke Wasser könnten es nur wieder schlimmer machen. Dass ich mir jemals Gedanken über so was machen würde. Tja, man lebt nur einmal, und ich beschloss, heute schon oft genug die Toilettenschüssel umarmt zu haben – da kam es auf einmal mehr oder weniger auch nicht wirklich an. Ein paar beherzte Schlucke – und der Wunsch, dass es drinblieb.

Als ich wieder erwachte, waren ein paar Stunden vergangen. Ein gutes Zeichen, eigentlich. Das Schwindelgefühl und die Kopfschmerzen waren immer noch da, aber die Mütze Schlaf hatte geholfen. Und die Übelkeit? Ein komisches Gefühl im Magen, mehr nicht.

Ich war unschlüssig. Sollte ich es überwunden haben? War jetzt die Zeit, wieder etwas zu essen? Oder war es nur ein böser Streich meiner Eingeweide, die kurz nach meinem ersten Bissen wieder rebellierten? Ich wusste es nicht, wagte es aber auch nicht, eine Probe aufs Exempel zu machen. Stattdessen entschloss ich mich, dass eine ausgiebige Dusche mir vielleicht helfen konnte, und während das heiße Wasser auf mich niederregte, fiel mir auf, wie sehr es in meiner Kabine säuerlich nach Erbrochenem stank. Klasse. Haben Sie schon mal versucht, eine Kabine irgendwo auf dem Südatlantik zu lüften? Klar, ich hatte ein Bullauge, aber das zu öffnen traute ich mich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht. Ich wusste auch gar nicht, ob das überhaupt möglich war. Mir blieb also nichts anderes, als irgendwann später die Tür zum Gang zu öffnen und die Lüftung auf Maximalleistung zu stellen. Nach der Dusche klappte ich den Laptop auf und begann, meine Mails zu checken. Das Übliche, ein paar sporadische Kontakte, irgendein Kunde, der wollte, dass ich einen Artikel nachbesserte. Ich tat mich schwer, solche Wünsche zu verstehen. Immerhin habe ich doch Journalismus studiert und nicht sie. Es nervt mich immer wieder, wenn diese Laien mit Änderungswünschen ankommen, bei denen man sofort merkt, dass sie keine Ahnung vom Handwerk haben. Nur weil du irgendwelche Zeitungen und Magazine liest, bist du eben noch kein Journalist. Die meisten solcher Anfragen beantwortete ich mit bissigen Mails. Sie sollten ruhig merken, dass ich mich nicht wie ein Laufbursche herumschubsen ließ. Das Problem liegt nämlich auf der Hand: Wenn deine Kunden einmal wissen, dass sie so mit dir umspringen können, dann hast du verloren, kommst aus der Nummer nicht mehr raus und investierst so viel Zeit in die Arbeit, dass die Bezahlung am Ende nicht mehr stimmt. Aber es ist wie in jeder Branche: Es gibt immer Idioten, die sich genauso verhalten, und das versaut dir die Preise. Nicht falsch verstehen: Ich bin immer noch professionell genug, um berechtigte Kritik anzunehmen und nachzubessern. Ist ja nicht so, als dass ich mir gleich alle meine Kunden vergraulen wollte.

Wie auch immer. Ich änderte die zwei Sätze, die er geändert haben wollte, und verfasste eine Antwort mit den üblichen Spitzen, triefend vor bitterem Zynismus. Dann begann ich, wahllos in den Weiten des Internets zu surfen. Im Übrigen weißt du spätestens dann, wenn du auf einem Eisbrecher im Südatlantik eine stabile und schnelle Internetverbindung hast, dass dein Auftraggeber wirklich in Geld schwimmt.

Nachdem ich einige Nachrichtenseiten abgeklappert hatte und über die Geschehnisse in aller Welt wieder einigermaßen im Bilde war, fühlte ich mich sicher genug für eine Kippe. Der erste Zug am Filter brachte mich fast wieder zum Würgen, dann aber schien mein Körper erkannt zu haben, dass ich ihn mit dem wunderbaren Nervengift Nikotin füttern wollte, und reagierte weniger widerspenstig. Nebenher versuchte ich es mit weiteren Schlucken Wasser und war ganz erfreut darüber, dass die Übelkeit nicht zurückkam. Vielleicht hatte ich es ja wirklich überstanden. Mein Magen schien der gleichen Ansicht und knurrte hungrig. Ich versuchte, seine Rufe nach Aufmerksamkeit zu ignorieren, aber in solchen Fällen bin ich wohl ein sehr willensschwacher Zeitgenosse. In der Schublade meines Schreibtisches fand ich ein Päckchen Schokoriegel, riss einen davon auf und roch skeptisch daran. Mein Magen zog sich zusammen, eher in der freudigen Erwartung von etwas Essbarem, und ich spürte, wie mir das Wasser im Mund zusammenlief. Das konnte kein schlechtes Zeichen sein. Also biss ich herzhaft zu, kaute und schlang die Masse aus breiiger Schokolade herunter. Gerade, als ich mir zufrieden wieder eine Zigarette gönnen wollte, kam die Übelkeit zurück.

Dieses Arschloch von Verdauungstrakt hatte mich ausgetrickst.

Zwei bis drei Tage? Am Arsch. Fünf Tage lang hielt mich die verdammte Seekrankheit in ihren Fingern, dann erst stellte sich Besserung ein. Mein Magen und ich befanden uns trotzdem auf Kriegsfuß, die Ereignisse hatten mich gelehrt, jeden Bissen Nahrung ganz besonders zu kauen und erst zu schlucken, wenn es nur noch ein undefinierbarer Brei war. Dann fällt das Kotzen einfacher.

Ich hatte meine Kabine in dieser Zeit praktisch nicht verlassen. Einerseits aus Angst davor, keine Toilette zu finden, wenn die Übelkeit wiederkam, andererseits hatte ich wenig Lust, irgendwem über den Weg zu laufen. Irgendwelchen knorrigen Seeleuten zum Beispiel, die bei deinem Anblick dreckig lachen und irgendwas von „Landratte!“ murren. Darauf legte ich keinen gesteigerten Wert.

Bei meinem ersten Gang außerhalb der paar Quadratmeter meiner stinkenden Kabine war ich wackelig auf den Beinen. Ein Besuch beim Schiffsarzt und die erste richtige und vor allem warme Mahlzeit seit Langem änderten das glücklicherweise ganz schnell.

Es ist übrigens egal, wie groß und modern solche Pötte sind, irgendwann kommt einem die Luft an Bord eines Schiffes wie eine Zumutung vor. Überall hängt irgendein Geruch, der dich daran erinnert, wo du bist. Nämlich eingepfercht auf einem tonnenschweren Koloss zusammen mit anderen Lebensmüden. Angesichts der Gefahren einer solchen Reise muss man wohl wirklich lebensmüde sein, da bin ich mir sicher. Überall riecht es also. Nach altem Qualm, nach Schweiß, nach getragener Kleidung, nach Erbrochenem, nach Schmieröl – die salzige Seeluft, von der immer wieder geschwärmt wird, bekommt man kaum mit, zumindest dann, wenn man nicht gerade an Deck zu tun hat. Wer beim Südatlantik an salzige Meeresluft denkt, der wird sein Glück vor allem auf Deck suchen müssen.

Wenn du aus dem Fenster schaust und einen relativ ruhigen Ozean siehst, ja sogar die Sonne hier und da zwischen den Wolken durchscheint, dann begehst du den Fehler, ohne Jacke nach draußen zu gehen. Alles ist so friedlich, aber im Grunde befindest du dich ganz in der Nähe der Antarktis. An einem der Tage hatte ich genug von der verbrauchten Luft, steckte mir eine Kippe an und griff entschlossen nach der Tür, in der Hoffnung, dass eine Zigarette an der Seeluft mir guttun würde. Kurz: Es ist eine wirkliche Scheißidee gewesen.

Dein Körper ist noch an die achtzehn bis zwanzig Grad Raumtemperatur gewöhnt, daher fällt dir die Kälte nicht sofort auf. Dein Atem schlägt die erste Wolke, während deine Haut langsam die Kälte meldet. Und dann atmest du ein. Natürlich so tief du kannst, immerhin ist es ja die vielbeschworene frische Luft. Die Kälte kriecht deinen Rachen hinab zu den Lungen und da fällt dir zum ersten Mal auf, wie bescheuert die Idee war. Im nächsten Moment hat der Frost deine Lungen erreicht und breitet sich unaufhaltsam aus. Erst ist das nur unangenehm, aber nach dem zweiten oder dritten Atemzug hast du das Gefühl, als würde deine Lunge brennen. Und während dir das schon die Tränen in die Augen treibt, hat auch deine Haut registriert, dass du in die Kälte getreten bist. Dann beginnt das Zittern. Du steckst deine Zigaretten also wieder ein und greifst nach der Tür. Frische Luft! Drauf geschissen.

Glücklicherweise blieb mein kleiner Auftritt an Deck unbemerkt, zumindest sprach mich niemand darauf an oder machte sich über mich lustig. Immerhin.

Mit der Crew oder den anderen Passagieren hatte ich weniger zu tun. Ich war nicht darauf erpicht, meine Zeit mit irgendwelchen Geschichten und Anekdoten totzuschlagen, dafür war ich nicht hier und dafür wurde ich auch nicht bezahlt. Zwar konnte ich so tun, als ob mich eine Erzählung ganz besonders interessierte, meistens aber langweilte mich dieses Gelaber und ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. Keiner von ihnen war aufdringlich und suchte zwanghaft meine Nähe oder ein Gespräch. Klar, wenn man zufällig beim Essen zusammensaß, wechselte man ein paar Worte, aber damit war es dann auch gut.

Anders war es mit Mr. Bailey. Hier kam ich um Konversation nicht herum.

„Und, wie gefällt Ihnen die Nimrod, Mr. White?“, fragte er mich zwischen zwei Bissen des Abendbrots. Er hätte sich im Aufenthaltsraum jeden Platz aussuchen können, aber natürlich musste er den mir gegenüber nehmen. Dabei gab es hier genügend bessere Gesprächspartner als mich.

Ich zuckte mit den Schultern. „Sie müssen entschuldigen, Sir. Ich hab’ bisher wenig von dem Boot sehen können.“

„Lassen Sie das nicht den Kapitän hören!“, grinste er. „Ein Boot ist eine kleine Nussschale. Bis zu unserem Eisbrecher hier liegen ein paar Gewichtsklassen dazwischen.“

Und schon wieder was gelernt. Besser jetzt, als dass es mir in meinen Aufzeichnungen passierte.

„Na, gut zu wissen. Aber wie gesagt, viel gesehen habe ich von dem Kahn noch nicht.“

Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er meine Art von Humor nicht mochte.

„Ja, Sie waren krank, nicht?“

Oh, so ein Blitzmerker. Tatsächlich fiel mir jetzt erst auf, dass in den letzten fünf Tagen niemand bei mir geklopft und gefragt hatte, wie es mir ging. Wenn so viel Anteilnahme auf der ganzen Expedition normal war, konnte es ja heiter werden. Ich schmunzelte bei dem Gedanken daran, dass es wohl niemandem aufgefallen wäre, wenn ich anstatt dieser miesen Seekrankheit einen Herzinfarkt gehabt hätte. Nicht dass Männer in meinem Alter dazu neigen.

„Schiffsreisen sind wohl nicht so meins. Ich habe, glaube ich, mehr gekotzt als während meines gesamten Studiums, und damals war ich ziemlich oft ziemlich betrunken, Sir.“

Bailey lachte und bewies, dass er meinen Humor doch mochte.

„Geht vielen auf der ersten Schiffsreise so, Mr. White, machen Sie sich da mal keine Gedanken. Sie müssen jetzt erst einmal wieder auf die Beine kommen.“

„Ein bisschen zittrig bin ich noch, aber das wird bestimmt wieder.“

„Klar. Wichtig ist, dass Sie jetzt ordentlich essen. Waren Sie beim Arzt?“

„Natürlich. Ist wirklich halb so wild. Das Schlimmste habe ich wohl überstanden. Soll mich melden, wenn was ist.“

„Wer weiß? Vielleicht wird ja noch ein richtiger Seemann aus Ihnen.“

Bei dem Gedanken, mein ganzes Leben auf einem Schiff verbringen zu müssen, kam für einige kurze Momente wieder die Übelkeit hoch, doch ich schüttelte einfach nur den Kopf und lehnte lächelnd ab.

„Oh nein. Ich hab’ lieber festen Boden unter den Füßen.“

„Jeder wie er mag. Sagen Sie, ist Ihre Ausrüstung einsatzbereit?“

„Klar, Sir.“

„Gut. Der Kapitän meint, dass wir in zwei oder drei Tagen Glück haben können und die ersten Eisberge zu Gesicht bekommen. Ich habe mir gedacht, dass das doch wunderbare Motive für Ihre Kamera sein könnten?“

„Hmmm. Ja, bestimmt.“

Ich versuchte, enthusiastisch zu klingen. Tatsächlich aber flößten mir diese großen Eisblöcke richtig Respekt ein. Klar, das hier war ein Eisbrecher, aber die monumentalen Bilder aus Hollywood, mit denen der Untergang der Titanic in Szene gesetzt worden war, waren vor meinem geistigen Auge noch präsent. Der Rest des Films hatte mir übrigens nicht gefallen.

„Stört Sie etwas?“, bohrte Bailey nach und erinnerte mich daran, dass ich dringend an meiner Mimik arbeiten musste.

„Nein, wahrscheinlich nur ganz unbegründet. Ist ja immerhin ein Eisbrecher hier, da sind solche Berge wahrscheinlich nicht so gefährlich.“

„Ich würde Sie anlügen, wenn ich sage, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen, Mr. White. Wir sind auf dem Weg in die Antarktis, einem der lebensfeindlichsten Orte auf diesem Planeten. Wunderschön, aber auch brandgefährlich. Passieren kann immer was. Und Eisberge würde ich niemals unterschätzen. Das sind so ziemlich die größten Geschosse, die Mutter Natur für uns parat hält.“

Na klasse. Das Arschloch trug nicht dazu bei, dass ich mich irgendwie sicher fühlte. „Dann vertraue ich wohl auf den Kapitän, was?“

„Er ist einer der besten, den man für Geld bekommen kann. Sie sind gut beraten, auf ihn zu wetten, ja.“

Sagte er „wetten“? Diese Expedition hatte hoffentlich nichts mit Glücksspiel zu tun. „Immerhin. Wann sollen wir mit den ersten Interviews anfangen, Mr. Bailey?“

Mein Auftraggeber aß den letzten Bissen und tupfte sich den Mund mit seiner Papierserviette ab, bevor er antwortete.

„Das hat noch ein bisschen Zeit. Ich würde mich aber freuen, wenn Sie sich außerhalb ihrer Kabine aufhalten und ein paar Eindrücke sammeln würden. Kann ja nicht schaden, oder?“

„Bestimmt nicht.“

Na super. Damit waren die unbeschwerten Zeiten in meiner Kabine bei abgestandener Luft, Kotze und Pornos wohl fürs Erste vorbei.

Bailey sollte recht behalten. Drei Tage später passierten wir tatsächlich den ersten Eisberg in gehöriger Entfernung. Das Ding sah unscheinbar und klein aus, aber ich hatte gelesen, dass zwei Drittel des Eisbergs unter Wasser liegen. Grandios. Das Schiff stampfte weiter gen Süden und am Mittag machte der Ausguck einen zweiten Koloss aus. Diesmal lag unser Kurs viel näher an dem Brocken und ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder nervös die Wellen absuchte, ob sich nicht irgendwo ein kleines Stück Eis verbarg, mit dem wir kollidieren konnten. Völlig irrational, ich weiß. Eisbrecher besitzen einen starken Rumpf, daher rührt ihr Name. Eine einfache Eisscholle würde da schon nicht viel anrichten. Und dennoch kamen mir immer wieder die Kinobilder in den Sinn, in denen das Eis die Flanke der Titanic einfach so aufschlitzte. Ich wollte so was nicht erleben.

Mein Auftraggeber teilte meine Bedenken offensichtlich nicht. Er holte mich von meinem warmen Posten hinter dem Panzerglas ab und ließ mich in einen roten, klobigen Thermoanzug steigen. Ich fühlte mich eingeengt, aber ein Protest war wohl sinnlos.

An Deck gab ich meine Hasstiraden auf den Anzug schnell auf, denn er schützte wirklich erstklassig vor der Kälte. Ich dachte, Bailey wollte mit mir nur ein wenig über das Deck spazieren, mir zeigen, von wo ich Bilder schießen sollte. Die Teleobjektive, die er mir zur Verfügung gestellt hatte, würden sicher gute Ergebnisse liefern.

Doch mir wurde ganz anders, als der blöde Hund mich zielstrebig zu einem der Motorboote an den Seiten des Schiffes führte. Das Ding wirkte auf mich wie eine Nussschale und schaukelte an den ausgeklappten Davits ungemütlich hoch über dem Wasser. Das konnte nicht sein Ernst sein! Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert! In den Zeiten von hochauflösenden Bildern, guten Vergrößerungen und Photoshop hat es niemand mehr nötig, nah an einen Eisberg heranzufahren. Man machte einfach ein paar Bilder, bearbeitete das Ganze und schon war der einzigartige Schnappschuss zum Angeben und für das Familienalbum fertig. Außer natürlich, man heißt Bailey, ist stinkreich und will diese Erfahrung unbedingt machen.

Ich mag es nicht, in Situationen gebracht zu werden, bei denen ich keine Wahl habe. Oh, ja, sicher. Ich hätte ihm auch einfach sagen können, dass er sich dafür einen anderen Idioten suchen sollte. Aber irgendwie war das eine beschissene Lösung. Ich machte mir eine geistige Notiz, dringend noch einmal über mein Honorar verhandeln zu müssen, und ließ mir in das schaukelnde Motorboot helfen.

Wir legten ab und das kleine Boot flog nur so über das Wasser. Während Bailey die Abwechslung genoss, spürte ich, wie mein Herz wummerte und ich nervös auf die schwarzblauen Fluten blickte, in jedem Moment Eis fürchtete. Ich hatte meine berechtigten Zweifel daran, dass ein Motorboot eine Kollision mit einer Eisscholle gut überstehen würde.

„Entspannen Sie sich, Mr. White! Das hier erleben nicht viele Menschen!“, brüllte er mir über den Motorenlärm zu.

Bestimmt. Weil 99,9 % der Menschheit so klug ist und sich in solchen Gewässern niemals in ein Motorboot setzen würde! Ich lächelte gequält, während das Motorboot den Eisberg großräumig zu umkreisen begann. Die Zirkel wurden mit jeder Umdrehung kleiner.

„Halten Sie die Kamera bereit! Das werden einzigartige Motive!“

Die schwere Kamera hatte bisher nur an einem Gurt um meinen Hals gebaumelt, und zittrig nahm ich den Apparat in eine Hand. Mit der anderen Hand klammerte ich mich immer noch an der Reling des Motorboots fest. Es würde niemals funktionieren, das wuchtige Gerät mit einer Hand ruhig zu halten und dabei gute Bilder zu schießen.

„Nicht so zaghaft!“, meinte Bailey und deutete auf meine Hand. „Sie müssen keine Angst haben! Wir machen Sie fest!“

Damit winkte er einen Seemann herbei, der einen Karabinerhaken in einer der zahlreichen Ösen meines Anzugs einhakte. Jetzt war ich mittels einer Leine untrennbar mit dem Motorboot verbunden. Beides keine schönen Gedanken: Wenn das Boot unterging, würde es mich mit in die Tiefe ziehen. Wenn ich aber meinen Halt verlieren sollte, würde es mich einfach hinter sich herziehen. Das war wie Pest oder Cholera.

Aber es gab Situationen, da musste man durch.

Und das, das war ja immerhin der Auftrag meines Lebens.

II.

PACKEIS, PINGUINE
UND SÜSSE ROBBEN

Es ist eine Sache, sich an Eisberge zu gewöhnen, die in einiger Entfernung vorbeitreiben. Es ist aber eine ganz andere Sache, morgens auf das Meer hinauszublicken und zu sehen, wie sich ganze Eisflächen langsam aus dem grauen Nebel schälen. Eisschollen, groß und klein. Zuerst waren es nur wenige, aber mit jeder Stunde und jeder Seemeile, die der Eisbrecher sich südwärts bewegte, wurden es mehr. Es war gesunder Respekt, ja Angst, die mich gebannt auf die Vorboten der Antarktis blicken ließ. Aber auch, das musste ich zugeben, eine gewisse Art der Faszination. Die Formen und Farben waren durchaus atemberaubend. Die Schollen gab es in allen Größen- und Gewichtsklassen, einige davon rund, beinah geometrisch perfekt, andere schroff und zersplittert, als wären sie vor Kurzem aus einem viel größeren Block gebrochen. Ich hatte Eis immer für schlichtweg gefrorenes Wasser gehalten, matt und trüb in den Farben, aber das Zusammenspiel mit den Fluten des Südatlantiks zauberte Farbspiele, die ich nicht für möglich gehalten hatte.

Ich konnte mir nicht helfen, mein Zigarettenkonsum stieg bei diesem Anblick in wirklich beunruhigende Höhen. Tatsächlich machte ich eine Zigarette an der nächsten an, während ich dort wie gebannt stand. Und wieder einmal spürte ich, wie mein Herz mir bis zum Hals schlug, meine Kehle sich zuschnürte. Und das Schlimme an der ganzen Geschichte war, dass ich der Einzige war, dem die Packeisfelder nicht geheuer waren. Oder die anderen hatten es einfach nur besser drauf, Theater zu spielen, als ich.

Jedenfalls drängten sich die Passagiere vor den Panzerglasscheiben und bestaunten das angebliche Naturschauspiel. Schauspiel? So ein Schwachsinn. Bei einem Schauspiel sitze ich auf einem sicheren Zuschauerplatz und laufe nicht Gefahr, jämmerlich in den kalten Fluten des Südpolarmeers zu ersaufen. Irgendein Hurensohn musste sich den Begriff „Naturschauspiel“ ausgedacht haben, vielleicht weil es einfach besser klang als „total lebensmüde“.

Ich hatte die letzten Tage genutzt, um mir ein bisschen die Beine zu vertreten, und war dabei sogar berufsbedingt ins Gespräch mit den meisten Passagieren gekommen. Die üblichen Floskeln. Ich fasste mich kurz und ließ vom ersten Moment an durchblicken, dass ich keine Lust auf tiefgreifende Gespräche hatte. Nur das Notwendige: Name, Alter und Aufgabe bei der Expedition. Meine Angst und innere Unruhe waren hauptsächlich schuld an meinem schroffen Auftreten. Vielleicht wäre ich unter anderen Umständen auch wirklich gewillt gewesen, mich auf irgendeinen belanglosen Smalltalk einzulassen. Ich musste mich also nicht wundern, wenn mir mein Verhalten den Ruf als wortkarger Eigenbrötler einbrachte, daran war ich selbst schuld.