Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Widmung
  6. KAPITEL EINS
  7. KAPITEL ZWEI
  8. KAPITEL DREI
  9. KAPITEL VIER
  10. KAPITEL FÜNF
  11. KAPITEL SECHS
  12. KAPITEL SIEBEN
  13. KAPITEL ACHT
  14. KAPITEL NEUN
  15. KAPITEL ZEHN
  16. KAPITEL ELF
  17. KAPITEL ZWÖLF
  18. KAPITEL DREIZEHN
  19. KAPITEL VIERZEHN
  20. KAPITEL FÜNFZEHN
  21. KAPITEL SECHZEHN
  22. KAPITEL SIEBZEHN
  23. KAPITEL ACHTZEHN
  24. KAPITEL NEUNZEHN
  25. KAPITEL ZWANZIG
  26. KAPITEL EINUNDZWANZIG
  27. KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
  28. KAPITEL DREIUNDZWANZIG
  29. KAPITEL VIERUNDZWANZIG
  30. KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
  31. KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
  32. KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
  33. KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
  34. KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
  35. KAPITEL DREISSIG
  36. KAPITEL EINUNDDREISSIG
  37. KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
  38. KAPITEL DREIUNDDREISSIG
  39. KAPITEL VIERUNDDREISSIG
  40. KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
  41. KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
  42. KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
  43. KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
  44. KAPITEL NEUNUNDDREISSIG
  45. KAPITEL VIERZIG
  46. KAPITEL EINUNDVIERZIG
  47. KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG
  48. KAPITEL DREIUNDVIERZIG
  49. KAPITEL VIERUNDVIERZIG
  50. KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG
  51. KAPITEL SECHSUNDVIERZIG
  52. KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG
  53. KAPITEL ACHTUNDVIERZIG
  54. KAPITEL NEUNUNDVIERZIG
  55. DANKSAGUNG

Über das Buch

London, 1943. Weihnachten steht vor der Tür – endlich darf Schwester Dora ihren geliebten Nick wieder in die Arme schließen. Doch ihr Glück währt nicht lange. Schon bald muss Nick zurück an die Front, und das Nightingale Hospital stellt seine Krankenschwestern vor eine neue Herausforderung: Sie sollen sich um deutsche Kriegsgefangene kümmern. Anders als Dora, die sich mit dieser Aufgabe schwertut, hegt ihre Kollegin Kitty heimlich ganz andere Gefühle für einen ihrer Patienten. Während beide mit ihren Gefühlen hadern, taucht überraschend Doras Freundin Helen wieder auf – und bringt ein dunkles Geheimnis mit …

Über die Autorin

Donna Douglas wuchs in London auf, lebt jedoch inzwischen mit ihrer Familie in York. Ihre Romanserie um die Schwesternschülerinnen des berühmten Londoner Nightingale Hospitals wurde in England zu einem Überraschungserfolg und eroberte die Top Ten der Sunday-Times-Bestsellerliste. Auch hierzulande hat sie es mit ihrer Serie auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Neben ihrer Arbeit an weiteren Romanen schreibt die Autorin außerdem regelmäßig für verschiedene englische Zeitungen. Mehr über Donna Douglas und ihre Bücher erfahren Sie unter www.donnadouglas.co.uk oder auf ihrem Blog unter donnadouglasauthor.wordpress.com.

Donna Douglas

DIE NIGHTINGALE
SCHWESTERN

Ein Wiedersehen zur Weihnachtszeit

Roman

Aus dem Englischen von
Ulrike Moreno

BASTEI ENTERTAINMENT

Für Rebecca und Wayne,
mit den allerbesten Wünschen für euer Eheleben

KAPITEL EINS

Dezember 1943

»Das ist wieder typisch für dich. Nur du würdest während eines Bombenangriffs rausgehen, um dich um eine verdammte Katze zu kümmern, Dora Riley!«

Dora hörte den Ärger und die Erbitterung in der Stimme ihres Ehemannes und konnte sich seinen Gesichtsausdruck gut vorstellen. Deshalb schaute sie sich auch nicht zu Nick um, sondern hielt den Blick auf den von Bombeneinschlägen gezeichneten Boden vor ihr gerichtet. Ein eisiger Nebel begann die Straßen einzuhüllen, sodass es ihre ganze Konzentration erforderte, sich einen Weg über die tückischen, mit kleinen Kratern übersäten Pflastersteine zu bahnen. Die Straßen sahen kein bisschen mehr so aus, wie sie sie in Erinnerung hatte. Die meisten der Häuser standen nicht mehr, sie waren bei dem »Blitz« zerstört worden, wie die Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe auf Großbritanniens Städte auch genannt wurden.

»Es war keine sehr große Bombe, und vor einer halben Stunde wurde schon Entwarnung gegeben«, rief sie Nick über die Schulter zu. »Außerdem habe ich dich nicht gebeten mitzukommen. Du hättest auch zu Hause bleiben können.«

»Und dich allein durch die Straßen laufen lassen?«, versetzte Nick empört. »Es wird bald dunkel sein, und das ist zu gefährlich.«

Dora lächelte vor sich hin. Wie lieb von ihm. Nick war fast vier Jahre im Krieg gewesen, und sie konnte an einer Hand abzählen, wie viele Male er Heimaturlaub gehabt hatte. Was glaubte er, wie sie in all der Zeit ohne ihn zurechtgekommen war? Wie all die anderen Ehefrauen und Mütter, die allein im East End zurückgeblieben waren und die Lage hatten meistern müssen, hatte auch sie gelernt, mit der Angst, der Verdunkelung und den Nächten in feuchten Luftschutzbunkern zu leben, in denen sich alle fragten, ob sie am nächsten Morgen noch ein Zuhause haben würden, in das sie heimkehren konnten.

Als Krankenschwester war sie zudem noch mit einigen wirklich grauenvollen Bildern wie dem Anblick von verletzten Soldaten und Bombenopfern konfrontiert worden, die sie nach wie vor in ihren Albträumen verfolgten.

Doch nun war Nick daheim und wollte sie beschützen, und sie wusste, dass sie ihre Selbstständigkeit während seiner Anwesenheit besser nicht demonstrieren sollte, um ihn den Ehemann sein zu lassen, der er sein wollte.

Sie war überglücklich, ihn wieder einmal bei sich zu haben. Selbst jetzt noch, fast zwei Wochen später, konnte sie nicht aufhören zu lächeln bei der Erinnerung daran, wie sie die Haustür geöffnet und er in seiner Uniform und mit seinem Seesack über der Schulter vor ihr gestanden hatte. Er war auf einem Truppentransporter von Italien nach Schottland zurückgeschickt worden und hatte von dort aus zwei Tage für die Heimfahrt nach Bethnal Green gebraucht.

Heute war der Tag vor Heiligabend, und es würde das glücklichste Weihnachtsfest seit langer Zeit für Dora werden.

Auch die Zwillinge schienen ihre beschwingtere Stimmung wahrzunehmen. Es war so lange her, seit die Kinder ihren Vater zuletzt gesehen hatten, dass sie Nick gegenüber anfangs furchtbar misstrauisch gewesen waren. Aber nun ließen sie ihnen keine Sekunde mehr in Ruhe. Sie hatten gebettelt, heute Nachmittag mit ihren Eltern hinauszudürfen, und jetzt hockte Walter auf Nicks Schultern, während Winnie, die für ihre sechs Jahre erstaunlich mutig war, voranlief und mit Argusaugen nach verlorenen Schätzen Ausschau hielt.

»Sei vorsichtig«, rief Dora ihr zu. »Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe, und heb nur ja nichts auf!«

Doch Winnie ignorierte ihre Mutter, lief weiter kreuz und quer über die Straße und suchte immer noch nach für sie interessanten Dingen.

»Sie wird langsam zu einem richtigen kleinen Wildfang, nicht wahr?«, bemerkte Nick mit einem liebevollen Lächeln.

»Daran ist unser Alfie schuld«, erwiderte Dora. »Er bringt andauernd Granatsplitter mit nach Hause, um sie ihr zu zeigen, und erklärt ihr den Unterschied zwischen den verschiedenen Flugzeugen. Ich könnte schwören, dass sie bei den Luftangriffen beide draußen wären, wenn ich sie ließe …« Sie unterbrach sich, als eine lähmende Furcht sie urplötzlich ergriff und ihr die Kehle zuschnürte.

Nick schien zu verstehen, denn er ging schneller, um sie einzuholen. Dann griff er nach ihrer Hand, schob sie unter seine Armbeuge und zog Dora ganz fest an sich. Keiner von ihnen sprach. Sie hielten nicht viel von blumigen Worten, beide nicht, aber ihr Schweigen war beredt genug.

Dora schloss ihre Finger noch fester um Nicks Arm und konnte seine kräftigen Muskeln unter dem dicken Mantel spüren, den er trug. Sie mochte in den letzten vier Jahren zwar gelernt haben, allein zurechtzukommen, doch nun, da er wieder hier an ihrer Seite war, fragte sie sich, wie sie das geschafft hatte ohne ihn – und es ein weiteres Mal schaffen sollte, wenn er ihr wieder genommen wurde …

Schließlich würde er früher oder später wieder gehen müssen. Bis dieser elende Krieg vorbei war, würde er nie wirklich der ihre sein.

Als ahnte er, wohin ihre Gedanken abschweiften, begann Nick sich wieder über das Wetter zu beklagen. Aber Dora wusste, dass er damit bloß versuchte, sie abzulenken. »Erinnere mich noch mal daran, warum wir in dieser Eiseskälte zu diesem sinnlosen Vorhaben hinausgegangen sind«, murmelte er vor sich hin. Seinen Kragen hatte er so weit hochgestellt, dass Dora kaum noch sein Profil dahinter sehen konnte.

»Weil ich es Mrs. Price versprochen habe.« Die alte Dame war furchtbar aufgeregt gewesen, seit sie auf der Isolierstation aufgenommen worden war. Es ging ihr sehr schlecht, weil sie an einer schweren Grippe erkrankt war, aber sie war besorgter um ihren geliebten Kater als um sich selbst. Um Mrs. Price dazu zu bringen, im Bett zu bleiben, hatte Dora ihr schließlich schwören müssen, dass sie ihren Kater suchen und ihn füttern würde.

»Könntest du ihr nicht einfach sagen, der Kater wäre weggelaufen? Sie würde doch nie erfahren, ob das wahr ist oder nicht.«

»Wie kannst du nur so etwas sagen?« Dora starrte ihn an. »Ich könnte nicht mehr in den Spiegel schauen, wenn ich wüsste, dass das arme Ding ganz allein hier draußen ist und verhungert oder erfriert.«

Nick schüttelte den Kopf. »Typisch«, murmelte er. »Das ist dein Problem. Du verbringst immer zu viel Zeit damit, an alle anderen zu denken.«

»Na und? Es ist wirklich schade, dass du es nicht auch einmal versuchst, Nick Riley«, erwiderte sie streng.

»›Kümmere dich um dich selbst‹, das ist mein Motto.« Er gab sich alle Mühe, schroff zu klingen, aber Dora konnte das leichte Lächeln sehen, das seine Mundwinkel anhob. Nick zog es vor, sein weiches Herz unter einer harten Schale zu verbergen. Sehr wenige Menschen nur hatte er je nahe genug an sich herangelassen, um hinter seine Fassade schauen zu können.

»Mrs. Price war einmal unsere Nachbarin«, erinnerte Dora ihn. »Natürlich werde ich ihr einen Gefallen tun, wenn ich kann. Sie hat schließlich auch genug für uns getan.«

»Nicht für mich. Sie hatte nie ein gutes Wort für mich oder meine Familie übrig. Und der Rest von ihnen allen ebenfalls nicht.«

Dora warf ihm einen schnellen Blick zu. Es stimmte, was er sagte. Da sein Vater gewalttätig und seine Mutter alkoholsüchtig war, waren die Rileys immer Ausgestoßene in der Griffin Street gewesen. Als Heranwachsender war Nick schwierig gewesen, ständig schlecht gelaunt und stets bereit, von einem Moment zum anderen einen Streit vom Zaun zu brechen. Dora war die Einzige gewesen, die erkannt hatte, wie verletzt und wütend dieser Junge in Wirklichkeit war.

Jetzt gab er sich die größte Mühe, es nicht zu zeigen, aber Dora konnte sehen, dass ihm die Vorstellung, zur Griffin Street zurückzukehren, nicht behagte. Das Viertel war für ihn keineswegs mit glücklichen Erinnerungen verbunden.

»Bist du sicher, dass du mitkommen willst?«, fragte sie. »Es macht mir wirklich nichts aus, allein zu …«

»Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dich nicht allein auf diesen Straßen herumlaufen lasse«, unterbrach Nick sie mit grimmig entschlossenem Gesichtsausdruck. »Außerdem sind wir ohnehin schon da. Also lass es uns hinter uns bringen, ja?«

Sie konnte seine Anspannung spüren, als sie um die Ecke in die Griffin Street einbogen. Seit jener schicksalhaften Nacht des »Blitzes« war Dora schon mehrmals wieder hier gewesen, doch Nick hatte die Verwüstungen selbst noch nicht gesehen. Nun verhielt er abrupt den Schritt, und Dora hörte, wie er scharf den Atem einsog.

Die Straße, in der sie aufgewachsen waren, war kaum noch wiederzuerkennen. Sie sah jetzt nicht mehr ganz so schlimm aus wie unmittelbar nach dem Bombeneinschlag, da die Berge von Trümmern, Schutt, zersplittertem Holz und Glas und zerbrochenen Dachziegeln in den vergangenen zwei Jahren entfernt worden waren. Aber irgendwie machte das den Anblick noch herzzerreißender, weil es inzwischen bloß noch eine einzige klaffende Lücke gab, wo ihre Häuser einst gestanden hatten, und ein paar zerklüftete Mauerteile, die sich in seltsam unregelmäßigen Winkeln gegenüberstanden. Die dünnen Nebelschleier, die sich um die Skelette der Häuser schlängelten, verliehen der Griffin Street ein noch gruseligeres und gespenstischeres Aussehen.

Hier und da sah man bewegende Erinnerungen an die Menschen, die einst in dieser Straße gelebt hatten – ein flatternder Streifen einer geblümten Wohnzimmertapete, die Überreste des Taubenschlags, in dem Mr. Prosser seine Vögel gehalten hatte, oder ein zerbrochener Holzpfosten, der einmal eine Wäscheleine gestützt hatte. Drüben bei der eingestürzten rückwärtigen Mauer waren noch die Umrisse der Kohlenrutsche zu sehen, auf deren schrägem Dach Nicks jüngerer Bruder Danny immer gesessen und auf die Rückkehr seines Bruders gewartet hatte, bis zu der Nacht, in der die Bombe fiel …

Dora achtete stets darauf, nicht zu der Stelle hinzusehen, aber Nick hielt seinen Blick darauf geheftet, als ob er ausprobieren wollte, wie viel Schmerz er ertragen konnte.

»Wo sind wir, Daddy?«, brach Walters piepsige Stimme die angespannte Stille.

Nick räusperte sich. »Hier haben wir früher gelebt«, antwortete er leise. »Deine Mum und ich sind hier aufgewachsen.«

»Wo?«, wollte Walter wissen. »Wo habt ihr gelebt?«

»Dort drüben.« Nick zeigte auf die Lücke zwischen den anderen Häusern. »Deine Mum wohnte in Nummer achtundzwanzig und ich gleich nebenan.«

»Und wo sind die Häuser jetzt?«

»Zerbombt, du Dummchen«, antwortete Winnie für ihre Eltern, während sie an den Überbleibseln einer zerfallenden Mauer hinaufkletterte. »Die Deutschen haben sie alle zertrümmert mit dem ›Blitz‹. Sie kamen in ihren Flugzeugen herüber, Hunderte und Aberhunderte von ihnen, und dann ging es peng, paff, peng …«

»Hör auf damit!«, sagte Dora schroffer, als es ihre Absicht war. »Und komm von dieser Mauer herunter, bevor du dir den Mantel zerreißt. Du wirst keinen anderen bekommen, wenn du ihn verschandelst.«

Winnie warf ihr einen verdrossenen Blick zu, stieg von der Mauer herab und flitzte wieder mal davon.

»Und bleib, wo ich dich sehen kann!«, rief Dora ihr nach. Aber Winnie war schon in der zunehmenden Abenddämmerung verschwunden.

»Du kannst es ihnen nicht verübeln«, sagte Nick leise. »Sie sind mit dem Krieg aufgewachsen und haben nie etwas anderes gekannt.«

»Als ob ich das nicht wüsste«, murmelte Dora. Es brach ihr das Herz, dass ihre Kinder sich nicht an eine Welt erinnern konnten, in der keine Luftschutzsirenen heulten – oder an die kleinen Freuden, wie am Weihnachtsmorgen neben einem Strumpf voller Geschenke aufzuwachen. Sie waren erst sechs Jahre alt und hatten ihre kindliche Unschuld schon verloren.

»Komm«, sagte Nick und zog an ihrem Arm, »lass uns diesen Kater suchen, bevor es dunkel wird.«

Mrs. Price’ Haus stand isoliert am Ende der Griffin Street, da es bis auf eine große Delle im Dach und das halb zerstörte Außenklosett das einzige noch intakte Gebäude in dieser Straße war.

Nick blickte mit zusammengekniffenen Augen zu dem Dach hinauf. »Schau nur, wie viele Ziegel fehlen«, sagte er. »Dieser Schornstein wird ebenfalls noch herunterkommen. Es muss verdammt kalt da drinnen sein. Und es würde mich nicht wundern, wenn es zudem sehr feucht wäre.«

»Deshalb liegt Mrs. Price wahrscheinlich auch mit Grippe im Krankenhaus.«

Er schüttelte den Kopf. »Wie lebt das alte Mädchen hier so ganz allein? Es überrascht mich, dass ihr Haus noch nicht abgerissen wurde.«

»Ich glaube, sie haben es versucht.«

Dora erinnerte sich noch gut an die grimmige Entschlossenheit in Mrs. Price’ runzligem Gesicht, mit der sie zu ihr gesagt hatte: »Mein Haus steht noch, und ich auch. Die Deutschen haben mich nicht herausgekriegt, und die Gemeinde wird es ebenfalls nicht schaffen.«

»Ich glaube, sie will hier sein, wenn der Krieg vorbei ist, damit sie die Fahnen raushängen und triumphieren kann«, sagte Dora.

»Sie war schon immer zäh wie Leder«, stellte Nick mit widerstrebender Bewunderung fest. »Genau wie all die anderen Frauen der Griffin Street, nicht wahr?«

Er grinste sie an, und Dora bemühte sich, das Lächeln zu erwidern. In Wahrheit war sie nämlich gar nicht mehr besonders zäh, aber das wollte sie sich nicht vor Nick anmerken lassen. Er hatte auch so schon genug Sorgen.

»Ich glaube, ich werde mir das Dach morgen früh mal ansehen. Vielleicht kann ich ja etwas tun, damit es nicht mehr ganz so stark hineinregnet.« Er blickte mit schmalen Augen zu dem ebenfalls sehr brüchigen Schornstein hinauf.

»Ach ja? Und was ist mit deinem Motto, dich nur um dich selbst zu kümmern?«, fragte Dora.

Nick verzog den Mund. »Du musst einen schlechten Einfluss auf mich haben«, murmelte er. »Und jetzt komm. Lass uns diesen verflixten Kater suchen und hier verschwinden, bevor der Nebel ganz herunterkommt und wir nicht mehr den Weg nach Hause finden.«

Sie suchten ewig lange nach dem Kater zwischen den Ruinen und riefen immer wieder seinen Namen.

»Timmy? Timmy! Komm heraus, mein Kleiner. Ich habe ein paar leckere Fischköpfe für dich«, schallte Doras Stimme durch die leere Straße. »Er wird noch im Haus sein. Der arme Kerl ist bestimmt total verängstigt.«

»Wohl eher draußen auf der Jagd!« Nick schnitt eine Grimasse. »Es muss hier genügend Ratten geben, um ihn monatelang zu ernähren.«

»Sag das nicht!« Dora erschauderte. »Such doch bitte Winnie, damit sie von den Biestern nicht gebissen wird.«

Nick spähte in die Düsternis. »Hab keine Angst, ich kann sie sehen. Sie ist dort drüben, wo früher das Außenklosett der Prossers stand.«

Doch Dora hörte schon nicht mehr zu, sondern starrte Mrs. Price’ Hintertür an, die an ihren rostigen Angeln hin und her schwang.

»Was ist?«, fragte Nick hinter ihr.

»Es sieht so aus, als ob jemand im Haus gewesen wäre.«

Nick übernahm sofort das Kommando und trat vor, nachdem er Walter von seinen Schultern gehoben und auf den Boden gestellt hatte. »Ihr bleibt hier«, befahl er. »Ich gehe rein und sehe mich mal um.«

»Aber …«

»Ihr bleibt hier!«, wiederholte er.

Dora runzelte hinter ihm die Stirn, als er die Tür aufdrückte und das Haus betrat. Er mochte es gewöhnt sein, Befehle zu erteilen, doch sie war es nicht gewöhnt, sie zu befolgen. Walters kleine Hand fest in der ihren, folgte sie Nick in das dunkle Haus hinein.

KAPITEL ZWEI

Es war genau so, wie Dora schon befürchtet hatte. Die kleine Küche war völlig auf den Kopf gestellt worden – die Stühle waren umgekippt, und der Schrank, der einmal Mrs. Price’ gesamtes Porzellan enthalten hatte, lag seitlich auf dem Boden.

Dora blieb stehen und starrte das Durcheinander um sie herum an. »Was zum …«

»Jemand muss gemerkt haben, dass das Haus leer stand«, sagte Nick mit grimmiger Miene. »Bleib du hier, während ich mir das andere Zimmer ansehe.« Er verschwand in dem dunklen Korridor.

»Was ist hier passiert, Mum?«, fragte Walter mit großen Augen.

»Ich …« Dora öffnete den Mund, um zu antworten, aber ihr fehlten die Worte.

Nick erschien wieder in der Küchentür. »Ich habe mich im Wohnzimmer umgesehen«, berichtete er. »Es sieht genauso aus wie hier. Und ich habe das hier gefunden …« Er hielt eine hölzerne Schmuckschatulle hoch, durch deren offenen Deckel man das verblasste Seidenfutter sah. »Sie werden alles mitgenommen haben, was nicht niet- und nagelfest war, denke ich.«

Dora bekam weiche Knie und trat zurück, bis sie den kalten Stein der Spüle an ihrem Rücken spürte. »Wie konnten sie bloß?«, flüsterte sie. »Wie konnten sie das einer armen alten Frau antun?«

»Du wärst erstaunt, wie tief manche Leute sinken können«, murmelte Nick.

»Ja, aber …« Dora sah sich um. Dies hier war das East End, wo die Menschen zusammenhielten und einander in schweren Zeiten beistanden. Sie gingen nicht aufeinander los wie Hunde, die um Essensreste kämpften.

»Das ist der Krieg«, beantwortete Nick ihre unausgesprochene Frage. »Er bewirkt ganz merkwürdige Dinge bei den Menschen.«

Dieser verfluchte Krieg! Wut stieg in Dora auf. Sie hatte es satt, davon zu hören, satt, ihn zu durchleben und mit ansehen zu müssen, wie er Menschen zum Schlechteren veränderte und Gemeinschaften wie der Griffin Street das Herz herausriss.

»Wie soll ich ihr das nur beibringen?«, fragte sie, während ihr Blick erneut über die Überreste von Mrs. Price’ Zuhause glitt. »Die arme Frau hat schon so viel verloren. Ihren Mann, ihre beiden Söhne …«

»Sag ihr nichts«, riet ihr Nick. »Warte, bis sie wieder so weit bei Kräften ist, dass sie es ertragen kann. Und nun lass uns diesen Kater suchen und einen Karton, in dem wir ihn mit heimnehmen können.«

Dora starrte ihn mit verständnisloser Miene an. Es dauerte einen Moment, bis ihr wieder einfiel, wozu sie hergekommen waren.

»Oh nein«, sagte sie. »Mrs. Price sagte, wir sollten ihn nicht von hier fortbringen. Es würde ihm nicht gefallen, sagte sie …«

»Zum Teufel mit dem Kater!«, fiel Nick ihr ins Wort. »Ich lasse dich nicht tagtäglich hierher zurückkommen, hörst du? Nicht mit Dieben hier im Haus.«

Dora straffte die Schultern. »Die werden bestimmt nicht zurückkommen, wenn sie schon alles mitgenommen haben«, sagte sie. »Außerdem machen sie mir keine Angst.«

»Das ist mir egal, ich will trotzdem nicht, dass du hier allein …«

Im selben Moment ging die Tür hinter ihr auf, und eine sehr zufrieden aussehende Winnie erschien darin. »Seht mal, was ich gefunden habe!«, rief sie.

In Erwartung, den Kater in Winnies Armen zu sehen, drehte Dora sich um, aber statt ihm sah sie den stumpfen Glanz von schmutzigem Metall in den Händen ihrer Tochter. Bevor sie überlegen konnte, was sie tat, hatte sie Walter schon losgelassen und sich auf das blecherne Ding gestürzt und es Winnie abgenommen.

»Was habe ich dir gesagt?« Sie stieß ihre Tochter aus dem Weg und warf den Metallklumpen auf die Straße hinaus, so weit sie konnte. »Ich will nicht, dass du Dinge ausgräbst! Das da ist kein Spielzeug, hörst du? Du darfst nicht damit spielen.«

Die Welt schien vor ihren Augen zu verschwimmen, und erst als sie Nicks leise, aber feste Stimme vernahm, hörte sie auch ihre Tochter weinen und merkte, dass sie sie wie eine Puppe schüttelte.

Noch immer ganz benommen von dem Schreck, ließ sie Winnie los, worauf die Kleine laut aufschluchzend davonlief. Dora wollte ihr folgen, doch Nick hielt sie zurück.

»Lass sie«, sagte er. »Sie wird nicht weit gehen.« Dann hielt er Dora auf Armeslänge von sich und schaute ihr in die Augen. »Es war nur eine harmlose alte Granate, Dora.«

»Das konnte sie aber nicht wissen, als sie sie ausgegraben hat, nicht wahr? Es hätte alles Mögliche sein können.« Sie schwieg einen Moment und bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Wir hatten neulich einen Jungen aus der Russia Lane im Krankenhaus, der etwas von einem Trümmergrundstück mit heimgebracht hatte. Wie sich herausstellte, war es eine nicht explodierte Brandbombe«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Ich werde nie vergessen, wie sein Dad ihn in seinen Armen hereintrug und wie durchtränkt vom Blut seines Sohnes seine Kleider waren …«

Nick zuckte zusammen »Nicht doch!«

»Und wenn das unserer armen Winnie passiert wäre?«, fuhr Dora unerbittlich fort. »Wenn es kein harmloses leeres Geschoss gewesen wäre, das sie aufgehoben hat? Was, wenn es eine … eine …« Aber ihr war die Kehle vor Furcht so eng geworden, dass sie den Satz nicht mehr zu Ende bringen konnte.

»Tut mir leid«, sagte Nick. »Ich werde mit ihr reden und ihr klarmachen, dass sie nichts aufheben darf, ja? … Dora? Weinst du etwa, Dora?«

Sie wandte sich abrupt von ihm zum Fenster ab. »Nein«, sagte sie, aber ihre tränenerstickte Stimme verriet sie.

»Doch«, sagte Nick und drehte sie sanft wieder zu sich herum. »Komm, Dora, das sieht dir ja gar nicht ähnlich. Was ist los?«

»Was los ist?«, wiederholte Dora ungläubig. »Sieh dich doch mal um, Nick! Sieh dir dieses Haus an. Kannst du dir vorstellen, dass hier irgendjemand seinen Nachbarn bestohlen hätte, bevor dieser verfluchte Krieg ausbrach? Und schau dir unsere Kinder an. Winnie ist fasziniert von Bomben und Flugzeugen, und Walter macht ins Bett, weil er so verängstigt ist. Bald ist Weihnachten, und es wird keine Geschenke und nichts zu essen, ja nicht einmal genügend Kohle für das Feuer geben. Ich mache mir die ganze Zeit nur Sorgen und warte auf die nächste Katastrophe, die uns widerfährt. Und du fragst mich, was los ist!« Sie lachte schroff.

»Ich weiß, dass es schlimm ist«, sagte Nick. »Aber du musst weitermachen …«

»Warum?« Sie zeigte auf die wenigen Überbleibsel dessen, was einmal Mrs. Price’ Zuhause gewesen war. »Sieh dir dieses Haus an. Mrs. Price hat versucht weiterzumachen, und sieh nur, was ihr zugestoßen ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, dass ich nicht tue, was Lord Woolton und Mr. Churchill und der Rest von ihnen uns sagen – wir sollten uns nicht unterkriegen lassen, tapfer sein und so weiter und so fort. Aber ich bin müde, Nick. Was immer es auch war, was mich durch die letzten paar Jahre gebracht hat, es beginnt zur Neige zu gehen. Dieser Krieg hat mir alles genommen.«

»Du hast immer noch mich.«

»Ja, aber für wie lange noch?«

Dora sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte, und wusste, dass das ungute Gefühl, das ihr so schwer im Magen lag, sie nicht getäuscht hatte. Es gab etwas, was Nick ihr nicht erzählte.

»Du musst wieder zurück, nicht wahr?«, sagte sie bedrückt.

»Wir haben immer gewusst, dass ich das muss …«, begann Nick zu sagen, aber Dora unterbrach ihn.

»Wann?«

Er senkte den Blick auf seine Hände. »Morgen Nachmittag.«

»An Heiligabend …« Sie schwieg einen Moment, um die Nachricht wirklich zu begreifen. »Wie lange hast du das schon gewusst?«

»Dora …«

»Wie lange?«

»Ich habe vor ein paar Tagen meinen Einschiffungsbefehl erhalten.«

»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Du warst so glücklich, dass ich dich nicht beunruhigen wollte.«

Dora hätte ihn am liebsten angeschrien, aber dann sah sie seinen flehenden Gesichtsausdruck und versuchte, sich zusammenzunehmen.

»Dann wirst du also nicht über Weihnachten bleiben?«, fragte sie ruhig.

»Tut mir leid, Liebling.«

»Du kannst ja nichts dafür. Wahrscheinlich sollten wir uns glücklich schätzen, dass wir zumindest diese kurze Zeit zusammen hatten. Es gibt genug Frauen, die ihre Ehemänner seit Jahren nicht gesehen haben.« Sie sah sich um. »Wir sollten hier besser ein bisschen Ordnung schaffen. Ich will nicht, dass Mrs. Price heimkommt und ihr Haus so vorfindet.«

Nick war sehr still, als sie die Möbel aufstellten, doch das überraschte Dora nicht. Er sah sie nur selten derart aufgewühlt. Wie all die anderen Frauen aus dem East End zog sie es vor, sich nicht unterkriegen zu lassen und trotz allem weiterzukämpfen. Und falls sie irgendwelche Zweifel oder Ängste hatte, behielt sie sie für sich.

Sie wusste nicht, warum sie sich diesmal erlaubt hatte, schwach zu werden. Vielleicht lag es daran, dass Nick da war und sie an alles erinnerte, was ihr fehlte. Aber sie schämte sich dafür, ihm diese Gefühle gezeigt zu haben, weil sie wusste, dass er noch sehr viel Schlimmeres durchmachte als sie selbst. Sie mochte sich über Rationierungen, Verdunkelungen und die alltägliche Furcht beklagen, doch das war nichts im Vergleich zu den wahren Gefahren, denen er sich Tag für Tag an der Front gegenübersah.

Und jetzt fühlte er sich ihretwegen noch viel schlechter. Sie beobachtete ihn von der anderen Seite des Zimmers aus, und ein Frösteln überlief sie. Sie war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass eine sehr reale Möglichkeit bestand, ihn zu verlieren, und er sollte nicht glauben, sich auch noch um sie sorgen zu müssen, wenn er wieder an die Front musste.

Sie ging zu ihm hinüber, als er den Küchenschrank wieder an seinen Platz an der Wand zurückstellte. »Entschuldige bitte«, sagte sie.

Er richtete sich gerade auf und sah sie an. »Aber wofür denn?«

»Ich hätte nicht so ein Theater machen sollen. Ich komme mir jetzt richtig dumm vor, Nick.«

Er betrachtete sie mit einem wachsamen Blick. »Ich wusste gar nicht, dass du so verbittert bist.«

Wie könnte ich etwas anderes sein, wollte sie erwidern, doch stattdessen lächelte sie und sagte: »Ach, mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe bloß einen schlechten Tag.«

Ihr Lächeln täuschte ihn jedoch nicht, denn sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Du wirst doch zurechtkommen, Dora? Ich will gar nicht daran denken, fortzugehen und dich allein zu lassen …«

»Ich schaffe das schon, wirklich«, versicherte sie ihm. »Denk nicht mehr daran. Mach dir bitte nur Sorgen um dich selbst.« Sie schwieg für einen Moment. »Weißt du, wohin sie dich schicken?«

Er wandte sich wieder dem Schrank zu und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen, um ihn an den richtigen Platz zu schieben. »Irgendwo an die Südküste, mehr haben sie uns noch nicht gesagt.«

Hätten sie dir denn nicht einen einzigen Tag länger Urlaub geben können? Aber Dora unterdrückte die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Sie hatte ohnehin schon viel zu viel gesagt.

»Und dann geht es weiter nach Frankreich, nehme ich an?«, fragte sie.

»Ich habe keine Ahnung. Und selbst wenn ich es wüsste, dürfte ich es dir nicht sagen.« Nicks Gesicht war eine ausdruckslose Maske, und Dora wusste, dass er genau wie sie versuchte, seine Gefühle herunterzuspielen. Dann lächelte er und sagte: »Aber für den Fall, dass ich in Frankreich lande, verspreche ich, dir als verspätetes Weihnachtsgeschenk eine Flasche echtes französisches Parfüm mitzubringen.«

»Ich will kein Parfüm. Ich will nur, dass du heil nach Hause kommst.«

Ihre Miene musste verraten haben, wie besorgt sie um ihn war, denn Nick grinste und sagte: »Mir wird schon nichts passieren.«

Wenn das doch nur wahr wäre. Doras Blick glitt unwillkürlich zu der Stelle, wo eine Kugel in seine Brust eingedrungen war und nur um Zentimeter sein Herz verfehlt hatte. Die Narbe war noch silbrig und gekräuselt unter seinem Hemd. Dora ertrug es nicht, sie zu berühren, weil es sie zu sehr daran erinnerte, wie nahe sie daran gewesen war, ihn zu verlieren.

Er folgte ihrem Blick zu der Verletzung an seiner Brust. »Das wird mich lehren, beim nächsten Mal schneller zu rennen!«

Er lachte, aber Dora tat es nicht. Stattdessen wurde ihr die Kehle eng, und fast hätte sie wieder geweint. Doch diesmal gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten.

Nick griff nach ihrer Hand. »Ich werde zurückkommen, darauf kannst du dich verlassen«, sagte er.

»Wirklich? Versprichst du es mir?«

»Du weißt, dass ich zurückkomme. Ich würde dich nie verlassen. Und ich möchte, dass du hier bist und mich erwartest, wenn ich heimkehre«, scherzte er. »Also lauf mir nicht mit irgendeinem gut aussehenden GI davon, hörst du?«

Das brachte ein widerstrebendes Lächeln auf ihre Lippen. »Was glaubst du, was für eine Art von Frau ich bin?«

Seine auffallend blauen Augen richteten sich auf ihre. »Meine Frau«, erwiderte er zärtlich.

Für einige Sekunden waren sie in einem Moment der Zweisamkeit gefangen, doch dann wurden sie durch Winnies Stimme draußen unterbrochen, die den Zauber brach.

»Seht mal, was ich habe!«

»Ach, du liebe Güte! Was mag sie jetzt wieder gefunden haben?« Dora lief zur Hintertür, dicht gefolgt von Nick, und sah ihre Tochter mit einem wütend fauchenden, rötlich braunen Fellbündel in den Armen auf sie zukommen.

Winnie strahlte sie an und sah sehr zufrieden mit sich aus. »Ich habe Timmy gefunden«, verkündete sie.

»Das hast du.« Nick ging zu ihr, um ihr den Kater abzunehmen. »Gib ihn her, bevor er dich in Fetzen reißt. Ich werde draußen einen Karton suchen, um ihn mit heimzunehmen.«

Als Nick hinausging, blickte er sich noch einmal rasch zu Dora um. »Es wird alles gut, mein Schatz«, flüsterte er. »Lass dich nur nicht unterkriegen. Mir zuliebe nicht.«

Erst als er draußen auf dem Hof war, erlaubte Dora sich, das Lächeln auf ihren Lippen ersterben zu lassen.

KAPITEL DREI

Juni 1944

»Haben Sie die Nachrichten gehört, Schwester? Die Alliierten sind in Frankreich gelandet.«

Mr. Hopkins, der Oberpförtner, streckte seinen Kopf aus dem Fenster der Pförtnerloge. Seine Augen über seinem borstigen Schnurrbart funkelten vor Begeisterung. »Das ist es, Schwester!«, sagte er triumphierend. »Es hat endlich angefangen!«

»Das hat es, Mr. Hopkins.« Dora versuchte zu lächeln, aber schon jetzt machte sich ein ungutes Gefühl in ihrem Magen breit.

Es hat endlich angefangen.

Sie hatte fast die ganze Nacht lang wach gelegen und den Flugzeugen am Himmel über ihr gelauscht. Es schienen weitaus mehr als sonst gewesen zu sein, und nun wusste sie, warum.

Der Oberpförtner drückte seine Brust heraus und sah zu dem bewölkten Himmel hinauf. »Dies ist ein großer Tag für uns alle«, erklärte er mit seinem singenden Waliser Akzent.

Dora warf an ihm vorbei einen Blick in die Pförtnerloge, wo zwei weitere Pförtner vor dem Radio saßen und sich lachend und scherzend eine Zigarette teilten. Die haben alle gut lachen und können zufrieden mit sich und der Welt aussehen, dachte Dora; schließlich waren nicht sie es, die ihr Leben aufs Spiel setzten.

»Stellen Sie sich vor«, fuhr Mr. Hopkins fort, »in ebendiesem Moment sind unsere tapferen Jungs an diesen französischen Stränden, um es diesen Deutschen heimzuzahlen …«

»In einem unserer Fenster ist das Glas gesprungen«, unterbrach Dora ihn knapp.

Mr. Hopkins runzelte die Stirn. »Wie bitte, Schwester?«

»In der Notaufnahme ist eine der Glasscheiben zersprungen, und durch die Öffnungen dringt sehr kalte Zugluft herein. Könnten Sie irgendwas dagegen tun?«

Der Oberpförtner richtete sich zu seiner vollen Größe auf, mit der er jedoch Dora kaum überragte. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, erwiderte er naserümpfend.

»Danke, dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.«

Als sie weiterging, hörte sie ihn sagen: »Ich fasse es nicht! Habt ihr das gehört? Endlich kommt die Nachricht, auf die wir alle gewartet haben, und sie interessiert sich nicht einmal dafür!« Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ganz schön unpatriotisch nenne ich das!«

Dora verhielt abrupt den Schritt, und ihre Ohren dröhnten von der Wut, die sie erfasste. Sie hatte sich schon halb umgedreht, um zurückzugehen und Hopkins ihre Meinung zu sagen, aber dann zwang sie sich zum Weitergehen.

Es ist nicht Mr. Hopkins’ Schuld, sagte sie sich. Er war nur freudig erregt, weil das Warten vorbei war. Seit die Russen die Deutschen an der Ostfront geschlagen hatten, waren die Alliierten von den Zeitungen bestürmt worden, den Kampf zu den Deutschen in den Westen zu bringen.

Doch Mr. Hopkins hatte ja auch nicht jemanden, den er liebte, in diesem Krieg. Er musste nachts nicht wach liegen und sich Sorgen machen, dass dieser geliebte Mensch nicht wieder heimkehren würde.

Natürlich war sie damit nicht die Einzige. Fast alle, die sie kannte, hatten einen Ehemann, Sohn oder Bruder, die dort draußen kämpften. Viele Leute waren sogar noch viel schlimmer dran als sie. Die arme Mrs. Price hatte ihre beiden Söhne verloren, einen in Dünkirchen und den anderen in Nordafrika.

Dora rief sich ihr Versprechen an Nick in Erinnerung, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Du musst aufhören, dich zu bemitleiden, Dora Riley, sagte sie sich streng. Es war eine schlimme Zeit, aber sie musste sich zusammenreißen und weitermachen, so gut sie konnte.

Doch das würde nicht leicht sein. Sie hatte Angst, dass sie ihre Selbstbeherrschung, an der sie in den letzten sechs Monaten so grimmig festgehalten hatte, schon verlieren würde, wenn sie nur Nicks Namen aussprach.

Das Quietschen ihrer Gummisohlen schallte durch den leeren Gang, der in das Hauptgebäude des Krankenhauses führte. Früher waren dieselben Gänge um diese Zeit bevölkert gewesen von Schwestern, die es alle eilig hatten, ihre Frühschicht zu beginnen. Seit der Gasexplosion vor zwei Jahren, die das halbe Krankenhausgebäude zerstört hatte, waren die meisten Stationen jedoch geschlossen und die Patienten aus London nach Kent in ein Krankenhaus auf dem Land verlegt worden. Auch die meisten der Ärzte und Schwestern waren fortgeschickt worden, während andere zum Militär gegangen waren.

Nur Dora und eine Handvoll anderer Schwestern, Medizinstudenten und VADs, wie die freiwilligen Helferinnen des Roten Kreuzes genannt wurden, waren zur Besetzung der Notaufnahme, der Krankenstationen für Frauen und Männer und der wenigen noch verbliebenen Ambulanzen zurückgelassen worden.

Sie vermisste den Trubel des Krankenhauslebens, die Schwestern, die Ärzte und die mit ihren Rollwagen hin und her eilenden Pflegehelfer. Sie vermisste sogar die strengen Stationsschwestern in ihren grauen Uniformen und mit den weißen Hauben. Die leeren Stationen wirkten schon fast unheimlich, denn die Reihen blanker Metallbetten sahen wie gespenstische Skelette aus.

Kitty Jenkins, die junge Nachwuchsschwester, war schon auf der Männerstation, als Dora eintraf, und plauderte mit Miss Sloan, einer der VADs. Sie gaben ein seltsames Bild ab zusammen, die junge Kitty, die dunkelhaarig und zierlich war, und Miss Sloan mit ihrer ungewöhnlichen Größe und ihren langen, ungelenken Gliedern. An ihren aufgeregten Gesichtern konnte Dora sehen, dass auch sie über die Nachrichten sprachen.

Aus Respekt vor ihrem höheren Rang verstummte Kitty augenblicklich, als Dora erschien, aber Leonora Sloan plapperte munter weiter, gleichgültig wie immer den Feinheiten der Krankenhausetikette gegenüber. Sie war eine Musiklehrerin mittleren Alters, eine wohlmeinende Seele, die sich dem Freiwilligenkorps des Roten Kreuzes angeschlossen hatte, um das Ihre zu den Kriegsanstrengungen beizutragen. Manchmal konnte sie nerviger sein, als ihre Hilfe es wert war, doch an ihrer respekteinflößenden Einstellung konnte Dora nichts bemängeln. Ohne je zu fehlen, kam sie jeden Morgen mit dem Fahrrad aus Essex herübergeradelt und ließ sich weder von gesperrten Straßen noch Luftangriffen, Schnee oder Gewittern aufhalten.

Jetzt kam sie mit einem breiten Lächeln, das ihre hervorstehenden Zähne sichtbar machte, zu Dora herübergeeilt. »Haben Sie die Nachrichten schon gehört, Schwester? Die Alliierten …«

»Ja, ich habe es schon gehört.« Dora behielt ihr Lächeln bei, obwohl es ihr nicht leichtfiel.

»Ist das nicht wunderbar?«

»Ja, das ist es.« Dora wandte sich Kitty zu. »Es sieht ganz so aus, als wäre es eine geschäftige Nacht gewesen, Jenkins.«

»Ja, Schwester. Der Nachtschwester zufolge hatten wir fünf Einlieferungen.«

»Wo ist sie? Ich werde mir bei ihr einen Überblick verschaffen.«

Während die müde Nachtschwester die Einzelheiten der letzten eingelieferten Fälle mit ihr durchging, konnte Dora aus den Augenwinkeln Miss Sloans eingeschnappte Miene sehen. Aber sie versuchte, nicht darauf zu achten, als sie sich auf die Blinddarmentzündung, den mutmaßlichen Herzanfall und den Patienten mit den Verbrennungen konzentrierte, um die sie sich heute würde kümmern müssen. Ganz zu schweigen von den beiden Seemännern mit Magenschleimhautentzündung, die in den frühen Morgenstunden aufgenommen worden waren.

Dora seufzte. »Lassen Sie mich raten – sie hatten sich im White Horse schwer betrunken?« Die Nachtschwester nickte. »Wann werden sie dieses Lokal wohl endlich schließen?«

Sie konnte die Männer schon nicht mehr zählen, die bei ihnen eingeliefert worden waren, nachdem sie dort getrunken hatten. Die Einheimischen wussten, dass sie das White Horse besser mieden, aber Seemänner auf Landurlaub und Soldaten konnten ihr Glück kaum fassen, wenn sie sahen, wie reichlich vorhanden Gin und Whisky waren. Erst wenn sie am nächsten Morgen im Krankenhaus erwachten, erfuhren sie, dass der Schnaps, den sie getrunken hatten, in Wirklichkeit geschmacklich gut getarnter Methylalkohol gewesen war.

»Eines Tages wird dieser Wirt noch jemanden umbringen«, sagte Dora. »Man sollte meinen, dass die Polizei etwas dagegen unternehmen würde, nicht wahr?« Sie strich ihre Schürze glatt und wandte sich an Kitty. »Gut, dann wollen wir mal beginnen, ja?«

Dora hatte es geschafft, Miss Sloans Geschwätz zu entgehen, aber die Patienten konnte sie nicht daran hindern, über die Invasion der Alliierten zu sprechen. Im Laufe des Morgens gab es kein anderes Gesprächsthema auf der Station, solange die Männer über die Nachrichten und ihre mögliche Bedeutung diskutierten.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis einer von ihnen sie bat, das Radio einschalten zu dürfen.

»Ach, kommen Sie, Schwester«, bestürmten sie Dora. »Sie wollen doch sicher auch wissen, was da draußen vorgeht, oder?«

Dora zögerte, denn in Wahrheit war sie hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Bescheid zu wissen, und der Angst davor, mehr zu erfahren.

»Natürlich sollten wir es einschalten«, mischte sich Miss Sloan ein. »Ich weiß nicht, wie es mit den anderen ist«, fuhr sie mit einem ärgerlichen Blick zu Dora fort, »aber ich will auf jeden Fall wissen, was mit unseren tapferen Jungs geschieht.«

Kitty warf Dora einen Seitenblick zu. »Hätten Sie etwas dagegen, Schwester?«

Dora setzte ein Lächeln auf. »Natürlich nicht«, antwortete sie.

Schließlich konnte die Wahrheit nicht einmal halb so schlimm sein wie die grausigen Bilder, die ihre Fantasie in ihr heraufbeschwor.

Kitty Jenkins war ausnahmsweise einmal dankbar für Leonora Sloan und ihre unverblümte Art, denn ohne sie hätte Schwester Riley niemals zugestimmt, das Radio laufen zu lassen. Kitty hatte schon gemerkt, wie still die Stationsschwester ihrer Arbeit nachging und an ihrem Schreibtisch saß und Berichte schrieb, während alle anderen eifrig den stündlichen Meldungen lauschten.

Es war wirklich komisch. Kitty wusste, dass Schwester Rileys Ehemann in Frankreich kämpfte. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, dachte sie, würde ich buchstäblich am Radio kleben und alles hören wollen.

Aber dann erinnerte sie sich daran, dass sie wochenlang keine Zeitung hatte lesen können, nachdem ihr Bruder Ray getötet worden war. Noch über ein Jahr später schrak ihre Mutter zusammen, wenn sie von dem Verlust eines weiteren Schiffs im Nordatlantik hörte.

Heute Morgen entkam man den Nachrichten jedoch nicht. Und selbstverständlich hatte jeder eine Meinung zu dem Gehörten.

»Natürlich werden die Deutschen das nicht tatenlos hinnehmen«, sagte einer der Männer, als Kitty Schwester Riley half, ihn für eine Injektion vorzubereiten. »Ich glaube, jetzt sind wir dran. Jetzt können wir uns auf schwere Bombardierungen gefasst machen, lasst euch das gesagt sein!«

Kittys Hände zitterten, als sie die Injektionsnadel desinfizierte. Sie versuchte, die Männerstimme auszublenden, aber am Rande ihres Bewusstseins dröhnte sie weiter wie eine lästige Wespe.

»Oh ja, es würde mich nicht wundern, wenn sie uns nun jede Nacht unter Beschuss nähmen«, fuhr er fort. »Dann werden wir wieder Nacht für Nacht in diesen Luftschutzbunkern verbringen.«

Kittys Herz begann, fast schmerzhaft hart gegen ihre Rippen zu pochen. Luftangriffe ängstigten sie zu Tode, seit sie einmal in einen hineingeraten war und keine Chance mehr gehabt hatte, Schutz zu suchen.

»Allerdings habe ich auch gehört, dass die Deutschen eine Superwaffe erfunden haben sollen, die in einer Nacht die ganze Londoner City in Schutt und Asche legen könnte. Dagegen wäre der ›Blitz‹ nichts, heißt es …«

Die Nadel rutschte Kitty aus den Fingern und fiel auf den Boden.

»Oh Gott, das tut mir leid …« Sie versuchte, sie aufzuheben, aber Schwester Rileys Hand legte sich warm und fest um ihre.

»Langsam, Jenkins«, sagte sie leise. Dora Riley war keine Schönheit mit ihrer Stupsnase, dem eckigen Kinn und breiten, sommersprossigen Gesicht unter ihrer lockigen roten Mähne. Die Güte und das Verständnis in ihren grünen Augen verwandelten sie jedoch und ließen sie recht hübsch erscheinen.

»Wir sind heute alle ein bisschen nervös, nicht wahr?«, sagte sie freundlich.

Kitty schluckte. »Ja, Schwester.«

Etwas ruhiger, begann sie sich erneut mit der Nadel zu befassen und versuchte, die Stimme des Mannes auszublenden, der die heimtückischen neuen Waffen beschrieb, die die Deutschen für sie auf Lager hatten, und hinzufügte, dass sie mit Sicherheit alle sterben würden.

»Allerdings wäre ihnen keine Zeit geblieben, sie zu erfinden, wenn unsere Leute schneller gewesen wären und sich schon früher zu der Invasion entschlossen hätten«, sagte der Mann, während er sich auf die Seite drehte, um seine Spritze zu erwarten. Jetzt war es Dora, die zitterte, bemerkte Kitty. Aber ein Blick in das verkniffene Gesicht der Stationsschwester genügte, um zu erkennen, dass es unterdrückte Wut und keine Angst war, was ihre Hände zittern ließ.