Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. KAPITEL EINS
  8. KAPITEL ZWEI
  9. KAPITEL DREI
  10. KAPITEL VIER
  11. KAPITEL FÜNF
  12. KAPITEL SECHS
  13. KAPITEL SIEBEN
  14. KAPITEL ACHT
  15. KAPITEL NEUN
  16. KAPITEL ZEHN
  17. KAPITEL ELF
  18. KAPITEL ZWÖLF
  19. KAPITEL DREIZEHN
  20. KAPITEL VIERZEHN
  21. KAPITEL FÜNFZEHN
  22. KAPITEL SECHZEHN
  23. KAPITEL SIEBZEHN
  24. KAPITEL ACHTZEHN
  25. KAPITEL NEUNZEHN
  26. KAPITEL ZWANZIG
  27. KAPITEL EINUNDZWANZIG
  28. KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
  29. KAPITEL DREIUNDZWANZIG
  30. KAPITEL VIERUNDZWANZIG
  31. KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
  32. KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
  33. KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
  34. KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
  35. KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
  36. KAPITEL DREISSIG
  37. KAPITEL EINUNDDREISSIG
  38. KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
  39. KAPITEL DREIUNDDREISSIG
  40. KAPITEL VIERUNDDREISSIG
  41. KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
  42. KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
  43. KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
  44. KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
  45. KAPITEL NEUNUNDDREISSIG
  46. KAPITEL VIERZIG
  47. KAPITEL EINUNDVIERZIG
  48. KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG
  49. KAPITEL DREIUNDVIERZIG
  50. KAPITEL VIERUNDVIERZIG
  51. KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG
  52. KAPITEL SECHSUNDVIERZIG
  53. KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG
  54. KAPITEL ACHTUNDVIERZIG
  55. KAPITEL NEUNUNDVIERZIG
  56. KAPITEL FÜNFZIG
  57. KAPITEL EINUNDFÜNFZIG
  58. KAPITEL ZWEIUNDFÜNFZIG
  59. KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG
  60. KAPITEL VIERUNDFÜNFZIG
  61. NACHWORT
  62. DANKSAGUNG

Über das Buch

London, 1941. Bald ist Weihnachten, und den Schwestern des Nightingale Hospitals steht ein harter Winter bevor. Nach einer verheerenden Bombennacht werden einige von ihnen in ein kleines Dorfkrankenhaus versetzt. So auch Jess, die sich mit dem Umzug aufs Land schwertut. Erst mit der Ankunft ihrer quirligen Freundin Effie scheint sich das Blatt zu wenden. Als dann auch noch ein gut aussehender amerikanischer Soldat im Dorf eintrifft, lässt das die Herzen der Krankenschwestern höher schlagen und mit der ländlichen Ruhe hat es ein Ende …

Über die Autorin

Donna Douglas wuchs in London auf, lebt jedoch inzwischen mit ihrem Ehemann in New York. Ihre Serie um die Schwesternschülerinnen des berühmten Londoner Nightingale Hospitals wurde in England zu einem Überraschungserfolg. Mehr über die Autorin und ihre Bücher erfahren Sie unter www.donnadouglas.co.uk oder auf ihrem Blog unter donnadouglasauthor.wordpress.com.

Donna Douglas

DIE NIGHTINGALE
SCHWESTERN

Ein Weihnachtsfest der Hoffnung

Roman

Aus dem Englischen von
Ulrike Moreno und Dietmar Schmidt

BASTEI ENTERTAINMENT

Für Becki Ward

KAPITEL EINS

In einer kalten, nebligen Novembernacht traf Jess Jago mit dem letzten Zug aus London in Billinghurst ein.

Sie war der einzige Fahrgast, der an dieser verlassenen Haltestelle mitten im Nirgendwo den Zug verließ. Jess stellte ihren Koffer und den Gasmasken-Behälter auf den Boden und versuchte, sich im Nebel und in der Dunkelheit zurechtzufinden. Der Nebel war so dicht, dass sie das Gefühl hatte, gespenstisch feuchte Hände berührten ihr Gesicht.

Sie lachte nervös. Das bildest du dir doch nur ein, Mädchen! Es ist bloß ein bisschen Nebel, nicht schlimmer als der zähe gelbliche Smog, der das East End regelmäßig einhüllte.

Sie holte tief Luft und ärgerte sich über sich selbst, weil sie so angespannt war. Immerhin hatte sie ihr ganzes Leben in Bethnal Green verbracht, wo sie zwischen Gaunern, Dieben und Gott weiß was sonst noch aufgewachsen war, und jetzt hatte sie Angst, weil sie auf dem Land war, umgeben von ein paar Bäumen und … dieser Totenstille.

»Sind Sie die neue Krankenschwester?«

Die leise, heisere Stimme, die aus der Düsternis zu ihr sprach, erschreckte sie zu Tode.

Schnell zog sie ihre Taschenlampe aus der Manteltasche und richtete den Lichtstrahl in den Nebel. Langsam schwenkte sie ihn nach rechts und links und zuckte zusammen, als er plötzlich ein altes graubärtiges Gesicht unter einem formlosen Hut erfasste.

»Machen Sie um Himmels willen dieses Ding aus«, knurrte der Mann. »Oder wollen Sie, dass der Luftschutz auf uns aufmerksam wird und uns für verdammte Deutsche hält?« Er lachte rasselnd. »Was stehen Sie noch da rum? Ich hab nicht die ganze Nacht Zeit, wissen Sie. Es ist schon kurz vor zehn, und einige von uns haben Betten, die sie gern aufsuchen würden. Außerdem ist dieser Nebel Gift für meine Lunge.«

Jess hörte das schwache Klimpern eines Pferdegeschirrs und das Stampfen schwerer Hufe auf dem harten Boden. Als sie den Strahl ihrer Taschenlampe senkte, sah sie einen Wagen und ein dralles graues Pferd, das müde den Kopf hängen ließ.

»Wer sind Sie?«, fragte sie.

»Der Weihnachtsmann, was dachten Sie denn?« Der alte Mann seufzte ungeduldig. »Mein Name ist Sulley – Mr. Sulley für Sie –, und man hat mich hergeschickt, um Sie zum Schwesternheim zu bringen. Also kommen Sie jetzt oder nicht? Sie können natürlich auch zu Fuß gehen, wenn Sie wollen, aber es sind über fünf Meilen, und ich bezweifle, dass Sie in einer solchen Nacht den Weg finden, zumal hier alle Wegweiser entfernt wurden.«

Jess richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf den Boden, während sie ihren Koffer zum hinteren Teil des Wagens trug und ihn auf die Ladefläche hievte, bevor sie wieder um das Fuhrwerk herumging und hinaufstieg, um sich neben den alten Mann zu setzen.

»Na endlich!«, murmelte Sulley. Nachdem er sich laut geräuspert und auf den Boden gespuckt hatte, ließ er die Zügel klatschen, und Pferd und Wagen setzten sich langsam in Bewegung. Die kalte Nachtluft roch nach Dung und feuchter Erde.

Das Schwanken des Wagens hatte eine einschläfernde Wirkung auf Jess, die spürte, wie ihre Augenlider schwerer wurden und sie den Kopf kaum noch aufrecht halten konnte. Sie war tatsächlich todmüde nach der Reise. Der Zug war überfüllt gewesen wie immer und schien sich nur zentimeterweise voran zu bewegen, und zu allem Überfluss hatte er auch noch alle fünf Minuten angehalten, um einen weiteren Truppentransport vorbeizulassen.

Jess hatte mit einem Dutzend junger Soldaten, die alle furchtbar ausgelassen und aufgedreht gewesen waren, in einem sehr beengten Abteil gesessen. Sie hatte ihre Sandwichs mit ihnen geteilt, und sie hatten sie zum Lachen gebracht mit ihrem Gesang und ihren Scherzen. Die jungen Männer erinnerten sie an Sam, der genauso lustig war und sich weigerte, das Leben ernst zu nehmen.

Doch Jess hatte genug Leid und Trauer gesehen und genug verwundete Soldaten im Nightingale gepflegt, um zu wissen, was ihnen widerfahren konnte. Sie lachte mit ihnen, blickte in ihre strahlend lächelnden Gesichter und ertappte sich gleichzeitig dabei, dass sie sich fragte, wie viele von ihnen wieder heimkehren würden.

Und erneut erschien ein Bild von Sam vor ihrem inneren Auge, das sie wie immer schnell verdrängte. Sie konnte es sich nicht leisten, den Ängsten nachzugeben, die in den düstersten Winkeln ihres Verstandes lauerten und nur darauf warteten, sie anzuspringen, wenn sie es zuließ.

Sulley hatte zu reden begonnen. »Das Dorf ist jetzt voller Londoner«, brummte er. »Mit euch vom Krankenhaus und all den Evakuierten ist es schlimmer als zur Hopfenernte. Es fühlt sich kaum noch wie unser Zuhause an.«

Jess reagierte leicht gereizt auf seine Worte. »Es war nicht unsere Entscheidung, hier herunterzukommen«, entgegnete sie heftig. »Wir müssen hingehen, wohin man uns schickt.«

Sie hätte London bestimmt nicht verlassen, wenn sie in dieser Sache ein Wörtchen mitzureden gehabt hätte. Die Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe hatten sowohl dem East End als auch dem Nightingale Hospital buchstäblich das Herz herausgerissen, und es war illoyal, fand sie, es in der Stunde der Not im Stich zu lassen.

Aber die Oberin war nicht umzustimmen gewesen. Die meisten der Patienten waren aus London evakuiert und in den kleineren Ableger des Nightingale Hospitals in Kent verlegt worden, wo mehr Schwestern gebraucht wurden.

»Es wird vielleicht nur für ein paar Monate sein«, hatte die Schwester Oberin gesagt. »Aber bis wir die Stationen hier wieder öffnen können, werden Sie dort unten nützlicher sein als hier. Außerdem bin ich mir sicher, dass Sie die frische Landluft sehr begrüßen werden«, hatte sie mit einem kleinen Lächeln hinzufügt. »Eine Veränderung wird Ihnen guttun.«

Sie hatte es so hingestellt, als würde sie Jess einen Gefallen tun. Falls sie das wirklich glaubt, kennt sie mich nicht, dachte Jess. Sie war in den ärmlichen Gassen des East End geboren und aufgewachsen, und seit dem Moment ihrer Geburt hatte sie den Smog auf ihrer Zunge geschmeckt und in ihrer Lunge gespürt. Sie war gewöhnt an das Geschrei der Straßenhändler, den Geruch der Docks und der Klebstofffabrik und das Gerumpel von Straßenbahnen und Bussen. Und nach zwei Jahren Krieg hatte sie sich auch an das Heulen der Luftschutzsirenen gewöhnt, an das donnernde Einschlagen der Bomben, den Gestank des Schießpulvers und den erstickenden Staub, der auf einen jeden Angriff folgte. Sie hatte keine Zeit für das Landleben oder die Leute dort.

Ein solch unheimlicher Schrei erklang aus dem Nebel, dass Jess entsetzt von ihrem Sitz hochfuhr.

»Was zum Teufel war das?«, rief sie erschrocken.

Sulley lachte. »Nur eine Eule. Keine Bange, die wird Ihnen nichts tun.« Er griff in seine Tasche und zog eine Kippe hervor, die er sich zwischen die Zähne steckte und mit einer Hand anzündete, während er mit der anderen das dicke alte Pferd unter Kontrolle hielt, auch wenn das bei diesem Tier kaum nötig gewesen wäre. Jess’ eigene Füße hätten sie schneller vorangebracht als der gleichmäßige Trott der alten Stute.

Wieder überkam Jess Müdigkeit, und diesmal musste sie wirklich eingeschlafen sein, denn ehe sie sichs versah, blieb der Wagen mit einem Ruck stehen.

»Da sind wir«, sagte der alte Mann. »Trautes Heim, Glück allein.«

Jess spähte in die neblige Dunkelheit hinaus. »Ich kann überhaupt nichts sehen.«

»Das Schwesternheim liegt hinter diesem Tor und ein Stückchen weiter den Weg hinauf. In dem Schwesternheim im Krankenhaus war kein Platz für euch Londoner, deshalb mussten sie ein paar alte Wirtschaftsgebäude einer Farm umbauen.«

Jess rümpfte die Nase. Ein starker Geruch nach Dung hing in der Luft. »Hier riecht es ja wie in einem Schweinestall!«

»Richtig.« Sulley lachte. »Und ich wage zu behaupten, dass es genau das ist, woran ihr Londoner gewöhnt seid.« Sein Lachen wurde zu einem pfeifenden Husten, und er spuckte wieder auf den Boden.

Jess warf ihm einen bösen Blick zu. Zumindest stinke ich nicht wie eine alte Ziege, dachte sie. Der Mantel, den er trug, roch stark nach Schweiß und Zigaretten.

Sie stieg vom Bock des Wagens und hob ihren Koffer von der Ladefläche, während der alte Mann ihr zusah und an seiner dünnen Kippe zog.

»Ich werde morgen in aller Frühe hier sein, um Sie abzuholen«, rief er ihr nach, als sie ging und ihren Koffer hinter sich herzog.

Dann drehte sie sich doch noch einmal um. »Sie werden was?«

»Ich muss Sie und die anderen Schwestern zum Krankenhaus hinunterbringen, weil Sie sonst zwei Meilen laufen müssten.« Er klatschte mit den Zügeln, und das alte Pferd trappelte in die Dunkelheit hinein, bevor Jess etwas erwidern konnte.

Das Schwesternheim, sofern man es so nennen konnte, befand sich am Ende einer mit tiefen Spurrillen durchzogenen Holperpiste. Es war ein langgestrecktes, flaches Gebäude mit groben, weißgetünchten Wänden, an dessen Eingangstür ein Eimer stand, der die Wassertropfen auffing, die von dem klapprigen alten Blechdach fielen.

Jess straffte ihre Schultern. Na ja, wer A sagt, muss auch B sagen, dachte sie und klopfte an die Tür.

Sie wurde ihr von einer großen älteren Frau in einem schlichten grauen Kleid und einer dazu passenden Haube geöffnet. Jess erkannte in ihr sofort Miss Carrington, eine der gefürchtetsten Stationsschwestern des Nightingale Hospitals, und ihr sank das Herz bis in die Schuhe. Als Oberschwester auf der Frauenstation für Chronische Erkrankungen in London hatte Gertrude Carrington regelmäßig Schwesternschülerinnen zum Weinen gebracht. Jess mochte sich gar nicht vorstellen, wie sie als Heimschwester sein würde, deren Aufgabe darin bestand, für das Wohl der Schwestern zu sorgen.

Nachdem sie Jess einen Moment lang von oben herab gemustert hatte, sagte sie kühl: »Sie wurden schon vor über einer Stunde hier erwartet, Schwester Jago.«

Und auch Ihnen einen schönen guten Abend, dachte Jess. »Der Zug hatte Verspätung, Schwester.«

Miss Carringtons Augen verengten sich. »Sie sollten besser hereinkommen. Und ziehen Sie diese Schuhe aus«, befahl sie. »Ich will nicht, dass Sie damit das ganze Haus beschmutzen.«

Drinnen wirkte das Gebäude nicht einladender als von außen. Die Luft war schneidend kalt und roch nach Feuchtigkeit. Jess’ Atem kringelte sich wie eine dünne weiße Rauchfahne, als sie der Heimschwester über einen langen Gang folgte, von dem zu beiden Seiten Türen abgingen.

»Wie Sie sehen können, ist unsere Unterkunft ein bisschen – einfach«, sagte Miss Carrington nüchtern. »Aber es herrscht Krieg, und deshalb müssen wir das Beste daraus machen.« Sie fixierte Jess mit ihrem kalten Blick. »Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie, auch wenn Sie sich nicht in London befinden, nach wie vor eine Schwester des Nightingale Hospitals sind, von der erwartet wird, dass sie die Richtlinien Ihrer Ausbildung als verbindlich betrachtet.«

»Selbstverständlich, Schwester.«

»Die Regeln in diesem Heim sind die gleichen wie in London. Keine männlichen Besucher, egal zu welcher Zeit, und um halb elf Uhr abends wird das Licht gelöscht. Die Haustür wird um zehn Uhr abgeschlossen, und bis dahin haben Sie hier zu sein, es sei denn, Sie hätten eine Sondererlaubnis von der Schwester Oberin. Haben Sie das verstanden?«

»Ja, Schwester.« Jess blickte auf ihre bestrumpften Füße herunter, damit Miss Carrington ihr Schmunzeln nicht sah. Sie kannte keine Schwester, die diese Regeln nicht mindestens einmal missachtet hatte. Den meisten von ihnen gelang es, direkt vor der Nase ihrer Vorgesetzten ein sehr munteres und geselliges Leben zu führen. Als sie den Gang hinunterging, dachte Jess bereits, wie leicht es sein würde, durch ein offenes Fenster hinauszuschlüpfen, nachdem das Licht gelöscht worden war. Hier würde sie auch nicht ihr Leben riskieren, weil sie an der Regenrinne hinaufklettern musste.

Dann fiel ihr wieder ein, dass sie sich hier mitten im Nirgendwo befand und meilenweit entfernt von was auch immer … Wozu sollte man sich hier nachts hinausschleichen, wenn es weder ein Tanzlokal, ein Kino oder sonst etwas Vergleichbares gab?

Außerdem war sie ohnehin kaum noch ausgegangen, seit Sam eingezogen worden war. Ihr war nicht wohl dabei, auszugehen und sich zu amüsieren, während er …

Sie hatten das Ende des langen Korridors erreicht, und Miss Carrington öffnete die allerletzte Tür. »Das hier ist Ihr Zimmer«, erklärte sie.

Es war so klein, dass es kaum genug Platz für die beiden schmalen eisernen Bettgestelle bot, zwischen denen eine Kommode stand. Auf jedem Bett lag ein kleiner Stapel gestärkter und gebügelter Bettwäsche. Über einem der Betten befand sich dicht unter der Decke ein schmales, mit einem schweren Verdunkelungsvorhang verhängtes Fenster. Jess betrachtete es stirnrunzelnd. Vielleicht hatte sie sich ja geirrt, was das Hereinschleichen nach dem Löschen des Lichts betraf. Durch diesen kleinen Spalt zu schlüpfen, wäre in etwa so, als wollte man sich durch einen Briefkastenschlitz zwängen.

»Wir erwarten nächste Woche noch eine Schwester aus Irland, doch bis dahin werden Sie das Zimmer ganz für sich alleine haben«, sagte Miss Carrington. »Zum Badezimmer müssen Sie den Gang hinuntergehen, es liegt hinter der vierten Tür auf der rechten Seite. Am anderen Ende des Gebäudes gibt es einen Gemeinschaftsraum für die Schwestern, falls Sie ihn benutzen möchten.« Ihre Oberlippe kräuselte sich missbilligend. »Allerdings liegt er direkt neben meinem Zimmer, wo ich nicht gestört zu werden wünsche. Das bedeutet, keine Musik, kein Tanz, kein lautes Lachen und kein Übermut.«

»Ja, Schwester.«

»Der Fahrer wird Sie und die anderen Schwestern morgen früh um halb sieben abholen und zum Krankenhaus hinüberfahren«, fuhr Miss Carrington fort. »Dort sollten Sie sich unverzüglich im Büro der Schwester Oberin melden, die Sie einer Station zuweisen wird. Wie Sie wissen, müssen wir uns das hiesige Krankenhaus teilen, und daher werden Sie sich sofort bei der Schwester Oberin, Miss Jenkins, melden.« Sie schnupperte an Jess’ Kopf und rümpfte die Nase. »Und vergessen Sie nicht, ein Bad zu nehmen, bevor Sie zu Bett gehen. Ich sehe schon, dass ich mit Mr. Sulley noch einmal über den Transport von Mist auf seinem Wagen reden muss!« Sie verdrehte ein letztes Mal die Augen, dann ließ sie Jess allein.

Die lauschte den sich entfernenden Schritten der Heimschwester und setzte sich dann auf das Bett. Die dünne Rosshaarmatratze gab kaum nach, aber sie konnte schon jetzt die Sprungfedern des alten Betts unter der Matratze spüren und wollte sich gar nicht erst vorstellen, wie es sein würde, darauf zu schlafen.

Jess streifte ihre Handschuhe ab und massierte ihre vor Kälte wie erstarrten Finger. Sie pochten und schmerzten, als das Blut in sie zurückfloss, sodass Jess sehnsüchtig an ihre Unterkunft in London denken musste. Auf dem Höhepunkt der Bombenangriffe waren alle Schwestern, Oberschwestern, Ärzte und Schülerinnen dazu übergegangen, im Keller des Nightingale zu schlafen. Dort war es zwar heiß, beengt und manchmal auch sehr unheimlich gewesen, wenn die Bomben auf sie niederregneten, aber Jess hätte all die Unannehmlichkeiten diesem eisig kalten Raum gerne vorgezogen.

Ohne ihren Mantel abzulegen, machte sie sich daran, das Bett zu beziehen. Die dünne Decke und die Laken sahen nicht so aus, als ob sie sie warmhalten würden.

Für einen Moment betrachtete sie das leere Bett neben sich, dann nahm sie die Decke von dem ordentlich gefalteten Bettzeug und breitete sie über ihrer eigenen aus. Wenn ihre neue Zimmerkameradin kam, würde sie sie wieder abgeben, doch bis dahin brauchte sie sie dringend.

Sowie das Bett gemacht war, packte sie ihre Sachen aus. Viel hatte sie nicht mitgebracht. Ihre Bücher stellte sie ordentlich nebeneinander auf das Fensterbrett und die gerahmte Fotografie von Sam daneben. Für einen Moment hielt sie inne und strich mit der Fingerspitze über die Konturen seines gutaussehenden Gesichts. Er sah so ernst aus in seiner Uniform, dass sie den frechen jungen Mann kaum wiedererkannte, der sich vor vier Jahren mit seinen Scherzen den Weg in ihr Herz erschlichen hatte.

Sie konnte sich gut vorstellen, wie er sie jetzt auslachen würde. »Nun sieh doch nur, wie du dich anstellst«, würde er sagen. »Glaub mir, das Leben könnte sehr viel schlimmer sein!«

Und er hätte recht damit, dachte Jess, als sie sich auf dem harten Bett ausstreckte, weil ihr die Augen zufielen. Wie Miss Carrington gesagt hatte, befanden sie sich im Krieg und mussten das Beste aus ihren Möglichkeiten machen.

Und wie schlimm konnte es schon werden?

KAPITEL ZWEI

Selbst mit einer zweiten Decke und fast vollständig bekleidet, fror Jess in jener Nacht viel zu sehr, um Schlaf zu finden, und war daher völlig übernächtigt, als Mr. Sulley am nächsten Morgen mit seinem Pferdekarren vorfuhr, um sie und ein Dutzend anderer verschlafen aussehender Schwestern ins Krankenhaus zu bringen. Da es um halb sieben noch stockfinster war, saßen die jungen Frauen dicht zusammengedrängt hinten auf der Ladefläche, um sich gegenseitig zu wärmen, und hüllten sich fest in ihre Umhänge.

»Wenigstens regnet es nicht«, bemerkte das Mädchen neben Jess, eine sympathisch aussehende Stationsschwester namens Alice Freeman. »Dann ist es noch viel schlimmer. Vor allem, wenn Mr. Sulley die Plane nicht hochziehen will.«

»Sie meinen, er lässt es zu, dass Sie einfach nass werden?«, sagte Jess ungläubig.

»Wir sind manchmal durchnässt bis auf die Haut.« Alice nickte düster. »Wir sind alle erkältet, und Schwester Owen wurde letzte Woche mit einer Lungenentzündung auf die Krankenstation fürs Personal geschickt.«

Nachdem auch die anderen Schwestern ihre Horrorgeschichten über das Leben außerhalb Londons erzählt hatten, war Jess mehr als nur deprimiert, als sie die Krankenhaustore erreichten.

Hinter den anderen kletterte sie vom Wagen und fand sich vor hohen Mauern und imposanten schmiedeeisernen Toren wieder. Der Morgen brach gerade an, und so konnte sie vor dem trüben schiefergrauen Himmel die dunklen Umrisse eines großen, soliden Bauwerks am Ende einer langen, sanft geschwungenen Auffahrt erkennen.

»Das ist das Spital. Furchterregend, nicht?«, flüsterte Alice neben ihr. »Früher war es wohl ein Irrenhaus, dann wurde es geschlossen und in ein Krankenhaus verwandelt. Wir vermuten übrigens alle, dass es dort spukt.«

Es sah nicht gerade einladend aus, das stand fest. Nun, da sich ihre Augen an das heller werdende Licht gewöhnten, konnte Jess ein trostloses dreistöckiges Gebäude mit schnurgeraden Reihen von Fenstern sehen, die für ein so großes Gebäude viel zu klein erschienen. Sie sahen aus wie Dutzende von leeren Augen, die zu ihr hinunterstarrten.

»Ich glaube nicht an Gespenster«, sagte sie.

»Ist wahrscheinlich auch besser«, erwiderte Alice.

Sie eilten die Einfahrt hinauf, und Alice zeigte zum Hauptgebäude hinüber, in dem sich das Büro der Oberin befand.

»Sieh dich vor«, sagte sie zu Jess. »Sie wird bestimmt ziemlich ruppig sein. Sie behandelt alle Londoner Krankenschwestern so.«

»Warum?«

»Keine Ahnung. Wir glauben, sie ist verärgert darüber, dass wir ihr Krankenhaus übernommen haben.« Alice verdrehte die Augen. »Als ob es unsere Schuld ist, dass wir hier sind.«

»Ist sie wirklich so schlimm?«

Alice warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Sie ist nicht annähernd so wie unsere liebe Miss Fox, so viel ist sicher.«

Eine besorgt dreinschauende Reihe von Schwestern wartete bereits vor dem Büro der Oberin, als Jess dort ankam. Eine von ihnen trug den Beweis für ihr Vergehen, ein zerbrochenes Thermometer, in einer Schale bei sich.

Als Jess sich am Ende der Reihe anstellte, hörte sie die beiden Schwestern vor sich miteinander flüstern.

»Was hast du gemacht?«, fragte die eine die andere.

»Ich hab mir nur die Reste vom Teller eines Patienten genommen. Was hätte ich tun sollen, die Oberschwester hat mir die Pause für das Abendessen gestrichen, und ich war völlig ausgehungert. Jetzt werde ich wegen einer blöden Kartoffel einen halben freien Tag verlieren!«

Nur allzu bald war Jess an der Reihe und wurde ins Büro der Oberin zitiert. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, saß Miss Jenkins hinter ihrem Schreibtisch. Sie war älter als Miss Fox, kräftiger gebaut und gab sich viel herrschaftlicher. Kein Lächeln zierte das Gesicht unter der kunstvoll gearbeiteten Haube aus gestärktem Leinen, als sie Jess über den Rand ihrer Brille hinweg musterte.

»Wer sind Sie?«, fragte sie.

»Jess Jago, Schwester Oberin. Ich wurde aus London hergeschickt.«

»Noch eine?« Miss Jenkins schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Also wirklich! Wir sind auch so schon überlaufen. Braucht Miss Fox denn keine Schwestern? Sie scheint ja sehr erpicht darauf zu sein, Sie alle hierherzuschicken.«

»Ich bin mir sicher, dass sie Ihnen nur helfen will, Schwester Oberin.«

Jess merkte sofort, dass sie genau das Falsche gesagt hatte, als Miss Jenkins’ blassblaue Augen sich verhärteten.

»Wollen Sie damit andeuten, dass ich Hilfe brauche?«, fauchte sie. »Womöglich glauben Sie ja nicht, dass meine Schwestern ihrer Aufgabe gewachsen sind?«

»Nein, ich wollte damit nicht …«, begann Jess, aber Miss Jenkins unterbrach sie.

»Das ist das Problem mit euch Londoner Schwestern, dass ihr euch anscheinend für allwissend haltet. Ich möchte wetten, dass auch Sie gekommen sind, um den Landeiern hier das eine oder andere beizubringen?«

Jess versuchte erneut zu protestieren, aber Miss Jenkins ließ sie noch immer nicht zu Worte kommen.

»Lassen Sie sich von mir etwas gesagt sein, Jago. Ich habe dieses Krankenhaus dreißig Jahre lang geführt und glaube zu wissen, was ich tue. Und ich muss zugeben, dass ich es satthabe, von Außenseitern gesagt zu bekommen, was wir hier zu tun und zu lassen haben. Als ob Ihre Londoner Ausbildung Sie irgendwie zu etwas Besserem gemacht hätte!«

Dann verstummte sie und errötete ein wenig. »Na gut«, sagte sie schließlich etwas ruhiger. »Da Sie schon einmal hier sind, sollten Sie sich auch nützlich machen. Melden Sie sich bei Oberschwester Allen auf der Gynäkologischen. Sie wird wissen, was sie mit Ihnen anstellen kann, denke ich. Und schicken Sie mir auf dem Weg hinaus bitte das nächste Mädchen herein.«

Und das war es auch schon. Jess war noch immer wie betäubt, als sie wieder zur Eingangstür hinaus- und die Steinstufen hinunterging.

Natürlich hatte sie nicht erwartet, dass die Oberin sie in die Arme schließen und sich dafür bedanken würde, dass sie ihr zu Hilfe kam. Aber es wäre schön gewesen, sich wenigstens nicht so unerwünscht zu fühlen …

»Vorsicht!«

Jess fuhr herum und sah ein Fahrrad auf sich zukommen. Der Fahrer trat wie wild in die Pedale und wurde immer schneller, fast so, als wollte er sie umfahren. Jess konnte gerade noch zur Seite springen, bevor er an ihr vorbeischoss.

»Passen Sie doch auf!«, rief sie ihm nach. »Sie hätten mich beinah umgefahren.«

»Sie sollten hier aber auch nicht so herumtrödeln«, schrie der junge Mann ihr über seine Schulter zu.

»Und Sie nicht auf dem Weg fahren. Sie sind ja eine Gefahr für die Allgemeinheit!«

Aber er war schon weg, und sein Schal flatterte im frühen Morgenlicht hinter ihm her wie eine Flagge.

Sie fand die Gynäkologie im obersten Stock des Hauptgebäudes. Wie die Station im Nightingale in London war es ein weitläufiger Raum mit hohen Decken, der nach Bohnerwachs und Desinfektionsmittel roch. Vierzig Betten standen sich in zwei langen Reihen an den Wänden gegenüber, hinzu kamen ein langer Tisch und der Schreibtisch der Stationsschwester in der Mitte der Station.

Schwester Allen war ebenso wenig erfreut über ihren Anblick, wie Miss Jenkins es gewesen war.

»Und die Schwester Oberin hat Sie zu mir geschickt?«, fragte sie seufzend. Sie war etwa Ende zwanzig und hatte rotblondes Haar und Sommersprossen. »Na ja, sie wird wohl ihre Gründe haben. Sie können Maynard bei den Bädern helfen. Dann machen Sie die Betten und richten die Patienten für die Arztvisite um halb elf her. Glauben Sie, dass Sie das schaffen?«

»Ja, Schwester.«

»Hm.« Schwester Allen machte ein Gesicht, als bezweifelte sie das sehr. »Aber Sie können ja Maynard fragen, wenn Sie nicht mehr weiterwissen. Nur kommen Sie nicht zu mir, ich bin beschäftigt.«

Jess fand Maynard im Badezimmer, wo sie Handtücher auf der Heizung vorwärmte. Sie war eine lebhafte grünäugige Blondine und etwa im gleichen Alter wie Jess.

»Oh, hallo«, begrüßte Maynard sie über die Schulter. Sie war der erste Mensch, der Jess anlächelte, seit sie durch das Krankenhaustor getreten war. »Wo kommen Sie denn plötzlich her?«

»Ich bin Schwester Jago und wurde aus London hierher versetzt.«

»Wirklich? Sie Arme.« Das Mädchen machte ein mitfühlendes Gesicht. »Ich bin Schwester Maynard, aber Sie können mich Daisy nennen.«

»Was kann ich tun, um Ihnen zu helfen?«

»Mrs. McCready braucht ein Pflegebad. Sie ist Diabetikerin, und ihre Haut juckt wie verrückt. Glauben Sie, Sie könnten das Leinsamensäckchen für mich vorbereiten? Im Vorbereitungsraum nebenan finden Sie alles, was Sie brauchen.«

»Dann mache ich das gleich.« Als Jess sich abwandte, fiel ihr Blick rein zufällig auf den Inhalt der Badewanne. »Ist es normal, dass das Wasser diese Farbe hat?«, fragte sie erschrocken.

»Oh ja, es ist immer braun, wenn man die Hähne nicht schon ewig vorher aufdreht«, erwiderte Daisy fröhlich. »Ich glaube, die Rohre sind verrostet oder so etwas.«

»Sollte die Oberschwester nicht jemanden danach sehen lassen?«

»Oh, das hat sie schon versucht. Aber hier einen vernünftigen Klempner zu finden ist nahezu unmöglich, da fast alle Männer eingezogen wurden. Wir müssen mit dem vorliebnehmen, was wir haben.«

Jess beäugte das schmutzig-braune Wasser, denn es sah alles andere als unbedenklich aus. »Und wenn Sie ein heißes Getränk für die Patienten machen wollen?«

»Die Oberschwester sagt, das sei in Ordnung, solange wir das Wasser richtig abkochen. Und die meisten Patientinnen sind sowieso zu krank, um sich über den fauligen Geschmack zu beklagen!« Sie warf Jess ein entschuldigendes Lächeln zu. »Ich möchte wetten, dass Sie in London an was anderes gewöhnt sind, nicht?«

Jess dachte an die Arbeit in dem ausgebombten Krankenhaus, wo sie jeden Morgen abgebröckeltes Mauerwerk von den Böden gefegt und stundenlang Instrumente auf Spiritusbrennern abgekocht hatte, wenn der Strom ausgefallen war. Einmal hatte sie sogar bei einer Operation ausgeholfen, um dem Chirurgen mit einer Taschenlampe über die Schulter zu leuchten.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte sie. »Auch wir mussten mit dem vorliebnehmen, was wir hatten, und das Beste daraus machen.«

»Ich würde liebend gern nach London gehen«, sagte Daisy, während sie ein weiteres Badetuch entfaltete. »Sie werden es hier bestimmt sehr langweilig finden, da wir nur alte Damen mit Diabetes, Herzproblemen und Bronchitis haben.«

Jess ging zu dem Vorbereitungsraum, der nicht mehr als eine winzig kleine Kammer mit Regalen und Glasschränken war, die mit einer Vielzahl von Präparaten in Töpfchen und Flaschen gefüllt waren. Zwei andere Schränke enthielten Geräte und Verbandsmaterial. Direkt vor Jess befand sich eine Arbeitsfläche mit einem Spülbecken und einer Herdplatte.

Jess fand einen Topf in dem Schrank darunter, füllte ihn mit Wasser und stellte ihn auf die Herdplatte. Als sie den Sack mit Leinsamen vom Boden aufheben wollte, flitzte etwas an ihr vorbei.

»Eine verflixte Maus!«, rief sie und lief ihr nach, um sie einzufangen, aber das Tier war schon in einem Loch in der Bodenleiste verschwunden.

»Ich weiß. Sie sind leider überall«, sagte Daisy Maynard, die hinter ihr stand. »Aber sie sind nicht einmal annähernd so schlimm wie die Ratten.«

»Ratten?« Jess fuhr entsetzt herum.

»Es sind nicht viele«, versicherte Daisy ihr schnell. »Und hier oben sehen wir sie nur äußerst selten. Sie halten sich hauptsächlich auf den Fieberstationen auf«, sagte sie, als ob Jess das beruhigen könnte.

Sie sah sich die angeknabberte Ecke des Jutesacks genauer an und hoffte, dass sie nie einen Schaden würde begutachten müssen, den eine Ratte anzurichten vermochte.

Während sie sich an das Abwiegen des Leinsamens machte, ihn dann in ein Säckchen gab und alles aufkochte, stand Daisy in der Tür und plauderte. Jess erfuhr, dass sie einundzwanzig war, ihre Eltern nicht mehr lebten, und sie bei ihren Brüdern und Schwestern wohnte. Einer ihrer Brüder war in der Armee, und ihre ältere Schwester arbeitete als Hausmädchen auf Billinghurst Manor, wo sie alle in einer der Bauernkaten auf dem Schlossgut lebten.

Jess fand auch heraus, dass Oberschwester Allen so verbittert war, weil ihr Freund, ein Marineoffizier, ihr den Laufpass gegeben hatte und die vorherige Stationsschwester auf der Gynäkologischen das Krankenhaus »aus familiären Gründen« urplötzlich hatte verlassen müssen.

»Und wir alle wissen ja, was das bedeutet, nicht?«, bemerkte Daisy mit einem Seitenblick zu Jess.

»Ach ja?«

»Na, kommen Sie – Sie wissen, was ich meine!« Daisy streckte ihren Bauch heraus und mimte die Schwangere. »Obwohl ich ehrlich gesagt erstaunt bin, wie sie es geschafft hat, sich in Schwierigkeiten zu bringen, wo es im Dorf doch kaum noch Männer gibt. Oder zumindest keinen, mit dem man gern gesehen würde. Wenn Sie einen anständigen Mann finden wollen, müssen Sie schon bis Tunbridge Wells fahren, und es gibt nur einen Bus am Tag, der hin- und wieder zurückfährt«, erklärte sie seufzend.

Jess nahm das Säckchen aus dem kochenden Wasser, legte es zum Abseihen in ein Sieb und hob den Topf hoch. »Ich mache das schon«, sagte sie schnell, bevor Daisy weiterreden konnte. Jess war nämlich inzwischen zu dem Schluss gelangt, dass Daisy Maynard eine schreckliche Klatschtante war und es bestimmt nicht lange dauern würde, bis auch über sie im Krankenhaus getratscht werden würde.

Irgendwann gelang es Jess, Daisys Geplapper lange genug zu entkommen, um die eine oder andere Arbeit zu erledigen. Sie machte Betten oder strich die Laken glatt, reinigte Zahnprothesen, kämmte Haare, wusch Gesichter und rieb schmerzende Rücken und Schultern mit großzügigen Mengen Methylalkohol ein.

Und dann wurde es Zeit für die Arztvisite. Jess hatte ihre Ärmel heruntergerollt und befestigte noch ihre gestärkten Manschetten, während sie zu Daisy und Schwester Allen hinausging, die auf dem Gang vor den Türen zur Station standen.

»Du liebe Güte, Jago – was für eine schlampige Erscheinung!«, zischte Schwester Allen. »Ich weiß nicht, was für Maßstäbe Sie in London hatten, aber hier geht das so nicht. Sorgen Sie dafür, dass Sie in Zukunft anständig gekleidet sind.«

»Ja, Schwester.« Jess blickte an sich herab und konnte nichts feststellen, was Kritik verdiente, aber sie wusste, dass man einer Stationsschwester besser nicht widersprach.

Im nächsten Moment kamen auch schon die Ärzte den Gang hinauf. Beide waren angehende Assistenzärzte, zwei junge Männer in den Zwanzigern, von denen der eine dunkelhaarig und gutaussehend war, während der andere strubbeliges braunes Haar hatte, eine Brille trug und etwas unbeholfen wirkte. Jess erkannte in dem Unbeholfenen sofort den jungen Mann, der sie morgens mit seinem Rad fast umgefahren hatte.

Falls auch er sie erkannte, zeigte er es nicht. Sein ernster Blick glitt über sie hinweg zu Schwester Allen.

»Dr. Drake«, flüsterte Daisy. Ihre herabgezogenen Mundwinkel verrieten Jess alles, was sie wissen musste. »Und der gutaussehende ist Dr. French.«

Dr. French war auch viel freundlicher. Zuerst begrüßte er Schwester Allen und Daisy, dann wandte er sich an Jess.

»Und wen haben wir denn da?«, sagte er augenzwinkernd. Sein dunkles Haar war glatt aus seiner hohen Stirn zurückgekämmt, und seine Oberlippe zierte ein schmaler Schnurrbart, sodass er Errol Flynn ähnelte.

Jess räusperte sich nervös. »Schwester Jago, Sir.«

»Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Schwester Jago.« Seine gewinnenden Manieren verwirrten sie. Das letzte Mal, dass ein Arzt sie direkt angesprochen hatte, war im Nightingale gewesen, wo Dr. Prentiss, der Hals-, Nasen- und Ohrenarzt, sie angefahren hatte, weil sie ihm die falsche Pinzette angereicht hatte.

Dr. Drake seufzte ungeduldig. »Können wir weitermachen?«, sagte er. »Wir haben noch einige Patienten vor uns.«

»Ja, ja, natürlich. Wir alle wissen, was für ein vielbeschäftigter Mann Sie sind, Dr. Drake.« Hinter dem Rücken seines Kollegen grinste Dr. French die Krankenschwestern spöttisch an. »Gehen Sie voran, Schwester«, forderte er Schwester Allen auf. »Nach Ihnen, Dr. Drake.«

Sie hätten nicht unterschiedlicher sein können, dachte Jess. Dr. Drake war dünn wie ein Strich in der Landschaft und verbreitete Ungeduld und Eile, während Dr. French sich lieber Zeit nahm. Er blieb bei jeder Patientin auf ein Schwätzchen stehen, hielt ihre Hände und bot ihnen Zigaretten an. Die Frauen gerieten ins Schwärmen, als wäre ein Filmstar zu Besuch gekommen.

Dr. Drake dagegen stand die ganze Zeit über seufzend am Fußende des Betts, und Jess konnte den schnellen Puls am Ansatz seines Halses sehen.

»Nimmt Dr. French sich immer so viel Zeit für seine Runden?«, fragte sie Daisy.

»Das kommt darauf an. Manchmal dauert es auch noch länger – es sei denn, Dr. Drake macht die Visite alleine, dann ist sie in fünf Minuten vorbei. Aber Dr. French ist geduldig, und deshalb ist er auch so beliebt bei allen. Er ist wunderbar, nicht?«, schloss sie seufzend.

»Das ist Geschmackssache.« Jess warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war fast Zeit zum Mittagessen, und sie waren nicht einmal annähernd fertig. Wieder einmal vermisste sie schmerzlich die Stadt, wo die Leute nichts übereinander wussten. Wo es festgelegte Arbeitsabläufe gab, die schnell und effizient erledigt wurden, und wo die Hähne kein rostiges Wasser ausspuckten.

Jess glaubte nicht, dass sie sich je an das Landleben gewöhnen würde.