eISBN: 978-3-939586-30-2

© 2019 Starks-Sture Verlag
Anna Starks-Sture
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Coverzeichnung: Denise Rösel

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Wie der Falter in das Licht

Selbstakzeptanz in der Borderline-Beziehung

Manuela Rösel

Meinen Klienten …

Die Weisheit eines Menschen misst man nicht nach seiner Erfahrung,
sondern nach seiner Fähigkeit, Erfahrungen zu machen.

(George Bernard Shaw )

Der Falter und das Licht

Ein Falter fliegt durch die Dunkelheit,
allein im Raum der Unendlichkeit,
ein Niemand im Schatten der Nacht.
Gefangen in der Finsternis,
die ihn noch nie entkommen ließ,
in die Ewigkeit des Lichts.

Er sucht das Glück, Vollkommenheit,
Liebe und Geborgenheit,
dort im Reich der Phantasie.

Ein Lichtschein, der die Nacht erhellt,
das Dunkel bricht, das ihn so quält
und alle, alle Schatten von ihm reißt.
Da sieht er fern des Lichtes Schein,
sein warmer Glanz dringt in ihn ein,
und sofort fliegt er darauf zu.

Sein Ziel, es wirkt zum Greifen nah,
die Kraft des Lichtes ist wunderbar,
er spürt, das Dunkel ist verbannt.
Die Flamme zieht ihn magisch an,
sie lässt ihn nicht aus ihrem Bann.

Er fliegt hinein.
Im Rausch der Sinne fühlt er nicht,
dass ihn der Schein des Lichtes zerbricht,
er lächelt und verbrennt…

Hartmut Engler und Ingo Reidl – PUR
(Mit freundlicher Genehmigung von Live Act Musik - Management PUR)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Prägunge und deren Konsequenzen

Klassifizierung nach DSM IV sowie typische Borderline-Verhaltensweisen

Gewaltfreie Kommunikation

Wirklich hilflos?

Erziehung – Beziehung

Glaubenssätze

Schicksal?

Modelle und Schemata

Bindungsstile

Bin ich an einen Bindungsstil gebunden?

Ich falle immer auf die/den Falsche/n rein

Selbstheilung

Wer ist „falsch“ und wer „richtig“?

Der Stellenwert der Diagnose

Was hat die Borderline-Problematik meines Partners mit mir zu tun?

Warum komme ich da nicht raus?

2. Reale Geschichten - direkt aus dem Leben

Mareike T., 36 Jahre, Unternehmensberaterin, ehemalige Partnerin, Trennung nach fünf Jahren Beziehung

Andreas M., 30 Jahre, freischaffender Journalist, ehemaliger Partner, eine Tochter, Trennung nach drei Jahren Beziehung

Jeanette D., 38 Jahre, Geschäftsführerin, Trennung nach mehrjährigen Beziehungs- und Distanzphasen

Stefan S., 47 Jahre, Angestellter, ehemaliger Partner, Trennung nach 18 Monaten Beziehung

3. Was offensichtlich ist

Eine ganz natürliche Entwicklung

Erwachsen und nun?

Wie kann ich das umsetzen?

Beispiel

Gemeinsamkeiten

Wann sollte ich die Beziehung beenden

Was Sie nach dem Scheitern der Beziehung auf keinen Fall tun sollten …

Wenn der Borderline-Betroffene Sie verlassen hat

Wenn Sie den Borderline-Betroffenen verlassen haben …

Konsequenzen für Partner nach einer Trennung

Auswege …

Konsequenzen mangelnder Verarbeitung

Schluss

Anhang: Übersichten und Interventionen

Vorwort

Eigentlich bin ich nicht davon ausgegangen, noch ein Buch zur Thematik Borderline-Beziehung zu schreiben. Zum einen war „Wenn lieben weh tut“ eine Art Aufarbeitung, und ich habe nicht das Bedürfnis, diese zu zelebrieren. Zum anderen habe ich feststellen müssen, dass meine Erwartungshaltung und die öffentliche Wahrnehmung der Partner-Problematik nicht im Geringsten kompatibel waren. Ich bin, bevor ich mich in die Arbeit zu „Wenn lieben weh tut“ stürzte, davon ausgegangen, dass ich mit genug Engagement auch Therapeuten, Kliniken, Beratungsstellen, Frauenzentren oder öffentliche Medien in meine Arbeit einbinden kann.

Mir ist es wichtig, Informationen zur Thematik zu vermitteln. Was ist „Borderline“, welche Konsequenzen hat diese Persönlichkeitsstörung für die Partner, Kinder und Angehörigen? Wie können Partner mit der Symptomatik umgehen, sich und ihre Familienangehörigen und vor allem die Kinder schützen? Ich hatte auf eine Zusammenarbeit mit Therapeuten gehofft, in dem ich für die Partner von diagnostizierten Betroffenen Beratungen anbiete, wollte Sprechstunden in Kliniken ermöglichen, Medien in die Aufklärung einbinden und Informationsveranstaltungen in Zentren anbieten. Ich hatte gehofft, dass ein öffentliches Interesse daran bestehen könnte, sich mit dieser Thematik intensiver auseinanderzusetzen und den massiven Beratungsund Hilfebedarf, der bis jetzt allein gelassenen Partner wahrzunehmen. Leider habe ich sehr skurrile Erfahrungen machen müssen, von reaktionslosem Desinteresse, über konkurrenz- oder statusorientiertes Denken, bis hin zur Tabuisierung oder Verniedlichung des Themas. Sehr schade!

Aber während meiner Arbeit als psychologische Beraterin und der Konfrontation mit unterschiedlichen Menschen, Geschichten und Verarbeitungsprozessen, entstand in mir die Idee, in einem Buch reale Menschen zu Wort kommen zu lassen. Menschen, die in einen Strudel emotionaler Beziehungskonflikte geraten sind und eine Geschichte zu erzählen haben, in der andere sich vielleicht wiederfinden können. Jeder dieser Menschen hat einen anderen Entwicklungsprozess hinter sich, in dem er ganz individuelle Erfahrungen gesammelt hat. Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten in ihren Grundannahmen, Beziehungsorientierungen und Verhaltensweisen. Jeder von ihnen hat schwierige Beziehungen hinter sich und war vor oder während unserer gemeinsamen Arbeit an einen Partner gebunden, der Borderline-Merkmale trug oder entsprechend diagnostiziert war.

Alle diese Klienten waren an einem Punkt ihres Lebens angekommen, an dem sie begannen, sich zu hinterfragen…

…warum gerate ich immer wieder an den/die falsche/n Partner/in? Was hat diese Beziehung mit mir zu tun? Warum reagiere ich in ähnlichen Situationen immer gleich unsicher? Warum machen mir bestimmte Verhaltensweisen anderer immer wieder Angst und warum kann ich darauf nicht so reagieren, dass es mir damit gut geht?

Also habe ich mich an die Arbeit gemacht und versucht, Zusammenhänge und Ursachen transparent und nachvollziehbar zu machen. Einige meiner Klienten erzählen dabei die Geschichte ihrer Beziehung zu einem persönlichkeitsgestörten Partner, die sie so tief getroffen hat, dass das Leben danach ein anderes war. Wir haben gemeinsam nach dem „roten Faden“ gesucht, der sich von ihren ersten Bezugspersonen bis zum persönlichkeitsgestörtem Partner zog. Sie hatten den Mut, sich auf diese Arbeit einzulassen, deshalb sei ihnen auch dieses Buch gewidmet. Anmerken möchte ich noch, dass ich, zum Schutz der Betroffenen, deren Namen geändert habe. Ich habe ihre Erzählungen weitestgehend im Original belassen, also die ganz individuelle sprachliche Gestaltung nicht oder nur wenig verändert.

Ich hoffe, dass ein Einblick in ihr Leben, in ihre Ängste, Hoffnungen und ihren Entwicklungsprozess anderen Betroffenen Mut macht, sich auf eigene Fragen einzulassen und noch mehr auf die Antworten darauf.

Denn diese Fragen und vor allem die Antworten ändern die Perspektive und damit auch ihr Leben!

Manuela Rösel

Im Januar 2007

1. Prägunge und deren Konsequenzen

Klassifizierung nach DSM IV sowie typische Borderline-Verhaltensweisen

An dieser Stelle möchte ich nur kurz auf die im DSM IV festgehaltenen neun Merkmale der Borderline -Erkrankung eingehen. Wie man unter Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Borderline) nachlesen kann, klassifiziert die DSM IV (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) die Borderline-Störung wie folgt:

Ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in den zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie deutliche Impulsivität. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und manifestiert sich in verschiedenen Lebensbereichen. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:

1.Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden (dabei werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind).

2.Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.

3.Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.

4.Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen wie Geldausgaben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, Essstörungen (dabei werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind).

5.Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.

6.Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung, z. B. hochgradige episodische Dysphorie („banale Alltagsverstimmung“, aber auch eine symptomatische depressive Stimmung), Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern.

7.Chronische Gefühle von Leere.

8.Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren, (z. B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).

9.Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide (wahnhafte) Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome.

Wie der Grad der Störung selbst, so sind auch die Symptome höchst unterschiedlich. Jeder Betroffene hat ein eigenes Belastungsbild. Die Symptome können auch konträr ausgeprägt sein. Dabei gibt es zwei „Grundtypen“ mit bestimmten Tendenzen. Eine Gruppe lebt die Aggression eher nach außen aus, während die andere sie eher gegen sich selbst richtet, allerdings gibt es hier Überschneidungen. Häufig wird ein Gefühl des Selbsthasses durch Situationen ausgelöst, auf welche die Betroffenen überhaupt keinen Einfluss haben.

Nachfolgend nun eine Auflistung typischer Verhaltensweisen, die sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen der Betroffenen auswirken:

Massive und ständig präsente und mitunter überflutende Angst (Vernichtungs-, Verlassenheits-, Trennungsangst)

Autoaggressives Verhalten (selbstverletzend oder selbstschädigend)

Depersonalisations- und Derealisationsgefühle (Ich-Fremdheit und die Unfähigkeit, realitätsverbunden zu empfinden und zu handeln)

Depressionen und delinquentes Sozialverhalten (soziale Kontakte werden mitunter massiv attackiert, zerstört und behindert)

extreme Idealisierungen oder Entwertungen, Schwarz-Weiß-Denken (Menschen werden als absolut gut oder maßlos schlecht wahrgenommen; ambivalentes, also zwiespältiges menschliches Verhalten kann in einer Person nicht integriert werden)

Essstörungen, Gefühlsstörungen, Hysterien

Identitätsstörungen, Gefühle innerer Leere („Ich weiß nicht, wer ich bin und wer ich für andere bin. Ich habe kein inneres Bild von mir und somit keine Orientierung im Leben“)

Impulsive Reaktionsweisen, Impulskontrollverlust (unangemessene Wutanfälle, unvorhersehbare und für andere nicht erklärbare extreme Reaktionen)

Kontaktvermeidung und plötzliche Kontaktabbrüche

Polymorphe Sexualität (viele wechselnde sexuelle Beziehungen, stark schwankend in der Ausprägung)

Präventivangriffe („vorbeugende“ Angriffe auf vermeintliche Konfrontationen)

Psychosomatische Symptome (Nervosität, Konzentrationsstörungen, Schlaflosigkeit, Störungen des Immunsystems)

Realitätsverlust, Rituale und Zwänge

Starkes Kontrollbedürfnis über andere Menschen

Anwendung sozialfeindlicher Kommunikation (emotionale Erpressung und Manipulation)

Sucht (Drogen, Alkohol)

Suizidalität (Selbstmordgedanken und -versuche)

Zwangssymptome (überwertige Ideen, Grandiosität, dysfunktionaler Narzissmus)

Was heißt das denn nun genau für mich als Partner/in? Wenn das Borderline-Syndrom eine Erkrankung ist, dann kann der Betroffene doch nichts dafür, dann muss ich doch Rücksicht nehmen und kann ihm nicht zumuten, die Verantwortung für sich zu tragen. Schließlich ist er krank. Bin ich jetzt also für sein Wohlergehen zuständig? Muss ich demnach die extremen Stimmungsschwankungen und die für mich nicht nachvollziehbaren Wutanfälle hinnehmen? Heute liebst du mich, morgen nicht - eine Beziehung wie das Blättchenzupfen an einer Gänseblume. Muss ich bei Alkohol, Drogen oder Medikamentenmissbrauch hilflos zusehen und physische wie psychische Übergriffe auf mich und die Kinder tolerieren? Bin ich meiner Angst und Hilflosigkeit wirklich ausgeliefert, wenn mein Partner sich selbst verletzt oder mit Suizid droht?

Was mache ich denn nun mit deiner Angst, deinem hin und her, deiner Hilflosigkeit und Wut? Und was mache ich mit meiner Angst, meiner Zerrissenheit, meiner Hilflosigkeit und Wut? Zunächst liegt die Verantwortungsübernahme für jede Erkrankung, auch für die Borderline-Persönlichkeitsstörung, bei demjenigen, den sie betrifft. Natürlich ist hier fachärztliche Hilfe nötig, welche auch durch speziell ausgebildete Therapeuten gewährt wird. Ebenso wenig wie ein Partner das gebrochene Bein seines Lebensgefährten richten sollte, kann und darf er beim Borderline-Syndrom auch nicht den Therapeuten und somit die ärztliche Begleitung ersetzen. Die Verantwortung für den Umgang mit den o. g. Symptomen liegt, was den Erkrankten betrifft, allein bei ihm. Beziehe ich als Partner die Verantwortung auf mich, ist eine hilfreiche Unterstützung des Betroffenen nicht mehr möglich. Dies bezieht sich zum einen auf die Begleitung des Erkrankten selbst, zum anderen auch auf die eigene Gesunderhaltung. Wenn die Verantwortung für die Verhaltensweisen des Borderline-Betroffenen von seinem Partner übernommen wird, ist dieser unausweichlich überfordert. Die daraus resultierende Hilflosigkeit und Angst untergräbt seine Fähigkeit, hilfreich zu handeln. Alles Erleben prallt unkontrolliert aufeinander. Woraufhin beide in schwindelerregende Tiefen stürzen, um sich dann, aneinander festklammernd, mit einem Gefühl der alles überragenden Verbundenheit wieder in die hohen Sphären der Verschmelzung zu heben. Bis zum nächsten Absturz - und der kommt wieder, immer schneller, immer öfter. Da wären wir also im Bild einer Achterbahnfahrt. Ganz oben angekommen steigt niemand aus. Schwindelerregend schön, inmitten einer gegenseitigen Idealisierung, dem Himmel so nah und alles scheint so sicher und überschaubar. Da stürzt sich niemand gern freiwillig in die Tiefe. Das passiert dann ganz automatisch und zunächst ohne freie Entscheidung. Im freien Fall an der Seite des Partners erfolgt der Absturz. Nichts als Angst, und völlig ausgeliefert findet man sich am Boden wieder, noch ganz benommen. Hier wird es jetzt spannend. Was macht das mit mir? Geht es mir mit diesem Auf und Ab gut? Ignoriere ich, dass es mir nicht gut geht und stürze ich mich in die nächste Runde oder entschließe ich mich, an dieser Stelle zu sagen: Stopp! Hier steige ich aus. Ich brauche ruhigere Bahnen.

Emotionales Chaos, Nähe- und Distanzprobleme, impulsive, heftige Verhaltensweisen, all das sind Symptome der Persönlichkeitsstörung Borderline. Sie sind persönlichkeitsbezogen und haben in ihrer Auswirkung nichts mit den Menschen zu tun, die den Lebensweg der Betroffenen kreuzen. Hier möchte ich trotzdem betonen, dass nicht jede unerwünschte Reaktion eine Borderline-Reaktion ist. Auch ein Betroffener hat, wie jeder Mensch, das Recht wütend und enttäuscht zu sein und dies zum Ausdruck zu bringen. Aber wie differenzieren, wir das? Müssen wir das differenzieren um uns „richtig“ zu verhalten? Was ist „richtig“, was ist „falsch“? Wann ist etwas „Borderline-typisch“ und wann „normal“?

Es ist im Grunde genommen nur dann nötig, dies zu differenzieren, wenn ich mein Verhalten auf das meines Partners abstimme. Weil ich z. B. Angst vor unangemessenen Reaktionen habe oder Eskalationen und Übergriffe ausschließen möchte.

Völlig unabhängig davon, ob mein Partner von der Borderline-Problematik betroffen ist oder nicht, stehe ich in einer Beziehung zu ihm. Wenn sich aus dieser Beziehung heraus Situationen ergeben, die mich mit Verhaltensweisen konfrontieren, die ich nicht tolerieren kann, ist es gleichgültig, ob mein Partner an einer Persönlichkeitsstörung leidet oder nicht. In diesem Moment geht es zuerst um mich. Wie geht es mir damit? Wie fühlt sich das an? Was brauche ich jetzt von mir oder meinem Partner? Erst daraus kann sich ein sinnvolles Einlassen auf die Situation ergeben. Es kann und darf nicht die Aufgabe eines Partners sein, analytisch jeden Kommunikationsvorgang zu hinterfragen, Reaktionen seines Partners abzuschätzen, Konsequenzen zu erahnen und sich an diesen zu orientieren. Allerdings ist es sehr wohl seine Aufgabe, auch und gerade an der Seite eines Borderline-Betroffenen, für sich zu sorgen. Indem er eben sein Verhalten nicht auf diesen abstimmt, sondern bei sich bleibt, sich von seinen Empfindungen nicht trennt und ein waches und lebendiges Bewusstsein für sich selbst erhält. Ohne die Fähigkeit, Gefühle zuzulassen und sie zu hinterfragen, ist er auch nicht in der Lage, Zugang zu dem zu finden, was er braucht. Nur dann ist er in der Lage authentisch und sinnvoll zu handeln.

Ein Borderline-Betroffener hat keine Chance auf Unterstützung, wenn er sich in seiner Instabilität an einem Partner orientieren will, der wiederum sein Verhalten nach seinem instabilen Partner ausrichtet. Das richtige Verhalten ist immer das, was sich aus dem Kontakt zu mir selbst ergibt. Es kann ein „ja“ oder ein „nein“ sein, aber es ist ehrlich, stabil und richtungsweisend. Und das ist es, auf was es ankommt.

Gewaltfreie Kommunikation

An dieser Stelle möchte ich nur kurz auf die Gewaltfreie Kommunikation eingehen, die von M. B. Rosenberg entwickelt wurde und von ihm im Rahmen einer weltweit mediativen Arbeit eingesetzt wird (Marshall B. Rosenberg, „Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens“). In „Wenn lieben weh tut“, habe ich mich bereits eingehender mit dieser Art der Kommunikation auseinandergesetzt. Dabei handelt es sich um eine Verständigung, die ohne psychische Gewalt auskommt und aus diesem Grund Konflikte vermeidet, einschränkt oder löst. Sie ist ein Sprachkonzept zur Konfliktbewältigung und trotz des Einsatzes strukturierter Vorgaben ist sie keine Technik, sondern eine Haltung und beruht auf vier Schritten:

1.Der Beobachtung, die ohne eine Wertung oder Interpretation erfolgt und rein sachlich zum Ausdruck gebracht wird,

2.dem Gefühl, welches in mir oder in meinem Kommunikationspartner wahrgenommen wird,

3.dem Bedürfnis, welches ich hinter dem Gefühl in mir oder meinem Kommunikationspartner wahrnehme, und

4.der Strategie/Bitte oder Wunsch, die sich daraus für mich ergibt.

Eine Kommunikationsform, die für die Akzeptanz unseres inneren Erlebens hilfreich ist und insofern stabilisierend und richtungsweisend wirkt. Eine Möglichkeit, seine mit Respekt wahrgenommenen Gefühle, mit den dahinter liegenden Bedürfnissen in Verbindung zu bringen. Erst daraus ergibt sich die Chance auf sinnvolle Handlungsweisen. Gleichzeitig sensibilisieren wir uns dabei, auch die Gefühle und Bedürfnisse unserer Interaktionspartner wahrzunehmen und zu reflektieren. Ein sehr wirkungsvoller Weg mit sich und anderen in Kontakt zu sein. Im Anhang dieses Buches stelle ich Ihnen zu Ihrer Orientierung entsprechende Listen mit Gefühlen und Bedürfnissen zur Verfügung.

Wirklich hilflos?

Zunächst möchte ich mir an dieser Stelle das Gefühl der Hilflosigkeit genauer ansehen. Wie genau fühlt sich das an? Hilflosigkeit ist, wie auch die Eifersucht, eine Verknüpfung verschiedener individueller und situationsbezogener Gefühle. Sie kann eine Verbindung von Überlastung, Verzweiflung und Schmerz sein. Auch Verwirrung und Ohnmacht, die die Fähigkeit einer Reaktion mindern, können eine Rolle spielen. Was genau könnte nun hinter diesem Gefühl der Hilflosigkeit stehen? Vielleicht das Bedürfnis nach Unterstützung durch andere, aber in erster Linie der Wunsch, Zugang zu eigenen Potenzialen zu haben, um für sich sorgen zu können. Das Bedürfnis nach Ruhe, Einfühlung und Entspannung. Die hinter der Hilflosigkeit liegenden Bedürfnisse bilden ebenfalls einen Komplex, der genau abgestimmt ist auf die entsprechenden signalgebenden Gefühle.

Hilflosigkeit ergibt sich aus meiner fehlenden oder mangelnden Fähigkeit, meine Gefühle und Bedürfnisse in Kontakt zu bringen und demzufolge auch keine unterstützende und lösungsorientierte Strategie wählen zu können. Wenn ich nicht in der Lage bin, mich differenziert wahrzunehmen und mich von meinen Gefühlen überrollen lasse, bin ich auch nicht in der Lage, für mich zu sorgen. Überlastung und Verwirrung zu spüren, zeigt mir z. B. das Bedürfnis nach Ruhe und Orientierung an. Jetzt brauche ich die Möglichkeit, meine Gedanken und Gefühle ordnen zu können, ohne dabei einem äußeren Einfluss zu unterliegen. Dass ich mich also der Situation bewusst entziehe, um mir diese Möglichkeit zu geben, wäre hier eine sinnvolle Strategie.

Wir sind also nur dann hilflos, wenn wir keinen Zugang haben zu den Möglichkeiten, die wir in uns tragen, um für uns zu sorgen. Womit auch ganz klar wird, dass meine Gefühle, also das, was ich empfinde, in meiner Verantwortung liegt. Denn es sind meine Bedürfnisse betroffen und nicht die meines Partners! Wenn ich mich hilflos fühle, ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ich erspüre, was ich brauche, um dies dann umzusetzen. Ebenso hat auch mein Partner die Verantwortung für sein Erleben und die daraus resultierenden Handlungsweisen. Der Grundstein für die Gefühle der Hilflosigkeit wie Irritation, Angst und Ohnmacht wird in der frühen Kindheit gelegt. In der unzureichenden Spiegelung kindlicher Gefühle, die dem Kind suggerieren, dass es „falsch“ fühlt. „Du hast keinen Grund Angst zu haben, zu weinen, wütend zu sein…“, vermittelt dem Kind, in seinem Empfinden nicht zu funktionieren. Es verliert das Vertrauen in sich und reagiert auf Situationen, die diese als falsch erlernten Emotionen berühren mit Hilflosigkeit.

Erziehung – Beziehung

Die Kombination dieser beiden Begriffe trägt bereits das ganze Dilemma in sich. Die Art und Weise, in der wir erzogen wurden, die Verhaltensweisen, die unserem Leben als Kind dienlich waren, werden später in unseren Beziehungen Konsequenzen haben und diese sind dann nicht immer hilfreich. Wir werden versuchen, die uns vertrauten Verhaltensweisen und Einstellungen in unsere Bindungen zu integrieren, denn durch sie fühlen wir uns sicher. Sind diese aber mit denen unseres Partners nicht „kompatibel“, kann es zu schwer lösbaren Konflikten und in dessen Folge zum Verlust der Bindung kommen. An diesem Punkt haben wir zwei Alternativen:

1.Ich trenne mich von meinem Partner, weil er sowieso nicht zu mir passt und suche mir den nächsten und nächsten und nächsten …

2.… oder ich hinterfrage meine Verhaltensweisen und Einstellungen und versuche sie in Zusammenhang mit meinen Erfahrungen und meinem jetzigen Partner zu bringen.

Alternative 1 bleibt wohl eher auf der Flucht vor einer wirklichen Bindung oder sich selbst, denn sich zu hinterfragen ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Möglichkeit 2 macht sich auf einen langen und unangenehmen Weg, der, bevor es endlich vorwärts geht, erst einmal ein ganzes Stück zurückführt. Dahin, wo das Ich begann, ein Ich zu werden…

Nach der Geburt eines Kindes und noch weit vor dem Beginn der klassischen Erziehung funktioniert alles noch tadellos: Das Kind schreit, es wird gefüttert. Das Kind weint, es wird sauber gehalten, erhält Nähe und Zuwendung. Nichts wird bewertet. Emotionale Äußerungen des Kindes werden Bedürfnissen zugeordnet, denen entsprochen wird. Das Kind lernt, seinem Gefühl zu vertrauen und durch sein Verhalten/Strategie (Weinen) wird seinen Bedürfnissen (Hunger, Sauberkeit, Nähe) entsprochen. Die grundlegende Botschaft an das Kind lautet: Es ist in Ordnung, was du fühlst. Deine Gefühle sind berechtigt, werden akzeptiert und helfen, für dich zu sorgen. Damit wird die Basis für die Entwicklung des Urvertrauens geschaffen - die Grundannahmen, dass das Selbst wertvoll, das Leben sinnvoll und die Welt wohlwollend ist. Diese Grundannahmen spielen während des gesamten Lebensweges des Menschen und in jedem sozialen Kontakt eine wichtige Rolle.

Irgendwann aber beginnt der leidliche Erziehungsprozess, in dessen Verlauf das Kind lernt, sich der Erwartungshaltung seiner Eltern anzupassen. Ständig präsente Forderungen (sei brav, ruhig, höflich, nett, niemals wütend) zwingen das Kind, eigene Gefühle zu ignorieren oder sogar abzulehnen. Es gehört leider zur Normalität, dass Gefühle von Kindern oft negativ bewertet, missachtet oder herabgesetzt werden. Eine typische erzieherische Verhaltensweise, die ein Kind zur emotionalen Abspaltung erzieht, ist die mangelnde oder fehlende Spiegelung von Gefühlen (Angst – „Nun hab dich mal nicht so“, Wut – „So was macht ein braves Kind nicht“). Hier wird die Bewertung impliziert, dass dieses Gefühl falsch ist. Da Bewertungen wie richtig und falsch sich in der klassischen Erziehung durch Lob und Strafe ausdrücken, wird das Kind bemüht sein, „richtig“ zu funktionieren. Sich die Zuneigung der Eltern zu erhalten, ist lebensnotwendig für das Kind, infolgedessen wird es bereit sein, einen Teil seiner Empfindungen zu leugnen und eventuell sogar abzuspalten. Die bleibende Botschaft dieser Erziehung ist: Es ist nicht okay, was du fühlst, wie du fühlst und wie du bist. Die Konsequenzen für das Kind sind:

Verlust des Urvertrauens

Untergrabung des Selbst-Bewusst-Seins („Ich will lieber nicht so genau wissen, was in mir vorgeht. Ich habe Angst zu erkennen, dass ich ‚schlecht‘ bin“)

Zerstörung des Selbst-Wert-Gefühls („So wie ich bin, bin ich nicht gut, also können andere mich auch nicht gut finden, sie werden mich ablehnen“)

Verlust der Integrität (Ich-Abwendung)

Emotionale Abspaltung (Verlust der Lebendigkeit, Einschränkung und Untergrabung sozialer Kontakte, Verlust der Bedürfniswahrnehmung durch Vermeidung emotionaler Konfrontationen)

Womit die klassische Erziehung den Weg ebnet, für eine lebenslangen Suche mit dem Ziel, geliebt zu werden, ständig in der Angst, nicht liebenswert genug zu sein und von anderen zurückgewiesen zu werden.

Glaubenssätze

Glaubenssätze sind Annahmen, die nicht hinterfragt werden, sie stabilisieren unser Modell von der Welt und sagen uns, was Sinn macht und was nicht. Sie sind weder gut noch schlecht und wir verfügen über Tausende davon. Glaubenssätze sind entweder hilfreich („Das schaffe ich schon“) oder hinderlich („Das kann ich nicht“). Sie bilden sich in dem Maße, wie ein Kind seine Umwelt durch seine Sinne erfährt. Jeder Mensch entwickelt so sein ganz eigenes Bild von der Welt. Um sich in ihr orientieren zu können, braucht er Glaubenssätze, die ihm helfen, sich mithilfe seiner eigenen subjektiven Erfahrungen zurechtzufinden. Das was wir glauben, beeinflusst unsere Verhaltensweisen, und wir tendieren dazu, uns unseren Glauben durch sich selbst erfüllende Prophezeiungen immer wieder zu bestätigen.

Ein Beispiel. Der kleine Junge, der trotz all seiner Bemühungen die Liebe seiner Mutter zu erringen, von ihr verlassen wurde, lernt auf der Ebene des Modells der Frau: „Frauen verlassen“. Auf der Ebene des eigenen Verhaltens lernt er: „Wenn ich liebe, mich öffne und mich einlasse, werde ich zurückgewiesen und das tut weh“. Seine darauf abgestimmte Verhaltensweise als erwachsener Partner ist, sich nie tiefgehend auf eine Frau einzulassen, auf Distanz zu bleiben und verbindliche Nähe als Bedrohung zu empfinden, denn sie macht ihm Angst. Angst wieder verlassen zu werden, Angst zurückgewiesen zu werden und noch einmal diesen Schmerz erfahren zu müssen. Aus diesem Verhalten heraus, wird jede spätere Partnerschaft, die ja Intimität, Hingabe, Vertrauen und Nähe braucht, zerbrechen. Womit sich der Glaubenssatz des verlassenen Kindes immer wieder erfüllt: „Frauen verlassen, und wenn ich liebe, mich öffne und mich einlasse, werde ich zurückgewiesen und verletzt.“

Die Dramatik dabei ist die Steigerung, die sich durch jede sich selbst erfüllende Prophezeiung ergibt. Denn mit jeder Bestätigung des Glaubens festigt sich das Modell der Frau als „Verlassende“. Der als Schutzmechanismus gelebte, distanzgeprägte Bindungsstil, der ja eigentlich das Verlassenwerden forciert hat, findet dabei immer wieder seinen zerstörerischen Einsatz.