Am 4. April 2009 hielt der US-amerikanische Präsident Barack Obama1 in Prag eine Rede, die weltweit Aufsehen erregte. Darin kündigte er weitere Abrüstungsschritte an. Die Verbreitung der Atomwaffen dürfe nicht als unvermeidlich hingenommen werden. Unter dem strahlend blauen Frühlingshimmel Prags erklärte Obama vor 30 000 jubelnden Zuhörern, es sei sein Ziel, »eine Welt ohne Atomwaffen« zu schaffen, selbst wenn er, so schränkte er ein, dieses Ziel zu Lebzeiten wohl nicht erreichen werde.
Wenige Tage zuvor hatten er und sein russischer Amtskollege Medwedew sich in der amerikanischen Botschaft in London getroffen und öffentlichkeitswirksam verkündigt, das Verhältnis der beiden ehemaligen Supermächte im Kalten Krieg werde sich weiterhin bessern. Sie würden bei der Abrüstung nicht innehalten, sondern bis zum Jahresende 2009 einen neuen Vertrag über die Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen von 1991, den »New START« abschließen. Dieser Vertrag, der eine Reduktion der einsatzbereiten Sprengköpfe auf Langstreckenraketen auf 1550 Stück für jede Seite vorsah, wurde 2012 ratifiziert.
Was ist nach acht Jahren aus Obamas Vision einer atomwaffenfreien Welt, deren Verwirklichung auf gutem Wege zu sein schien, geworden? Das Ergebnis lässt sich mit wenigen Worten zusammenfassen: Sie ist gescheitert. Wir stehen vor einem Scherbenhaufen. Nur noch ein Wunder kann den Rückfall in den Kalten Krieg aufhalten.
Es ist eine allgemein zu beobachtende menschliche Schwäche, den gegenwärtigen Weltzustand für dauerhaft zu halten. Doch die Zukunft hält stets Überraschungen für uns bereit. Auch ich glaubte in den achtziger Jahren wie so viele, das Sowjetimperium würde, nicht zuletzt aufgrund seiner gigantischen Macht- und Gewaltapparate, noch für viele Jahrzehnte weiter bestehen. Hatte es nicht innerhalb des Warschauer Paktes sämtliche Reform- und Befreiungsversuche – DDR 1953, Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968, Polen 1956 und 1970 – mit militärischer Gewalt niedergewalzt? Doch die äußere Machtenfaltung verbarg nur, wie korrupt, morsch und verfault das Sowjetimperium im Innern war. Als die alte Garde im Kreml nicht mehr weiter wusste, betrat Michael Gorbatschow die politische Bühne mit einem Programm, das die Beendigung des Kalten Krieges und eine tief greifende Reform des Sowjetsystems vorsah. Es gelang ihm zwar, den Kalten Krieg zu beenden, doch das Sowjetsystem war durch Perestroika und Glasnost nicht zu retten. Als die äußere Bedrohung wegfiel, brach das ganze System wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Es folgte eine fünfundzwanzigjährige Periode der Entspannung zwischen den ehemaligen Supermächten. Es schien, als würde Gorbatschows Vision eines europäischen Hauses, in dem auch Russland neben den osteuropäischen Staaten eine geräumige Wohnung beanspruchen dürfe, Wirklichkeit werden. Nach einer Zeit einschneidender Veränderungen in der Weltpolitik gewöhnten wir uns allmählich an die neue Lage. Russland, obwohl nach wie vor eine atomare Großmacht, trat als Rohstofflieferant für den Weltmarkt in die zweite Reihe der internationalen Weltordnung zurück. Die USA als einzig verbliebene Supermacht beherrschte die Welt, auch wenn sich am Horizont der Zukunft ein neuer Herausforderer in Gestalt der Volksrepublik China zeigte.
Wir hatten uns allmählich an die neue politische Weltordnung gewöhnt, die meisten von uns erwarteten in absehbarer Zukunft keine großen weltpolitischen Veränderungen, doch auch diesmal hielt die Zukunft eine Überraschung für uns bereit. Mit dem Ukraine-Konflikt und dem Krieg in Syrien kehrte 2014 der Kalte Krieg auf die Tagesordnung der Weltpolitik zurück.
Bei näherer Betrachtung war das keine Überraschung. Die Osterweiterung von EU und Nato musste von Russland als eine existenzielle Herausforderung begriffen werden. Russland betrachtete die Osterweiterung als Rückkehr zur Einkreisungspolitik des Westens im Kalten Krieg. Der Westen überschritt damit die vom russischen Präsidenten Wladimir Putin gezogene rote Linie. Es fragt sich in der Tat, ob das nicht eine bewusste Provokation der USA gegenüber Russland, zumindest aber eine grobe Dummheit war, denn die engen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine waren doch auch im Westen bekannt! Sie betrafen nicht nur den wichtigen Schwarzmeerhafen Sewastopol auf der Krim, die Schwerindustrie in den Ostprovinzen der Ukraine (Donbass) einschließlich der in diesen Gebieten lebenden russischen Bevölkerungsanteile, sondern auch die engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Staaten. Und nicht zuletzt ist die Ukraine aus geopolitischen Gründen ein wichtiger Pufferstaat gegenüber dem Westen.
Seit dem Frühjahr 2014 dreht sich die Eskalationsspirale aus wechselseitigen Drohungen, Sanktionen und Rüstungsankündigungen mal langsamer, mal schneller. Ein Ende ist nicht abzusehen. Wie bei einem Pendel in labilem Gleichgewichtszustand bedürfte es außerordentlicher Anstrengungen, um das Pendel wieder in die Ausgangslage zurückzubringen. Wenn nicht ein Wunder geschieht, kehren wir schnurstracks in den Kalten Krieg zurück. Doch die Geschichte wiederholt sich nicht. War schon die weltpolitische Lage im Kalten Krieg bedrohlich genug, denn mehrmals stand die Welt am Abgrund eines atomaren Weltkriegs, so ist sie im neuen Kalten Krieg noch bei weitem prekärer, denn Russland startet in den neuen Rüstungswettlauf von einer sehr viel schwächeren Position als zu Beginn des Kalten Krieges. Wenn es mit dem Rücken zur Wand steht und nur noch die Alternative Unterwerfung oder Angriff vor sich sieht, wird es, solange Wladimir Putin die Geschicke des Landes bestimmt, wohl eher das Letztere wählen.
Doch wer weiß, vielleicht hält die Geschichte noch so manche Überraschung für uns bereit. Sollten die Neokonservativen, zu denen auch der neue US-Präsident gerechnet werden muss, künftig die Politik der USA und der ganzen Welt bestimmen, sind die Zukunftsaussichten düster. Die Neokonservativen haben das 21. Jahrhundert zum »amerikanischen Jahrhundert« ausgerufen. Vieles spricht dafür, dass es ein kurzes Jahrhundert für amerikanische Weltmachtträume sein wird, vielleicht aber auch für uns alle. Was für das Sowjetimperium galt, gilt in mancher Hinsicht auch für die USA. Im Jahr 2016 gaben die USA 664 Milliarden Dollar für militärische Verteidigung aus. Das ist fast so viel als die nachfolgenden acht Militärhaushalte von China, Saudi Arabien, Russland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Japan und Deutschland zusammen.2 Das amerikanische Imperium ist durch Kriege groß geworden, angefangen mit dem Unabhängigkeitskrieg, dem Bürgerkrieg von 1861 bis 65, den beiden Weltkriegen, dem Kalten Krieg, dem Afghanistan- und Irakkrieg, um nur die wichtigsten zu nennen. Wie die Sowjetunion droht auch das amerikanische Imperium von der Last seiner gigantischen Macht- und Gewaltapparate erdrückt zu werden.
Nach den verlorenen Kriegen in Afghanistan und Irak ist die ehemalige Supermacht USA mit knapp 20 Billionen US-Dollar verschuldet, wobei die beiden verlorenen Kriege mehr als die Hälfte dieser Summe verursachten. Da die USA im Mittleren Osten keine weiteren Kriege mit dem Einsatz von Bodentruppen mehr führen können und wollen, sind andere Mächte in das entstandene Machtvakuum vorgestoßen: China, Russland, Iran und Saudi-Arabien. Wir sind auf dem Weg in eine multipolare Welt, wobei dieser Weg vermutlich mit viel Gewalt und Krieg gepflastert sein wird.
Die Behauptung, der amerikanische Außenminister James Baker und der deutsche Außenminister Dietrich Genscher hätten nach dem Ende des Kalten Krieges versichert, es werde keine Ausdehnung der Nato nach Osten geben, trifft nicht zu. 1989 existierte der Warschauer Pakt ja noch. Es gab folglich keine Veranlassung, sich gegen eine mögliche Ostausdehnung der Nato zu wenden. Wohl aber gab es bei den Verhandlungen über den 2+4-Vertrag über die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten im Jahre 1990 Zusicherungen, dass in den osteuropäischen Staaten keine ständigen Militäreinheiten stationiert werden.3
Ronald Reagan, US-Präsident von 1981 bis 1989, hat, nachdem er dem Sowjetimperium einen ruinösen Rüstungswettlauf aufgezwungen hatte, geäußert, er wünsche, dass sich das von ihm als »Reich des Bösen« gebrandmarkte Sowjetimperium mit einem Winseln und nicht mit einem Knall aus der Geschichte verabschiede. Die Zukunft hält, wie wir seit der Wende von 1989 bis 91 und der neuerlichen Wende von 2014 wissen, zweifellos noch Überraschungen für uns bereit. Doch wir erweisen uns wieder einmal als unfähig, die Schrift an der Wand zu lesen.
Der Philosoph Friedrich Hegel hat in seinen Vorlesungen über die »Philosophie der Geschichte« resigniert festgestellt: »Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.« – Doch um welche Lehren geht es? Kann eine Regierung, die, wie die des Deutschen Reiches vor dem Ersten Weltkrieg und erneut vor dem Zweiten Weltkrieg, entschlossen war, sich einen »Platz an der Sonne« zu erkämpfen, indem sie sich mit Gewalt ein Kolonialreich erobert, durch die Androhung massiver Gegengewalt von ihrem Vorhaben abgeschreckt werden? Auch wenn das nicht völlig ausgeschlossen werden kann, so ist das doch ganz unwahrscheinlich. Aus der historischen Distanz eines ganzen Jahrhunderts erkennen wir, wie das Räderwerk der Machtpolitik ineinander griff und die Welt auf das entsetzliche Finale in Gestalt der beiden Weltkriege zu trieb. Nur eine Kehrtwende um 180 Grad hätte die Chance einer friedlichen Lösung ermöglicht. Doch selbst die Pazifisten hatten keine überzeugende Alternative anzubieten. Heute leben wir in einer vergleichbaren Situation. Das globale Weltreich der USA ist entschlossen, keine Macht neben sich zu dulden, die ihr, wie die Sowjetunion im Kalten Krieg, gefährlich werden könnte. Und doch zeichnet sich eine Konstellation ab, in der ein Bündnis der Großmächte Russland und China als Herausforderer der USA bzw. der Nato die Rolle der Sowjetunion bzw. des Warschauer Paktes übernimmt. Es besteht folglich die Gefahr eines nuklearen Weltbrands, der nicht nur die Menschheit und alle künftigen Generationen, sondern womöglich alles höhere Leben auf unserem blauen Heimatplaneten vernichten könnte.4
Die Kräfte, die auf dieses Finale der Menschheitsgeschichte hindrängen, zu benennen und zu analysieren, ist Gegenstand dieses Buches. Doch das ist nicht alles. Es trägt ja nicht nur den Titel ENDZEIT, sondern auch den Untertitel Hoffnung und Widerstand im Atomzeitalter. Auch wenn der Untergang der Menschheit auf lange Sicht womöglich nicht mehr abgewendet werden kann, so ist es doch jede Mühe wert, das Datum dieses finalen Ereignisses in die Zukunft hinauszuschieben.
Weltuntergangsprophezeiungen hat es in der Geschichte schon viele gegeben. Zum Glück haben sie sich nicht bewahrheitet. Doch daraus zu schließen, es werde auch in Zukunft so bleiben, halte ich für leichtsinnig, um nicht zu sagen für verantwortungslos.
Im Mittelpunkt dieses Buches steht ein Wahrheitsbegriff, der sich mit dem Wahrheitsbegriff deckt, der im Untertitel von Mahatma Gandhis Autobiografie: Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit aufscheint. Diese Wahrheit erhebt keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit. Jedem Menschen steht es frei, sie anzunehmen oder abzulehnen. Vom Standpunkt dieser Wahrheit aus betrachtet, erscheinen einige Lehren, die von vielen für wahr gehalten werden, als Ideologien, das heißt als Unwahrheiten, obwohl sie von vielen als Wahrheiten behauptet und geglaubt werden. Bei diesen Lehren handelt es sich um:
Damit sind die Kräfte benannt, die unsere Welt dem Untergang entgegen treiben, zumindest aber außerstande sind, ihn aufzuhalten. Ich erhebe selbstverständlich keinen absoluten Wahrheitsanspruch für meine Erkenntnisse. Wer immer es unternimmt, sie zu widerlegen, wird in mir einen aufmerksamen und gesprächsbereiten Dialogpartner finden.
Dieses Buch ist weder pessimistisch noch optimistisch, sondern – so hoffe ich – realistisch. Auch wenn es nach menschlichem Ermessen langfristig kein Entrinnen vor der nuklearen Apokalypse gibt, so ist doch keine Anstrengung für den Aufbau einer Welt der Wahrheit und der Gewaltfreiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens vergeblich, denn sie trägt ihren Sinn und ihren Wert in sich selbst. Ich bin überzeugt, dass nichts, was Gutes in der Welt geschieht, vergeblich ist, weil es für alle Zeit bleibt, während alles, was Böses geschieht, vergeblich ist, weil es spurlos vergeht.
Wir leben in der Endzeit, schrieb der Wiener Schriftsteller und Philosoph Günther Anders vor knapp sechzig Jahren. Mit Endzeit bezeichnete er die letzte Epoche der Menschheitsgeschichte. Sie wird von zwei Eckdaten begrenzt: dem Jahr 1945, als die ersten atomaren Sprengsätze auf der Erde explodierten, und dem Jahr X, in dem ein atomarer Weltkrieg die Menschheit und womöglich alles höhere Leben auf der Erde vernichten wird. Das erste Eckdatum ist Geschichte und steht als solches unverrückbar fest.5 Das zweite Eckdatum liegt in der Zukunft und ist infolgedessen unbestimmt. Es hängt vom Handeln der Regierungen der Atommächte und der Parlamente, vom Verhalten der Wähler, in letzter Konsequenz sogar vom Verhalten jedes Einzelnen ab, wenngleich nur in mikroskopisch kleinem Ausmaß. Es hängt aber auch von Zufällen sowie von technischem oder menschlichem Versagen ab.
Günther Anders erkannte das Jahr 1945 als epochales Datum. In diesem Jahr wurde das Atomzeitalter mit drei gewaltigen Paukenschlägen eröffnet: dem ersten erfolgreichen Atombombentest in der Wüste von Alamogordo (New Mexico, USA) am 16. Juli 1945, dem drei Wochen später die Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima (6. August) und Nagasaki (9. August) folgten, die insgesamt 250 000 Menschen das Leben kosteten. Wann das zweite Eckdatum, der atomare Weltkrieg, fällig ist, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass es höchstwahrscheinlich dazu kommen wird. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute ist, dass es im Unterschied zum erstgenannten Eckdatum, das als geschichtliches Datum unverrückbar feststeht, durch das Handeln von Menschen beeinflussbar ist: durch gedankenloses, unverantwortliches, die atomare Abschreckung befürwortendes oder duldendes Verhalten, rückt es näher, durch verantwortungsvolles, Abschreckung und Krieg überwindendes Verhalten rückt es weiter in die Ferne.
Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Die Friedenspolitik Michail Gorbatschows, die auf die Unabhängigkeitskämpfe der Völker Osteuropas, die Ostpolitik der Regierung Brandt und die Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre aufbaute, führte zur Beendigung des Kalten Krieges und läutete eine fünfundzwanzigjährige Friedensperiode zwischen den nuklearen Supermächten USA und Sowjetunion ein. Sie wurde erst durch den Rückfall in den Kalten Krieg im Zuge der Osterweiterung der Nato und der Ukraine-Krise im Jahr 2014 beendet. Zum Ende des Kalten Krieges hat allerdings – das sollte nicht vergessen werden – die massive Wirtschaftskrise in der Sowjetunion zu Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wesentlich beigetragen. Ohne sie wäre Gorbatschow, der die Beendigung des Kalten Krieges als Ausweg aus der Krise vorschlug, wohl nie zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt worden.
Ein zweites Beispiel ist womöglich noch besser geeignet, meine These zu untermauern. Die Klimawissenschaftler warnen uns, dass wir durch die Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas die Atmosphäre mit Kohlendioxid anreichern und auf diese Weise einen Treibhauseffekt mit katastrophalen Auswirkungen auf das Weltklima bewirken. Die Messergebnisse legen einen kausalen Zusammenhang zwischen der Verbrennung fossiler Brennstoffe und der Klimaerwärmung nahe. Die Erkenntnis dieses Zusammenhangs und seiner katastrophalen Folgen – Ausdehnung der Wüstengebiete der Erde, Abschmelzen der polaren Eisschilde und Anstieg des Meeresspiegels um bis zu sieben Metern und anderes mehr – stellen die Weltgemeinschaft vor schwerwiegende Entscheidungen: Weitermachen wie bisher oder versuchen, die Erwärmung des Weltklimas durch radikales Gegensteuern auf höchstens zwei Grad zu begrenzen. Die dafür nötigen Strategien zu erörtern, ist hier nicht der Ort. Mir geht es an dieser Stelle ausschließlich darum, die enge Verflechtung des Kausalitäts- und des Finalitätsprinzips aufzuzeigen. Was in der Vergangenheit liegt, steht unverrückbar fest im Unterschied zu dem, was in der Zukunft liegt. Alles Zukünftige ist durch menschliches Handeln mehr oder weniger stark beeinflussbar. Theoretisch ist es sogar möglich, nicht nur den Klimawandel, sondern auch den atomaren Holocaust zu vermeiden. Das würde allerdings eine »Umkehr zum Leben« der ganzen Menschheit voraussetzen, für die es nicht das geringste Anzeichen gibt. Im Gegenteil, alle Versuche, die Atomwaffen wieder aus der Welt zu schaffen, sind bisher gescheitert. Ihre Weiterverbreitung war in der Vergangenheit nicht zu verhindern und wird es wohl auch in Zukunft nicht sein, trotz des Nichtverbreitungsvertrags und der Bemühungen, ihn umzusetzen. Folglich ist das Schicksal der Menschheit offensichtlich besiegelt.
Vielleicht bedurfte es eines durch die beiden Weltkriege, Auschwitz und Hiroshima sensibilisierten Juden, um die volle Tragweite dieser Ereignisse zu erfassen. Wie aber kam Günther Anders darauf, das Atomzeitalter als das unwiderruflich letzte Zeitalter in der Menschheitsgeschichte zu bezeichnen?6 Seine Antwort lautete: Seit dem Jahr 1945 gibt es mit dem Wissen um die Herstellung der Bombe die Möglichkeit, die Menschheit zu vernichten. Selbst wenn es gelänge, durch internationale Verträge die Atomwaffen abzuschaffen, ihre Herstellung und Aufstellung sowie ihren Einsatz völkerrechtlich zu ächten und unter Strafe zu stellen, wird es doch niemals gelingen, das Wissen um die Herstellung dieser Instrumente des Massenmords wieder aus der Welt zu schaffen. Die Möglichkeit, dass ein Diktator vom Schlage Adolf Hitlers, Josef Stalins, Mao Zedongs oder eine Terrororganisation sich Atomwaffen verschafft, um sie als Mittel der Erpressung oder des Angriffs einzusetzen, ist damit stets gegeben, desgleichen die Gefahr, dass sich bedroht fühlende Staaten atomar aufrüsten und auf diese Weise ein Wettrüsten zwischen Nationalstaaten in Gang kommt.
Das ist aber kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Im Gegenteil. Wenn es möglich war, durch Friedenspolitik den Kalten Krieg zu beenden und damit den atomaren Holocaust um mindestens fünfundzwanzig Jahre hinauszuschieben, so ist das Grund genug, alle Kraft dafür einzusetzen, das Eintreten dieses Ereignisses ses weiter in die Zukunft zu verschieben. Hier zählt jedes Jahr, jeder Monat, jeder Tag und jede Stunde. Unsere Kinder und Enkel werden es uns danken.
Einwand Weltuntergangspropheten hat es schon viele gegeben, sie haben sich mit ihren Vorhersagen allesamt geirrt. Obwohl es seit dem Jahr 1945 zahlreiche Kriege gab, ist uns der Einsatz von Atomwaffen bis heute erspart geblieben. Diejenigen, die über den Einsatz dieser Waffen entscheiden, wissen, dass die Schäden an Mensch und Natur so verheerend wären, dass ihr Einsatz keine Sieger und Verlierer, sondern nur Verlierer kennt. Die ungewollte Eskalation eines Konflikts bis zum Atomwaffeneinsatz und die Reaktion der Weltgemeinschaft darauf wären so negativ, dass es bisher keine Atommacht wagte, noch einmal Atomwaffen in einem Krieg einzusetzen. Und das wird auch in Zukunft so bleiben.
Antwort Dass der Atomkrieg bisher ausblieb, bedeutet keineswegs, dass es keine Opfer gab. Wie viele Menschen bei Unfällen und durch die bei Atombombenversuchen freigesetzte Radioaktivität umkamen, ist unbekannt und wohl auch nicht zu ermitteln. Auch dürfen wir nicht vergessen, welche gigantischen Summen die Atomrüstung verschlang. Mit diesem Geld hätte man viele hundert Millionen Menschen vor Hunger und Armut bewahren können. So gesehen, ist die atomare Rüstung, einmal abgesehen von der Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes, bereits heute ein Verbrechen gegen die Menschheit.
Ein Grund zur Besorgnis ist auch die Erlaubnis für alle Staaten, die Atomkraft zum Zweck der Energieversorgung zu nutzen. Die zivile und die militärische Nutzung der Atomkraft sind auf weite Strecken konform. Zwar gibt es in Gestalt der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) Vorkehrungen, die den Missbrauch der Atomenergie für militärische Zwecke verhindern sollen. Ob sich solcher Missbrauch aber auf die Dauer verhindern lässt, ist fraglich. Nordkorea und Israel beweisen, dass selbst kleine Staaten in der Lage sind, sich atomar zu bewaffnen.
Überhaupt ist zu fragen, ob eine solche Regelung nicht dem Prinzip der nationalen Souveränität widerspricht. Ist es nicht eine Anmaßung, dass einige Staaten behaupten, ein Recht auf die Nutzung dieser Energiequelle für militärische Zwecke zu haben, während anderen dieses Recht abgesprochen wird? Wer kann denn garantieren, dass diese Waffen nicht von den offiziellen oder den inoffiziellen Atomwaffenstaaten7 missbraucht werden, um ihre Interessen durchzusetzen? Gewiss ist es wünschenswert, dass diese furchtbaren Waffen nicht weiter verbreitet werden. Die logische Konsequenz wäre jedoch, dass auch die gegenwärtigen Atomwaffenbesitzer diese Waffen aufgeben, um die Gefahr der Weiterverbreitung zu vermindern und sie völkerrechtlich zu ächten, wie das bei den chemischen und bakteriologischen Waffen schon heute der Fall ist. Stattdessen ist der Atomwaffenbesitz heute zu einem Statussymbol geworden. Der Versuchung, dem »feinen Klub« der Atommächte anzugehören, werden die meisten Staaten auf die Dauer nicht widerstehen können, zumal wenn sie in zwischenstaatliche Konflikte verwickelt sind.
Zwar haben sich die fünf anerkannten Atomwaffenstaaten USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China zur nuklearen Abrüstung verpflichtet, geschehen ist jedoch nichts. In Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrags vom 1.7.1968 heißt es: »Jede Vertragspartei verpflichtet sich, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.«8 Dennoch verlangen die offiziellen Atomwaffenstaaten von den Nichtatomwaffenstaaten die strikte Beachtung eines Vertrags, den sie selbst permanent verletzen!
Im Übrigen ist es prinzipiell falsch, aus der Tatsache, dass es in den Jahrzehnten seit 1945 keinen Kriegseinsatz dieser Waffen gab, zu schließen, er werde auch in Zukunft unterbleiben. Ich werde im Fortgang dieses Buches noch ausführlich darauf eingehen, wie oft die Menschheit bereits am Rand eines Atomkriegs, ja sogar eines atomaren Weltkriegs stand. Das Sprichwort sagt: »Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.« Auch der »Atomkrug« geht in Gestalt des atomaren Wettrüstens so lange zum Brunnen, bis er bricht. Es gibt folglich keine Gewissheit, dass die Menschheit vor einem Atomkrieg, womöglich sogar dem atomaren Holocaust, verschont bleibt.
Einwand Warum denn gleich den Weltuntergang an den düsteren Horizont der Zukunft malen? Es ist doch durchaus denkbar, dass ein kleiner oder mittlerer Atomkrieg – selbst wenn er einige hundert Millionen Opfer fordern sollte – die Völker zur Besinnung bringt und die völkerrechtliche Ächtung dieser Waffengattung zur Folge hätte, so wie ja chemische und bakteriologische Massenvernichtungsmittel schon heute völkerrechtlich geächtet sind.
Antwort Eine derartige Entwicklung wäre trotz der vielen Millionen Todesopfer, Schwerverletzten, Sach- und Naturschäden zu wünschen, wenn dadurch die Menschheit als Ganze gerettet werden könnte. Sie ist auch nicht völlig auszuschließen. Allein die Chancen sind gering. Die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts und nicht zuletzt der Einsatz von Atomwaffen gegen Japan im August 1945 wären wahrhaftig Grund genug gewesen, eine radikale Kehrtwende zu vollziehen. Der Völkerbund, der nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde, um künftige Kriege zu vermeiden, hat die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Das gilt auch für die Organisation der Vereinten Nationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde, von dem Wunsch beseelt, »künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat«.9 Sie wurden von den Großmächten an die Wand gedrückt. Dass ein dritter Anlauf nach einem regional begrenzten Atomkrieg mit seinen verheerenden Auswirkungen auf Mensch und Natur anders sein soll, ist unwahrscheinlich.
Die Waffenarsenale der Atommächte sind, trotz des Abbaus von Überkapazitäten, auch heute noch randvoll. Der feine Klub der Atommächte ist von fünf auf neun Mitglieder angewachsen. Er wird wahrscheinlich auch in Zukunft weiter wachsen. Die Atommächte verhalten sich wie Drogenabhängige, die von ihrer Sucht nicht lassen können, egal welche Folgen das hat. Ein Atomkrieg zwischen den USA und Russland ist heute, angesichts des seit 2014 drohenden Rückfalls in den Kalten Krieg, wahrscheinlicher geworden, da Russland heute in einer weit schwächeren Position ist als zu Beginn des Kalten Krieges. Es wird sich daher noch früher als die Sowjetunion im Jahre 1962 oder 1983 in einer ausweglosen Lage sehen und womöglich sein Heil in einem Angriffskrieg suchen. Ein Stellvertreterkrieg, wie der in der Ukraine, kann rasch zu einem Weltbrand eskalieren. Was Kriege zwischen den übrigen Kernwaffenstaaten oder zwischen Atommächten und Nicht-Kernwaffenstaaten anbelangt, so werden sie nicht bis zur Vernichtung der Menschheit eskalieren. Doch ist selbst in einem solchen Fall eine Umkehr der Weltgemeinschaft auf dem Weg in die atomare Selbstvernichtung äußerst unwahrscheinlich.
Man ist geradezu versucht, von einer »Halbwertszeit«10 des Vergessens der Menschheit für erfahrene Leiden zu sprechen. Der Dichter Bertold Brecht hat diese Erfahrung eindringlich in dem folgenden Text zum Ausdruck gebracht:
»Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für die kommenden Leiden ist fast noch geringer. … Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod. Allzu viele kommen uns schon heute vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen.
Und doch wird nichts mich davon überzeugen, dass es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen. Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.«11
Wohl wahr, bis auf das »Zerschlagen der Hände«. Ich fürchte, die Mächtigen verstehen das weit besser als unsereins. Auch stehen Dutzende Möchtegern-Herrscher bereit, an ihre Stelle zu treten. Und wer weiß, ob auf diese Weise das Unheil, das abgewendet werden soll, nicht beschleunigt wird? Das heißt aber nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen sollten. Es gibt Alternativen. Darauf werde ich zurückkommen.
Was hat sich in den 45 Jahren, die seit der Diagnose von Günther Anders, wir lebten in der Endzeit, verändert?
Die Arsenale der Atommächte sind seit dem Ende des Kalten Krieges zwar erheblich geschrumpft, aber für einen mehrfachen Overkill der Menschheit reicht das immer noch. Das in den Waffenarsenalen der Atommächte bereitliegende Zerstörungspotenzial von 7500 Megatonnen TNT12 entspricht der Waffenwirkung von 2500 Zweiten Weltkriegen oder einer Tonne Sprengstoff für jeden Menschen.13 2015 gab es noch immer 15 850 Atomsprengköpfe weltweit.14 Die beiden ehemaligen atomaren Supermächte haben eine umfangreiche Modernisierung ihrerAtomwaffenarsenale angekündigt. Der Einsatz von nur 5 Prozent aller Atomwaffen weltweit kann den gesamten Planeten unbewohnbar machen. Wir leben folglich alle unter dem Damoklesschwert der atomaren Vernichtung, das an einem Rosshaar über unseren Häuptern hängt. Die Weiterverbreitung von Atomwaffen konnte – trotz des Nichtverbreitungsvertrags von 1970 – nicht wirklich verhindert werden. Sie wird wahrscheinlich auch in Zukunft weitergehen. Auch ist damit zu rechnen, dass einige Staaten bereits heute geheime Atomwaffenprogramme betreiben. Zudem wächst die Gefahr mit jedem Tag, dass radioaktives Material (»schmutzige Bombe«) oder Atomwaffen in die Hände von Terroristen gelangen.
Die Sprengkraft von Atombomben variiert von unter einer Kilotonne bis zu 50 Megatonnen TNT, das ist das 3333fache der Hiroshimabombe. Ist die Hemmschwelle für den Einsatz von Atomwaffen auf dem Gefechtsfeld erst einmal überschritten, besteht die Gefahr, dass es auf der nuklearen Rolltreppe rasch aufwärts geht.
Die Gefahr, dass ein »Stellvertreterkrieg« außer Kontrolle gerät, ist seit der Endzeit-Diagnose von Anders noch gewachsen. Das gilt vor allem für den Konflikt um die Ostgebiete der Ukraine, den Konflikt mit China um das Südchinesische Meer oder die Konflikte im Mittleren Osten.
Wegen der Nutzbarkeit der zivilen Atomtechnik für militärische Zwecke (»double use«) erweist sich diese als eine zusätzliche Quelle für die Weiterverbreitung der Atomwaffen. Ohnehin hat sich die zivile Atomkraftnutzung wegen der Unfallgefahr, der Freisetzung von Radionukliden im Normalbetrieb und der noch weitgehend ungelösten Entsorgungsfrage als ein Danaergeschenk der Militärforschung an die Zivilgesellschaft erwiesen.
Des Weiteren sind zur atomaren Bedrohung eine ganze Reihe von Umweltgefahren hinzugekommen, die die Existenz der Menschheit gefährden, z. B. die Klimaveränderung, Ressourcenerschöpfung, schleichende Vergiftung von Erde, Wasser und Luft durch Chemikalien und radioaktive Stoffe, Artensterben, Abholzung der tropischen Regenwälder, Überfischung der Meere, Gentechnik, Digitalisierung und vieles mehr. Durch das Wachstum der Weltbevölkerung verstärkt, werden vorhandene Konflikte verschärft und neue erzeugt. Die absehbaren Kriege und Naturkatastrophen werden Flüchtlingsströme ungeahnten Ausmaßes zur Folge haben. Deutlich zeichnet sich bereits der Kampf um die Weltherrschaft zwischen den USA und der Nato einerseits sowie dem potenziellen Bündnis von Russland und China andererseits ab.
Nicht weniger schwer als die äußeren Gefahren wiegt die Gefährdung ganzer Völker durch Ideologien wie Rechts- und Linksextremismus, religiöser Fundamentalismus sowie andere Gewalt rechtfertigende Ideologien.
Die Welt hat sich folglich seit der Diagnose von Günther Anders, wir lebten in der Endzeit, nicht zum Positiven verändert. Seine Diagnose wird vielmehr durch die Tatsachen bestätigt. Sie gilt heute noch mehr als damals. So schön der Traum von einer atomwaffenfreien Welt auch sein mag, er könnte sich als unerfüllbar erweisen. Aber das ist kein Grund für Resignation und Verzweiflung. Wir wissen ja alle, dass unser irdisches Leben endlich ist. Daher sollte uns die Nachricht, dass das Leben der Menschheit endlich ist, nicht aus der Fassung bringen.
Das Leben auf der Erde war immer gefährdet: durch extreme Klimaschwankungen, durch den Ausbruch von Supervulkanen wie den des Toba auf Sumatra vor 74 000 Jahren oder durch Asteroideneinschläge wie den vor 65 Millionen Jahren in der Nähe der mexikanischen Halbinsel Yukatan. Der Ausbruch des Toba vernichtete die Saurier und ermöglichte so den Siegeszug der Säugetiere. Aber das sind höchst seltene Ereignisse in der Erdgeschichte, für die wir keine Verantwortung tragen. Ganz anders verhält es sich im Fall eines die Menschheit vernichtenden Atomkriegs. Wenn Mord ein schweres Verbrechen ist, Massenmord ein noch schwereres und Völkermord ein noch weit schwereres Verbrechen, dann ist der Menschheitsmord, der ja den Mord an den noch ungeborenen Generationen und womöglich an allem höheren Leben auf der Erde einschließt, das ultimative, das nicht mehr zu überbietende Verbrechen. Und dieses Verbrechen wird vorbereitet, um es zu verhindern! Da wir nichts davon wissen und auch nichts davon wissen wollen, wird die atomare Apokalypse eines Tages über uns hereinbrechen wie eine Naturkatastrophe. Und doch ist sie von Menschen gemacht und muss deshalb auch von Menschen verantwortet werden.
Es gibt eine abgestufte Verantwortung für diesen allumfassenden Genozid:
Die regierenden Politiker, die durch ihren Einsatzbefehl für Atomwaffen die Existenz der Menschheit aufs Spiel setzen, tragen die größte Verantwortung. Sollte es durch menschliches oder technisches Versagen zu einem atomaren Weltkrieg kommen, tragen alle, die dazu beitrugen, dass ein derart fehleranfälliges System aufgebaut wurde, die Verantwortung;
danach folgen die Offiziere und Soldaten, die diese Befehle ausführen;
sodann diejenigen, die Atomwaffen und ihre Trägersysteme erfinden, herstellen und aufstellen;
ferner jene, die die atomare Abschreckungspolitik als Parteimitglieder oder -wähler unterstützen;
außerdem alle, die zulassen, dass Atomwaffen aufgestellt und im Kriegsfall eingesetzt werden, denn wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir zulassen; aber auch jene, die gegen die Herstellung, Aufstellung und den Einsatz von Atomwaffen nur protestieren, statt dem Staat, der sich am ultimativen Verbrechen des Menschheitsmords beteiligt, die Zusammenarbeit aufzukündigen und Aktionen des gewaltfreien Widerstands durchzuführen;
schließlich jene, die sich gewaltfrei aktiv für die Abschaffung der Atomwaffen einsetzen. Eigentlich haben sie keinen Grund, sich schuldig zu fühlen. Doch sind es oftmals gerade sie, die sich fragen: »Habe ich genug getan, um das Verhängnis abzuwenden? Hätte ich nicht mehr tun können, mehr tun müssen?«
Das ultimative Verbrechen des Menschheitsmords in die Zukunft zu verschieben, denn verhindern lässt es sich wahrscheinlich nicht mehr, ist zur dringendsten Aufgabe von uns allen geworden. Sie sollte an erster Stelle auf der Tagesordnung der Regierungen, der internationalen und nationalen Organisationen und nicht zuletzt auf der Tagesordnung eines jeden von uns stehen.
Wer immer sich in der Welt umschaut, wird feststellen, dass diese Tatsache bis auf wenige Ausnahmen von uns nicht zur Kenntnis genommen wird, geschweige denn Folgen für unser Handeln hat. Diese Tatsache ist erklärungsbedürftig. Ich versuche, es anhand eines Gleichnisses zu veranschaulichen: Ein Mensch fühlt sich nicht gesund. Als die Beschwerden zunehmen, sucht er einen Arzt auf. Der eröffnet ihm: »Sie haben eine unheilbare Krebserkrankung in fortgeschrittenem Stadium. Sie werden nach menschlichem Ermessen höchstens noch ein paar Monate leben.« Die Reaktion des Patienten auf eine derartige Mitteilung wird in den meisten Fällen ein Schock sein. Je nach Temperament und Charakter wird er unterschiedlich reagieren: Er kann die Mitteilung vergessen, verdrängen, verleugnen. Er kann verzweifeln und dem absehbaren Ende durch einen Freitod zuvor kommen. Er kann sich an die drei Worte des Arztes »nach menschlichem Ermessen« klammern und sein Geld zu Ärzten, Heilpraktikern oder Gesundbetern tragen in der Hoffnung, Heilung zu finden. Er kann sich entschließen, den »Becher des Lebens« bis zum letzten Tropfen auszutrinken, indem er allen Luxus und Genuss auskostet, den die Welt zu bieten hat, sofern er sich das leisten kann. Er kann aber auch sein Leben überdenken, Frieden machen mit Menschen, mit denen er in Feindschaft lebte, sein Haus bestellen und Gutes tun, sofern er die Mittel dazu hat. Und er kann sich, nachdem er getan hat, was er für angemessen hielt, gefasst in sein Schicksal fügen.
Wenn schon ein einzelner Mensch auf die Mitteilung seines nahen Endes zunächst mit einem Schock reagiert, so müsste die Mitteilung des nahen Endes der Menschheit eigentlich in jedem Menschen einen weit größeren Schock auslösen, denn sie bedeutet ja nicht nur das Ende seines eigenen Lebens, sondern auch das seiner Lieben, seiner Verwandten und Freunde, seiner Arbeitskollegen, seines Volkes, womöglich sogar das Ende der Menschheit und allen höheren Lebens auf der Erde, ganz zu schweigen von der Schuldfrage.
Tatsache aber ist, dass der Schock ausbleibt. Die Erklärung, die Günther Anders für diese – wie er es nennt – »Apokalypseblindheit« angibt, lautet: Wir Menschen sind aufgrund unserer Natur außerstande, uns vorzustellen, was wir anzustellen imstande sind. Er nennt diese Unfähigkeit auch »prometheisches Gefälle«.15 Damit meint er unsere Fähigkeit, Apparate herzustellen und einzusetzen, die dem, was wir begreifen und verantworten können, weit vorauseilt. Dies mag in der Tat zutreffen, zumal auf Menschen, die an der Erfindung der Atombombe beteiligt waren, und auf Menschen, die über ihren Ersteinsatz entschieden. Es gilt vermutlich auch für Menschen, die künftig über ihren Einsatz entscheiden und ihn durchführen.
Wir sind gewissermaßen durch unsere genetische Ausstattung auf die Umwelt, in der wir seit etwa zweihunderttausend Jahren leben, konditioniert. Unser Vorstellungsvermögen bezieht sich auf Größenordnungen und Entfernungen, die in unserer Lebenswelt vorkommen. Bereits die Entfernung von der Erde zum Mond, ganz zu schweigen von der Entfernung zur Sonne liegt weit jenseits unseres Vorstellungsvermögens. Das gilt noch viel mehr für die Größe des Universums oder die unendlich kleinen Dimensionen in der Welt der Atome. Sie sind für uns nichts als Zahlen. Und es gilt selbstverständlich auch für die atomare Apokalypse. Sie liegt weit jenseits unseres Vorstellungsvermögens. Was wir uns nicht vorstellen können, betrifft uns auch nicht. Die mangelnde Vorstellung schiebt sich gleichsam wie eine Isolierschicht zwischen uns und die künftige Realität des atomaren Untergangs.
Doch gibt es Menschen, die zumindest ahnungsweise erfassen, welche Gefahr der Menschheit droht. Aber auch sie verhalten sich, von Ausnahmen abgesehen, als hätte sich nichts verändert. Zu diesen Ausnahmen zählten einige Atomphysiker und Militärs, die aus beruflichen Gründen mit der Bombe zu tun hatten.16 Sie haben nachdrücklich ihre völkerrechtliche Ächtung gefordert. Aber nicht alle denken so. Sie wissen, dass sie ihren Arbeitsplatz, ihr Einkommen und ihre soziale Stellung riskieren, würden sie ihrem Gewissen folgen und zu Whistleblowern werden. Dieser Herausforderung fühlen sie sich nicht gewachsen. Sie leben folglich in einer Art sanfter Schizophrenie. Günther Anders spricht in diesem Fall von »Apokalypsestumpfheit«.17 Sie spüren die Gefahr, die der Menschheit droht, und ignorieren sie dennoch.
Die Menschheit durchlebt derzeit eine Krise, wie sie sie in ihrer langen Geschichte noch nie erlebt hat. Es ist eine Krise, die wahrscheinlich mit ihrer völligen Vernichtung enden wird, und sie wird womöglich alles höhere Leben auf diesem Planeten mit sich in den Abgrund der Vernichtung reißen.18 Es ist gut möglich, dass es auf diesem Weg noch einen oder mehrere Atomkriege geben wird mit jeweils mehreren hundert Millionen Toten und unfassbaren Schäden an Sachwerten und Umwelt. Eine Umkehr auf dem Weg in den Abgrund der Selbstvernichtung ist nach diesen Kriegen dennoch nicht zu erwarten, eher ein noch erbarmungsloserer Kampf um die verbleibenden Ressourcen. Die Spin-Doctors der Atommächte haben es geschafft, die monströsen Opferzahlen eines Atomkriegs durch die Bezeichnung Megadeath für 1 Million Tote auf eine handliche Größe zu reduzieren. Ein Atomkrieg mit hundert oder auch fünfhundert Megadeath hört sich schon recht harmlos an, zumal das Problem der Übervölkerung der Erde sich auf diese Weise nebenbei lösen ließe.
Einwand Warum so pessimistisch? Es hat doch immer wieder Versuche gegeben, aus den Erfahrungen von Kriegen und Katastrophen zu lernen. Warum sollte das im Fall eines begrenzten Atomkriegs anders sein?
Antwort Ja, es hat solche Versuche gegeben. Denken wir nur an die bereits erwähnte Gründung des Völkerbundes nach dem Ersten Weltkrieg oder der UNO nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch zeigen gerade sie durch ihr Scheitern, dass es nicht gelang, die auf den Untergang hin treibenden Kräfte zu bändigen und eine Umkehr einzuleiten, die die Menschheit vom Abgrund der Selbstvernichtung wegführt. Das jedenfalls ist das Ergebnis einer nüchternen Bestandsaufnahme der Weltsituation. Ich weigere mich, sie pessimistisch zu nennen. Sie ist gewiss auch nicht optimistisch. Sie ist aber, so meine ich, realistisch. Dass das kein Plädoyer für Passivität oder Resignation ist, versteht sich von selbst.
Es gibt Ausnahmen von dem, was Günther Anders Apokalypseblindheit nannte. Davon sollen hier einige Beispiele zur Sprache kommen:
Wenn etwas ganz und gar Neues auf der Bühne der Weltgeschichte erscheint, wird es wegen seiner Neuheit von vielen wahrgenommen. Robert Oppenheimer, der wissenschaftliche Leiter des Manhattan-Projekts für den Bau der Atombombe, berichtet, beim Anblick des Atompilzes des ersten erfolgreichen Atomtests in der Wüste von Alamogordo im Bundesstaat New Mexico (USA) seien ihm die Worte des Gottes Vishnu aus der Bhagavadgita19 durch den Kopf gegangen: »Ich bin der Tod, der Zerstörer der Welten.« Und er fügte hinzu: »Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.« Und Albert Einstein äußerte: »Die entfesselte Kraft des Atoms hat alles verändert außer unsere Denkgewohnheiten, und wir gleiten einer Katastrophe ohnegleichen entgegen. Eine neue Art zu denken ist notwendig, wenn die Menschheit überleben will. Die Abwendung dieser Gefahr ist das dringendste Bedürfnis unserer Zeit geworden. Atomenergie kann immer nur der Zerstörung dienen.«
Der berühmte englische Philosoph, Mathematiker, Historiker, Schriftsteller und Nobelpreisträger Bertrand Russell äußerte als Neunzigjähriger im Jahr 1962 in einem Vortrag: »In nur wenigen Ländern dieser Erde gibt es heute eine Handvoll Menschen, die mit der Macht ausgestattet sind, das Schicksal der Menschheit zu besiegeln. Es ist die Pflicht eines jeden Bürgers, aufzustehen und die Intrigen der Großmächte zu entlarven, die mit der Macht ausgestattet sind, die zur Vernichtung der Menschheit führen könnte.«
In diesem Zusammenhang verdient auch General George Lee Butler erwähnt zu werden, der in den Jahren 1991–94 Oberkommandierender des SAC (Strategic Air Command) der USA und nach dem amerikanischen Präsidenten der zweite Mann war, der den Einsatzbefehl für die amerikanischen Atomwaffen zu geben hatte. Er urteilte im Rückblick auf den Kalten Krieg: »Wir sind im Kalten Krieg dem nuklearen Holocaust nur durch eine Mischung aus Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich fürchte, das Letztgenannte hatte den größten Anteil daran.«20
Mahatma Gandhi sah sich durch die Atombombe in seiner Haltung der entschiedenen Ablehnung von Gewalt in jeder Form bestätigt: »Es haben katastrophale Veränderungen in der Welt stattgefunden. Halte ich noch immer an meinem Glauben an Wahrheit und Gewaltfreiheit fest? Hat nicht die Atombombe diesen Glauben in die Luft gesprengt? – Sie hat das nicht nur nicht getan, sondern sie hat mir eindeutig bewiesen, dass die Zwillinge Wahrheit und Gewaltfreiheit die mächtigste Kraft auf der Welt bilden. Gegen diese Kraft richtet die Bombe nichts aus. Diese beiden einander entgegen gesetzten Kräfte21 sind in ihrer Art gänzlich verschieden, die eine ist moralisch und spirituell, die andere physisch und materiell. Die eine ist der anderen unendlich überlegen, da diese durch sich selbst begrenzt ist. Die Kraft des Geistes ist stets fortschreitend und unbegrenzt. Ihre volle Entfaltung macht sie in der Welt unbesiegbar.« Und er fährt fort:
»Ich weiß, ich habe hiermit nichts Neues gesagt. Ich stelle nur eine Tatsache fest. Und was mehr ist, diese Kraft wohnt jedem inne – ob Mann, Frau oder Kind – ungeachtet ihrer Hautfarbe. Nur schlummert sie bei manchen; sie kann aber durch kluges Training geweckt werden. Ferner ist zu beachten, dass es keine Rettung vor der Selbstvernichtung gibt, wenn wir diese Wahrheit nicht anerkennen und uns nach Kräften um ihre Verwirklichung bemühen. Das Heilmittel liegt in jedem Einzelnen, der sich in jedem Lebensbereich um Selbstverwirklichung bemüht, ungeachtet dessen, was die Nachbarn dazu sagen.«22
Die zweite Ausnahme von der von Günther Anders diagnostizierten »Apokalypseblindheit« ist die Auseinandersetzung um die Stationierung der neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing II und Cruise Missile in Europa zu Beginn der achtziger Jahre. Wären die Raketen ohne Ankündigung stationiert worden, hätten vermutlich nur wenige davon überhaupt Notiz genommen. Durch die Ankündigung ihrer Stationierung aufgrund des Nato-Doppelbeschlusses vom 12.12.1979 für den Fall, dass die Sowjetunion ihre neuen Mittelstreckenraketen nicht abrüstet, bot sich der Friedensbewegung in den Ländern Europas die Gelegenheit, eine breite Protest- und Widerstandsbewegung gegen das, was in ihren Augen nicht nur eine »Nachrüstung«, sondern auch eine »Vorrüstung« war, aufzubauen.
Zu Beginn der achtziger Jahre spitzte sich das Verhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion krisenhaft zu. Sollte die Krise zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Supermächten eskalieren, würde Mitteleuropa zum Kriegsschauplatz, von dem im Fall eines Nuklearkrieges nicht viel mehr übrig geblieben wäre als eine radioaktiv verseuchte Wüste.23 Beides – die Chance auf eine Verhinderung der Stationierung und die konkrete Bedrohung durch einen Atomkrieg – erzeugten in weiten Teilen der Bevölkerung in den mitteleuropäischen Staaten ein Gefühl der Betroffenheit, das eine kraftvolle Reaktion in Gestalt der Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre auslöste.
Heute haben wir uns an die Bombe gewöhnt. Manche haben sogar gelernt, sie zu lieben,24 da sie angeblich den Krieg zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion in der Zeit des Kalten Krieges durch das System des »Gleichgewichts des Schreckens«25 verhindert habe. Wie fragil dieses System in Wahrheit war, wird noch Gegenstand dieser Untersuchung sein.
So einleuchtend die These von Anders auch sein mag, gibt es doch eine ganze Reihe weiterer Erklärungsmöglichkeiten für die seltsame Diskrepanz zwischen der Realität der atomaren Bedrohung und ihrer privaten und öffentlichen Wahrnehmung.