HANDBUCH
PRESSEARBEIT
Soziale Bewegungen schreiben Geschichte*n
Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Hedwig A. Lindholm (Hg.):
Handbuch Pressearbeit
1. Auflage, April 2020
eBook UNRAST Verlag, Juni 2020
ISBN 978-3-95405-067-3
© UNRAST-Verlag, Münster 2020
www.unrast-verlag.de – kontakt@unrast-verlag.de
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Satz und Umschlaggestaltung: Yasmin Abit
Zeichnungen: Caroline Pochon - www.toolsandmoods.net
Umschlag Foto: Ruben Neugebauer/ Ende Gelände Lausitz 2016
Foto Umschlagrückseite: Tim Wagner/ Ende Gelände Leipziger Revier 2019
Vorwort
Können Sprechblasen die Welt retten?
Oder: Warum wir Pressearbeit machen
Teil 1: Eine Geschichte finden und sie erzählen – konzeptionelle Überlegungen
1.1 Die Pressegruppe und das Pressekonzept
1.2 Warum Geschichten wichtig sind
1.3 Geschichte wird gemacht! Grundsteine legen
1.4 Weitere Elemente einer Geschichte
1.5 Kernbotschaften
1.6 Antwortbausteine und Krisenwording
1.7 Die Verbündeten-Analyse
1.8 Framing
1.9 Symbole
1.10 Einige Fallstricke und Hilfen in der Arbeit mit Geschichten
1.11 Diskursive Netzwerke
Teil 2: Die praktische Pressearbeit
2.1 Arbeitsorganisation innerhalb der Pressegruppe
2.2 Pressemitteilungen
2.3 Presseverteiler
2.4 Pressemonitoring und Pressespiegel
2.5 Das Interview
2.6 Organisatorische Gespräche mit der Presse
2.7 Betreuung der Pressehandys und der Presseadresse
2.8 Einbindung der Medien in die Aktion
2.9 Die Pressekonferenz
2.10 Social Media
2.11 Film- und Fotokoordination
2.12 Aktionen von kleinen Gruppen und unangekündigte Aktionen
2.13 ›Niemand wird allein gelassen‹ – Pressearbeit zu Repressionen
Teil 3: Transformative Medienarbeit! Oder transformieren die Medien uns? – Reflexionen
3.1 Arbeit im Spannungsfeld zwischen Medienlogik und emanzipatorischen Werten
3.2. Wer spricht? Die Rolle der Pressesprecher*in
3.3 Klarname oder Alias
3.4 Was macht die exponierte Sprecher*innen-Rolle mit uns?
3.5 Queer we go – wie kann transformative Pressearbeit aussehen?
3.6 Genderdynamiken und Diskriminierungen
3.7 Selbstverteidigung gegen Hass und Sexismus
3.8 (K)eine Angst vor Professionalität?!
3.9 ›Gewalt‹ und soziale Bewegungen in der Pressearbeit
Teil 4: Gastbeiträge
4.1 Geflüchtete Frauen* und Medien
4.2 Der Oranienplatz – ein Raum für viele Geschichten
4.3 Eine Perspektive auf Pressearbeit im Hambacher Forst
4.4 Pressearbeit für Kleingruppenaktionen
4.5 Botschaften aus anderen Regionen der Welt in die Presse bringen
Zum Ende
Verweise und weiterführende Literatur
Hedwig A. Lindholm
Das Autor*innenkollektiv Hedwig A. Lindholm ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung und anderen sozialen Bewegungen aktiv. Ihre Erfahrungen in der Öffentlichkeitsarbeit sammelten die Autor*innen vor allem bei den Ende Gelände-Aktionen, bei denen Tausende mit zivilem Ungehorsam im Tagebau oder auf Schienen gegen Kohle protestierten.
»Es war im November 2012. Die erste Waldbesetzung im Hambacher Forst wurde geräumt. Ich fuhr hin, um eine Freund*in, die dort in einem Baumhaus wohnte, zu unterstützen. Sie wollte aber gar keine Unterstützung. Also suchte ich nach anderen Aufgaben. Plötzlich hieß es, dass Menschen an der Mahnwache am Rande der Räumung gebraucht wurden. Dort angekommen, fror ich erbärmlich und lernte Freund*innen fürs Leben kennen. Eine Waldbesetzerin machte – gerade erst vom Baum gepflückt – schon wieder Pressearbeit. Beeindruckt hörte ich zu, was sie und eine Anwohnerin aus dem angrenzenden Dorf Buir einer Journalistin erzählten. Doch dann mussten beide los. Die Waldbesetzerin fragte mich, ob ich den Pressekontakt übernehmen könnte. Sonst war keine*r dazu bereit, also stimmte ich zu und versuchte nachzuplappern, was die beiden gesagt hatten. Um Mitternacht wurde dann ein Interview mit mir im ZDF ausgestrahlt. Darunter stand mein Name und die Bezeichnung Umweltaktivist. ›Jetzt habe ich wohl eine neue Identität‹, dachte ich.«
Diese Geschichte erlebte eine*r der Autor*innen unseres Kollektivs. Sie zeigt unseren Zugang zur Pressearbeit: Er ist aus der Praxis geboren. Aus der Notwendigkeit, das Wort zu ergreifen. Um die Verhältnisse nicht länger so zu lassen, wie sie sind. Das Vertrauen, dass wir durch unsere Mitstreiter*innen erfahren haben, stärkte uns dabei. Wir begaben uns auf die Suche nach dem Wissen, wie man ein Interview gibt oder eine Pressemitteilung schreibt. Die Erfahrungen aus den Klimacamps in England, den Castor-Protesten und der globalisierungskritischen Bewegung waren dabei wertvolle Puzzlestücke. Doch es fehlte ein Ort, an dem das Wissen gesammelt wurde. Mit diesem Buch haben wir ein Bündel geschnürt, das wir uns schon früher gewünscht hätten. Wir hoffen, dass es Menschen darin bestärkt, das Wort zu ergreifen. Denn unsere Botschaft zur Pressearbeit ist einfach: Ihr müsst keine Profis sein, sondern euch gegenseitig bestärken – und loslegen.
Wir sind überzeugt: Gesellschaftsveränderung braucht viele Menschen, um aktuelle Probleme kritisch zu analysieren und um neue Geschichten zu erzählen: von einer gerechten, ökologischen Gesellschaft für alle weltweit. Ihr findet in diesem Handbuch viele Reflexionsfragen, die ihr alleine oder in euren politischen Zusammenhängen bearbeiten könnt.
Im ersten Teil des Buches geht es um theoretische Grundlagen: Warum ist Pressearbeit wichtig, wie entwickelt ihr eine gute Erzählung und wie vermittelt ihr diese in euren Kernbotschaften? Der zweite Teil fasst Tipps um die praktische Arbeit zusammen. Im dritten Teil reflektieren wir Fragen, die uns bei der Pressearbeit beschäftigen: Was macht die Rolle der Pressesprecher*in mit uns? Wie gehen wir mit dem Thema Gewalt um? Inwieweit wollen wir überhaupt den Spielregeln der Medien folgen? Schaffen wir es, dabei unseren eigenen Werten treu zu bleiben?
Wir sind eine Gruppe von Menschen, die zwischen 2015 und 2019 in der Pressegruppe des Anti-Kohle-Bündnisses Ende Gelände aktiv war. Zurzeit gibt es eine große Nachfrage nach Trainings und Material für neue politische Gruppen und nach Skill-Sharing für Bewegungsaktive, weswegen wir unser Erfahrungswissen teilen möchten. Durch Exkurse und Gastbeiträge fließen darüber hinaus Erfahrungen aus der Pressearbeit anderer politischer Gruppen ein. Gleichzeitig werdet ihr merken, dass die Beispiele, mit denen wir arbeiten, sich stark auf unsere Erfahrungen rund um Massenaktionen zivilen Ungehorsams gegen Braunkohle beziehen. Wir haben uns entschieden, bei diesem ›Wir‹ zu bleiben, damit unsere spezifische Perspektive transparent wird.
Aus unserer Perspektive ist ziviler Ungehorsam ein zentraler, legitimer Bestandteil gesellschaftlicher Veränderung. Wir sehen uns in einer Tradition von Bewegungen, die für Bürger*innenrechte, die Gleichstellung von Frauen* oder den Atomausstieg kämpften, indem sie bewusst gegen die Regeln von Macht und Ausbeutung verstießen. Dabei ist uns bewusst, dass es nicht allen Menschen möglich ist, an zivilem Ungehorsam teilzunehmen, aus körperlichen oder politischen Gründen, oder weil es ihre Lebenssituation nicht erlaubt.
Andere Gruppen haben ganz andere Vorstellungen von gesellschaftlichem Wandel, legen unterschiedliche Schwerpunkte, verfügen über weniger, andere oder mehr Kapazitäten. Wir hoffen, dass ihr trotzdem wertvolle und hilfreiche Hinweise aus dem Buch ziehen könnt, auch wenn ihr zu anderen Themen und mit anderen Aktionsformen arbeitet. Unser Anspruch ist es also nicht, den Leser*innen zu erklären, wie alle sozialen Bewegungen Pressearbeit machen sollen. Wir können hier noch nicht einmal für das ganze Ende Gelände Bündnis sprechen. Unsere Perspektiven sind davon geprägt, dass viele von uns einen akademischen Hintergrund haben, fast alle von uns keine Migrationsgeschichte haben und wir alle in einer rassistischen Welt als weiße Personen privilegiert sind. Unsere Erfahrungen geben somit nur eine eingeschränkte Perspektive auf soziale Bewegungen und Pressearbeit wieder. Wir möchten euch vermitteln: So haben wir das gemacht. Und jetzt viel Spaß beim Lesen!
Soziale Bewegungen wollen die Welt verändern. Sie organisieren Demonstrationen, besetzen Häuser, blockieren Braunkohlebagger. Einerseits ist die unmittelbare Aktion wichtig: Wohnraum zu schaffen, indem wir ein leerstehendes Haus besetzen; mit einer Sitzblockade die Abschiebung eines Menschen zu verhindern. Diese Aktionen können als Erfahrungsraum für Beteiligte und als konkrete Intervention eine direkte, unmittelbare Wirkung haben. Und sie können darüber hinaus eine mediale Wirkung erzeugen. Da soziale Bewegungen meistens keine Gesprächstermine bei Entscheidungsträger*innen bekommen (wollen) oder große finanzielle Ressourcen für Fernsehwerbung aufwenden können, ist die mediale Aufmerksamkeit wichtig, um unseren Geschichten Gehör zu verschaffen.
Wenn Massen in Bewegung sind oder kleinere Gruppen starke Bilder erzeugen, können sie so Inhalte und Interpretationen über die Aktion in die Öffentlichkeit tragen und so Zehntausende, Hunderttausende Menschen erreichen. Schließlich brauchen soziale Bewegungen den Rückhalt und die Unterstützung der Bevölkerung, um zu gewinnen.
Als 2011 eine Handvoll Menschen begann, Kohlezüge im Rheinischen Braunkohlerevier zu blockieren, kannte fast niemand den Begriff ›Kohleausstieg‹. Heute ist klar, dass der Kohleausstieg kommt – die Frage ist nur, wie. Pressearbeit sozialer Bewegungen kann dazu beitragen, die Sprache und das Denken einer Gesellschaft zu verändern, und ist ein wichtiger Bestandteil auf dem Weg zur Gerechtigkeit.
Das Denken und Sprechen einer Gesellschaft drückt sich in ihren Geschichten aus. Geschichten stellen Sinnzusammenhänge zwischen Ereignissen her und erleichtern uns die Einordnung von Vorgängen. Sie bestimmen, was wir normal finden und was wir für einen Skandal halten. Das kollektive Arbeiten an Geschichten ist der Diskurs. Nicht alle Menschen und Bevölkerungsgruppen haben die gleichen Möglichkeiten, am Diskurs mitzuwirken. Darum bildet er nie die ganze Wahrheit ab. Der vorherrschende Diskurs neigt dazu, Altbekanntes zu bestätigen. Er ist der Zement des Status quo.
Ende Gelände Aktion Juni 2019 im Rheinischen Braunkohlerevier
(Foto: Pay Numrich (CC BY 2.0))
Politische Gruppen und Kampagnen organisieren sich unterschiedlich, je nachdem was als notwendig und funktionierend für die politische Arbeit angesehen wird. Oft ist es Aufgabe bestimmter Menschen, ihre Inhalte in den Medien zu platzieren. Dabei unterscheiden wir die Pressearbeit von der Kommunikation zur Mobilisierung, die sich darauf fokussiert, Menschen über Flyer, Newsletter, Plakate und andere Formate anzusprechen und zur Teilnahme an Aktionen zu mobilisieren (bewegungsinterne Zielgruppen). Pressearbeit hingegen richtet sich an eine breitere Öffentlichkeit (bewegungsexterne Zielgruppen). Das spiegelt sich auch in einer unterschiedlichen Sprache wider: Inhalte sollten allgemeinverständlich aufbereitet werden, sodass sie von Menschen ohne Vorkenntnisse auch außerhalb der aktivistischen Szene verstanden werden. Dabei kann es zum Beispiel in der Social-Media-Arbeit Überschneidungen geben, denn eine gute Mobilisierung erhöht Presseaufmerksamkeit und gute Pressearbeit mobilisiert Menschen. Durch Aktionen spitzen wir gesellschaftliche Konflikte zu und tragen sie in weitere Teile der Gesellschaft. Wir gehen offensiv auf Medien zu, und zwar nicht nur auf bewegungsnahe, politisch links orientierte Medien, sondern auch auf Mainstream- bzw. bürgerliche Medien wie die Süddeutsche Zeitung, ARD und RTL. Wir versenden Pressemitteilungen an Redaktionen, rufen Journalist*innen an, um auf uns aufmerksam zu machen, und reagieren auf Presseanfragen.
Die Außenkommunikation ist der sichtbarste Teil einer politischen Gruppe. Sie soll alle Aktiven nach außen repräsentieren. Für diese exponierte Stellung braucht es Verantwortung und Sensibilität. Vor allem in Bündnissen mit mehreren Gruppen, die unterschiedliche politische Haltungen haben, muss die Pressearbeit gut abgesprochen werden. Einerseits sollte die Pressegruppe darauf achten, dass alle Aktiven mit den Botschaften einverstanden sind. Andererseits wollen wir für die Kampagnen, die wir organisieren, möglichst klare und leicht verständliche Botschaften in den politischen Diskurs tragen. Dabei können meist nicht alle wichtigen Inhalte gleichzeitig angesprochen werden. In Teil 2 stellen wir deshalb konkrete Schritte zur Arbeitsorganisation innerhalb einer Pressegruppe vor.
Der Grundstein unserer Pressearbeit ist ein Pressekonzept, das wir zu jeder Kampagne ausarbeiten. Darin beschreiben wir unsere Arbeitsweise, unsere Kernbotschaften und unsere Argumentationslinien. Das Konzept diskutieren wir mit der Gesamtgruppe, überarbeiten es nach den Rückmeldungen und beschließen es dann. Dies bildet die Grundlage der Äußerungen, die wir im Verlauf der Kampagne in Pressemitteilungen, Interviews und Artikeln treffen. So können wir im weiteren Verlauf der Kampagne autonom und schnell agieren und müssen nicht jede einzelne Pressemitteilung mit der Gesamtgruppe abstimmen. Insbesondere am ruhigeren Anfang einer Kampagne ist es wichtig, diese Absprachen zu treffen, damit in den ereignisreichen Momenten keine Unstimmigkeiten entstehen.
Reflexionsfragen
Interviews sind nur die Spitze des Eisbergs. Pressearbeit besteht zum größten Teil aus unsichtbaren Aufgaben, ohne die das Interview nicht möglich wäre.
In politischen Kreisen findet sich häufig der Glaube wieder, dass wir Menschen von unseren Positionen überzeugen könnten, indem wir ihnen nur die richtigen Fakten und Argumente nennen. Forschungen zu Kommunikation, insbesondere über die Klimakrise, widerlegen diese Annahme. Wehlings Arbeiten zu Framing (s.u.) und Marshalls Überlegungen zur Psychologie der Klimakrise erinnern uns daran, dass sich Menschen weniger von Fakten als vielmehr durch schlüssige Erzählungen überzeugen lassen. Unsere Kommunikation muss dabei zwar weiterhin auf wissenschaftlichen Tatsachen basieren, aber die Art der Vermittlung ändert sich. Es geht also neben dem »Was erzählen wir?« verstärkt um das »Wie erzählen wir?«
Wenn wir den Begriff ›Geschichte‹ (oder ›Narrativ‹, ›Erzählung‹) verwenden, meinen wir damit nicht, dass wir Märchen erfinden oder Fake News in die Welt setzen wollen. Eine Geschichte zu erzählen, beschreibt den Vorgang, zwischen Fakten einen Deutungszusammenhang herzustellen.
Es verhält sich ähnlich wie mit den Sternen: Dass Himmelskörper existieren, und wo sie sich befinden, sind Fakten. Sternbilder - das Tier oder die mythische Gestalt, die wir darin sehen - sind die Sinnzusammenhänge, in die wir sie setzen.
Mit Geschichten geben Menschen der Welt und dem eigenen Handeln einen Sinn. Uns geht es hier insbesondere um jene Erzählungen, die Ereignisse in einen größeren Kontext von Macht und Herrschaft – bzw. Widerstand dagegen – einbetten. Solche Narrative können die Grenzen des Vorstellbaren erweitern, wie beispielsweise die ›I have a Dream‹-Rede von Dr. Martin Luther King. Sie können aber auch Unterdrückung fortschreiben. Wer etwa die Geschichte erzählt, dass Kolumbus Amerika entdeckte und mutige europäische Siedler*innen eine unbewohnte Wildnis nutzbar machten, blendet den grausamen Landraub und jahrhundertelange Gewalt gegen indigene Gemeinschaften aus und verfestigt ein koloniales Weltbild.
Politische Akteur*innen kommunizieren Geschichten immer interessengeleitet. Wer vom CO2-Zertifikatehandel profitieren will, behauptet, dies sei der beste – oder einzige – Weg zum Klimaschutz. Wer vom Kapitalismus profitiert, wird auch angesichts der Klimakrise die Marktwirtschaft verteidigen. Doch nur in den seltensten Fällen gibt es eine eindeutige Geschichte, die alle Menschen zur Erklärung eines Phänomens akzeptieren. Im Falle der Klimakrise gibt es zum Beispiel viele Akteur*innen, die stattdessen eine Geschichte internationaler Solidarität, einer Demokratisierung der Wirtschaft und von Verboten klimaschädlicher Technologien erzählen. Die politische Auseinandersetzung darum, welche Erzählung die wirksamste wird, nennen wir den Kampf um die Geschichte.
Wenn wir ein Narrativ entwickeln, fangen wir wie beim Bau eines Hauses mit dem Fundament an. Als Grundsteine einer Geschichte sehen wir:
Zielsetzung
Was wollen wir erreichen? Was ist genau die Veränderung, die wir versuchen zu erreichen? Formuliert eure Ziele zum Beispiel mit Hilfe der SMARTIE-Methode: Dann sind eure Zielformulierungen strategisch, messbar, aktivierend, realitätsbezogen, terminiert (mit Zeiten des Veränderungsprozesses versehen), inklusiv und emanzipatorisch. Gute Ziele der eigenen politischen Arbeit zu finden und zu formulieren, ist eine Herausforderung, für die ihr Zeit einplanen müsst. Die Belohnung: Ihr wisst dann, was ihr tut, was ihr nicht tut und was ihr noch tun müsst! Mehr zu dieser Methode findet ihr in der Broschüre Wurzeln Im Treibsand von ausgeCO2hlt.
Adressat*innen
Wer sind die Entscheidungsträger*innen, die das gewünschte Ziel möglich machen können? Das können z.B. Stadtrat, Land- oder Bundestag, Gerichte, aber auch ein Konzern sein. Politische Akteur*innen, die sich selber als radikal verstehen wollen, stehen vor der Herausforderung, dass sie nicht glauben, dass Konzerne und realpolitische Gremien sich nach ihren Forderungen richten, und sie deshalb auch nicht an sie appellieren wollen. Deswegen haben sie zwar Realpolitik und Konzerne meistens im Fokus der Kritik, zeigen aber wenig bis gar nicht auf, wer politische Veränderung umsetzen kann.
Publikum
Wer ist die Zielgruppe, die wir erreichen und überzeugen müssen? Wenn wir dies allgemein halten und nur sagen, wir wollen ›die Öffentlichkeit‹ erreichen, werden wir niemanden wirklich erreichen. Wir können spezifischer überlegen, wie passive Verbündete dazu bewegt werden können, aktiv zu werden und wie aktive Verbündete repräsentiert und motiviert werden können.
Unterstützerkreis
Wer ist unsere Basis? Das sind die sozialen Blöcke, die organisierten Gruppen und Gemeinschaften, mit denen ihr bereits arbeitet, die ihr repräsentiert oder mit denen ihr gemeinsame Interessen habt. Eine Geschichte, die nicht für die eigene Basis funktioniert, funktioniert nicht!
Gegenseite
Was erzählen eure Gegner*innen über sich und über euch? Ihr seid nicht die einzigen, die zu eurer Aktion oder Kampagne kommunizieren. Eure direkten Gegner*innen haben ihre eigene Agenda und erzählen ihre eigene Geschichte über sich und euch. Wenn ihr diese Geschichten kennt und analysiert, könnt ihr Wege finden, sie zu entlarven und klug zu hinterfragen oder sogar unschädlich zu machen und zu übertrumpfen. Ihr könnt euch dafür zum Beispiel deren Texte, Interviews, Videos und Netzauftritte anschauen.
Realpolitischer Enterhaken
Wir haben festgestellt, dass eine Geschichte für Medien viel interessanter wird, wenn es einen Bezug auf das Weltgeschehen und realpolitische Prozesse gibt. Auch wenn ihr eure eigenen Themen setzen wollt, hilft ein Anknüpfungspunkt an den bestehenden Diskurs. Gibt es gerade Gesetzgebungsverfahren, Untersuchungen oder passende Wahlkämpfe, Konzernentscheidungen oder wissenschaftliche Erkenntnisse? Wie positioniert ihr euch zu diesen Aktivitäten? Manchmal kommt auch alles ganz anders: Beispielsweise haben die Terroranschläge von Paris kurz vor der Weltklimakonferenz 2015 alles vor Ort Geplante auf den Kopf gestellt, Pressearbeit war dann selbstverständlich nicht mehr wie angedacht möglich.
Reflexionsfragen
Wenn ihr die Grundsteine eurer Geschichte festgelegt habt, könnt ihr sie um weitere Elemente ergänzen. Dies sind Elemente, um die eure Erzählung mit anderen Geschichten streiten wird:
Der Konflikt
Worum geht es eigentlich? Welche allgemeinen Interessen, die alle Menschen teilen, behaupten die Akteur*innen zu bedienen? Steht beispielsweise der Strompreis zur Debatte oder das Überleben der Menschheit auf dem Spiel? Geht es um Arbeitsplätze in der Region oder das Eigentum an Produktionsmitteln? Bestimmte Gesichtspunkte aus einer Debatte auszuschließen, ist ein wichtiges Instrument der Herrschenden. Wenn unsere Geschichte überzeugt, können wir auch zahlreiche neutrale Beobachter*innen für uns gewinnen.
Die Charaktere
Wer sind die Konfliktparteien, wie heißen sie und was machen sie? Wer sind die Betroffenen, wer die ›Bösen‹, wer die ›Held*innen‹? Wer vermittelt und erzählt die Geschichte? Sprechen sie für sich selbst oder spricht jemand anderes für sie? Sprechen beispielsweise die, die schon heute am meisten von der Klimakrise betroffen sind, in unseren Geschichten auch für sich selbst? Kämpfen Ökoterrorist*innen gegen Polizist*innen, Umsiedlungsunwillige gegen einen Kohlekonzern oder Jugendliche gegen die Reichen?
Grundannahmen