Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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Copyright © 2020 Mark Scheppert

Umschlaggestaltung: K. v. Günner

Satz: D. Werk

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7519-7563-6

Die Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Autors urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für die Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. www.markscheppert.de

Inhalt

Der Autor

Mark Scheppert wurde 1971 geboren und lebt seither in Berlin-Friedrichshain.

Er war Gärtner, Möbelträger, Student, Sachbearbeiter, Küchenhilfe, Erntehelfer, Forsthelfer, Fahrrad-Codierer, Vertreter, Postmitarbeiter, Anzeigenverkäufer und Marketingmanager. Doch all das fand er kein bisschen spannend.

Deshalb begann er irgendwann, nebenher ein paar Zeilen zu schreiben und wurde 2009 Mitglied der Lesebühne „Die Unerhörten“.

Mit seinem Buch „Mauergewinner“, welches monatelang die BoD-Bestsellerliste anführte, gelang ihm sofort ein beachtlicher Erfolg. Auch sein Fußballroman „90 Minuten Südamerika“ erhielt gute Kritiken.

In „Einheit Unnormal“ hält er 11 Geschichten seines Freundes El Rubio über den 1. FC Union Berlin und seine verrückten Fans in Buchform fest.

www.markscheppert.de

Erhältliche Titel: „Mauergewinner“; „Alles ganz simpel“; „Koalaland“; „Leninplatz“: „90 Minuten Südamerika“ und „Einheit Unnormal“.

„Komm wir reichen uns die Hand und wir werden
schon sehen,
dass die zeitlosen Momente wirklich niemals vergehen.
Es ist der eine Augenblick, dieses vertraute Gefühl,
dass unsere Träume irgendwann in Erfüllung gehen.“

— Feine Sahne Fischfilet —

Einheit Unnormal

Eisern Union! Es ist unsere zweite gemeinsame Auswärtsfahrt in die Hansestadt Hamburg und das ist ihr Schlachtruf. Beim ersten Mal fuhren wir mit der Truppe zum FC St. Pauli und diesmal zu deren Antithese – zum Hamburger SV. Heute, am 26. November 2018, spielt Union gegen den momentanen Tabellenführer und könnte immerhin Dritter nach diesem Montagsspiel werden. Haue hatte vor der Saison sogar T-Shirts mit dem Aufdruck „Aufstieg jetzt“ verteilt. Nun ja …

Ich sitze bei Billy im Auto und könnte ihm stundenlang zuhören. Schließlich hat er alle Höhen und Tiefen (davon gab es mehr) des Clubs seit 40 Jahren miterlebt und weiß darüber aberwitzige Anekdoten zu erzählen. Doch leider werde ich diese Erinnerungen nicht nacherzählen können, weil ich eben nicht dabei gewesen bin und somit die Gefühle und Emotionen nicht selbst empfunden habe. Aber vielleicht bringt ja die Zukunft noch etwas!

Die Fahrt vergeht wie im Flug und ich trinke aus purer Rücksicht auf den Fahrer nur drei Dosen Bier. Billy wird der „Rührer“ genannt, weil er sich immer um alles und jeden kümmert. Es bedeutet also „Kümmerer“, obwohl er in meinen Augen gleichzeitig Anführer der Jungs ist.

Auch heute ist er besorgt um unser Wohlbefinden, denn im Kofferraum steht ein 20er Kasten Berliner Pilsner, verziert mit zwei großen Becherovka-Pullen.

Etwa zwei Kilometer vor unserem Ziel entdeckt er Zille im Rückspiegel. Haue, der bei ihm mitfährt, schreibt in den Chat: „Was unterscheidet Siegfried und Roy von Zille und Billy?“ „Der Gesichtsausdruck, wenn einer dem anderen hinten reinfährt.“

Als wir die beiden und Marx, auf einem Parkplatz rund 500 Meter vom Hotel entfernt, treffen, hat der Rührer schon zwei Bier und ein Viertel der Becherovka-Flasche intus. „Ich muss ja aufholen und ein bisschen frisch ist es auch“, erklärt er. Wir laufen gemeinsam zum Hotel, das in unmittelbarer Nähe zum Volksparkstadion am S-Bahnhof Stellingen liegt.

Dort trudeln dann auch die noch fehlenden Chaoten ein. Ich werde Keule zugeteilt, doch die Partyhöhle mit lauter Musik ist das Doppelzimmer von Billy und Zille.

Als Andi, der in Hamburg wohnt, als letzter eintrifft, sind alle schon ziemlich abgeräumt, auch weil ständig jemand zum Bahnhofs-Kiosk geht und neues Bier und Stoni weitere Kräuter-Schnäpse anschleppt. „Vom Dosenfand können wir morgen alle fürstlich frühstücken“, ruft Marx, der irgendwann zum Aufbruch mahnt, da es wohl doch noch ein paar Meter bis zum Stadion seien.

Nachdem wir einen langen, düsteren Tunnel passiert haben, auf dessen anderer Seite man eigentlich martialische Hooligans erwartet, entpuppen sich die paar Meter als ein ausgedehnter Spaziergang durch den Altonaer Volkspark im Dämmerlicht. Wir sind umgeben von etlichen Union- und mehrheitlich HSV-Fans, doch die Stimmung ist friedlich. Allerdings habe ich das Gefühl, dass unsere Truppe die mit den meisten Oktan im Kanister ist. Mit dem vollsteifen Becherovka-King Billy, der fast eine Pulle alleine gesoffen hatte, an der Spitze.

Ich kann sein Geseiere kaum noch verstehen: „Endlich bin ich mal im Volksparkstadion“, schilpt er wie eine Schnapsdrossel, als wir das beleuchtete – und tatsächlich beeindruckende – Bauwerk erstmals erblicken. „Noch biste nicht drin!“, ruft Haue ihm zu und dann: „Einheit Unnormal. Alle nochmal pissen!“

Als wir fertig sind, kippt der Rührer nach vorne um und fällt ungeschützt aufs Gesicht. Ausnahmsweise verletzt er sich dabei nicht, sieht aber nun aus, als habe er mit der Fresse im Matsch gelegen. Außerdem kann er sich plötzlich nicht mehr bewegen.

Der Tschechische Schnaps scheint jetzt auch in den Nervenzellen der Oberschenkel angekommen zu sein. Er ist rund wie ein Ikarus-Buslenker.

Zwei der Jungs schleifen ihn eingehakt zum nächstgelegenen Eingangstor. Stoni versucht die Ordner wortreich davon zu überzeugen, Billy und ihn hineinzulassen. „Bis gleich“, ruft er uns hinterher. Ich weiß, dass er unseren Kumpel nicht einfach zurücklassen wird.

Wir anderen torkeln weiter zum richtigen Eingang für die Gästefans. „Der Rührer ist bisher überall reingekommen und sei es mit einem doppelten Looping über den Zaun“, sagt Zille, wobei das heute keine Option mehr ist.

Ohne viel Gedöns passieren wir die Schleusen und erreichen knapp vor Spielbeginn unseren Block 14 B. Dort haben wir ein Problem, denn in unserer Reihe 3 und den beiden davor haben die Ultras Stellung bezogen.

‚Kein Ding‘, denke ich, da ab Reihe 5 noch fast alles frei ist, doch Keule schaltet sofort in den Stressmodus und pöbelt die Jungs an. Als der Einlauf der Teams wegen der großen Fahnen nicht zu sehen und das „Hamburg meine Perle“ durch die Megafon-Ansagen des Vorsängers nicht zu hören ist, flippt er komplett aus.

„Mach sofort die Flüstertüte aus, oder ich hau dir aufs Maul“, brüllt er den Typen, der ein bisschen wie Kurt Krömer aussieht, an.

Sagen wir es mal so: Auch wenn Rambo heute nicht mit dabei ist, sind wir fast alle größer und kräftiger als die Jungs und natürlich wesentlich erfahrener (älter).

Das Problem: Die Ultras sind viele, sehr viele, und wir nur noch zu sechst.

Keule kriegt sich gar nicht mehr ein und schnauzt die Typen weiter an. Kurz bevor die Fäuste fliegen (sie haben einen stabilen Rothaarigen geschickt), ziehen wir unseren Mann auf Reihe 7 zurück, wo er sich ein wenig beruhigt. Auch zwei Typen mit rot-weißer Pickelhaube folgen uns mit nach oben.

Fast alle der „Einheit Unnormal“ sind keine Freunde der verordneten Beschallung, aber die meisten sind durchaus in der Lage zu reflektieren, dass sie selbst einmal 18 oder 20 waren und einen Scheiß darauf gegeben haben, was die „Alten“ sagen.

In Berlin sind die Jungen auf der Waldseite unter sich. Hier nervt das vorgebrüllte „Schalalalaaa“ und „Oh Köpenick, du bist wunderschön!“ der Vorbeter ein wenig, zumal es fast nie den aktuellen Spielverlauf wiedergibt.

Und noch etwas fällt auf: Keule mit seinem grünen Parker, den Camel-Boots und dem rot-weißen Fischerhut steht im krassen Gegensatz zu den barthaarlosen North-Face-Teenagern mit ihren Marken-Turnschuhen. Auch diesen Unterschied gab es früher schon, als wir selbst jung waren.

Marx ruft: „Ich hol mal ein paar neue Kaltschalen.“ Nach dem 0 : 1 durch Mees in der 12. Minute war die erste Runde als Bierdusche geendet. Er taucht nie wieder auf. Dann muss Zille ein wenig Becherova in der Schüssel entsorgen. Auch er kehrt nicht zurück. Wir sind also nur noch vier Leute: Keule, auf Dauer-Agro-Modus, und seine Beschützer Haue (mit nur einem echten Arm) sowie die Nahkämpfer Andi und El Rubio. „Und die Ultras sind gerannt“, sage ich zu meinem Freund. „Und wir immer vor ihnen her“, ergänze ich. Er grinst. Gleich ist Halbzeit, es steht noch immer 0 : 1 für Union. Eigentlich ist doch alles schön vor knapp 46.000 Zuschauern.

In den überfüllten Klos verliere ich den Rest der Truppe und treffe später nur Keule und einen der Pickelhauben-Männer am Bierstand wieder. Wir geben ihm zwei Becher zum Tragen mit und kämpfen uns dann mit unseren selbst durch die Massen. Doch als wir uns bis zur Reihe 7 durchgequetscht haben, bemerken wir, dass wir im völlig falschen Block gelandet sind. Unsere Jungs sind jedenfalls nicht hier - dafür die nächste Ultratruppe mit einem Capo, der noch penetranter ist.

Ich weiß, dass wir jetzt nicht mehr zurückkönnen, und sage zu Keule, dessen Kopf gleich explodiert: „Entweder du singst jetzt mit, oder du hältst die Schnauze und säufst Bier!“ Keule ist eigentlich ein Typ, der spontan sagen kann: „Hau ab du Fotze!“, und hinter seinem Rücken schon zwei kühle Bier versteckt, die er gleich mit dir auf die Freundschaft trinken will.

Er trinkt, entspannt sich und feuert den 1. FC Union Berlin, der in der 58. Minute den Ausgleich fängt und ab der 65. Minute einem 2 : 1 hinterherrennt, lieber an. Und das so euphorisch, dass etliche der knapp 6.000 Gästefans in seine Gesänge, die monoton aus „Eisern Union!“ bestehen, lautstark einstimmen.

Es hilft. In der 90. Minute schießt Suleiman Abdullahi den verdienten Ausgleich zum 2 : 2. Ein Ergebnis, welches wir vorher, auswärts beim HSV, alle unterschrieben hätten. Weiter ungeschlagen. Der FCU kann einfach nicht mehr verlieren. Wie geil ist das denn? Aufstieg jetzt!

„Ich muss noch mal für kleine Keules“, ruft jemand, der schon acht Stufen über mir ist. „Wir sehen uns am Ausgang!“ Duck und weg. Plötzlich bin ich ganz allein und es vergeht eine Ewigkeit, bis ich alle Jungs wiedersehe. Folgendes war geschehen:

Marx:

„… nachdem ich die Bier geholt hatte, habe ich euch nicht mehr gefunden und mir das Spiel mit Durst im Gang angeschaut. Deshalb war ich auch ziemlich schnell draußen. Auf dem Waldweg wunderte ich mich noch, warum so viele langhaarige Typen in Lederjacken rumlaufen, bis mir einer erzählte, dass die Band Slayer heute ihr Abschiedskonzert in der Barclaycard-Arena nebenan gegeben hat.

Hinter dem Tunnel wartete eine Hundertschaft Ordnungshüter auf die Fußballfans, aber die Slayer-Jünger wussten das nicht und sind aggressiv auf die Bullen losgegangen. Chaos und Stau im Tunnel.

Und ich als friedlicher Mensch mittendrin. Am Hotel war ich trotzdem der erste. El Rubio und Andi kamen 15 Minuten später …“

Ich:

„ … am Ausgang habe ich meinen alten Freund Jörn getroffen. Er so: El Rubio, bist du ganz allein hier? Ich so: Ähm nö, eigentlich waren wir mal zu acht. Nach ewiger Warterei habe ich wenigstens Andi gefunden und wir sind zusammen zum Hotel gelaufen. Dort war bisher nur Marx …“

Andi:

„… in der zweiten Halbzeit kam plötzlich einer der Pickelhauben-Typen an und hat uns zwei Bier von El Rubio und Keule gebracht. Die beiden sind aber nicht wieder aufgetaucht. Nach Spielschluss habe ich Haue verloren und war dann auch allein.

Vor dem Klo stand dieser rothaarige Ultra und fragte mich, wo unser Kumpel ist, weil er dem noch aufs Maul hauen will.

Draußen vor den Toren war nur El Rubio und wir sind los. Hinter dem Tunnel an der S-Bahn standen ganz schön viele gestresste Bullen herum, aber das Gröbste war wohl schon vorbei. Haue kam dann 10 Minuten nach uns …“

Haue:

„… ich also raus und als keiner von euch kam, habe ich mir zwei Fuß-Pils gekauft und bin los. Plötzlich stand ich vor einem Streichelzoo.

War irgendwie rührend, wie die Ziegen meine Plastikhand abgeschleckt haben, weil ich Bier draufgekippt hatte. Dann kam ein Trupp schwarzgekleideter Metallisten, die zunächst eine Ziege schlachten wollten, mich dann aber auf den richtigen Weg geführt haben. Kurz hinter mir kam Keule am Hotel an …“

Keule:

„… als ich vom Klo kam, dachte ich, ich hätte Andi noch gesehen. Jedenfalls quatscht mich dieser Matthias-Sammer-Verschnitt von den Ultras plötzlich blöd von der Seite an. Ich hatte auch noch Redebedarf und so haben wir die Probleme vor seinem Bus ausdiskutiert.

Alles gut Jungs: schlussendlich haben wir uns mit seiner Cola-Goldi-Mische die Birne weggeschossen und sind jetzt best friends. 20 Minuten nach mir kam Zille …“

Zille:

„… Becherovka macht einen doch blöd! Ich bin einfach losgelaufen und war plötzlich mutterseelenallein in einem finsteren Wald. Hinter einem Hügel war dann eine Lichtung und dort standen vier Leute vor zwei dicken BMWs.

Erst wollte ich zu denen runter und fragen, wo ich bin, aber irgendwie sah das wie ‘ne Übergabe von Koks aus. Also bin ich lieber rückwärts durchs Unterholz gerobbt, über einen hohen Zaun gesprungen, einen Berg heruntergekullert und dann an einer sechsspurigen Autobahn rausgekommen.

Ich wollte sie erst überqueren, habe mich aber besonnen und mir auf dem Handy den Standort von Marx angeschaut. Fast eine Stunde nach mir kamen Stoni und der Rührer mit einem Taxi am Hotel vorgefahren …“

Stoni:

„… erst beim dritten Versuch bin ich mit dem Wachkoma-Patienten Billy ins Stadion gekommen. Dort habe ich ihn an einen Pfeiler gelehnt, an dem er sich festhalten sollte. Das hat aber nur bis zur Pause geklappt, denn plötzlich war er weg und kam mit fünf Bieren angetorkelt, wovon er vier getrunken hat.

Nach dem Spiel waren wir wahrscheinlich die letzten im Stadion, bis zwei Ordner den Bewegungskasper geschnappt und vor die Tore geschmissen haben.

An einem Zaun wollte ich ihn aufrichten, aber er flutschte – wie im Trickfilm – immer wieder hinunter. Irgendwann lag er wie ein Maikäfer auf dem Rücken und grölte: ‚Wir sind Unioner, wir sind die Kranken!‘