ROBERT GREENE

33 GESETZE DER

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Kompaktausgabe

Ein Joost Elffers Buch

Aus dem Englischen von Ingrid Proß-Gill

Titel der Originalausgabe:

The 33 Strategies of War. Concise Edition.

London, Profile Books Ltd 2008

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Copyright © Robert Greene and Joost Elffers, 2006, 2007

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© 2015 Carl Hanser Verlag München

Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de

Lektorat: Martin Janik

Herstellung: Andrea Reffke

Datenkonvertierung E-Book: Kösel Media, Krugzell

ISBN 978-3-446-43873-6

E-Book-ISBN 978-3-446-43642-8

INHALT

ERSTER TEIL

Der Krieg gegen uns selbst

Gesetz 1

Die Polaritätsstrategie

Gesetz 2

Die Strategie des geistigen
Guerillakrieges

Gesetz 3

Die Strategie des Gegengewichts

Gesetz 4

Die Strategie des tödlichen
Geländes

ZWEITER TEIL

Krieg in Organisationen (Teams)

Gesetz 5

Befehlen und Kontrollieren

Gesetz 6

Die Strategie des kontrollierten Chaos

Gesetz 7

Kampfgeist und Moral als
Strategieelemente

DRITTER TEIL

Defensive Kriegführung

Gesetz 8

Die Strategie der perfekten Ökonomie

Gesetz 9

Die Strategie des Gegenangriffs

Gesetz 10

Abschreckungsstrategien

Gesetz 11

Die Strategie der Passivität

VIERTER TEIL

Offensive Kriegführung

Gesetz 12

Grand Strategy

Gesetz 13

Die Spionagestrategie

Gesetz 14

Die Blitzkriegsstrategie

Gesetz 15

Erzwingungsstrategien

Gesetz 16

Die Strategie des
Schwerpunkts

Gesetz 17

Die Strategie »teilen und erobern«

Gesetz 18

Die Wendestrategie

Gesetz 19

Die Vernichtungsstrategie

Gesetz 20

Die Strategie des Reifenlassens

Gesetz 21

Die Strategie des diplomatischen Krieges

Gesetz 22

Die Strategie der Beendigung

FÜNFTER TEIL

Unkonventionelle (schmutzige) Kriegführung

Gesetz 23

Strategien der falschen Wahrnehmung

Gesetz 24

Die Strategie des Üblichen und Unüblichen

Gesetz 25

Die Strategie der Rechtschaffenheit

Gesetz 26

Die Strategie der Leere

Gesetz 27

Die Bündnisstrategie

Gesetz 28

Die Strategie der One-Upmanship

Gesetz 29

Die Strategie des
Fait accompli

Gesetz 30

Kommunikationsstrategien

Gesetz 31

Die Strategie der inneren Front

Gesetz 32

Die passiv-aggressive Strategie

Gesetz 33

Kettenreaktionen als Strategie

Bibliografie

Textrechte

Erster Teil

Der Krieg gegen uns selbst

Kriege werden – wie alle anderen Konflikte – durch Strategien geführt und gewonnen. Der Ausgangspunkt aller Kriege und aller Strategien ist unser Kopf. Wenn der Kopf sich leicht von Gefühlen überwältigen lässt, wenn er statt in der Gegenwart in der Vergangenheit verwurzelt ist und die Welt nicht mit Klarheit und Dringlichkeit sehen kann, erzeugt er Strategien, die immer am Ziel vorbeigehen werden.

Wer ein wahrer Stratege werden will, muss drei Schritte vollziehen: Erstens muss er sich der Schwäche und Krankheit bewusst werden, die seinen Kopf ergreifen und seine strategische Kraft verzerren können. Zweitens muss er sich selbst eine Art Krieg erklären, damit er sich voranbewegt. Drittens muss er unter Anwendung bestimmter Strategien einen ständigen unbarmherzigen Kampf gegen die Feinde in seinem Inneren führen.

Die vier folgenden Kapitel sollen Ihnen bewusst machen, welche Verwirrung derzeit wahrscheinlich in Ihrem Kopf herrscht, und Ihnen spezifische Strategien an die Hand geben, durch die Sie sie beseitigen können.

GESETZ

1

Die Polaritätsstrategie

Erklären Sie Ihren Feinden den Krieg

Solange wir unsere Feinde nicht erkennen, ist das Leben eine endlose Reihe von Kämpfen und Konflikten. Die Leute sind gerissen und hinterlistig, sie verbergen ihre Absichten und geben vor, auf unserer Seite zu sein. Wir brauchen Klarheit. Wir müssen lernen, unsere Feinde zu erkennen, durch die Zeichen und Muster von Feindseligkeit. Wenn wir sie dann im Blick haben, müssen wir ihnen in unserem Inneren den Krieg erklären. Wie die entgegengesetzten Pole eines Magneten Bewegung erzeugen, können unsere Feinde – unsere Gegenpole – uns mit einem Zweckbewusstsein erfüllen und uns eine Richtung weisen. Als Menschen, die uns im Weg stehen, die das repräsentieren, was wir verabscheuen, als Personen, auf die wir reagieren müssen, sind sie für uns eine Energiequelle. Wir dürfen nicht naiv sein: Bei manchen Feinden kann es keinen Kompromiss geben, keine Mitte, in der man sich treffen könnte.

Schlüssel zur Kriegführung

Der Widerstand gegenüber einem Partner ist kein völlig negativer sozialer Faktor – und sei es nur, weil derartiger Widerstand oft das einzige Mittel ist, das Leben mit wirklich unerträglichen Menschen zumindest möglich zu machen. Wenn wir nicht einmal die Kraft und das Recht hätten, uns gegen Tyrannei, Willkür, Launenhaftigkeit und Taktlosigkeit aufzulehnen, könnten wir es nicht ertragen, eine Beziehung zu Personen zu haben, unter deren Charakteren wir derart leiden. Wir würden uns zu verzweifelten Maßnahmen gezwungen fühlen, die die Beziehung tatsächlich beenden, aber nicht unbedingt einen »Konflikt« darstellen würden. Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass … die Unterdrückung sich gewöhnlich verstärkt, wenn sie ruhig und ohne Protest hingenommen wird, sondern auch, weil der Widerstand uns innere Befriedigung, Ablenkung und Erleichterung bringt. … Unser Widerstand verleiht uns das Gefühl, dass wir nicht völlig Opfer der Umstände sind.

GEORG SIMMEL (1858–1918), »CONFLICT AND THE WEB OF GROUP AFFILIATIONS«

Wir leben in einem Zeitalter, in dem unverhohlene Feindseligkeit selten ist. Da die Regeln für die zwischenmenschlichen Beziehungen – im sozialen, politischen und militärischen Bereich – sich geändert haben, muss sich auch unsere Vorstellung vom Feind ändern. Obwohl heute mehr Wettbewerb herrscht als je zuvor, gilt Aggression nach außen als unangemessen. Daher haben die Leute gelernt, in den Untergrund zu gehen, auf geschickt unvorhersehbare Weise anzugreifen. Viele benutzen Freundschaft, um aggressive Begehren zu verhüllen: Sie kommen uns näher, um mehr Schaden anrichten zu können.

Ihre erste Aufgabe als Stratege besteht darin, Ihr Konzept vom Feind zu erweitern, in diese Gruppe auch diejenigen einzuschließen, die gegen Sie arbeiten, die Ihnen auf subtile Weise einen Strich durch die Rechnung machen. Sie dürfen nicht das naive Opfer sein! Sie dürfen sich nicht ständig auf dem Rückzug befinden und nur auf die Manöver Ihrer Feinde reagieren. Wappnen Sie sich mit Klugheit und legen Sie Ihre Waffen nie ganz nieder, nicht einmal gegenüber Freunden.

Die Leute sind gewöhnlich gut dabei, ihre Feindseligkeit zu verbergen, senden aber oft unbewusst Signale, die zeigen, dass nicht alles so ist, wie es scheint. Der entscheidende Punkt ist nicht, allen freundlichen Gesten zu misstrauen – aber Sie müssen sie wahrnehmen. Registrieren Sie jede Veränderung bei der emotionalen Temperatur: ungewohnte Nähe, ein neues Verlangen nach vertraulichen Gesprächen, übermäßiges Lob für Sie gegenüber Dritten, den Wunsch nach einem Bündnis, das für den anderen vielleicht mehr Sinn macht als für Sie selbst. Vertrauen Sie Ihrem Instinkt: Wenn Ihnen das Verhalten von irgendjemand verdächtig vorkommt, stimmt das wahrscheinlich.

Sie können sich zurücklehnen und die Zeichen lesen; Sie können aber auch aktiv daran arbeiten, Ihre Feinde zu enttarnen – auf das Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen, wie die Chinesen sagen.

Tun Sie etwas, was man auf mehrere Weisen lesen kann, was an der Oberfläche höflich aussehen kann, aber auch eine leichte Kühle Ihrerseits ausstrahlen oder als subtile Beleidigung betrachtet werden könnte. Ein Freund wird sich zwar darüber wundern, es aber hinnehmen. Der geheime Feind hingegen wird sich darüber aufregen. Bei starken Emotionen wissen Sie sofort, dass unter der Oberfläche irgendetwas brodelt.

Sie müssen eins verstehen: Die Leute neigen dazu, unbestimmt und glatt zu sein, da das sicherer ist, als sich nach außen hin festzulegen. Hüten Sie sich vor Personen, die sich hinter einer Fassade von vagen Abstraktionen oder von Unparteilichkeit verstecken – niemand ist unparteiisch! Durch eine scharf formulierte Frage, durch eine Ansicht, die verletzen soll, können Sie sie dazu bringen, zu reagieren und Partei zu ergreifen.

Manchmal ist es besser, eventuellen Feinden gegenüber nicht direkt vorzugehen, sondern ebenso subtil und hinterhältig zu sein wie sie. Wenn Freunde oder Mitstreiter, die Sie der Hintergedanken verdächtigen, etwas vorschlagen, was unterschwellig feindselig oder gegen Ihre eigenen Interessen ist, sollten Sie das mitmachen oder so tun, als würden Sie die Augen davor verschließen; dann werden Ihre Feinde bald weiter gehen und Ihnen mehr von ihren Karten zeigen, sodass Sie sie im Blick haben und zum Angriff übergehen können.

Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält.

GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL (1770–1831), »WISSENSCHAFT DER LOGIK II«

Feinde sind häufig groß und schlecht zu erkennen – Organisationen oder Menschen, die sich hinter einem komplizierten Netzwerk verstecken. Dann müssen Sie einen Teil der Gruppe ins Visier nehmen – eine Führungs- oder Schlüsselperson, einen Sprecher oder den inneren Kreis. Zielen Sie nie auf einen verschwommenen, abstrakten Feind! Bei so einem blutleeren Kampf ist es schwer, die nötigen Emotionen aufzubringen, und außerdem bleibt Ihr Feind dabei unsichtbar. Sie sollten dem Kampf eine persönliche Prägung verleihen und dem Feind ins Auge blicken.

Feinde bringen Ihnen viele Gaben. Sie motivieren Sie beispielsweise und verleihen Ihren Überzeugungen einen Fokus. Außerdem geben sie Ihnen einen Maßstab für Ihre Selbstbeurteilung, in persönlicher wie in sozialer Hinsicht; Muhammad Ali wäre ohne Joe Frazier kein wirklich großer Kämpfer geworden. Ein harter Gegner wird das Beste in Ihnen ans Tageslicht bringen. Und je größer Ihr Gegner ist, desto größer wird auch Ihr Lohn sein – selbst in der Niederlage. Es ist besser, einem würdigen Gegner zu unterliegen, als einen harmlosen Feind zu zerquetschen. Sie werden Sympathien und Respekt gewinnen und Unterstützung für Ihren nächsten Kampf aufbauen.

Angriffe auf Sie sind ein Zeichen dafür, dass Sie wichtig genug sind, um ein Ziel zu sein. Sie sollten diese Aufmerksamkeit und die Chance, sich zu beweisen, genießen. Führer haben es stets nützlich gefunden, in Krisenzeiten einen Feind vor ihren Toren zu haben, der die Öffentlichkeit von ihren Schwierigkeiten ablenkte. Falls Sie Ihre Feinde benutzen, um Ihre Truppen zu sammeln, sollten Sie sie möglichst stark polarisieren: Wenn sie ein wenig Hass verspüren, werden sie nämlich verbissener kämpfen. Deshalb sollten Sie die Unterschiede zwischen Ihnen und dem Feind übertreiben und beide Lager scharf voneinander abgrenzen. Ihr Ziel ist der Sieg, nicht Fairness oder ein Gleichgewicht. Benutzen Sie die Rhetorik des Krieges, um den Einsatz zu erhöhen und den Geist anzuregen.

Im Krieg brauchen Sie Platz, um manövrieren zu können. In die Ecke getrieben zu werden bedeutet den Tod. Wenn Sie Feinde haben, verschafft Ihnen das Optionen. Sie können sie gegeneinander ausspielen und den einen zu Ihrem Freund machen, um den anderen angreifen zu können. Ohne Feinde werden Sie nicht wissen, wie und wo Sie manövrieren können, und Ihr Gefühl für Ihre Grenzen verlieren.

Denken Sie daran: Da draußen gibt es immer Menschen, die aggressiver, hinterlistiger und erbarmungsloser sind als Sie selbst – und es wird sich nicht vermeiden lassen, dass einige von ihnen Ihren Weg kreuzen. Sie werden dazu neigen, sich mit ihnen auszusöhnen und Kompromisse mit ihnen zu schließen. Bei manchen werden Sie sich aber verhärten und akzeptieren müssen, dass es keine gemeinsame Mitte gibt, keine Hoffnung auf Versöhnung. Für Ihren Feind ist Ihr Wunsch nach einem Kompromiss eine Waffe, die er gegen Sie einsetzen kann.

Symbol: Die Erde. Der Feind ist der Boden unter Ihren Füßen. Er hat eine Schwerkraft, die Sie dort festhält, wo Sie sind, eine Widerstandskraft. Sie können Festigkeit und Stärke gewinnen, wenn Sie sich tief in dieser Erde verwurzeln. Ohne einen Feind, auf den Sie treten und auf dem Sie herumtrampeln können, verlieren Sie die Orientierung und Ihr ganzes Gefühl für Proportionen.

Garant: Wer auf Sicherheit zählt und nicht an die Gefahren denkt, wer nicht genug weiß, um wachsam zu sein, wenn Feinde kommen, ist wie ein Spatz, der sein Nest auf einem Zelt baut, wie ein Fisch, der in einem Kessel schwimmt – beide werden den Tag nicht überleben. (Zhuge Liang, 181–234)

GESETZ

2

Die Strategie des geistigen
Guerillakrieges

Führen Sie nicht den letzten Krieg

Was uns am häufigsten nach unten zieht und uns Not und Elend bringt, ist die Vergangenheit in Form überflüssiger Bindungen, der Wiederholung abgenutzter Formeln und der Erinnerung an alte Siege und Niederlagen. Wir müssen bewusst einen Krieg gegen die Vergangenheit führen und uns dazu zwingen, auf den gegenwärtigen Augenblick zu reagieren. Wir müssen gnadenlos gegen uns selbst sein; wir dürfen die alten, ausgeleierten Methoden nicht wiederholen. Manchmal müssen wir uns dazu zwingen, neue Richtungen einzuschlagen, auch wenn das Risiken mit sich bringt. Was wir dann an Bequemlichkeit und Sicherheit verlieren könnten, werden wir an Überraschung gewinnen, da der Feind schwerer vorhersagen kann, was wir tun werden. Wir müssen einen Guerillakrieg gegen unseren eigenen Kopf führen, ohne statische Verteidigungslinien und exponierte Zitadellen – wir müssen alles fließend und beweglich machen.

Schlüssel zur Kriegführung

Zu wissen, dass man sich in einem bestimmten Zustand befindet, ist bereits ein Befreiungsprozess; aber ein Mensch, der sich seines Zustands, seines inneren Kampfes nicht bewusst ist, versucht, etwas anderes zu sein, als er ist, woraus Gewohnheiten entstehen. Behalten wir also im Hinterkopf, dass wir untersuchen wollen, was ist, dass wir beobachten und gewahr sein wollen, was tatsächlich ist, ohne ihm irgendeine Färbung zu geben, ohne es zu interpretieren. Es erfordert einen außerordentlich scharfen Geist, ein außergewöhnlich offenes Herz, um dessen, was ist, gewahr zu sein und ihm zu folgen. Denn was ist, ist ständig in Bewegung, ist ständig der Veränderung unterworfen; und wenn der Geist an Glaubenssätze, an Wissen gebunden ist, hört er auf, der schnell fließenden Bewegung dessen, was ist, zu folgen. Was ist, ist zweifellos nicht statisch – es ist ständig in Bewegung, wie Sie sehen werden, wenn Sie es genau beobachten. Um ihm zu folgen, brauchen Sie einen sehr beweglichen Geist und ein offenes Herz. Das geht verloren, wenn der Geist statisch ist, in einer Überzeugung verharrt, einem Vorurteil, einer Identifikation; und ein Geist und ein Herz, die vertrocknet sind, können dem, was ist, nicht leicht und frei folgen.

JIDDU KRISHNAMURTI (1895–1986), »SCHÖPFERISCHE FREIHEIT«

Wenn wir auf eine unerfreuliche oder unangenehme Erfahrung zurückblicken, kommt uns unweigerlich ein Gedanke: Hätten wir statt Y doch nur X gesagt oder getan, könnten wir das doch noch ändern … Viele Generäle haben in der Hitze der Schlacht den Kopf verloren und erst hinterher an die eine Taktik gedacht, an das eine Manöver, das alles geändert hätte. Das Problem ist jedoch nicht, dass die Lösung uns erst einfällt, wenn es zu spät ist. Nein, das Problem ist, dass wir davon ausgehen, dass das, was uns gefehlt hat, Wissen war. Das ist aber genau die falsche Annahme. Dass wir überhaupt fehlgehen, liegt daran, dass wir nicht auf den gegenwärtigen Augenblick eingestellt, nicht für die Umstände empfindlich sind. Wir hören auf unsere eigenen Gedanken; wir reagieren auf Dinge, die in der Vergangenheit geschehen sind; wir wenden Theorien und Konzepte an, die wir schon vor langer Zeit benutzt haben, die aber nichts mit unserer derzeitigen misslichen Situation zu tun haben.

Es ist wichtig, Folgendes zu verstehen: Die größten Generäle, die erfindungsreichsten Strategen zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie über mehr Wissen verfügen; der entscheidende Punkt ist vielmehr, dass sie in der Lage sind, ihre vorgefassten Vorstellungen aufzugeben und sich intensiv auf den gegenwärtigen Augenblick zu konzentrieren, wenn das nötig ist. Auf diese Weise wird die Kreativität entzündet, werden Chancen ergriffen. Je besser wir unsere Gedanken an die sich ändernden Umstände anpassen können, desto realistischer werden unsere Reaktionen sein.

All unsere geschätzten Überzeugungen und Prinzipien noch einmal untersuchen. Als man Napoleon fragte, welche Kriegsprinzipien er befolge, antwortete er: »Gar keine!« Sein Genie bestand in seiner Fähigkeit, auf die Umstände zu reagieren, das Beste aus dem zu machen, was ihm gegeben wurde – er war der Opportunist par excellence. Auch Sie sollten nur ein einziges Prinzip haben: keine Prinzipien zu haben.

Wenn Sie sich einer neuen Situation gegenübersehen, ist es oft am besten, sich vorzustellen, dass Sie gar nichts wissen und beginnen müssen, wieder ganz von vorn zu lernen. Dann werden Sie Ihre eigenen strategischen Muskeln entwickeln, statt auf die Theorien und Bücher von anderen angewiesen zu sein.

Die Erinnerung an den letzten Krieg auslöschen. Der letzte Krieg, den Sie geführt haben, ist eine Gefahr – auch dann, wenn Sie ihn gewonnen haben. Er ist in Ihrem Kopf noch frisch. Falls Sie gesiegt haben, werden Sie dazu neigen, die eben benutzten Strategien zu wiederholen – Erfolg macht nämlich faul und selbstgefällig. Falls Sie Ihren letzten Krieg aber verloren haben, könnten Sie jetzt ängstlich und unentschlossen sein. Denken Sie nicht an Ihren letzten Krieg! Sie haben nicht den erforderlichen Abstand, die nötige innere Distanz. Tun Sie lieber alles, was Sie können, um ihn aus Ihrem Gedächtnis zu löschen.

Meine Politik? Ich habe niemals eine gehabt.

ABRAHAM LINCOLN (1809–1865)

Den Geist in Bewegung halten. Als wir Kinder waren, stand unser Geist nie still. Wir waren offen für neue Erfahrungen und sogen möglichst viele davon auf.

Alle wirklich großen Strategen waren in dieser Hinsicht wie Kinder. Manchmal verhielten sie sich sogar wie Kinder. Das hat einen einfachen Grund: Hervorragende Strategen sehen die Dinge so, wie sie sind. Sie haben ein sehr feines Gespür für Gefahren und Gelegenheiten. Im Leben bleibt nichts unverändert; mit den Umständen Schritt zu halten, wenn sie sich wandeln, erfordert viel mentale Beweglichkeit. Große Strategen handeln nicht gemäß vorgefassten Ideen – sie reagieren wie Kinder auf den Augenblick. Ihr Geist ist ständig in Bewegung, und sie sind immer aufgeregt und wissbegierig. Die Vergangenheit vergessen sie schnell – die Gegenwart ist viel interessanter!

Wenn man eine leere Kürbisflasche ins Wasser legt und sie dann berührt, wird sie nach einer Seite gleiten. So sehr Sie sich auch anstrengen mögen – sie wird einfach nicht an derselben Stelle bleiben. Der Geist eines Menschen, der das höchste Stadium erreicht hat, wird bei nichts verharren, nicht einmal für eine einzige Sekunde. Er ist wie eine leere Kürbisflasche im Wasser, die herumgeschoben wird.

TAKUAN SŌHŌ (1573–1645)

Immer wenn Sie feststellen, dass Ihre Gedanken um eine bestimmte Sache oder Idee – eine Besessenheit, einen Groll – kreisen, sollten Sie sie daran vorbeizwingen. Lenken Sie sich durch etwas anderes ab. Suchen Sie sich wie ein Kind etwas Neues, in das Sie sich vertiefen können, etwas, was Ihrer konzentrierten Aufmerksamkeit würdig ist. Verschwenden Sie keine Zeit auf Dinge, die Sie nicht ändern oder beeinflussen können. Bleiben Sie einfach in Bewegung.

Den Geist der Zeit aufsaugen. Stimmen Sie sich auf den Geist der Zeit ein. Antennen für die Trends zu entwickeln, die erst noch reifen müssen, erfordert Arbeit und Fleiß, die Anpassung an diese Trends auch. Wenn wir älter werden, sollten wir unseren Stil in regelmäßigen Abständen ändern. Durch ständige Anpassung können Sie den Fallen in Ihren früheren Kriegen entgehen. Wenn die Leute gerade das Gefühl haben, Sie zu kennen, sollten Sie sich wieder ändern.

Auf Gegenkurs gehen. Manchmal müssen Sie sich freischütteln, sich aus dem Griff der Vergangenheit befreien – zum Beispiel, indem Sie auf Gegenkurs gehen, das Gegenteil von dem tun, was Sie normalerweise in einer bestimmten Situation machen würden. Dann muss Ihr Geist sich mit einer neuen Realität beschäftigen und wird schlagartig zum Leben erwachen.

Betrachten Sie Ihren Geist als Armee! Heere müssen sich an die Komplexität und das Chaos des modernen Kriegs anpassen, indem sie wendiger und beweglicher werden. Diese Entwicklung hat letztlich zum Guerillakrieg geführt, bei dem man das Chaos nutzt, um Unordnung und Unvorhersehbarkeit zu seiner Strategie zu machen. Guerillaarmeen halten nie inne, um eine Stadt oder einen Ort zu verteidigen – sie gewinnen, indem sie sich ständig bewegen und immer einen Schritt voraus bleiben. Da sie sich an kein festes Muster halten, bieten sie dem Feind kein Ziel.

Das ist das Modell für Ihre neue Denkweise. Wenden Sie nie eine Taktik starr an. Greifen Sie Probleme von anderen Seiten her an, passen Sie sich der Landschaft an und setzen Sie das ein, was Ihnen gegeben wurde. Wenn Sie ständig in Bewegung bleiben, zeigen Sie Ihren Feinden kein Ziel, das sie unter Beschuss nehmen könnten.

Symbol: Das Wasser Es passt seine Gestalt immer dem Platz an, an dem es sich im Strom bewegt, es schiebt Steine aus dem Weg und schleift Felsen ab; es hält nie inne, ist nie dasselbe. Je schneller es sich bewegt, desto klarer wird es.

Garant: Einige unserer Generäle scheiterten, weil sie sich bei allem streng an die Regeln hielten. Sie wussten, was Friedrich der Große an einem Ort gemacht hatte und Napoleon an einem anderen. Sie dachten ständig darüber nach, was Napoleon tun würde. … Ich unterschätze den Wert des militärischen Wissens nicht, doch wenn Männer sich im Krieg sklavisch an die Regeln halten, werden sie scheitern. … Der Krieg ist progressiv. (Ulysses S. Grant, 1822–1885)