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»Maikäfer, flieg!« im Unterricht
in der Reihe Lesen – Verstehen – Lernen
ISBN 978-3-407-62650-9
Beltz Medien-Service, Postfach 10 05 65, 69445 Weinheim
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ISBN 978-3-407-78475-9 Print
ISBN 978-3-407-74298-8 E-Book (EPUB)
© 1996 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
© 1973 Beltz & Gelberg
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Max Bartholl
Gesamtherstellung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza
Printed in Germany
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Maikäfer, flieg! kam auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis und erhielt den »Buxtehuder Bullen« und den holländischen Jugendbuchpreis »Der silberne Griffel«.
Vorbemerkung
Die Geschichte, die ich erzähle, ist mehr als fünfundzwanzig Jahre1) alt. Vor fünfundzwanzig Jahren waren die Kleider anders und die Autos auch. Die Straßen waren anders und das Essen auch. Wir waren anders. Sicher, vor fünfundzwanzig Jahren sangen die kleinen Kinder auch in Wien:
1) Dieses Buch wurde 1973 erstmals veröffentlicht.
Maikäfer, flieg!
Der Vater ist im Krieg ...
Heute singen die kleinen Kinder immer noch:
Maikäfer, flieg!
Der Vater ist im Krieg
Nur – die kleinen Kinder damals wussten genau, was sie da sangen. Der Vater war im Krieg.
die Mutter ist im Pulverland
Die Mutter war wirklich im Pulverland. Und wir mit ihr.
Pulverland ist abgebrannt
Doch die Maikäfer waren nie schuld, wenn Pulverland abbrannte; auch vor fünfundzwanzig Jahren nicht.
Die Geschichte, die ich hier erzähle, ist eine Pulverlandgeschichte.
1.
Das Haus
Die Großmutter · Der Radiokuckuck
Die Hannitante
Silberne Perlenketten vom Himmel
Ich war acht Jahre alt. Ich wohnte in Hernals. Hernals ist ein Bezirk von Wien. Ich wohnte in einem grauen, zweistöckigen Haus. Im Parterre, die letzte Tür. Hinter dem Haus war ein Hof. Mit Abfallkübeln, mit einer Klopfstange und einem Hackstock2). Und hinten im Hof, an der Klofenstermauer, stand ein Zwetschkenbaum. Aber Zwetschken waren nie auf ihm.
2) Diese Geschichte spielt in Wien. Notwendige Dialektformen, vor allem in der wörtlichen Rede, dürften dem Leser verständlich genug sein, so dass Worterklärungen nicht notwendig sind. Namen oder Begriffe aus der Zeit vor und nach 1945, die jungen Lesern nicht immer geläufig sein können, erklärt jedes Lexikon.
Unter unserem Haus war ein Keller. Der größte und beste Keller im ganzen Häuserblock. Gute Keller waren wichtig. Gute Keller waren wichtiger als schöne Wohnzimmer und vornehme Schlafzimmer. Wegen der Bomben. Es war Krieg.
Es war schon lange Krieg. Ich konnte mich überhaupt nicht daran erinnern, dass einmal kein Krieg gewesen war. Ich war den Krieg gewohnt und die Bomben auch. Die Bomben kamen oft. Einmal habe ich die Bomben gesehen. Ich war bei meiner Großmutter. Die wohnte auch in unserem Haus. Im Parterre, die erste Tür. Die Großmutter war schwerhörig. Ich saß mit der Großmutter in der Küche. Die Großmutter schälte Erdäpfel und schimpfte auf die Erdäpfel und auf den Krieg. Sie sagte, vor dem Krieg hätte sie der Gemüsefrau solche dreckigen, fleckigen Erdäpfel an den Kopf geschmissen. Die Großmutter zitterte vor Wut über die schwarzfleckigen Erdäpfel. Die Großmutter zitterte oft vor Wut. Sie war eine wilde Frau.
Neben der Großmutter, auf der Küchenkredenz, stand das Radio. Das Radio war ein Volksempfänger, ein kleiner schwarzer Kasten mit einem einzigen, roten Knopf. Der war zum Anstellen, Abstellen, zum Leiserdrehen und zum Lauterdrehen. Der Volksempfänger spielte Marschmusik, dann hörte die Marschmusik auf, eine Stimme sagte: »Achtung, Achtung! Feindliche Kampfverbände im Anflug auf Stein am Anger!«
Nachher war keine Marschmusik mehr. Die Großmutter schimpfte weiter auf die Erdäpfel und den Krieg; jetzt auch auf den Blockwart. Sie war ja schwerhörig. Sie hatte die Durchsage im Radio nicht verstanden. Ich sagte: »Großmutter, die Flieger kommen.« Ich sagte es nicht sehr laut. Ich sagte es so, dass es die Großmutter nicht hörte. Wenn die Flieger erst in Stein am Anger waren, war es nämlich noch gar nicht sicher, ob sie nach Wien flogen. Sie konnten noch woandershin abbiegen. Ich wollte nicht umsonst in den Keller laufen. Die Großmutter rannte immer schon in den Keller, wenn die Flugzeuge in Stein am Anger waren. Sonst, wenn meine Mutter oder meine Schwester oder mein Großvater zu Hause waren und ihr sagten, dass die Flieger kommen.
Die Flieger bogen nicht ab. Kreischend kam es jetzt aus dem Volksempfänger: »Kuk kuk kuk kuk kuk kuk ...«
Das war das Zeichen, dass die Bombenflugzeuge auf Wien zuflogen. Ich ging zum Fenster. Auf der Gasse lief die Hannitante. Die Hannitante war eine alte Frau. Sie wohnte drei Häuser weiter und der Krieg und die Bomben hatten sie verrückt gemacht. Unter dem einen Arm trug die Hannitante ein hölzernes Klappstockerl, unter dem anderen Arm trug sie eine zusammengerollte karierte Decke. Die Hannitante lief und rief dabei: »Der Kuckuck schreit! Leut, der Kuckuck schreit!«
So rannte sie bei jedem Bombenangriff um den Häuserblock, immer wieder rund um den Häuserblock. Sie wollte einen sicheren Keller finden. Aber kein Keller war ihr sicher genug. Sie rannte keuchend, zitternd, »kuckuck« schreiend, bis der Bombenangriff vorüber war. Dann ging sie nach Hause, klappte gleich hinter der Wohnungstür das Klappstockerl auf, setzte sich, legte die karierte Decke auf die Knie und wartete, bis der Radiokuckuck wieder zu schreien anfing Die Hannitante lief also am Küchenfenster der Großmutter vorbei und gleich darauf begannen die Sirenen zu heulen. Die Sirenen waren auf den Häuserdächern und heulten scheußlich. Das Sirenengeheul hieß: Die Flieger sind da!
Meine Großmutter war gerade dabei, die wenigen guten Erdäpfel mit dem Riesenhaufen aus Schalen, verfaulten Stücken und schwarzen Brocken zu vergleichen. Nun verfluchte sie nicht mehr die Gemüsefrau und den Blockwart, sondern den Gauleiter, das Schwein, und den Hitler, den Wahnsinnigen, der uns das alles eingebrockt hatte.
»Einbrocken tun’s einem die sauberen großkopferten Leut, und auslöffeln können’s wir, die armen Hund! Mit uns kann ja jeder machen, was er will!«, schimpfte die
Großmutter. Als die Sirenen zu heulen begannen, hielt die Großmutter an und fragte: »Heulen net die Sirenen?«
Ich sagte: »Nein, nein!«
Ich musste »nein« sagen. Ich konnte mit der Großmutter nicht in den Keller gehen. Sie war zu wütend, zu zornig. Die Großmutter hätte im Keller weitergeflucht. Auf den Herrn Blockwart, den Hitler, den Goebbels, den Gauleiter und die Gemüsefrau, und das durfte die Großmutter nicht. Die Großmutter hatte schon viel zu oft geschimpft. Und viel zu laut. Das kam davon, weil sie schwerhörig war. Schwerhörige Leute reden oft zu laut. Und die Großmutter grüßte auch nie mit »Heil Hitler«. Unten im Keller aber saß jetzt die Frau Brenner aus dem ersten Stock. Sie grüßte immer mit »Heil Hitler«. Die Frau Brenner hatte schon ein paar Mal gesagt, dass solche Frauen wie meine Großmutter bei der Gestapo angezeigt gehören. Weil sie nicht an den Sieg des deutschen Volkes glauben und weil sie den Krieg nicht gewinnen helfen und weil sie gegen den Führer sind.
Ich hatte Angst vor der Frau Brenner. Darum sagte ich nichts von den Sirenen. Die Großmutter stellte die Erdäpfel auf den Gasherd. Sie wurde freundlicher, weil die Gasflamme schön groß und hellblau brannte. Das war seltsam. Das kam davon, weil niemand im ganzen Bezirk kochte. Alle saßen in den Kellern.
Auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Nur weit oben, bei der Kalvarienberggasse, lief die Hannitante. Ganz leise hörte ich ihr »Der Kuckuck schreit! Der Kuckuck schreit!«
Ich schaute zum Himmel. Der Himmel war vergissmeinnichtblau. Und dann sah ich die Flieger. Es waren sehr viele. Ein Flugzeug flog an der Spitze. Dann kamen zwei und dahinter drei und dahinter noch viele. Die Flugzeuge waren schön. Sie glitzerten in der Sonne. Dann ließen die Flugzeuge die Bomben fallen. Das hatte ich noch nie gesehen. Sonst war ich ja immer im Keller unten. Im Keller ist das anders. Man sitzt und wartet. Und dann saust es in der Luft und die Leute ziehen die Köpfe ein und dann kracht es und dann ist es wieder still. Und dann sagt einer: »Das war aber nah!«, und die Leute heben die Köpfe wieder und freuen sich, dass die Bombe woanders eingeschlagen hat und dass ihr Haus noch steht und dass sie am Leben geblieben sind.
Aber jetzt sah ich die Bomben. Die Flugzeuge ließen so viele Bomben so schnell hintereinander aus ihren Bäuchen, dass es aussah, als hinge aus jedem Flugzeug eine dunkelgraue, glänzende Perlenkette. Und dann zerrissen die Perlenketten, die Bomben zischten herunter. Sie waren sehr laut. Sie waren lauter als alles, was ich bisher gehört hatte. Sie waren auch für die Großmutter laut genug. Die Großmutter packte mich und wollte mich vom Fenster wegziehen. Sie schrie: »G’schwind, renn! In den Keller! G’schwind!«
Ich konnte nicht laufen. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich hielt mich ans Fensterbrett geklammert. Die Großmutter zerrte mich vom Fensterbrett weg. Sie schleppte mich durch die Küche, über den Gang, zur Kellertür. Die Bomben fielen noch immer. Der Lärm wurde noch größer. Der Lärm drückte gegen den Kopf. Er sauste in den Ohren. Er brannte in der Nase. Er machte den Hals ganz eng. Die Großmutter stieß mich die Kellerstiege hinunter. Sie stolperte hinter mir her, sie fiel auf mich. Wir rutschten zusammen über die ausgetretenen Kellerstufen. Hinter uns krachte die Kellertür ins Schloss.
Wir saßen auf der untersten Kellerstufe. Das Kellerlicht war ausgegangen. Es war finster. Ich lehnte an der Großmutter. Die Großmutter zitterte. Die Großmutter schluchzte. Über uns sauste und krachte es. Die Kellertür schwang auf und fiel wieder zu und ging wieder auf und krachte wieder ins Schloss.
Plötzlich war es still. Die Großmutter hörte zu schluchzen und zu zittern auf. Mein Kopf lag auf ihrer dicken, weichen Brust. Die Großmutter streichelte mich. Sie murmelte: »Aber sie fliegen doch schon fort! Sie fliegen doch schon fort!«
Dann heulte die Entwarnungssirene. Die Entwarnungssirene hatte einen angenehmen, sanften, lang gezogenen Klang. Hinten, am Ende vom Kellergang, wurde es hell. Das war die große Taschenlampe vom Hausvertrauensmann. Ich hörte seine Stimme: »Leut! Bewahrt s’ Ruhe! Ich geh nachschauen! Nur keine Panik nicht, bitt’ schön!«
Die Großmutter und ich stiegen mit dem Hausvertrauensmann die Kellerstiege hinauf. Unser Haus war ganz geblieben. Nur ein paar Fensterscheiben waren zerbrochen. Vom großen Luftdruck, den die Bomben erzeugten, wenn sie herunterfielen. Wir gingen auf die Straße. Aus anderen Haustoren kamen auch Leute.
Oben, bei der Kalvarienberggasse, war eine große Staubwolke. Und unten, beim Gürtel, fehlten das große Haus und das kleine Haus daneben.
Der Mann von der Hannitante kam zu uns. »Habt s’ die Hanni gesehen?«, fragte er. Er war sehr grau und sehr müde im Gesicht. Er sagte: »Ich such die Hanni schon die ganze Zeit!«
Wir hatten die Hannitante nicht gesehen. Und wir sahen sie auch nie mehr. Sie lag oben, bei der Kalvarienberggasse, unter einem Schutthaufen. Ihr Mann grub sie aus. Hätte sie nicht das Klappstockerl unter dem einen Arm und die karierte Decke unter dem anderen Arm gehabt, hätte ihr Mann sie gar nicht erkannt, weil ihr Kopf fehlte.
Doch das wussten wir jetzt ja noch nicht.
Der Hausvertrauensmann riet dem Mann von der Hannitante: »Gehn S’ runter zum Pezzlpark-Bunker! Schaun S’ dort nach. Vielleicht ist sie im Bunker drin!«
Der Mann von der Hannitante schüttelte den Kopf. »Die ist nicht im Bunker drin! Die war noch nie nicht im Bunker drin! Die geht in keinen Bunker hinein!«
Dann ging der Mann von der Hannitante weg. Meine Großmutter schaute ihm nach. Ich merkte, wie sie wieder zu zittern anfing. Und plötzlich brüllte sie: »Scheißhitler! Heil Hitler! Scheißhitler!«
»Ich bitt’ Sie, ich bitt’ Sie«, sagte der Hausvertrauensmann, »seien Sie doch um Himmels willen still, Sie reden sich ja noch um Ihr Leben!«
Doch die Großmutter war nicht still. Sie brüllte weiter. In einem fort. Wie eine Schallplatte, wo die Nadel in einer Rille stecken bleibt: »Scheißhitler, Heil Hitler, Scheißhitler, Heil Hitler, Scheißhitler!«
Der Hausvertrauensmann zog die Großmutter ins Haus hinein. Ich half ihm dabei, schob die Großmutter hinten an, boxte sie verzweifelt ins Hinterteil.
Langsam beruhigte sich die Großmutter. Sie lehnte jetzt an der Wand im Gang. Sie murmelte: »Die Erdäpfel! Meine Erdäpfel stehen ja noch immer auf dem Herd! Die Erdäpfel werden mir angebrannt sein!«
Die Großmutter lief in ihre Küche. Ich lief hinter ihr her. Die Erdäpfel waren nicht angebrannt Das Gas war ausgegangen. Eine Bombe hatte irgendwo die Gasleitung zerschlagen.
2.
Der Großvater · Die Taschen
Die Kaffeehausbesitzerin
Der Schleichhändler · Das Zitronenzuckerl
In der Wohnung der Großmutter wohnte auch der Großvater. Den Großvater mochte ich sehr. Er war lang und dünn. Er hatte einen weißen Schnurrbart, veilchenblaue Augen, einen Mittelscheitel und Haare in den Ohren. Er konnte sehr lustig sein und Geschichten erzählen, wenn die Großmutter nicht dabei war. Vor der Großmutter hatte der Großvater Angst. Der Großvater hatte überhaupt oft Angst. Er hatte Angst, wenn er zum Finanzamt gehen musste, er hatte Angst, wenn ihn ein Polizist anschaute, und er hatte Angst, wenn er im Radio den englischen Sender suchte – den er übrigens nie fand. Vor der Großmutter hatte der Großvater aber die größte Angst. Ich dachte immer, der Großvater hat die Großmutter nur geheiratet, weil er sich vor ihr gefürchtet hat. Sie hat ihn sicher wild angeschaut und gesagt: »Lepold! Du heiratest mich!« Und der Großvater hat dann wahrscheinlich aus lauter Angst »Ja, Juli, ja, ja, Juli!« gesagt.
Vielleicht war es auch ganz anders und der Großvater hat die Großmutter einmal sehr geliebt. Und sie ihn auch. Als ich ein Kind war, war davon aber nichts zu bemerken. Nie sagte die Großmutter etwas Freundliches zum Großvater. Dauernd hieß es: »Lepold, du musst gehen! Lepold, du musst die Kohlen aus dem Keller holen! Lepold, mach das Fenster zu! Lepold, dreh das Licht ab! Lepold, gib mir die Zeitung! Lepold, hör zu! Lepold, gib mir Geld!«
Der Großvater sagte auf alles: »Ja, ja, Juli! Ja, ja, Juli!« Der Großvater hieß eigentlich Leopold und die Großmutter hieß Julia.
Der Großvater hatte einen sonderbaren Beruf.
Er war Uhrenfurniturenhändler. Uhrenfurnituren sind die kleinen Räder und Schrauben und Federn, die in den Uhren drinnen sind. Der Großvater hatte aber kein Geschäft mit einer Ladentür und einem Schild darüber. Er hatte alle seine Uhrenfurnituren in zwei Kästen im Kabinett, hinter der Küche der Großmutter. Manchmal kam ein Uhrmacher zu ihm in die Wohnung und kaufte eine Feder oder ein Rad oder ein Sackerl Schrauben.
Doch meistens ging der Großvater mit seinen Uhrenfurnituren in die Uhrmachergeschäfte. Die Großmutter nannte das: »Er geht mit der Taschen!«
Jeden Wochentag, nach dem Frühstück, packte sich der Großvater die dicke, schwarze Tasche voll und machte sich auf den Weg. Am Abend, wenn er wiederkam, zog er sich die schwarzen Schnürschuhe und die schwarzen Socken aus, rieb seine langen, dünnen Zehen und murmelte: »Verdammt, verdammt noch einmal, heut bin ich aber wieder was zusammengerennt! Und verkauft hab ich einen Schmarrn! Sind ja nur mehr die alten, zittrigen, kurzsichtigen Uhrmacher da! Alle anderen sind beim Militär!«
Dann holte der Großvater die weiße Blechschüssel aus der Küche, füllte sie mit Wasser, schob sie unter den Zimmertisch, krempelte die gestreiften Hosenbeine hoch, setzte sich zum Tisch und stellte die Füße ins Wasser und zitterte, weil das Wasser kalt war. Die Großmutter erlaubte ihm kein warmes Wasser für sein Fußbad. Sie hielt nichts von Fußbädern.
Dann brachte die Großmutter das Nachtmahl. Dill-Erdäpfel am Montag, eingebrannte Erdäpfel am Dienstag, Erdäpfelschmarrn mit Rüben am Mittwoch, am Donnerstag Erdäpfelpüree, am Freitag Erdäpfelgulasch und am Samstag Erdäpfelpuffer. Den Erdäpfel-Speiseplan hielt die Großmutter streng ein. Nur einmal hat sie sich geirrt. Da hat sie am Dienstag Erdäpfelpuffer gemacht. Da war sie so aufgeregt, weil sie in der Lotterie dreißig Mark gewonnen hat, und gleich darauf ist sie ganz wütend geworden, weil sie gemerkt hat, dass sie sich für die dreißig Mark nichts kaufen hat können. Die Großmutter ist zur Lottoannahmestelle zurückgerannt und hat der Lottofrau die dreißig Mark auf den Tisch geschmissen und hat geschrien: »Da haben S’! Stecken S’ Ihnen die Papierl da auf den Hut! Man kriegt ja einen Dreck drum! Ich pfeif auf Ihr blödes Geld! Spieln S’ lieber Fleischmarken aus, damit man was hat.«
Ich stand an der Tür von der Lottoannahmestelle und hab mich furchtbar für die Großmutter geniert.
Der Großvater jammerte viel über seine armen Füße und die nutzlose Herumrennerei mit der Tasche. Der Großmutter tat er nicht Leid – der Großmutter tat niemand Leid –, aber sie glaubte ihm. Dabei war der Großvater ein Schwindler. Er lief gar nicht so viel herum. Ich wusste das ganz genau, denn manchmal, wenn die Schule ausfiel, nahm mich der Großvater mit.
Mit dem Großvater und der Taschen gehen war schön. Zuerst gingen wir ins Kaffeehaus. Der Großvater kannte eine Kaffeehausbesitzerin, die hatte ein winziges, rotplüschenes Kaffeehaus, und sie liebte den Großvater. Sie servierte echten Bohnenkaffee und oft auch Nussstrudel mit Rosinen. Im Kaffeehaus war ein alter, dicker Hund. Er hatte keine Zähne mehr und auf einem Bein war er gelähmt.
Die Kaffeehausbesitzerin hatte einen Mann, der war anscheinend genauso wild wie meine Großmutter. Die Kaffeehausbesitzerin erzählte uns oft von ihrem Mann. Hinterher sagte sie immer: »Es ist ja eine Sünde, wenn man es ausspricht, aber von mir aus könnte der Krieg ewig dauern! So habe ich wenigstens meine Ruhe vor dem Kerl!« Der Kaffeehausbesitzer war nämlich in Russland als Soldat.
Nach dem Kaffeehausbesuch gingen der Großvater und ich einen Uhrmacher besuchen. Ich durfte mir aussuchen, wohin wir gingen. Am liebsten war mir der kleine Herr Moritz. Der war nur knapp einen Meter groß. Er lief hinter dem Ladentisch auf einer hölzernen Treppe herum. So konnte er über das Pult sehen.
Zu dem Mann, der die uralten Uhren reparierte, ging ich auch gern. Sein Laden, über dem »Uhren-Atelier« stand, war voll mit Spieluhren, Standuhren und Pendeluhren. Immer spielte irgendwo eine Klimpermelodie oder schlug eine Pendeluhr die falsche Stunde. Der Mann, der die uralten Uhren reparierte, brauchte vom Großvater keine Uhrenfurnituren. Er reparierte nämlich schon lange keine Uhren mehr. Er war Schleichhändler geworden. Schleichhändler war ein gefährlicher Beruf. Man wurde eingesperrt und kam ins Konzentrationslager, wenn die Polizei dahinter kam. Der Mann mit den uralten Uhren war immer sehr freundlich zu mir. Betrat ich mit dem Großvater den Laden, sagte er zuerst: »Habe die ganz spezielle Ehre, Herr Göth!« (Mein Großvater hieß außer Leopold auch noch Göth.) Dann sagte er: »Aha, aha, heute ist unsere liebe Zuckerpuppe auch wieder einmal da!«
Die Zuckerpuppe war ich. Der Mann mit den uralten Uhren führte mich in sein finsteres Hinterzimmer. Er öffnete einen Schrank und holte eine Schachtel heraus. In der Schachtel war ein riesiger Brocken aus weichen, verklebten Zitronenzuckerin. Ich kletzelte mühselig ein Stück von dem Zitronengatsch und bemühte mich, nicht zu gierig zu sein. Manchmal erwischte ich einen ordentlichen Klumpen, einen so großen, dass ich kaum daran lutschen konnte, weil mein Mund so voll davon war.
Jedes Mal, wenn ich mit dem Großvater den Laden verließ, nahm ich mir fest vor: »Heute lutsche ich nicht alles auf! Heute lasse ich ein Stück Zitronengatsch für den Berger Schurli über!«
Der Berger Schurli wohnte in unserem Haus, im zweiten Stock, und war mein bester Freund. Trotzdem habe ich ihm nie ein Stück vom Zitronengatsch gebracht.
Meine Mutter konnte den Mann mit dem »Uhren-Atelier« nicht leiden. Denn einmal, da hatte meine Mutter eine Menge Geld bekommen. Von einer alten Tante, die gestorben war. Da ist meine Mutter am Abend, nach Geschäftsschluss, zu dem Mann mit den uralten Uhren gegangen. Dem hat sie das viele Geld gegeben und er hat ihr dafür drei Kilo Bauchspeck und vier Kilo Zucker besorgt. Meine Mutter hatte gedacht, dass sie mindestens ein halbes Schwein für das viele Geld bekommen würde. Aber der Mann mit den uralten Uhren hat sie ausgelacht und gesagt, dass in solchen Zeiten wie der unseren Geld überhaupt nichts wert ist. Wenn man ein halbes Schwein will, hat er erklärt, dann muss man dafür ein Klavier oder fünf Wintermäntel hergeben. Fünf Wintermäntel hatten wir nicht, aber wir hatten ein Klavier. Meine Schwester und ich mussten jeden Tag darauf üben, und einmal in der Woche mussten wir zu einer Frau Kriegelstein gehen und ihr vorspielen, was wir geübt hatten. Die Frau Kriegelstein saß neben uns auf einem Stuhl und zählte: »Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, eins, zwei, drei!« Und dann seufzte sie tief. Ich glaube, sie hielt uns für sehr unbegabt.
Meine Schwester und ich hätten das Klavier gern gegen ein halbes Schwein umgetauscht. Sogar gegen drei Eier. Doch meine Mutter wollte davon nichts wissen. Sie wurde wütend, wenn wir davon sprachen. So wütend, wie sonst nur die Großmutter wurde. Meine Mutter hatte nämlich vier Jahre lang für das Klavier gespart, und es machte sie so wütend, dass sie vier Jahre lang für drei Eier oder ein halbes Schwein gespart haben sollte. Das konnte sie nicht begreifen.
3.
Der zerschossene Vater
Der Brenner-Hund · Das Puppenhaus
Der Mauerstaub · Der Riss in der Decke
Im Jahr neunzehnhundertfünfundvierzig kam der Frühling sehr früh. Das war gut, weil wir kein Holz und keine Kohlen mehr zum Heizen hatten. Viel besser war noch, dass im März mein Vater von der Front kam.
Mein Vater lag nun in Wien in einem Lazarett. Vorher war er in Deutschland in einem Lazarett gewesen und noch vorher in einem Lazarett in Polen. Und noch davor in Russland in einem Eisenbahnzug, irgendwo auf den Schienen, ohne Lokomotive. Mit dreißig anderen Soldaten in einem offenen Güterwaggon und darüber russische Tiefflieger. Mein Vater hatte zerschossene Beine und überall auf seinem Körper eiterten Granatsplitter aus dem Fleisch. Doch er konnte mühselig herumhumpeln und er bekam jeden Morgen im Spital einen Urlaubsschein und durfte zu uns nach Hause kommen und bis zum Abend bei uns bleiben.
Dass mein Vater nun in Wien im Lazarett lag, war weder Zufall noch Glück. Das hatte mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, erreicht. Der war ein großer SS-Nazi, in Berlin im Führerhauptquartier. Und dass mein Vater jeden Tag einen Urlaubsschein bekam, war auch kein Zufall. Unter den Uhrenfurnituren vom Großvater, ganz unten in der letzten Lade vom Schrank, waren noch etliche Uhren gewesen, Armbanduhren und Wecker und eine Küchenuhr. Der Großvater hatte sie wie einen Schatz gehütet. Nun bekam sie der Unteroffizier in der Schreibstube vom Lazarett. Der schrieb dafür die vielen Urlaubsscheine aus.
Die Russen waren nicht mehr weit von Wien weg. Wo sie waren, wusste niemand genau. Jeden zweiten Tag fiel die Schule aus. Wegen der Bombenangriffe in der Nacht. Das war aber ganz gleich, weil wir sowieso nicht lernen konnten. In unserer Schule waren jetzt auch die Schüler von zwei anderen Volksschulen, die zerbombt worden waren.
Die Frau Brenner grüßte noch immer mit Heil Hitler, und die Frau Sula, die bei der Frau Brenner einmal in der Woche die Fenster putzte, sagte, dass sich die Frau Brenner eine Menge Gift besorgt habe. Wenn die Russen kämen, würde die Frau Brenner sich selber und den Herrn Brenner und die Brenner-Hedi und den Brenner-Hund vergiften. Mir tat der Brenner-Hund Leid.
Dann kam ein Tag, da heulten um fünf Uhr am Morgen die Luftschutzsirenen auf den Dächern. Um sieben heulten sie wieder und um acht heulten sie auch. Zu Mittag konnte nur noch eine Sirene heulen. Die anderen Sirenen lagen auf den Schutthaufen unter Dachziegeln und Mauerbrocken und zerschlagenen Türen und zerbrochenen Fenstern und umgefallenen Schornsteinen. Mein Vater sagte, dass wir trotzdem Glück haben, weil die Amerikaner keine Brandbomben herunterwerfen.
Wir saßen seit zehn Stunden im Keller. Wir waren hungrig. Doch niemand getraute sich, aus den Wohnungen Essen zu holen. Niemand wagte den Keller zu verlassen. Im Keller war kein Klo. Die Leute hockten sich in die Kellerwinkel. Der Berger Schurli sang: »Drunt’ in Stein am Anger
steht ein Kampfverband, ein langer, rechts keine Jäger, links keine Flak, doch wir schießen alle ab!«
Die Frau Brenner empörte sich darüber und jammerte wieder einmal ihr »Wenn-das-der-Führer3)-Wüsste«, und die Frau Berger, die Mutter vom Schurli, schaute die Frau Brenner an und sagte langsam: »Wissen Sie, was mich Ihr Führer kann? Ihr Führer kann mich am Arsch lecken!«
3) »Führer« – Adolf Hitler
Die anderen Kellerhocker nickten zustimmend.
Als die Bombe in unser Haus einschlug, sauste und krachte und wackelte es auch nicht mehr als vor einer Stunde, als das Nachbarhaus kaputtgegangen war. Doch der ganze Keller war voll Mauerstaub und der Verputz fiel von den Wänden und ein paar Ziegelsteine hinterher. Dem Herrn Benedikt fiel ein Ziegelstein auf den Kopf. Der Herr Benedikt bekam große Angst. Er wollte aus dem Keller. Er schlug wild um sich. Er boxte alle, die ihm im Weg waren, zur Seite. Er trat mich in den Bauch. Das tat weh.
Unsere Nachbarin brüllte: »Wir sind verschüttet! Wir sind lebendig begraben! Wir kommen da nie mehr heraus!«
Das war aber nicht wahr. Wir waren nicht verschüttet. Die Kellertür war aus den Angeln gerissen und lag zerbrochen auf der Kellertreppe und darauf lagen die gusseiserne Bassena4) und die Hausleiter und der Vogelkäfig der Hausmeisterin (ohne Vogel) und Ziegel und Schutt. Doch das war leicht wegzuräumen.
4) Bassena – Wasserbecken im Hausflur.
Unser Haus sah aus wie ein trauriges Puppenhaus. Die eine Hälfte war eingestürzt und die andere Hälfte stand hilflos und sehr allein mit offenen, halben Zimmern. Das Stiegenhaus war auch weg.
Die Frau Benedikt konnte nicht begreifen, dass im zweiten Stock, an die rosa Zimmerwand gedrückt, ihr Kleiderschrank lehnte und dass ihr niemand den dicken Mantel aus dem Schrank holen wollte. Ich kroch über den großen Schutthaufen. Das war verboten. Wegen der Einsturzgefahr. Doch niemand kümmerte sich um mich. Im Schutt lagen viele Sachen, die ich kannte. Die Pendeluhr von Herrn Benedikt, unser grüner Küchenvorhang, die große braune Gurgelwasserflasche unserer Nachbarin und ein Teil vom roten Samtsofa der Frau Brenner. Ich fand ein Puppenwagenrad und war mir nicht sicher, ob es zu meinem Puppenwagen gehörte. Und ich fand eine große weiße Schachtel. Darin lagen zwischen Holzwolle zwölf bunte, glitzernde Christbaumkugeln. Keine einzige Kugel war zerbrochen. Ich stocherte im Ziegelstaub, zerbröselte Mauer zwischen den Fingern, riss Holzsplitter von Balken, zog Schilfrohrstücke aus Verputzbrocken und tupfte vorsichtig mit dem Zeigefinger auf Glassplitter.
Der Haushaufen, auf dem ich saß, war ungefähr zehn Meter hoch. Vorher war das Haus vierzehn Meter hoch gewesen. Ich dachte daran, eine Stange zu suchen, eine fünf Meter lange Stange. Ungefähr fünf Meter unter mir musste mein Bett sein. Oder saß ich über der Küche?
Ich hatte Durst. Mauerstaub macht durstig. Er klebt an den Lippen, an der Zunge, im Hals. Ich kletterte vom Haushaufen.
Die Wohnung der Großmutter war in dem Teil des Hauses, der stehen geblieben war. Die halbe Küche fehlte, das Zimmer war ganz Quer über die Zimmerdecke ging ein tiefer Riss. Meine Schwester wollte nicht in das Zimmer gehen. Sie hatte Angst vor dem Riss. Der Großvater blieb mit ihr in der halben Küche. Ich ging mit der Großmutter in das Zimmer. Die Großmutter hob zerbrochene Blumentöpfe auf, brach Glasscherben aus den Fensterrahmen, wischte Mauerstaub von den Möbeln. Ich hockte mich auf das Ehebett. Das Ehebett war staubig. Ich betrachtete den Riss in der Zimmerdecke.
Meine Mutter ging zur Kartenstelle, um einen »Bombenschein« zu holen. Ein Bombenschein war wichtig. Dafür bekam man eine Wolldecke, ein neues Kleid und angeblich auch Schuhe mit Ledersohlen. Aber nur, wenn man einen Totalschaden nachweisen konnte.
Mein Vater humpelte ins Lazarett. Er musste um fünf Uhr dort sein. Er humpelte noch mehr als sonst. Beim Schuttwegräumen waren ihm etliche Mauerbrocken auf die eitrigen Beine gefallen. Die Großmutter steckte den Kopf durch die zerbrochene Fensterscheibe und schaute meinem Vater nach. Sie murmelte – und weil sie so schwerhörig war, murmelte sie sehr laut: »Armer Bua, armer Bua, armer Bua ...« Und dann brüllte sie los: »Ihr Bagage! Ihr Hunde! Ihr Verbrecher! Was habt’s denn mit mein Buam g’macht! Ihr Verbrecher!«
Der Großvater kam aus der halben Küche herein und zog die Großmutter vom Fenster weg. »Juli, Juli«, sagte er, »Juli, hör doch auf, der Blockwart geht um den Häuserblock!«
Die Großmutter warf sich quer über den Zimmertisch. Sie schlug mit den Fäusten auf die Tischplatte. Ihre Füße
zappelten in der Luft. Sie schrie weiter: »Verbrecher, Verbrecher ...«
Der Großvater versuchte, ihr den Mund zuzuhalten. Die Großmutter biss ihn in die Hand. Der Großvater brüllte: »Auweh!« Die Großmutter wurde still. Sie schrie nicht mehr, sie trommelte auch nicht mehr. Und die Füße zappelten nicht mehr. Sie blieb auf der Tischplatte liegen und weinte. Der Großvater zog ihr die Brille von der Nase. Er holte sein Taschentuch aus der Hosentasche und gab es der Großmutter.
Meine Mutter kam von der Kartenstelle zurück. Sie brachte die Bombenscheine und zwei Decken. Schuhe und Kleider gab es nicht mehr. Ich starrte noch immer auf den Riss. Langsam wurde es dunkel. Ich konnte den Riss nicht mehr gut sehen. Aber ich musste den Riss unbedingt sehen. Ich rief: »Es ist zu finster! Macht Licht! Sonst wird der Riss breiter! Sonst fällt uns alles auf den Kopf!«
Meine Mutter sagte, dass die elektrischen Leitungen kaputt sind und die Petroleumlampen auch und dass wir keine Kerzen haben. Die Großmutter fand aber doch einen Kerzenstummel. Sie zündete den Stummel an. Die Flamme flackerte, weil keine Fensterscheiben in den Fenstern waren und der Wind durch das Zimmer blies. Die Großmutter stieg mit dem flackernden Kerzenstummel in der Hand auf den Tisch. Sie hielt die Kerze hoch. Der Riss in der Decke war nicht breiter geworden. Ich schlief ein.
4.
Die Frau von Braun
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