Impressum
Editorischer Hinweis: Die Zitate aus Wagners Autobiografie Mein Leben wurden behutsam der neuen Rechtschreibung angepasst.
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-81140-0)
www.beltz.de
© 2013 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Frank Griesheimer
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagfoto: ullstein bild – The Granger Collection
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74379-4
Über den Autor
Axel Brüggemann, geboren 1971, ist Journalist und Publizist (FAS, Stern, Cicero), Drehbuchautor und Moderator für ZDF und arte.
Zusammen mit Katharina Wagner moderiert er die internationalen Kinoübertragungen der Bayreuther Festspiele.
Für die Deutsche Grammophon hat er die mit dem ECHO ausgezeichnete Reihe »Der Kleine Hörsaal« produziert. Bei Beltz & Gelberg erschien von ihm bereits »Wie Krach zu Musik wird. Die etwas andere Musikgeschichte«.
Weitere Informationen
www.operatext.com
»Wer Musik von Richard Wagner hört, taucht ein in ein Universum der Kunst, muss sich einlassen, seine Vorurteile und sein Weltbild ablegen.«
Inhalt
Vorspiel Endlose Melodie
Ortsbesuch: Die Bayreuther Festspiele
I. Kindheit und Jugend Das Grauen der Quinten
Opernbesuch: Rienzi
II. Frühe Jahre Mit Schulden durch Europa
Opernbesuch: Der Fliegende Holländer
Opernbesuch: Tannhäuser
III. Revolution Soundtrack der Barrikaden
Opernbesuch: Lohengrin
Ortsbesuch: Dresden
IV. Exil und Wanderjahre Neue Liebe, neues Leben
Opernbesuch: Tristan und Isolde
Opernbesuch: Die Meistersinger von Nürnberg
V. Die Liebe von Ludwig II. Ein Märchen wird wahr
Opernbesuch: Der Ring des Nibelungen
VI. Bayreuth Leben in Wahnfried und Tod in Venedig
Opernbesuch: Parsifal
Nachspiel Musik und Macht
Zeittafel
Literatur
Dank
Quellennachweis
Vorspiel Endlose Melodie
Dieser merkwürdige Akkord kommt aus dem Nichts, eine kleine Bewegung nur in den Celli, dann, im zweiten Takt, die Holzbläser – vier Noten, die durch das Ohr direkt in das Gehirn dringen und es aufwiegeln, antreiben und fragen, wie es wohl weitergeht. Aber sie bleiben eine Antwort schuldig. Die Bläser bilden eine unendliche Melodie, einen musikalischen Endlossatz ohne Punkt, einen Rausch ohne Komma. Er kommt nirgendwo an, reißt das gesamte Orchester mit sich, wird lauter, bäumt sich auf und hat keinen Schluss, keine Pause.
Tristan wurde losgeschickt, um König Marke die schöne Isolde als Gattin zu bringen. Während die beiden über das Meer fahren, erkennen sie ihre Liebe – aber sie dürfen nicht zusammenleben: In der Vergangenheit haben ihre Völker gegeneinander gekämpft, außerdem ist Isolde dem König versprochen. Die beiden beschließen, gemeinsam zu sterben. Doch statt Gift trinken sie einen Liebestrank. Auch in diesem Moment bleiben die vier Noten des Tristan-Akkordes eine offene Frage, ein leeres Versprechen, eine Qual für das Gehör. Selbst später, wenn Tristan und Isolde in Wollust übereinander herfallen und im Liebesakt entdeckt werden, wenn Tristan sein Schwert zieht und im Kampf verletzt wird. Und auch im dritten Aufzug foltert der Akkord den Helden auf einer einsamen Insel, wo Tristan schwer verletzt auf seine große Liebe wartet und stirbt. Isolde erreicht ihn zu spät und singt eine der schönsten Arien der Musikgeschichte. Sie will ebenfalls sterben, will nicht in einer Welt leben, in der die große Liebe unmöglich ist. Langsam erkennt das Publikum, dass Richard Wagner uns mit seiner Musik absichtlich quälen wollte, ebenso wie sich Tristan und Isolde auf der Bühne quälen. Wir spüren, dass die Tragödie jetzt vollkommen ist. Der Tod zieht auf, der Klang wird zu einem Lufthauch, die Musik erlischt, nachdem sie sich noch einmal aufbäumt. Isolde verabschiedet sich geistesabwesend in das Reich Tristans, in das Reich der Toten, um wie aus einer fernen Welt die Endlosigkeit zu besingen: »Sind es Wogen wonniger Düfte? Wie sie schwellen, mich umrauschen, soll ich atmen, soll ich lauschen?« Dann wird sie eins mit dem Universum, »dem tönenden Schall, in des Welt-Atems wehendem All«. Sie ist bereit zu »ertrinken, versinken, unbewusst« in »höchster Lust«. Erst dann hören wir, nach fast fünf Opernstunden, so etwas wie Erlösung im Orchester. Nun beginnt plötzlich alles zu schweben, der Rausch der Musik nimmt ein Ende, der Tod erscheint als ewige Liebe – und wenn sich der Vorhang schließt, wird es einige Sekunden dauern, bis wir aus dieser Welt auftauchen, unsere Hände wiederfinden und in der Lage sind, zu applaudieren.
Kann Musik Geschichte schreiben? Ist es möglich, dass ein Akkord die Welt verändert? Und warum treibt ausgerechnet dieser Tristan-Akkord Musikwissenschaftler, Sänger, Orchestermusiker und Dirigenten bis heute um?
Eine Aufführung von Tristan und Isolde ist Hochleistungssport. Der Dirigent Daniel Barenboim sitzt verschwitzt in seinem Dirigentenzimmer. Während die Sänger abgeschminkt werden, die Orchestermusiker ihre Instrumente einpacken und das Publikum das Theater verlässt, verschnauft er. Barenboim trägt ein Handtuch um den Hals, vor ihm liegt die Tristan-Partitur. »Musik ist immer eine Frage von Spannung und Entspannung«, sagt er und blättert die erste Seite auf: »Schauen Sie – hier, schon im zweiten Takt, fängt Wagner mit der Folter unserer Ohren an: die Melodie beginnt und mündet in diesen merkwürdigen Akkord: F, H, Dis und Gis. Plötzlich ist alles in der Schwebe, wir sind in einem musikalischen Nirgendwo.«
Daniel Barenboim liebt diese Stelle, weil sie jeden, der Tristan und Isolde interpretiert, vor unlösbare Aufgaben stellt. »Mit diesen Noten wird eine Spannung aufgebaut«, sagt er. »Unsere Ohren und unsere Gehirne sind so konstruiert, dass wir Musik nur schwer ertragen können, wenn sie nicht aufgelöst wird. Wir wollen, dass das Schräge wieder in Harmonie gebracht wird. Noten sind wie das Leben: Wir möchten kein Chaos, wir wollen, dass Ordnung hergestellt wird.« Dann macht er eine kleine Pause und strahlt: »Aber diesen Gefallen tut Wagner uns nicht. Er komponiert weiter, ohne uns Erfüllung zu geben. Ohne unsere Ohren zu befriedigen. Stattdessen benutzt er die quälende Chromatik, also Halbtonschritte, und führt die einzelnen Töne fort, ohne dass sie je auf festem Boden ankommen. Das Dis fällt um einen Halbton zum D, das F zum E, das H baut eine Spannung auf, indem es bis zum Gis fällt, und das Gis wandert in einem Bogen hoch zum A, zum Ais und zum H.«
Der Akkord, von dem Daniel Barenboim spricht, kommt in der Oper immer wieder vor, er steht für die Liebe zwischen Tristan und Isolde. Er ist ein Leitmotiv und ein Leidensmotiv. Und er ist ein Wendepunkt der Musikgeschichte. Unfassbar und unbestimmbar. Keine andere Konstellation von Noten wurde so oft diskutiert wie diese. Trotzdem bleibt der Akkord uneindeutig. Musikhistoriker streiten um seine Einordnung, wollen ihn mit Fachbegriffen fassen – und scheitern am Unfassbaren. Gehört der Tristan-Akkord zur Welt von a-Moll? Dann würde das Gis, das nicht einzuordnen ist, ein Vorhalt sein. Oder handelt es sich um einen verkürzten Dominantnonakkord? Sogar in der Jazz-Harmonie werden Antworten gesucht, und einige definieren die Töne als eigenständigen Akkord, der auf dis-Moll hinausläuft. Wie auch immer – sicher ist nur die Unsicherheit dieser Musik!
Wagner entzieht der traditionellen Musiktheorie den Boden unter den Füßen. Er nimmt uns, was wir uns so sehr wünschen: die Ordnung. Gleichzeitig tut er andauernd so, als würde sie sich gleich einstellen. Seine Musik ist wie die Karotte vor der Nase eines Esels: Das Tier rennt immer weiter, in der Hoffnung, irgendwann belohnt zu werden. In Tristan und Isolde übernimmt das Publikum die Rolle des Esels. Ein aufs andere Mal wird es enttäuscht. Bei Wagner gibt es keinen Halt und keine Stabilität. Alles schwankt, alles bleibt unaufgelöst – alles ist unbestimmt. Auf der Bühne ebenso wie in unserem Kopf. »Das ist genial«, sagt Daniel Barenboim und klappt die Partitur zu, »ein einmaliges Spiel mit unseren Ohren, mit der Erwartung von Spannung und Entspannung.« Eine musikalische Revolution!
Wagner hat die übliche Harmonielehre außer Kraft gesetzt. Das ist so, wie wenn ein Physiker die Schwerkraft abschafft. Jahrhunderte lang galt in der Musik die Regel von Dur und Moll. Akkorde (also mindestens drei Töne, die zur gleichen Zeit gespielt werden) wurden stets so angeordnet, dass sie Spannung aufbauen, um Entspannung zu bringen. Einzelne Akkorde innerhalb einer Tonart hatten bestimmte Aufgaben: Die Tonika galt als Grundakkord, die Subdominante war ihre logische Fortsetzung, und die Dominante baute eine Spannung auf, die aufgelöst wurde, wenn die Tonika erneut erklang. All diese Regeln hat Wagner für den Tristan-Akkord abgeschafft. Er hat der Musik ihren Halt genommen. Er hat einen Krimi geschrieben, ohne den Mörder zu entlarven. Oder genauer: Er hat eine gigantische Liebesgeschichte komponiert, in der ausgerechnet die Liebe unmöglich ist. Alles bleibt bei ihm Sehnsucht und unerfülltes Hoffen, ein endloses Warten. Erlösung bringt allein der Tod.
Der Tristan-Akkord hat andere Komponisten vor viele Fragen gestellt. Wohin sollte die Musik führen, wenn ihre wichtigsten Regeln plötzlich nicht mehr gelten? Braucht eine Komposition überhaupt noch einen Rahmen von Dur und Moll? Müssen neue Regeln geschaffen werden, wenn die alten nicht mehr existieren? Was ordnet die Welt, wenn es keine Regeln gibt? Richard Wagner hat die Musik in eine neue Dimension katapultiert – an ihr Ende und an ihren Neuanfang.
Komponisten, die Wagner gehört haben, mussten reagieren. Besonders französische Musiker versuchten nach dem Tristan, eine eigene Opernsprache zu finden. In Wagners monumentaler Tonsprache hörten sie das typische Deutschtum und suchten ihr Heil in melodischen Erzählungen. Claude Debussy legte mit der Oper Pelléas et Mélisande – ebenfalls eine Liebesgeschichte – den ersten »Anti-Tristan« vor und in seinem Zyklus Children’s Corner (»Kinderecke«) vermischte er in dem Stück Golliwogg’s Cake-walk (Der Kuchen-Spaziergang des Negers) satirisch Wagners Tristan-Akkord mit moderner Ragtime-Musik.
Auch andere Komponisten haben sich von Wagner anstecken lassen, seine Ideen aufgenommen und den Tristan-Akkord in ihre eigenen Werke eingebaut. Bei Anton Bruckner kommt er in der vierten Sinfonie vor, bei Antonin Dvořák in der D-Dur-Messe, bei modernen Komponisten wie Alban Berg ist er in der Lyrischen Suite zu hören und beim Englischen Tonsetzer Benjamin Britten in dessen Oper Albert Herring. Wagners vier Töne gehören zu den am meisten zitierten Noten der Musikgeschichte.
Wagner hat es inzwischen bis nach Hollywood gebracht. Die Musik zu Tristan erklingt zu Lars von Triers Science-Fiction-Schocker Melancholia, zum Walkürenritt aus dem Ring des Nibelungen fliegen die Kampfhubschrauber in Apocalypse Now Angriffe auf Vietnam und der Kinofilm Matrix ist letztlich eine Adaption der Oper Parsifal.
Es ist schon spannend, wie ein Akkord so viele Emotionen auslösen kann. Und wie er die Musikgeschichte verändert. Mehr noch: Wie er ein Weltbild verändert.
Alte Philosophen wie Platon haben behauptet, dass Komponisten, die musikalische Regeln infrage stellen, gleichzeitig die Regeln der Welt infrage stellen. Weil Musik immer der Soundtrack der Menschheit ist. Sie ist keine Kunst für sich, sie wirkt auf uns, verändert unseren Herzschlag, weckt ungeahnte Gefühle und rührt uns zu Tränen. Wer die Musik verändert, verändert die Gefühlslage der Menschen, wiegelt sie auf oder beruhigt sie. Und für Richard Wagner trifft das besonders zu. Seine Musik entstand in einer Umbruchszeit: Die Staaten Europas bildeten sich, Königshäuser wurden gestürzt, und die industrielle Revolution veränderte das Leben der Menschen. Wagners Musik hat seine Zeit begleitet – und sie wirkt bis heute auf uns.
Natürlich hat sich die Musik auch schon vor Richard Wagner verändert – ebenso wie die Architektur, die Malerei und alle anderen Künste. Was gestern verboten war, wurde plötzlich erlaubt. Stück um Stück wurde die Freiheit der Künstler und Komponisten größer. Meist wurden neue Regeln geschaffen, wenn sich die Welt veränderte, wenn die Menschen in neuen politischen Systemen lebten, wenn die Rolle der Kirche neu definiert wurde, wenn die Wissenschaft neue Weltbilder entworfen hat, oder einfach, wenn neue Moden aufkamen. Musik ist immer auch Spiegel des Geistes einer Zeit.
Wagner hat Töne geschrieben, die ihre Hörer süchtig machen. Der Dirigent Christian Thielemann hat einmal gesagt: »Wagner ist wie eine Droge, er macht uns besoffen und abhängig – seine Musik ist wie Alkohol und Haschisch. Nur wesentlich gesünder.«
Es ist verblüffend, wie unser Körper auf die Opern von Richard Wagner reagiert. Wir fiebern mit, begeben uns in einen Rausch und vergessen unsere Welt. Der Zuschauer wird von Wagner gezwungen, sich selbst aufzugeben, in seiner Welt zu leiden und sich nach Erlösung zu sehnen. Wer Musik von Richard Wagner hört, taucht ab in ein Universum der Kunst, muss seine Vorurteile und sein eigenes Weltbild ablegen. Wagner wollte das so. Er war einer der ersten Komponisten, der das Licht im Publikumssaal löschen ließ. Die Zuschauer sollten nicht abgelenkt werden – sie sollten sich nur auf seine Musik konzentrieren. Und genau das, die Manipulation des Menschen durch die Kraft der Musik, macht Richard Wagner auch angreifbar.
Kaum ein Komponist ist so umstritten wie er. Die einen hassen ihn: Seine Opern sind ihnen zu groß, zu laut, zu aufgeblasen. Und sie verurteilen ihn, weil er Antisemit war und in seiner Schrift Das Judenthum in der Musik gegen jüdische Kollegen hetzte. Viele Menschen halten Wagners Werk für einen großen Bluff – für ein Nichts, das so tut, als ob es alles sei. Gleichzeitig hat Richard Wagner so viele eingefleischte Verehrer wie kaum ein anderer Komponist. Sie pilgern in seine Opern, lösen sich in seinen Klängen auf, verlieren sich in seiner Musik.
Aber woher kommt diese Musik? Wie kann es sein, dass ein einziger Mensch die Geschichte der Harmonie umschreibt? Und was hat Richard Wagner erlebt, um solche Opern zu schreiben? Wie wurde er durch seine eigene Welt inspiriert? Und was hat diese Welt mit unserer zu tun?
Richard Wagner lebte in einer Zeit des Aufbruchs. In Deutschland tobte die Revolution, Burschenschaftler errichteten 1848 mit der schwarz-rot-goldenen Flagge Barrikaden und forderten die Einheit der Kleinstaaten. Gleichzeitig entwarfen große Denker neue Weltbilder: Arthur Schopenhauer, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche. Mittendrin stand Richard Wagner. Er glaubte, dass ein Künstler besser war als ein Politiker, dass seine Opern die Menschen verändern könnten. Seine Vision war es, die Oper zu einem Gesamtkunstwerk zu machen: eine Kunst, in der nicht nur Komponist, Textdichter, Kulissen-Maler und Architekten gefragt sind, sondern in der auch das Publikum zum Teil der Aufführung wird. Die Bühne und die wahre Welt sollten miteinander verschmelzen. Richard Wagner wollte keine Oper, an deren Ende sich der Vorhang schließt, das Publikum applaudiert und zum Essen geht. Er wollte, dass seine Werke die Menschen bewegen, sie aufrütteln und zum Handeln zwingen. Die Bühne hörte bei ihm nicht auf; sie war eine Verlängerung der Wirklichkeit. In der Oper wollte er zeigen, was wir im Alltag oft nicht erkennen: große Gefühle, verborgene Ängste. Er wollte das Unerklärbare in Tönen erklären. Wagners Oper war eine Art Psychoanalyse. Er wollte das Unterbewusstsein der Menschen zum Klingen bringen. Seine Opern sollten einen Geist transportieren, der in den Menschen weiterlebt, wenn sie das Theater wieder verlassen haben. Musik war für Wagner pure Emotion, mit der er Politik machen wollte.
Für diese Vision ging er ganz unterschiedliche Bündnisse ein. Wagner bediente sich bei den großen Denkern seiner Zeit, schöpfte seine Ideen aus der alten Mythologie und aus den Erinnerungen seines eigenen Lebens. Er war Revolutionär, wurde verfolgt, floh ins Exil und ließ sich schließlich von Märchenkönig Ludwig II. aushalten. Einmal wollte er die Monarchie abschaffen, dann wieder ließ er sich vom König seine kostspieligen Opern bezahlen. Richard Wagner glaubte an sein Werk – wie es zustande kam und wer es finanzierte, war ihm oft egal.
Und auch privat war er ein Egoist. Er verließ seine Frau, hatte Affären, heiratete erneut. Von seinen Freunden erwartete er Verehrung. Wer ihn nicht bewunderte, den erklärte er zu seinem Feind. Wagner liebte das Bier und war Vegetarier, er thematisierte die Leiden Jesu und fühlte sich trotzdem zum Buddhismus hingezogen, er war Demokrat und Monarchist – kurz: Er war ein Mann der Widersprüche. Und er regte sich gern auf: über die Politik, über andere Weltbilder, über die Generation der Eltern und darüber, dass die Dinge so waren, wie sie waren. Der Welt, mit der er haderte, stellte er seine Opern entgegen. Hier hatte er alles unter Kontrolle. Hier schuf er seinen eigenen Kosmos. Ein Reich, in dem er das Sagen hatte. In dem er Schöpfer war. In dem er sogar die Macht hatte, Götter untergehen zu lassen.
Kein Wunder, dass einer wie er auch an seinem eigenen Bild für die Zukunft gebastelt hat. Richard Wagner schrieb eine lange Autobiografie unter dem Titel Mein Leben. Seine zweite Frau Cosima notierte in ihren Tagebüchern jeden seiner Gedanken. Inzwischen wissen wir, dass ein Großteil dieser Schriften dazu diente, das Leben Wagners zu glätten, es von Fehltritten zu säubern, es neu zu erzählen – einen Mythos aufzubauen. Eine eigene, große Oper.
Viele Menschen haben Angst davor, sich mit Opern zu beschäftigen, die fünf oder sogar vierzehn Stunden dauern. Ihnen ist es suspekt, dass sie sich in eine Welt begeben sollen, die ein Größenwahnsinniger erfunden hat, und dass sie ihre Selbstbestimmung in Wagners Opernwelten verlieren könnten.
Aber wer sich auf Richard Wagner einlässt, wird in seiner Musik immer wieder etwas Neues entdecken: Neue Widersprüche, neue Gefühle, neue Antworten. Das Spannende an der Oper ist, dass Dirigenten die gleichen Noten immer wieder anders dirigieren – mal schneller, mal langsamer, mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Und dass Regisseure den gleichen Stoff immer wieder anders erzählen. Dass sie mit neuen Perspektiven auf die alte Handlung schauen.
Wer sich mit klassischer Musik beschäftigt, weiß, dass es darum geht, die immer gleichen Noten über Jahrhunderte hinweg neu zu interpretieren. Die Oper ist eine Art Zeitmaschine. In ihr klingen die Vergangenheit der Entstehung und unsere Gegenwart mit. Es bringt ja nichts, sich eine Partitur an die Ohren zu halten. Töne verklingen und müssen immer wieder neu geboren werden. Und so werden die gleichen Opern jeden Abend im Theater neu geschaffen. Immer dieselben Stücke, die aber niemals gleich klingen. Musik ist, wenn man so will, das immer Neue im ewig Gleichen.
Richard Wagners Musik hat auch nach seinem Tod die Menschen bewegt. Und er hatte nicht nur gute Freunde. Seine Werke sind so groß und so widersprüchlich, dass viele sie für sich beansprucht haben: Demokraten, Kommunisten und Faschisten.
Einer seiner glühendsten Anhänger war Adolf Hitler. Er liebte Opern wie Lohengrin und ließ Wagners Musik auf Parteitagen der NSDAP spielen. Aber ebenso wie die Nationalsozialisten haben die Kommunisten in Wagners Opern ihre Ideologie wiederentdeckt – sie haben das gestohlene Gold im Ring des Nibelungen als Kritik am Kapitalismus verstanden. Auf irgendeine Art hat Richard Wagner es geschafft, in jeder Zeit aktuell zu bleiben. In der Deutschen Revolution von 1848/49, in der Monarchie, im Nationalsozialismus und selbst in unserer heutigen Demokratie. Seine Musik und seine Klänge sind uneindeutig. Und sie fordern die Menschen immer wieder heraus, sie neu zu hören und zu interpretieren. Die Welt, die er erfunden hat, wurde im Laufe der Zeit unterschiedlich belebt – und heute trägt sie den Rucksack der Geschichte mit sich. Wagners Opern sind wie ein Schwamm. Sie haben die Geschichte, ihre Liebhaber und ihre Interpretationen aufgesogen. Und es ist schwer, Wagner zu hören, ohne dass in seiner Musik mitschwingt, wer sie benutzt und manipuliert hat. Viele Regisseure setzen sich mit Hitlers Leidenschaft für Wagner auseinander, bringen Hakenkreuze auf die Bühne, andere suchen ihre eigene Ideologie in seinen Opern.
In Richard Wagners Werk verschmelzen die Räume und die Zeiten miteinander. Und nirgendwo ist das so spannend zu beobachten wie bei den Bayreuther Festspielen – in jenem Theater, das Richard Wagner nur für seine Opern bauen ließ.
Ortsbesuch: Die Bayreuther Festspiele
Eine Straße führt den Grünen Hügel hinauf. Auf dem Rasen sind Blumen in Form eines großen, geschwungenen »W« gepflanzt – das »W« steht für Richard Wagner. Ganz oben, an der Hügelkuppe, lässt sich aus der Ferne eine Eisen-Balustrade erkennen, an der viele Menschen stehen. Dahinter ragt die Spitze des Bayreuther Festspielhauses in den blauen Himmel. Auch auf ihr weht eine Flagge mit dem Wagner-»W«. Auf halber Strecke biegt die Straße, die auf den Hügel führt, auf den gepflasterten Vorplatz des Theaters ab, Polizisten stehen Spalier, ein roter Teppich ist ausgerollt. Hunderte von Schaulustigen sind gekommen. Im Gegensatz zu den Festspielgästen tragen sie keinen Smoking und keine aufwändigen Kleider – sie kommen in Jeans und T-Shirt, halten ihre Fotokameras bereit und warten auf die Ehrengäste. Einige Paparazzi und Kamerateams haben sich auch aufgebaut. Manche haben Leitern mitgebracht, um die besten Bilder über den Köpfen der Menschenmasse zu schießen. Wichtige Gäste werden mit teuren Limousinen zum Hügel hinaufchauffiert. Dann kommen sie über den Teppich und winken dem Publikum zu – Politiker, Schauspieler und Showstars. Die Fotografen schreien ihnen zu und bitten sie, zu lächeln. Dann gehen sie weiter, durch das Opernportal in das Festspielhaus.
Das Gebäude ist aus rotem Backstein gebaut, weiße Holzstreben tragen den Giebel. Auf dem Balkon stehen Bläser bereit. Bevor die Opern in Bayreuth beginnen (und vor dem Ende der Pausen) spielen sie musikalische Motive der nächsten Aufzüge und rufen das Publikum damit zurück ins Haus. Hinter dem Portal ragt der Schnürboden in die Höhe. Hier ist die Theatermaschinerie untergebracht, Seilzüge für die Bühnenbilder, Scheinwerfer und allerhand Hightech. Ein Koloss, der darauf schließen lässt, dass auf der Bühne viele Effekte und Verwandlungen in Gang gesetzt werden.
Die Bayreuther Festspiele sind ein gesellschaftliches Großereignis. Aber sie sind viel mehr als ein Laufsteg der Prominenz. Sie sind eine Pilgerstätte für Wagner-Fans aus der ganzen Welt. Bis zu zehn Jahre muss man warten, bis man eine Karte bekommt. Denn es werden jeden Sommer nur dreißig Vorstellungen gegeben – und es passen gerade einmal 1930 Menschen ins Theater.
Viele Besucher kommen auch ohne Karte – wegen der Atmosphäre. Einfach nur, um dabei zu sein. Sie schlendern mit den Operngästen über den Vorplatz, gehen zu ihren Autos, wenn die Bläser das Ende der Pause einläuten, verfolgen die Aufführung im Radio und besuchen in den langen Pausen entweder das Theater-Café oder das benachbarte Kneipp-Bad, wo müde Festspielgäste sich erfrischen oder ein Würstchen essen. Andere spazieren neben der Show-Prominenz, der deutschen Bundeskanzlerin und anderen Wagnerianern durch die Parkanlagen des Festspielhauses. Die Bayreuther Festspiele sind nicht elitär – jeder, der Wagner liebt, ist hier willkommen.
Die ersten Festspiele fanden am 13. August 1876 statt. Aufgeführt wurde der Ring des Nibelungen, Wagners vierzehnstündige Opern-Tetralogie mit den Teilen Rheingold, Walküre, Siegfried und Götterdämmerung, die an vier Abenden gegeben wird. Richard Wagner war besessen von der Idee, ein Opernhaus zu bauen, in dem nur seine Werke gespielt werden. Er wollte einen Ort, an der er mit der Wirkung der Musik auf die Gesellschaft experimentieren konnte. Eine Werkstatt für den Klang der Zukunft. Ein Haus, aus dem heraus die Musik die Welt bewegen könnte. König Ludwig II. von Bayern hat ihm einen Großteil dieses Traumes erfüllt. Entstanden ist ein Opernhaus, das es so nirgendwo auf der Welt gibt. Das Besondere ist: sein Klang.
Das Publikum sitzt auf Holzstühlen, die wie in einem Amphitheater angeordnet sind. Man kann fast von jedem Platz aus gleich gut sehen und hören. Und das Orchester ist nicht wie in einer normalen Oper halb unter der Bühne und halb vor der Bühne platziert, sondern sitzt auf steilen Treppen komplett unter der Bühne. Im sogenannten schwarzen Abgrund. Hier sitzen die Bläser ganz unten und ganz hinten, oben, beim Dirigenten, spielen die Streicher. Während der Opern sind die Musiker nicht zu sehen (was praktisch ist, weil sie an heißen Sommertagen auch in Shorts und T-Shirts zur Arbeit kommen können).
In einem normalen Theater steigt der Klang der Töne aus dem Orchester zunächst nach oben, und irgendwo im Saal vereint er sich mit den Stimmen von der Bühne – manchmal ist das Orchester besser zu hören, manchmal die Sänger. In Bayreuth ist das anders. Der Klang aus dem Orchester wird durch eine gewölbte Wand direkt auf die Bühne geleitet, wo er sich mit den Stimmen vereint, um dann über den Kopf des Dirigenten in den Publikumssaal zu strömen. Diese Architektur sorgt zwar für einen perfekten Wagner-Klang, macht es aber sehr schwer, in Bayreuth zu dirigieren. Denn der Orchesterklang muss seinen Weg ja erst über die Bühne finden. Sänger können sich also nie genau nach dem Taktstock des Dirigenten richten, sondern müssen auch dem Klang vertrauen, der sie auf der Bühne erreicht. Sonst setzen sie zu früh ein. Der Dirigent und die Darsteller müssen die Akustik also gut kennen, um zusammen einzusetzen. Aber der Effekt, wenn alles klappt, ist verblüffend: Gerade bei den lauten Stellen vermischen sich Hörner, Trompeten, Streicher und Stimmen zu einem Klang, der so nur in Bayreuth zu hören ist.
Für manche Menschen mögen die Bayreuther Festspiele ein Ereignis wegen des roten Teppichs sein, für echte Wagnerianer sind sie es, weil man nur an diesem Ort den Klang hören kann, der Wagner vorschwebte, als er seine Partituren schrieb. In Bayreuth wird die Liebe zwischen Tristan und Isolde aufgeführt, das Ringen der Götter im Ring des Nibelungen, Die Meistersinger von Nürnberg, in denen gefragt wird, wie frei die Kunst ist, und die Oper um Mitleid und Leiden, Parsifal – außerdem stehen die früheren Opern von Wagner auf dem Programm: Tannhäuser, Lohengrin und Der fliegende Holländer. Wagners ganz frühe Werke wie Rienzi, Die Feen und Das Liebesverbot haben bei den Bayreuther Festspielen allerdings bis heute Hausverbot – ebenso wie die Werke anderer Komponisten.
Schon die ersten Festspiele haben ein neugieriges und prominentes Publikum angelockt: Die Komponisten Franz Liszt, Anton Bruckner, Camille Saint-Saëns, Peter Tschaikowski und Edvard Grieg waren angereist, der russische Schriftsteller Lew Tolstoi und der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche, außerdem Politiker wie Wilhelm I. und Kaiser Pedro II. von Brasilien – später kam auch Märchenkönig Ludwig II., der sich bereits die Proben angeschaut hatte. Die meisten schwärmten von Wagners neuem Opernhaus. Tschaikowski kehrte mit einem »sehr erquickenden Eindruck« zurück und schrieb: »Sicher ist, dass Bayreuth etwas vollzogen hat, woran sich noch unsere Urenkel erinnern werden.«
So neugierig die Leute waren, so kostspielig wurden die ersten Festspiele. Am Ende blieb Richard Wagner auf einem Schuldenberg von 148 000 Mark sitzen und seine Frau Cosima jammerte: »Richard sehr traurig, er sagt, er möchte sterben!« Trotzdem tüftelte Wagner weiter an seinen Festspielen.
Zunächst konnten sie wegen der hohen Kosten nur unregelmäßig stattfinden. Aber sie etablierten sich auch nach Wagners Tod. Seine Witwe Cosima übernahm die Leitung, dann sein Sohn Siegfried und später dessen Frau Winifred. Als sie die Festspiele leitete, buhlte Adolf Hitler gerade um die Stimmen der Deutschen. Hitler war ein Wagner-Fan, und die Bayreuther Festspiele wurden von ihm schnell zum kulturellen Wohnzimmer Deutschlands ernannt. Hitler verbrachte bis zu vierzig Stunden bei den Proben im Festspielhaus und vergoss zur Oper Lohengrin angeblich sogar Tränen.
Weil Bayreuth auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zu wenig Publikum hatte, verpflichtete Hitler Menschen zum Besuch der Festspiele. Es wurden »Kraft durch Freude«-Reisen nach Bayreuth organisiert und während des Zweiten Weltkrieges wurden Kriegsversehrte mit einem Besuch in Bayreuth »belohnt«. Im Hause Wagner und auf dem Grünen Hügel wurde Adolf Hitler liebevoll »Onkel Wolf« genannt, und er schaukelte sogar die Enkel des Komponisten, Wieland und Wolfgang Wagner, auf seinem Schoß. 1944, als das Ende des Krieges nahe war und viele Deutsche verarmt, schickte Hitler der Familie Wagner noch Bohnenkaffee. Winifred schwärmte auch nach Hitlers Tod von »ihrem Führer« und nannte ihn »U.s.A.« – »Unseren seligen Adolf«. Die Bayreuther Festspiele schienen am Ende zu sein. Der Grüne Hügel hatte sich mit den braunen Machthabern eingelassen. Wie sollte es da weitergehen? Das Festspielhaus stand erst einmal leer, diente als Kino und geriet bei vielen in Vergessenheit.
Aber Winifreds Kinder, Wieland und Wolfgang, wollten nicht aufgeben. Sie hatten vor, die Geschichte des Nationalsozialismus hinter sich zu lassen. Sie riefen »Neubayreuth« aus, wollten die Schatten der Vergangenheit vergessen. Hitler hatte Wagner vereinnahmt – nun wollten die Erben des Komponisten ihren Großvater wieder von seinem falschen Freund befreien. Statt die Helden aus Wagners Opern als typische Deutsche zu zeigen und statt opulente Roben, realistische Bühnenbilder und Rauschebärte auf die Bühne zu stellen, »entrümpelten« die Wagner-Brüder das Opernhaus. Das bedeutet, sie wollten alle Interpretationen der Vergangenheit wegwischen. Besonders Wieland Wagner wurde berühmt dafür, dass er den Ring auf einer leeren Scheibe spielen ließ. Statt auf große Kulissen setzte er auf Lichteffekte. Er wollte Wagners Musik wieder in den Mittelpunkt rücken und in Bayreuth ein Zeichen dafür setzen, dass in Deutschland neu gedacht wurde. Dass die Deutschen einer modernen und demokratischen Zukunft entgegensahen. Einigen gefiel das, andere forderten die Wagner-Brüder auf, die Hitler-Zeit nicht zu verdrängen, sondern sie aktiv zu erinnern und zu verarbeiten.
An vielen anderen Orten in Deutschland wurde über den Umgang mit Hitler diskutiert: Sollte man ihn vergessen oder verarbeiten? Und auch in Bayreuth tobte dieser Kampf. Die Bayreuther Festspiele hatten mit den gleichen Widersprüchen zu kämpfen, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt haben. Das Festspielhaus wurde zum Spiegel der aktuellen Debatten und der Stimmung im Land. Und das war es auch, als es mit der Wirtschaft wieder bergauf ging und das Wirtschaftswunder einsetzte. Die Mark wurde als neue Währung eingeführt und Bayreuth erfand sich – mal wieder – neu.
Die ersten Festspiele nach dem Krieg fanden 1951 statt. Am 29. Juli wehten statt der schwarz-weiß-roten Hakenkreuz-Fahnen die bunten Flaggen vieler Länder auf dem Grünen Hügel. Gäste aus zweiundzwanzig Nationen wurden gezählt, 12 000 Bayreuther kamen, um die Eröffnung der neuen Festspiele mitzuerleben. Sie jubelten der Boxlegende Max Schmeling zu, dem Tennis-Ass Gottfried von Cramm und den Fußballern von Schalke 04.
Plötzlich war dieser merkwürdige, kleine Ort Bayreuth mit seinem Festspielhaus, das von einem König bezahlt und von einem Tyrannen gefördert wurde, wieder ein Symbol der Stimmung des neuen, demokratischen Deutschlands und seiner Geschichte.
Eine ganz andere Oper spielte sich schon bald hinter den Kulissen ab. Der Wagner-Clan begann sich zu streiten. Die Brüder Wieland und Wolfgang redeten nicht mehr miteinander1. Sie hatten unterschiedliche künstlerische Auffassungen und haben ihren Kindern sogar verboten, miteinander zu spielen. Es ging nicht mehr um die Musik, sondern um einen Machtkampf auf dem Grünen Hügel.
Nachdem Wieland 1966 gestorben war, leitete Wolfgang die Festspiele alleine. Kurz vor seinem Tod im Jahre 2010 suchte er eine Lösung für die Nachfolge – natürlich wollte er, dass die Familie Wagner die Festspiele weiterführt. Und am besten sollte es seine eigene Familie sein – und nicht die von Wieland.
Nike Wagner, die Tochter von Wolfgangs Bruder, meldete allerdings Ansprüche an. Das wollte ihr Onkel verhindern. Wolfgang hatte sich mit seiner ältesten Tochter, Eva Wagner, zerstritten – nachdem er sich von ihrer Mutter getrennt hatte, haben die beiden nicht mehr miteinander geredet. Nun wollte er, dass seine jüngste Tochter Katharina die Festspiele übernimmt. Das Bayreuther Festspielhaus gehört allerdings nicht mehr der Familie Wagner, sondern wird von einem Verwaltungsrat geleitet, in dem der Bund, das Land Bayern, die Stadt Bayreuth und der Freundeskreis der Festspiele mitbestimmen. Dieser Rat war dagegen, dass Katharina Wagner die Festspiele allein übernimmt.
Ein endloses Tauziehen begann, das fast so spannend war wie eine Oper Wagners. Am Ende versöhnte sich Eva mit ihrem Vater und inzwischen leitet sie Bayreuth gemeinsam mit ihrer Halbschwester Katharina. Ein Jahr nach der Ernennung der beiden starb Vater Wolfgang.
Katharina Wagner sitzt in ihrem Büro im Festspielhaus. Ein Friseur macht ihr gerade die Haare. Gleich muss sie raus, um das Premieren-Publikum zu begrüßen. Die ersten Limousinen fahren bereits vor. Gemeinsam mit ihrer Schwester wird Katharina am Portal des Festspielhauses die Hände der Gäste schütteln. »Es ist sehr selten, dass ein Unternehmen, so wie die Bayreuther Festspiele, so lange in der Hand einer Familie liegt«, sagt Katharina – und man hört, dass sie stolz darauf ist, dass bislang immer ein Wagner den Grünen Hügel geleitet hat. Sind die Musiker-Gene etwa vererbbar? »Das weiß ich nicht«, antwortet die Intendantin, »ich bin ja mit den Opern von Wagner aufgewachsen. Sie wurden jeden Tag bei uns am Frühstückstisch diskutiert, nach der Schule war das Festspielhaus mein Kinderspielplatz und ich habe viele Regisseure bei der Arbeit gesehen. Und auch am Abendbrottisch wurden die neuen Inszenierungen bei uns zu Hause besprochen. Für mich sind die Opern Wagners Teil meines Lebens – ob das etwas mit den Genen zu tun hat oder mit der Erziehung, kann ich nicht sagen.« Aber dann fällt ihr doch noch etwas ein, was alle Wagners zu vereinen scheint: die Liebe zu Hunden. »Richard Wagner war ein Hundenarr«, erzählt sie, »mein Vater auch – er hatte bis zu zwölf Hunde. Und ich selber habe zwei. Vielleicht ist das ein typisches Wagner-Gen.«
Der Friseur ist fertig. Katharina Wagner steht auf, verlässt ihr Büro und geht durch die verschlungenen Gänge des Theaters in das Foyer des Festspielhauses, vorbei an den Garderoben hinaus unter das Portal. Die deutsche Kanzlerin fährt vor, die Zuschauer rufen ihren Namen, die Fotografen machen ihre Bilder und Katharina Wagner nimmt Angela Merkel in Empfang.
Nachdem sie gemeinsam mit ihrer Schwester alle Hände der Ehrengäste geschüttelt hat, verdunkelt sich der Saal. Es herrscht absolute Stille. Plötzlich ist die schrille Welt des Hochglanzes ausgeblendet. Jetzt steht die Musik im Vordergrund. Aus dem unsichtbaren Orchestergraben kommen die ersten Töne – so wie aus dem Nichts. Dann hebt sich der Vorhang. Und alles wird zur Oper.
I. Kindheit und Jugend Das Grauen der Quinten
Sie klingt hohl und geheimnisvoll – so wie ein spukender Geist. Die Quinte ist ein merkwürdiger Akkord. Nicht Fisch und nicht Fleisch. Nicht lebendig und nicht tot. Nicht Dur und nicht Moll. Sie klingt wie ein Gespensterboot mit zerrissenen Segeln, wie ein Wald mit versteckten Monstern oder ein Tanz aus dem Totenreich. Die Quinte ist der Klang der Kindheit Richard Wagners. Ein bedrohliches Leitmotiv. Wagner war ein ängstlicher Junge. Sein Vater starb kurz nach seiner Geburt, sein Stiefvater war ein besessener Schauspieler und Richard wurde von einem Ort zum nächsten geschickt, von einer Familie in eine andere. Er kannte kaum Sicherheit, kaum Geborgenheit, kein Zuhause. Nichts, was an einem Tag galt, hatte am nächsten Tag noch Bestand. Noch im hohen Alter spukte ihm die hohle Quinte als Gespensterakkord seiner Jugend im Kopf – als Erinnerung seiner turbulenten Kindheit.
Ein normaler Akkord besteht aus drei Tönen: dem Grundton, der Terz (also dem dritten Ton nach dem Grundton) und der Quinte (dem fünften Ton nach dem Grundton). In der Regel entscheidet die Terz, ob der Akkord traurig oder fröhlich klingt, ob es sich um Dur oder Moll handelt. Aber in der leeren Quinte fehlt genau diese Terz. Sie ist offen, bestimmungslos und ohne Halt – und deshalb bestens geeignet, uns Angst einzujagen. Sosehr Richard Wagner diesen Akkord als Kind fürchtete, so sehr liebte er den Spuk und den Schauder, den er auslöste. All das wissen wir aus seiner Autobiografie.
Nachdem er sich von seiner ersten Frau Minna getrennt und seine zweite Frau Cosima kennengelernt hatte, begann er, ihr sein Leben zu erzählen – von der Geburt über die Kindheit und die Wanderjahre bis zu jenem Zeitpunkt, als er König Ludwig II. getroffen hat. Der König hatte sich diese Lebensbeschreibung von Wagner gewünscht. Und so saßen er und seine Frau abends zusammen, und Cosima notierte, was Richard ihr erzählte.
Cosima und Richard hatten in den 1860er Jahren mit dem Buch begonnen und haben es 1880 beendet. Drei Jahre bevor Wagners Herz in Venedig aufhörte zu schlagen. Das Buch seiner Vergangenheit hat mehr als 900 Seiten und erschien unter dem Titel Mein Leben.
Wenn ein Mensch seine Biografie schreibt, kommt es vor, dass er einige unbequeme Dinge glättet. Dass er hier oder dort etwas auslässt und an dieser oder jener Stelle ein paar Details ausschmückt. Wer redet schon gern darüber, dass er in der Schule versagt hat? Wer breitet seine Familienprobleme schon gern aus oder schreibt über seine eigene Untreue? Und wer versucht am Ende seines Lebens nicht, all das, was er geschaffen hat, so gut aussehen zu lassen wie möglich? Das macht jeder so. Und natürlich erst recht ein Künstler wie Richard Wagner. Er war es gewohnt, lange Geschichten zu erfinden und seine eigene Wirklichkeit auf der Opernbühne in Musik zu gießen. Wagner war ein Musiker, für den das wahre Leben und die Wirklichkeit immer auch Teil der Erfindung und der Kunst waren – und in Mein Leben ist das nicht anders. Natürlich auch, weil er dieses Buch für den König schrieb und dieser nicht alle Irrungen seines Lieblingskomponisten erfahren sollte.
Aber was taugt so ein Buch, in dem der Autor über sich selbst schreibt? Dessen Hauptgrund darin liegt, ein geschöntes Bild für die Nachwelt zu hinterlassen? Mein Leben ist zunächst einmal eine historische Quelle. Also ein Text, dessen Wert nicht darin liegt, dass man ihm glauben kann, sondern darin, dass man ihn hinterfragen muss. Das Buch ist so etwas wie ein Rätsel – man kann sich Seite für Seite fragen, wie Wagner gesehen werden wollte. Und man kann auf Spurensuche gehen: Wo hat er gelogen – und vor allen Dingen: warum?
Für Historiker und Musikwissenschaftler ist Mein Leben ein wichtiges Dokument. Nicht nur, um die Biografie Wagners zu erzählen, sondern auch, um seine Worte mit der Wirklichkeit abzugleichen, mit anderen Quellen, mit Briefen, Partituren und Berichten seiner Zeitgenossen. Erst so lässt sich Stück für Stück dem Geheimnis auf die Spur kommen, wer Richard Wagner wirklich war. Wie er sich selbst sah und wie er die Wirklichkeit durch seine Worte verändern wollte.
Sicher ist, dass wir in den Opern Richard Wagners immer wieder Anspielungen auf seine eigene Biografie finden. Auf seine Kindheit, seine Affären und seine politischen Visionen. Vielleicht liegt darin sogar eines der Geheimnisse seiner Musik. Wagner hat seine intimsten Ängste, seine privaten Gedanken und seine politischen Vorlieben gern verallgemeinert und auf die Bühne geholt – und zwar so, dass wir uns in ihnen wiedererkennen. Seine Opern sind gigantische Mythen, und in Mein Leben hat er versucht, sein eigenes Leben zum Mythos zu erheben – zu einem Kunstwerk, das so echt und so wahr klingen soll wie möglich.