Mirjam Pressler
Golem stiller Bruder
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© 2007 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat Frank Griesheimer
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: rgb
Einbandbild: Roberto Innocenti
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74310-7
Für Yolanda, Noah und Joshua

1. Kapitel
Es steht geschrieben

Die Nacht kam früh, wie sie in dichten Wäldern immer lange vor der Zeit kommt. Die Eulen wachten allmählich auf und die Dämmerung nahm zu. Die Angst trieb den Jungen vorwärts. Er stolperte über dicke Baumwurzeln, die wie höllische Schlangen durch das Laub krochen, plötzlich verschwanden und an unerwarteten Stellen wieder auftauchten. Das Rascheln unter seinen Füßen wurde lauter, und sein Bündel, in dem sich nur noch der leere Wasserschlauch befand, schlug bei jedem Schritt gegen seinen Rücken wie eine Geisterhand, die ihn zur Eile trieb. Irgend wo, weit hinter ihm, heulte ein Wolf. Vor ihm, im dunklen Gebüsch, tauchten ein paar helle Flecken auf.
Der Junge packte das Mädchen, das schlafend über seiner Schulter lag, fester, und lief im Zickzack weiter, um den Schatten auszuweichen, die drohend aus dem Unterholz auf ihn zukrochen. Schon seit einer oder zwei Stunden trug er seine kleine Schwester. Sie hatte angefangen zu weinen, weil ihr die Füße wehtaten, und war, kaum dass er sie aufgehoben hatte, auch schon eingeschlafen. Neben ihm, in einem undurchdringlichen Dickicht, zischte etwas, über ihm schrie ein Käuzchen. Als er schon glaubte, nicht mehr weiterzukönnen und im nächsten Augenblick kraftlos zu Boden zu sinken, wurden die hellen Flecken im Gebüsch vor ihm größer und verheißungsvoller. Mit letzter Anstrengung brach er hindurch und tauchte auf einmal in strahlendes Licht. Hinter ihm, über dem Wald, färbte sich der Himmel bereits, doch die Sonne leuchtete so kraftvoll, als habe sie beschlossen, kurz vor dem Untergehen der Welt noch einmal ihre ganze Macht und Herrlichkeit vorzuführen.
Der Junge hob vorsichtig das Mädchen von seiner Schulter und ließ es zu Boden gleiten, bevor er mit den Händen die Augen abschirmte, geblendet vom Licht und geblendet von dem Anblick, der sich ihm bot. Unterhalb des Hügels, hinter Wiesen und Feldern, lag zu Füßen der mächtigen, alles überragenden Burg die Stadt, die Goldene Stadt, durch die sich ein silberner Fluss wie eine verzauberte Schlange wand, und hinter ihm lag Mořina1), von wo aus er vor vier oder fünf oder auch sechs Tagen aufgebrochen war, er wusste es nicht mehr. Anfangs hatte er die Tage noch gezählt, aber dann war er mit dem Zählen durcheinandergeraten, so wie er sich auch manchmal mit den Wegen geirrt hatte. Am Schluss war es ihm auch egal gewesen, er hatte nur noch daran gedacht, dass er in nordöstlicher Richtung gehen musste, wie seine Tante es gesagt hatte, immer nur nach Nordosten. Und nun lag das Ziel vor ihm.
1) Der tschechische Ortsname Morřina wird Moschina ausgesprochen und auf der ersten Silbe betont.
Das Mädchen zu seinen Füßen wimmerte leise. Und wieder schrie das Käuzchen, es klang wie der Hilferuf einer toten Seele. Der Junge, von neuer Kraft erfüllt, bückte sich zu seiner Schwester und zog sie hoch.
Ich erinnere mich noch genau, wie es war, als ich Prag zum ersten Mal sah. Hinter mir lag Mořina. Hinter mir lag auch der schier unendliche Wald, in dem wir die letzte Nacht verbracht hatten, eine furchtbare Nacht in einer bedrohlichen, mondlosen Dunkelheit. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich mich daran erinnerte, an das aufkommende Gewitter, an die Blitze, in deren grellem Schein die Bäume wie Dämonen um uns herumtanzten. Wir hatten uns in eine Felsnische geflüchtet, die allerdings nicht tief genug war, um uns wirklich Schutz zu bieten, der Sturm peitschte die Wasserschwaden gegen uns, der Regen schlug uns ins Gesicht und drang durch unsere Kleidung bis auf die Haut. Nass und frierend hielten wir uns umschlungen, und ich betete alle Psalmen, die mir einfielen, um den Schutz des Ewigen zu erflehen. Bei jedem Blitz schrie Rochele auf und klammerte sich noch fester an mich. Ihre dünnen Ärmchen drückten mir fast den Hals zu. Ich streichelte sie und flüsterte, sie brauche keine Angst zu haben, ich sei ja bei ihr, und dabei hatte ich selbst solche Angst, dass ich am liebsten den Kopf in der Erde vergraben hätte.
Trotzdem war ich froh, nicht allein zu sein. Es war, wie Tante Schejndl immer gesagt hatte: Wenn der Hunger im Bauch deines Kindes heult wie ein Wolf, wird das Knurren deines eigenen Magens so leise wie das Husten eines Flohs. Rocheles Angst heulte so laut, dass ich meine eigene Angst nicht mehr hören konnte. Ich musste für sie sorgen, wie ich es Tante Schejndl versprochen hatte. Ihr und meinem Vater, der irgendwo draußen in der schwarzen, tosenden Welt war und vielleicht gerade jetzt an uns dachte. »Pass auf deine kleine Schwester auf, Jankel«, hatte er gesagt, als er vor drei Monaten mit seinem Karren voller Bücher losgezogen war, »pass gut auf sie auf, du bist mir und dem Ewigen, gelobt sei er, für sie verantwortlich, solange ich nicht zu Hause bin. Vergiss das nie.«
Der Gedanke an meinen Vater schnürte mir die Kehle zu, und ich schnappte nach Luft, als wäre ich zu lange gelaufen. Aber das war ich ja auch, von Mořina bis hierher, und die meiste Zeit mit Rochele auf dem Rücken oder über der Schulter, weil der Weg für ihre kurzen Beinchen einfach zu lang und zu schwer war. Wir waren nur durch die Wälder gegangen, wir hatten die Landstraße gemieden, wie Tante Schejndl gesagt hatte. Meidet die Landstraßen, die sind gefährlich. Auf Landstraßen treibt sich zu viel Gesindel herum.
Das Mädchen wimmerte im Schlaf wie ein neugeborenes Zicklein, und ich bückte mich, hob sie hoch und nahm sie auf den Arm. Sie schlief noch, das hörte ich an ihren gleichmäßigen Atemzügen. Ab und zu zuckten ihre Glieder, als wäre ein Dibbuk2) in sie gefahren oder als müsse sie im Traum vor etwas weglaufen. Ich strich ihr mit der Hand über den Rücken. »Rochele«, flüsterte ich leise, um die bösen Waldgeister hinter uns nicht auf uns aufmerksam zu machen, »Rochele, aufwachen, wir sind gleich in Prag.«
2) Mit einem Sternchen gekennzeichnete Wörter sind im Glossar am Ende des Buches kurz erklärt.
Sie war sofort wach, rutschte aus meinen Armen und stand auf ihren eigenen Füßen.
»Türme«, sagte sie mit einer andächtigen Stimme. »Lauter Türme. Lauter brennende Türme.«
Während die beiden Kinder die Hänge hinuntertorkelten, schwankend wie Holzfäller, die in der Schänke zu viel Branntwein getrunken haben, veränderte sich die Welt um sie herum, der Himmel im Westen wurde rot, als stünde er in Flammen, und der Widerschein fiel auf die Stadt vor ihnen. Die Flammen zuckten durch den Körper des Jungen und ließen ihn, trotz seiner noch immer feuchten Kleidung, erglühen vor Freude und Erleichterung. Die Flammen zeigten sich auch auf dem Gesicht seiner kleinen Schwester und malten rote Flecken auf ihre Wangen, als wäre sie von einem plötzlichen Fieber befallen worden. Erschrocken berührte er ihre Stirn, aber die war ganz kühl.
Sie betraten die Stadt durch ein Tor, dessen Mauern so dick waren, dass sie viele Schritte gehen mussten, um den hellen Ausgang zu erreichen. Staunend blieben sie stehen und schauten sich um. So viele Häuser hatten sie noch nie in ihrem Leben gesehen, hohe Häuser, dicht zusammen gedrängt, als müssten sie sich gegenseitig stützen, um nicht umzufallen. Sie hatten auch noch nie so viele Menschen gesehen, so viele Händler, Hökerweiber, Bettler und feine Herrschaften in Kutschen, mit livrierten Dienern auf dem Bock, die mit der Peitsche knallten und »Platz da!« und »Aus dem Weg!« riefen. Die Menschen sprangen zur Seite, und die Fuhrwerke rammten mit ihren hölzernen Rädern fast die Hauswände bei ihrem Bemühen, die feinen Kutschen vorbeizulassen.
Vor einer Schänke spielten zwei Fiedler eine lustige Melo die, Leute standen um sie herum und hörten ihnen zu, manche klatschten im Takt und ein paar Kinder hüpften im Kreis und sangen mit. Das Mädchen wollte ebenfalls zuhören, sie lachte und machte ein paar ungeschickte Luftsprünge, aber ihr Bruder packte sie an der Hand und zog sie unerbittlich weiter.
Sie bogen um eine Ecke und landeten auf einem kleinen Platz, auf dem die Händler gerade ihre Waren zusammenpackten, Kohl, Hülsenfrüchte, Obst, Schinken und fette Würste. Zwei Hunde stritten sich knurrend und bellend um die Abfälle, die ein Metzger auf den Boden geworfen hatte, sie fletschten die Zähne und sahen so gefährlich aus, dass die Kinder ihnen auswichen und in einem großen Bogen an ihnen vorbeigingen.
Ein Apfel fiel aus einer Kiste und rollte über das Pflaster. Der Junge schaute sich hastig um, bückte sich und ließ den Apfel in seiner Tasche verschwinden, bevor der Händler seinen Verlust überhaupt bemerkte, und zog seine Schwester hinter sich her in eine Seitenstraße. Dort setzten sich die Kinder auf den Boden und aßen, mit dem Rücken an eine Hauswand gelehnt, gierig den Apfel. Er war köstlich. Immer abwechselnd nahmen sie einen Bissen und ließen außer dem Stiel nichts übrig. Den ganzen Tag lang hatten sie nur ein paar Beeren zwischen die Zähne bekommen. Morgens hatten sie an einem einsam gelegenen Bauernhaus angeklopft und für Gottes Lohn um eine Scheibe Brot gebeten, aber die Bäuerin, eine dicke, hässliche Frau, hatte mit ihrem Besen gefuchtelt und das »Bettelpack«, wie sie sie nannte, mit wüten dem Geschrei weggejagt. Danach waren sie an keinem Hof mehr vorbeigekommen.
Der eine Apfel machte sie nicht satt, hungrig gingen sie weiter. Das Mädchen blieb vor einem Hökerweib mit grauen Zottelhaaren stehen, das Pflaumenmuskuchen verkaufte, und streckte bittend die Hand aus. Aber die Frau musste ein Herz aus Stein haben, sie schüttelte den Kopf, und als das Mädchen noch einen Schritt auf sie zumachte, fing sie an zu keifen und hob die Hand, als wolle sie das Kind verscheuchen, wie sie die Fliegen verscheuchte, die von ihrem Pflaumenmuskuchen angelockt wurden.
Der Junge zog seine Schwester schnell von ihr fort. Unschlüssig schaute er sich um. Er hatte keine Ahnung, welchen Weg sie einschlagen mussten, wagte aber nicht, diese fremden, städtischen Menschen anzusprechen, die alle so geschäftig taten, er fürchtete Beschimpfungen und Flüche. Schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen und fragte einen Fuhrmann, der Holzscheite von seinem Wagen lud und am Straßenrand zu einem Stapel aufschichtete, nach dem Weg zur Judenstadt.
Der Mann betrachtete ihn abschätzig und spuckte auf den Boden, dann streckte er die Hand aus und sagte: »Dort durch das Torhaus und über die steinerne Brücke, danach müsst ihr euch links halten, ihr könnt es nicht verfehlen.« An seiner ausgestreckten Hand fehlten zwei Finger.
Die Kinder schlugen die angegebene Richtung ein und fanden das Torhaus und die Brücke. Sie war aus Stein und so lang wie in ihrem Heimatort die Hauptstraße der Christen, und sie war viel, viel breiter. Das Mädchen zog die Schultern hoch und drängte sich ängstlich an ihren Bruder, folgte ihm jedoch, ohne zu widersprechen. Anfangs trippelte sie ganz dicht an seiner Seite, doch dann siegte ihre Neugier, und er musste sie immer wieder hochheben, damit sie über die Steinmauer hinunter auf den Fluss schauen konnte. Das Wasser war tief unter ihnen und fast schwarz, die Boote und Flöße waren kaum mehr zu erkennen. Über dem Fluss kreis ten Möwen und erfüllten mit ihren Schreien die Luft.
Als sie am anderen Ende der Brücke angekommen waren, senkte sich die Dämmerung über die schmalen Straßen. Sie hielten sich linker Hand, wie der Fuhrmann gesagt hatte, gingen durch eine krumme Gasse und erreichten ihr Ziel.
Sie erkannten die Judenstadt sofort, nicht nur daran, dass die Männer Bärte und Schläfenlocken trugen, wie es das Gesetz befiehlt. Sie erkannten sie an den Menschen mit ihren vertrauten Gesichtern, sie erkannten sie an der vertrauten Kleidung, den Hüten und den langen Mänteln der Männer und den Kopftüchern der Frauen, an den Talmudschülern*, die, Bücher in den Händen, mit gesenkten Köpfen an ihnen vorbeieilten, offenbar auf dem Weg zum Bethaus. Sie erkannten sie auch am vertrauten Klang der Stimmen und daran, wie Bettler im Namen des Ewigen um eine milde Gabe flehten, und an den vertrauten Gerüchen nach Zwiebeln und Knoblauch, nach gekochtem Kohl und in Öl gebackenen Teigtaschen.
Als wir die Judenstadt betraten, zog ich meine Schläfen locken, die ich unterwegs hinter den Ohren versteckt hatte, hervor, denn jetzt sollte mir jeder ansehen, dass ich ein Jude war. Ich glaube, wir hatten beide das Gefühl, als wären wir nach diesen schrecklichen Tagen und noch schrecklicheren Nächten nach Hause gekommen. Doch etwas war seltsam: Keiner schaute uns an, obwohl wir doch fremd waren, keiner fragte, woher wir kamen und wohin wir gingen, keiner erflehte den Segen des Ewigen, gelobt sei er, auf uns herab und wünschte uns Frieden, und keiner erkundigte sich, ob wir Hunger hatten, oder bot uns wenigstens einen Schluck Wasser an.
Bei uns in Mořina wurde jeder Fremde freundlich begrüßt, man fragte ihn nach dem Woher und Wohin, und selbstverständlich bot man ihm etwas zu essen an, auch wenn man selbst nur wenig hatte. Sogar Tante Schejndl, die seit dem frühen Tod ihres Mannes ihren Lebensunterhalt als Dienstmagd im Haus eines hohen Herrn verdiente, hätte nicht gezögert, einen Fremden einzuladen und ihr bescheidenes Mahl mit ihm zu teilen.
Aber die Leute hier taten, als gäbe es uns nicht oder als würden sie uns Tag für Tag sehen, so wie ihre eigenen Kinder oder die Kinder ihrer Nachbarn. Oder wie die eines stadtbekannten Bettlers, dachte ich, als ich an unseren staubigen, von spitzen Zweigen und Dornen zerrissenen Kleidern hinunterschaute, die grau waren von Staub und Erde. Die letzten Tage hatten ausgereicht, uns das Aussehen irgend welcher hergelaufener Bettelkinder zu verleihen. Ich schämte mich dafür, doch zugleich machte es mich zornig. Heftiger, als ich es gewollt hatte, zog ich Rochele hinter mir her, und als sie protestierte, fuhr ich sie an, sie solle sich bloß nicht aufführen wie eine hochgeborene Dame mit Samtfüßchen.
Ich bog in eine gepflasterte Gasse ein, die mir vornehm genug erschien, dass ein berühmter Rabbi* darin wohnen könne. Rochele torkelte neben mir her, sie war erschöpft von dem langen Marsch und hing allmählich so schwer an meiner Hand wie ein Sack Mehl. Sie tat mir leid, aber ich war am Ende meiner Kräfte, ich konnte sie nicht mehr tragen.
Der Junge blieb stehen, er wusste nicht mehr weiter, und langsam senkte sich die Dämmerung über die Stadt. Höflich, wie seine Tante Schejndl es ihn gelehrt hatte, wandte er sich schließlich an einen Wasserträger, einen schmächtigen Mann, der ebenso abgerissen aussah wie seine Schwester und er, wünschte ihm Frieden und fragte ihn, ob er ihm sagen könne, wo Rabbi Juda Lejb wohne.
Der Mann nahm sich die Stange, an der seine Eimer hingen, von den Schultern und wischte sich den Schweiß von der Stirn, bevor er den Jungen anschaute. »Wer? Was für einen Rabbi meinst du?«, fragte er mit einer langsamen, schweren Stimme und fügte grinsend hinzu: »Ihr müsst wissen, in der Prager Judenstadt leben mehr Rabbiner als Flöhe in meinem Bett.«
»Rabbi Juda Lejbben Bezalel«, sagte der Junge. »Der Wunderrabbi.«
Der Spott verschwand aus dem Gesicht des Mannes. »Ach, du meinst den Hohen Rabbi Löw, er möge leben und gesund sein«, sagte er. »Ja, natürlich weiß ich, wo er wohnt. Das weiß in Prag jeder. Sogar die Christen«, er spuckte über seine linke Schulter, »wissen das.«
Sein Kopf wackelte auf einem dünnen Hals und seine Zunge war zu lang, sie rutschte ihm beim Sprechen immer wieder zwischen die Zähne, was ihm das Aussehen eines Mannes verlieh, der nicht ganz richtig im Kopf war. Der Junge senkte die Augen, um zu verbergen, dass er diesen Makel bemerkt hatte, und um zu vermeiden, dem Mann auf den Mund zu starren, denn das durfte man nicht tun. Er meinte Tante Schejndls Stimme zu hören, die sagte: Wenn ein Mensch mit einem Makel oder einem Gebrechen behaftet ist, dann hat es der Ewige so gewollt. Es steht uns nicht an, uns darüber lustig zu machen, denn ein jeder, hörst du, Jankel, ein jeder ist nach seinem Bild erschaffen, so steht es geschrieben. Der Junge hob den Kopf und sagte erklärend: »Der Rabbi ist unser Großonkel.«
Der Mann musterte den Jungen neugierig, dann ließ er den Blick über das Mädchen gleiten, das sich an die Hand des Bruders klammerte, als fürchte sie, von dem plötzlich aufkommenden Wind weggeweht zu werden. »Der Ewige, gelobt sei er, meint es gut mit euch, wenn er euch solch einen Großonkel schenkt«, sagte er. »Die Wege des Herrn sind unerforschlich, dem einen läuft schon bei der Geburt das Fett aus dem Maul, dem anderen schiebt er ein Leben lang nur Sand zwischen die Zähne, für den einen verwandelt er sogar Pferdeäpfel in Gold und den anderen lässt er auch noch sein letztes bisschen Verstand verlieren. Aber wer bin ich, dass ich mit ihm rechten dürfte?« Er betrachtete die Kinder noch einmal, dann lud er sich seine Last wieder auf. »Nun ja, ihr seht nicht so aus, als würde euch das Fett aus dem Maul rinnen. Also kommt, ich bring euch hin, zu eurem Onkel.«
Er führte sie durch mehrere Gassen, und einmal deutete er von weitem auf ein Haus und sagte: »Schaut, dort hinten wohnt Reb* Mordechaj Meisl, der reichste Jude der Stadt. Seine Taler werfen Junge wie die Mäuse des Müllers nach einer reichen Ernte. Aber man sagt, er sei trotzdem ein gottesfürchtiger und freigiebiger Herr. Der Himmel bewahre uns vor dem grünen Neid, aber ein bisschen von Reb Meisls Glück hätte er auch an uns verteilen können.« Er hustete, und als sich sein Atem beruhigt hatte, bog er in eine andere Gasse ein. Inzwischen war es tatsächlich dunkel geworden. Plötzlich sprang eine riesige Katze aus einem Durchgang und stellte sich ihnen fauchend und mit einem krummen Buckel in den Weg. Das Mädchen erschrak und drängte sich schutzsuchend an ihren Bruder.
Vor einem schmalen, leicht nach vorn geneigten Haus blieb der Wasserträger stehen und nahm sich die Stange mit den Eimern von den Schultern. »Wir sind da«, sagte er. Der Junge blickte mit einem beklommenen Gefühl an der Fassade hoch. Hinter einem Fenster im oberen Stock schimmerte ein Licht.
Der Wasserträger klopfte an die Tür. Kurz darauf waren Schritte zu hören, hastige, kurze Schritte, auch Geflüster, dann ging die Tür auf. Zwei Männer in langen, schwarzen Mänteln standen oben auf den beiden Stufen, die zum Eingang hinaufführten. Der eine war rundlich mit einem ebenfalls rundlichen Gesicht und einem kurzen, braunen Bart, der andere dünner, noch mit dem flauschigen Bart eines Jünglings. Es waren Talmudschüler, das sah man, Anhänger des Hohen Rabbi Löw. Der Rundliche trug eine Lampe, die im Wind schwankte, als er sie vor die Tür hielt. Das Licht beleuchtete erst das Gesicht des Wasserträgers, dann sank es tiefer zu dem Jungen, der, geblendet von der plötzlichen Helligkeit, erschrocken die Augen zukniff.
»Was wollt ihr so spät noch?«, fragte der Rundliche abweisend. »Der Rabbi studiert die heiligen Bücher und darf nicht gestört werden. Kommt morgen wieder.«
Der Wasserträger schob den Jungen und das Mädchen einen Schritt nach vorn. »Friede sei mit euch«, sagte er. »Diese Kinder hier wollen zum Hohen Rabbi, sie sagen, er sei ihr Onkel.«
Die beiden Talmudschüler schauten sich an und zogen fragend die Augenbrauen hoch, sodass sie sich auf ihren weißen Stirnen wölbten wie die Flügel von Raben am Himmel. Der mit der Lampe zuckte mit den Schultern und nickte. Der andere wühlte in seiner Manteltasche, kam die Stufen herab und drückte dem Wasserträger ein paar Münzen in die Hand. Der Mann verbeugte sich mehrmals, murmelte ein paar Segenssprüche, hob sich die Stange mit den Eimern wieder auf die Schultern und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden.
Der Rundliche zog die Kinder an den Händen ins Haus, der andere machte die schwere Tür zu.
Sie standen in einem dunklen Flur, in dem es nach Essen roch, ein vertrauter Geruch, ohne dass die Kinder ihn hätten bestimmen können. Es war, als hätten alle Gerichte, die je in diesem Haus gegessen worden waren, etwas von ihrem speziellen Geruch zurückgelassen. Hinter einer Tür waren Frauenstimmen zu hören. Der Rundliche ging voraus und führte die Kinder eine steile, enge Treppe hinauf. Dort öffnete er eine Tür, durch deren Spalt ein schwacher Lichtschein fiel, und schob die Kinder über die Schwelle. Der Junge und das Mädchen hielten sich an den Händen, die beiden Talmudschüler blieben an der Tür stehen.
Ich erinnere mich auch noch genau, wie es war, als wir zum ersten Mal das Zimmer unseres Großonkels betraten, des Hohen Rabbi Löw. Ein weiser Mann, hatte Tante Schejndl gesagt, ein Wunderrabbi, dessen Ruf sich in alle Windrichtungen verbreitet hat. Ich blieb wie erstarrt stehen, denn plötzlich fing ich an zu frieren und meine Beine wurden weich. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre weggelaufen. Rochele schien etwas Ähnliches zu empfinden, sie versteckte sich hinter meinem Rücken und klammerte sich an meine Rockschöße.
Aus Angst, den Mann anzuschauen, dessen Umrisse ich hinter einem großen Tisch bemerkt hatte, ließ ich die Blicke durch das Zimmer schweifen. Es war so geräumig, dass die beiden Lichtquellen, eine Kerze auf dem Tisch und die Lampe in der Hand des Talmudschülers, der mit dem anderen an der Tür stehen geblieben war, nicht ausreichten, es zu erhellen, in den Ecken ballten sich dunkle Schatten bis hinauf zur Decke. An den Wänden standen Borde mit Büchern, auch auf dem Tisch lagen Bücher, wie ich mit einem raschen Blick feststellte. So viele Bücher auf einmal hatte ich noch nie gesehen, es waren mindestens zehnmal so viel wie jene, die mein Vater immer auf seinen Karren lud, um sie in abgelegenen jüdischen Ansiedlungen und auf Jahrmärkten zu verkaufen.
Wer seid ihr?«, fragte der Mann von der anderen Seite des großen Tisches. »Was wollt ihr?«
Der Junge hörte, wie seine Schwester hinter seinem Rücken die Luft ausstieß, und schaute den Mann an. Das Licht fiel nur auf eine Seite seines Gesichts, die andere verschwamm in der Dunkelheit, das ließ ihn unwirklich aussehen, geisterhaft. Er war alt, sein Bart war fast weiß, auch seine Haare waren weiß, und bei diesem Licht sah es aus, als würde die schwarze Kipa* ein kreisrundes Loch in seinen Kopf schneiden. Die erhellte Gesichtshälfte war von vielen Falten und Furchen durchzogen und wurde beherrscht von buschigen, zusammengewachsenen Augenbrauen über einer großen Nase mit breiten Nasenflügeln. Der Junge war wie gelähmt. Der Mann sah aus wie einer der Dämonen, vor denen ihre Tante sie immer gewarnt hatte. Die Dämonen, sagte sie, lauern des Nachts auf ihre Opfer, um sie im Schutz der Dunkelheit zu überfallen und ihnen Böses anzutun. Dämonen steigen aus der Unterwelt auf und strecken ihre gierigen Hände nach uns aus.
»Wer seid ihr und was wollt ihr?«, fragte der Mann noch einmal. Der Junge hörte die Ungeduld in seiner Stimme, die, wie ihm auffiel, nicht so alt und schwach war, wie man seinem Aussehen nach erwartet hätte, sondern wie die eines Mannes in der Blüte seiner Jahre.
Der Junge trat einen Schritt näher, wagte aber nicht, ihm beim Sprechen ins Gesicht zu schauen, er hielt die Augen gesenkt. »Ich bin Jankel«, sagte er. »Ich bin Jankel, der Sohn von Srulik, dem Bücherverkäufer, und von Rachel, ihr Andenken gereiche uns zum Segen, deren Mutter Rosa aus der fernen Stadt Worms nach Böhmen gekommen ist. Unsere Tante Schejndl, der Herr schenke ihr Genesung, hat uns hierhergeschickt. Sie ist krank geworden, der Schlagfluss hat sie getroffen, sie braucht jetzt selbst Hilfe und kann nicht mehr für uns sorgen, und unser Vater ist vor drei Monaten mit seinen Büchern losgezogen und bis heute noch nicht wiedergekommen, und wir wissen nicht …«
Ich hatte mich bemüht, laut und mit fester Stimme zu sprechen, um meine Angst zu verbergen, und hatte insgeheim gebetet, dass meine Stimme sich nicht überschlagen und anfangen würde zu quietschen, wie wenn man mit einem Nagel über einen Kochtopf kratzt, was sie in der letzten Zeit häufig tat. Bei den letzten Worten war es aber doch passiert, meine Stimme ließ mich im Stich, aus meiner Kehle kam nur ein Quieken. Beschämt schwieg ich. Auf einmal spürte ich wieder, wie mir die feuchte Kleidung am Körper klebte.
Das Mädchen ließ die Rockschöße ihres Bruders los und schob sich neben ihn. Ihre helle Stimme klang seltsam fremd und unpassend in diesem düsteren Raum, als sie sagte: »Vielleicht ist er krank geworden, hat Tante Schejndl gesagt. Es kann nur eine Krankheit oder sonst etwas Schlimmes sein, das ihn davon abgehalten hat, zu uns zurückzukommen.« Sie tastete nach der Hand des Jungen.
Der Hohe Rabbi Löw betrachtete die Kleine neugierig. Auf einmal verlor er etwas von dem Dämonischen, und als er lächelte, sah er fast aus wie ein alter, freundlicher Mann. Der Junge drückte die Hand seiner tapferen Schwester und lächelte auch. Diesmal konnte er dem Mann ins Gesicht blicken und mit fester Stimme sprechen. »Sie hat gesagt, sie wisse keine andere Lösung, denn Dwore, die Nichte ihres verstorbenen Mannes, bei der sie jetzt lebt, hat selbst mehr Kinder, als sie satt bekommen kann, deshalb hat sie gesagt, geht nach Prag, zu eurem Großonkel, dem Rabbi Juda Lejbben Bezalel, so hat sie zu uns gesagt …«
Ich stockte. Ich hatte immer unsicherer gesprochen, das hatte ich selbst gemerkt, und ich wusste auch, woran es lag. Beim Sprechen hatten mich Zweifel gepackt, ob wir diesen langen Weg und die ganze Mühsal vielleicht vergeblich auf uns genommen hatten. Was hatte Tante Schejndl so sicher gemacht, dass dieser Mann uns aufnehmen würde? Schon begann ich mir vorzustellen, wie wir den ganzen Weg zurück nach Mořina gehen müssten.
Der Mann schaute uns immer noch an. Ich legte meine Hand auf Rocheles Schulter und spürte, dass sie zitterte. Unauffällig schob ich die Finger unter ihre Haare und streichelte ihren Nacken, der so dünn war wie der eines Vögelchens.
Wie alt bist du?«, fragte der Rabbi. »Bald sechzehn«, sagte der Junge. »An Simchat Tora* werden es drei Jahre sein, dass ich Bar Mizwa* wurde.«
»Eine doppelte Freude für deinen Vater«, sagte der Rabbi. »Du bist also schon ein Bocher*, aber du siehst immer noch aus wie ein Jeled*.«
Ich schwieg gekränkt. Was hätte ich auch sagen können? Ich wusste ja, dass ich nicht besonders groß und auch nicht sehr kräftig war. Damals war ich es jedenfalls noch nicht. Aber ich bemühte mich, meinen Ärger zu verbergen. Der alte Mann erhob sich. Groß und breit stand er vor uns, und ich verstand, warum man ihn den »Hohen Rabbi« nannte.
Kommt mit«, sagte der Rabbi. Die beiden Talmudschüler, die während der ganzen Zeit schweigend neben der Tür gestanden hatten, leuchteten ihnen die Treppe hinunter. Das Mädchen ließ die Hand des Jungen nicht los. Der Rabbi öffnete eine Tür und schob die Kinder in eine Küche, in der zwei Frauen arbeiteten, eine zierliche alte Frau mit einem schwarzen Spitzenschal über den weißen Haaren und eine in mittlerem Lebensalter, mit einem schönen Gesicht und einer kräftigen Gestalt. Unter ihrem dunkelblauen Kopftuch züngelten rote Haare hervor wie die Flämmchen eines wärmenden Holzfeuers im Winter. Beide Frauen hoben die Köpfe, als die Kinder eintraten, und betrachteten sie mit unverhohlener Neugier.
»Diese Kinder sind die Enkel meiner Schwester Rosa, ihr Andenken gereiche uns zum Segen«, sagte Rabbi Löw. »Sie sind Waisen und haben keinen mehr, der für sie sorgt, deshalb werden sie hierbleiben, bei uns.«
»Wir sind keine Waisen«, widersprach das Mädchen. »Unser Vater ist Srulik, der Bücherverkäufer. Er ist auf eine lange Reise gegangen, aber er kommt bestimmt irgendwann zurück und holt uns.«
Die alte Frau nahm Rocheles Hände, beugte sich zu ihr und fragte: »Wie heißt du, Kind?«
»Rochele«, sagte das Mädchen, »und das ist Jankel, mein Bruder.«
Die alte Frau fragte freundlich: »Hast du Hunger, Rochele?«
Rochele nickte. Natürlich hatte sie Hunger. Beide hatten sie Hunger. Sie brauchten das Wort nur zu hören, da wurde ihnen schwarz vor den Augen.
»Mach ihnen einen Brei, Jente«, sagte die alte Frau zu der Rothaarigen. »Mach ihnen einen Brei und spare nicht mit der Butter.«
Die Rothaarige kippte Milch aus einem Krug in einen Topf und stellte ihn auf den Herd, und als die Milch anfing zu kochen, rührte sie Grütze hinein. Die Kinder schauten ihr zu, sie konnten den Blick nicht von ihren flinken, weißen Händen wenden.
Die Küche füllte sich mit dem Geruch heißer Milch, ein Tropfen lief über und verbrannte zischend auf der heißen Platte. Jente rührte, bis die Grütze gequollen war, nahm den Topf vom Herd, süßte die Grütze mit Honig, füllte zwei Schalen voll und legte auf jede noch einen dicken Löffel Butter. Sie schob uns die Schalen hin. Die Butter schmolz und der süße, fette Duft stieg uns in die Nasen. Wir packten die Löffel, die sie uns hinhielt, und fingen an zu essen. Vorher war mir das Haus kalt und düster vorgekommen, aber als ich Jente sah, wurde mir warm. Bei ihrem Anblick hätte jeder aufgehört zu frieren.

2. Kapitel
Das war nur Josef

Beim Einschlafen übt die Seele das Sterben, so sagt man, und bei jedem Aufwachen erinnert sie sich an ihre Geburt. Deshalb dauert es manchmal eine Weile, bis sie sich in ihrer Umgebung zurechtfindet.
In Prag, im Haus des Hohen Rabbi Löw, war alles anders, als es in Mořina gewesen war. Dort war der Junge vom Tageslicht geweckt worden, vom Gackern der Hühner, dem Krähen des Hahns und dem Gemecker der Ziege, die frisches Heu verlangte. Hier war es Schimon, der rundliche Talmudschüler, der ihn an der Schulter packte und flüsterte: »Steh auf, es ist Zeit für das Morgengebet.«
Schlaftrunken schlug Jankel die Augen auf, schlaftrunken bewegte er seine Glieder, die noch schmerzten von dem langen Marsch, der hinter ihm lag. Es fiel ihm schwer, sich aus dem Traum zu lösen, aus dem ihn der Talmudschüler wachgerüttelt hatte. Im Traum war er auf der Landstraße, die von Mořina aus nach Norden führte, zu den schlesischen Städten und Märkten, seinem Vater entgegengelaufen. Sein Vater ritt auf einem weißen Pferd und war von einem gleißenden Lichtschein umgeben, schön wie ein Engel des Herrn, und hatte ihm die Arme entgegengestreckt. Doch nun beugte sich statt des wettergebräunten, bärtigen Gesichts seines Vaters das blasse Gesicht Schimons über ihn, und statt der lauten, fröhlichen Stimme seines Vaters, die er so liebte, hörte er ein mürrisches Flüstern: »Beeil dich, der Rabbi wartet.«
Jankel schlüpfte in seine Hose und seinen Rock, die nun wieder ganz trocken waren, fuhr sich mit beiden Händen durch die wirren, dunklen Haare und setzte seine Kipa auf, bevor er die Kammer verließ, in der Jente am Abend zuvor ein Lager für ihn und seine kleine Schwester bereitet hatte. Das Mädchen schlief noch.
Im Studierzimmer wartete der Hohe Rabbi Löw. Er hatte sich bereits mit dem Gebetsmantel den Kopf verhüllt und die Gebetsriemen angelegt. Auch Schimon machte sich sofort an die Vorbereitungen zum Gebet. Durch das Fenster, das der Junge am Abend zuvor gar nicht bemerkt hatte, fiel blasses Licht.
»Wo hast du deinen Tallit* und deine Tefillin*?«, fragte der Rabbi.
Jankel senkte den Kopf. »Ich habe sie nicht mitgenommen.«
»Nicht mitgenommen?«, fragte der Rabbi zornig. »Was ist das für ein Jude, der sich ohne seinen Tallitbeutel auf den Weg macht?«
»Es hat mir niemand gesagt, dass ich ihn mitnehmen soll«, stotterte Jankel beschämt.
»Was soll das heißen, es hat dir niemand gesagt?« Das Gesicht des Rabbis wurde rot, man sah ihm an, dass er sich nur mühsam beherrschte. »Du bist kein kleines Kind mehr, du bist schon Bar Mizwa, du bist dem Ewigen, gelobt sei er, selbst für alles verantwortlich, was du tust oder unterlässt.« Er nahm einen Gebetsmantel aus einer Kommodenschublade, breitete ihn aus und kontrollierte, ob die Schaufäden in Ordnung waren, bevor er ihn dem Jungen reichte, zusammen mit einem kostbaren, in Leder gebundenen Gebetbuch. »Für den Moment wollen wir es gut sein lassen und nicht mit zornigem Herzen vor den Herrn treten, aber wir werden später noch darüber sprechen müssen.«
Unter den prüfenden Augen des Hohen Rabbis murmelte Jankel den Segen zum Anlegen des Tallit. Er fühlte sich unbehaglich und achtete darauf, jedes Wort deutlich auszusprechen, und später, beim Beten, versuchte er, den singenden Tonfall des Rabbis nachzuahmen und die Worte der heiligen Sprache ebenso schnell zu lesen, wie die beiden Männer es taten, aber er konnte es nicht, in dem dämmrigen Zwielicht verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen und immer wieder stolperte seine Zunge. Deshalb mussten der Rabbi und Schimon lange warten, bis der Junge stotternd die letzten Worte gelesen hatte, das Gebetbuch zuklappte und ehrfürchtig küsste. Der Rabbi schickte ihn voraus in die Küche, um Jente Bescheid zu sagen, dass sie gleich hinunterkämen, um ihre Morgenmahlzeit zu sich zu nehmen.
Die Frauen hatten offenbar schon gegessen. Auch das Mädchen war inzwischen aufgestanden, die Kleine saß mit der Frau des Rabbis am anderen Ende des Tisches und las Erbsen aus einer blauen, irdenen Schüssel in einen Kochtopf. Vor lauter Eifer schob sie die Zungenspitze zwischen die Lippen. »Jankel, schau nur, was ich mache«, rief sie und beugte sich schon wieder über die Schüssel. Mit ihren kleinen Fingern war sie auf der Suche nach Verunreinigungen und angefaulten Erbsen schneller und geschickter als die alte Frau, und als diese sie lobte, wurde sie rot vor Stolz.
Jente bediente die Männer. Sie bewegte sich flink und ihre Haare leuchteten wie Feuer und schienen die Küche zu erwärmen. Sie lächelte dem Jungen zu, er lächelte unsicher zurück.
Der Hohe Rabbi griff nach dem Brot, und der Junge spürte plötzlich, wie hungrig er war, er konnte es kaum erwarten, dass der Rabbi den Segen sprechen würde. In diesem Moment waren schwere Schritte zu hören. Sie kamen die Treppe herunter und durchquerten den Flur. Der Rabbi erstarrte, hielt das Brot vor sich in der Luft, lauschte mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und wartete, bis die Haustür mit einem heftigen Schlag zugefallen war, erst dann entspannte er sich.
»Wer war das?«, fragte Jankel erstaunt.
»Ach, das war nur Josef«, sagte Jente schnell, und der Rabbi sagte langsam, ohne jemanden dabei anzuschauen: »Josef schläft oben in der Bodenkammer. Tagsüber ist er im Lehrhaus oder in der Schul* und erledigt die Aufgaben eines Syna gogendieners*, er kommt meist erst nach Hause, wenn es schon lange dunkel ist. Du brauchst keine Angst zu haben, du wirst ihn kaum sehen.«
Der Junge schaute erstaunt von einem zum anderen. Es drängte ihn zu fragen, warum alle die Luft angehalten hatten, als sie diesen Josef hörten, warum er nicht mit ihnen gebetet hatte und warum er nicht hier am Tisch saß, aber er unterließ es, denn Jente blinzelte ihm zu und schüttelte fast unmerklich den Kopf.
»Höre, Löw, ich habe mir etwas überlegt«, sagte die alte Frau plötzlich. »Dies hier ist kein Haus für solch ein kleines Mädchen, es ist zu düster und zu still. Wir sollten unsere Tochter Frume bitten, das Kind bei sich aufzunehmen. Ihre beiden Töchter Surele und Rejsele, sie mögen leben und gesund sein, sind doch ungefähr in ihrem Alter.« Sie zog die Hand aus der Schüssel mit Erbsen und wandte sich an ihren Mann, den Hohen Rabbi Löw. »Was meinst du dazu?« Eine Erbse rollte über den Tisch und blieb neben dem großen Messer liegen, mit dem der Rabbi das Brot geschnitten hatte.
Jankel fuhr der Schreck durch die Glieder, er riss die Augen auf und blickte entsetzt von einem zum anderen. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass man seine kleine Schwester von ihm trennen könnte. Er musste doch auf sie aufpassen, schließlich war er nicht nur dem Ewigen, gelobt sei er, für sie verantwortlich, sondern auch seinem Vater.
Der Rabbi sprach den Segen über das Brot, bevor er es brach, ein Stück in den Mund schob und langsam kaute. Erst dann antwortete er bedächtig: »Du hast recht, Perl, so werden wir es machen.«
Jankel blieb der Bissen im Hals stecken, er verschluckte sich und musste so sehr husten, dass er nur ein »Aber …« herausbrachte.
Doch die Tante schien zu ahnen, was er sagen wollte. »Sorge dich nicht«, sagte sie und legte beruhigend ihre Hand auf seine. »Unsere Tochter wohnt nur ein paar Gassen weiter, ganz in der Nähe vom Lehrhaus. Du kannst deine Schwester so oft sehen, wie du willst.«
Jankel schaute zu seiner kleinen Schwester hinüber. Sie saß bewegungslos da, eine Erbse zwischen Daumen und Zeigefinger, und starrte mit aufgerissenen Augen den Hohen Rabbi Löw an. Ihre Augen waren groß und feucht. Jankel senkte den Kopf, er wagte es nicht, zu widersprechen.
Was hätte ich auch sagen können? Dass es nicht nur darum ging, dass ich sie sah? Seit ihrer Geburt, seit jenem schrecklichen Tag, als unsere Mutter von uns genommen wurde und in die andere Welt ging, hatten meine Schwester und ich in einem Bett geschlafen. Erst hatte sie als hilfloser Säugling neben mir gelegen, und wenn ich morgens aufwachte, hatte ich lange die fuchtelnden Fäustchen betrachtet, das Gesicht mit den großen, braunen Augen und den langen Wimpern, den zahnlosen Mund, der sich zu einem Lächeln verzog, wenn sie mich erkannte. Ich hatte ihren süßen lallenden Tönen gelauscht und war glücklich gewesen, als sie langsam lernte, meinen Namen auszusprechen, noch bevor sie »Tante« sagen konnte. Dann, als sie größer wurde, hatte sie sich abends dicht an mich geschmiegt, besonders im Winter, wenn draußen der Wind pfiff und die eisige Kälte durch die Holzwände drang. Wie zwei junge Hunde hatten wir uns gegenseitig warm gehalten. Über vier Jahre lang hatte ich sie Abend für Abend neben mir gespürt, und ihre flatternden Atemzüge hatten mich in den Schlaf begleitet, bis hinein in meine Träume.
Nein, es ging nicht nur darum, ob ich sie sah, aber das konnte ich nicht sagen. Nicht vor diesem Mann, dem es, wie mir schien, vollkommen gleichgültig war, was wir empfanden.
Jente soll das Kind noch heute Vormittag zu Frume bringen«, entschied der Rabbi. Er schaute den Jungen prüfend an, strich sich über den Bart und wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Und was ist mit dir? Wir müssen eine Arbeit für dich finden, denn es steht geschrieben: Dass keiner das Brot des Müßiggangs esse. Und zum Studium des Talmud hast du offen bar keine Neigung.«
Jankel hob zögernd die Schultern hoch.
»Was hast du denn den ganzen Tag gemacht, als du noch zu Hause warst?«, fragte der Rabbi.
»Ich habe die Hühner versorgt und die Ziege gehütet«, antwortete Jankel, »und auf das Haus und meine Schwester aufgepasst. Und wenn ich alles erledigt hatte, habe ich dem Nachbarn bei der Feldarbeit und dem Vieh geholfen.« Stolz fügte er hinzu: »Ich kann sehr gut melken und ich kann sogar mit Pferden umgehen.«
Der Mund der alten Frau verzog sich zu einem Lachen, der Rabbi wiegte noch immer den Kopf hin und her. »Wir haben hier weder Felder noch Kühe«, sagte er dann, »und Pferde schon gar nicht, und das Haus versorgen deine Tante Perl und Jente, da bleibt für dich nichts zu tun. Aber du musst dich mit etwas beschäftigen, du brauchst Pflichten, damit du hier bleibst, wo dein Platz ist, und dich nicht unnötig unter die Ungläubigen mischst, wie andere junge Männer das so gerne tun. Denn glaube mir, für einen Juden ist das Leben hier nicht ungefährlich, auch wenn man das nicht sofort merkt. Es gibt in Prag genügend Judenhasser, und ihre Bereitschaft, Gewalt gegen uns auszuüben, nimmt zu. Wir leben in einer schweren Zeit und müssen vorsichtig sein.«
»Der Ewige, gelobt sei er, möge uns heute und jeden Tag retten vor frechen Menschen, vor bösem Geschehen und dem verderblichen Satan«, murmelte die alte Frau und streichelte dem Mädchen über die dunklen Locken.
Jankel senkte den Kopf und hob ihn erst wieder, als er Jentes Stimme hörte. »Hoher Rabbi«, sagte sie, »man könnte den Jungen vielleicht zu Mendel geben. Ich habe erst gestern auf dem Markt gehört, dass er sich nach einem jungen Gehilfen umschaut.«
»Mendel, der Bäcker?«, fragte der Rabbi.
»Ja, Mendel, der Bäcker.«
Der Rabbi betrachtete nachdenklich den Jungen, der dem Blick seines Onkels auswich. Er presste unter dem Tisch die Knie zusammen, um seinen Körper zur Ruhe zu zwingen, und schob, nur um etwas zu tun, eine heruntergefallene Erbse über den Tisch hinüber zu Rochele, die sie mit spitzen Fingern ergriff, betrachtete und in den Topf warf. »Dein Vorschlag gefällt mir, Jente«, sagte der Rabbi bedächtig. »Er zeugt von Vernunft und Einsicht. Mendel ist ein gottesfürchtiger Mann, ich glaube, er behandelt seine Gehilfen gut und gerecht. Ist nicht auch ein Sohn deiner Schwester Riwke bei ihm?«
»Ja«, sagte Jente. »Schmulik arbeitet schon seit zwei Jahren bei Mendel, und der hat ihm, soviel ich weiß, noch nie ein böses Wort gegeben, geschweige denn, dass er ihn geschlagen hätte. Es ist eine gute, gottgefällige Arbeit.« Sie nickte dem Jungen aufmunternd zu.
Der Hohe Rabbi erhob sich. »Also gut«, sagte er. »Ich gehe jetzt mit Schimon hinüber zum Lehrhaus. Auf dem Rückweg will ich beim Bäcker vorbeischauen und die Angelegenheit mit ihm besprechen.« Er streckte die Hand aus und legte sie auf die Schulter des Jungen. »Bist du damit einverstanden?«
Jankel zuckte zusammen, doch er nickte und der Hohe Rabbi verließ mit seinem Schüler die Küche.
Natürlich hatte ich die jüdische Schule besucht und die heilige Sprache lesen gelernt, doch mit dem Verstehen war ich nicht sehr weit gekommen. Die anderen Jungen bei uns allerdings auch nicht. Unser Lehrer war damit zufrieden, dass wir mehr schlecht als recht die Gebete lesen konnten, auch wenn es langsam ging und manche es nur sehr stotternd und stolpernd zuwege brachten. Man muss nicht alles verstehen, sagte er, wichtig ist nur, man fürchtet den Herrn und befolgt seine Gebote. Und mein Vater sagte immer, um Bücher zu verkaufen, brauche man sie nicht unbedingt lesen zu können. Arme Leute wie wir könnten ihre Söhne nicht zu Gelehrten erziehen. »Höre, Jankel«, hatte er einmal gesagt, »so steht es geschrieben: Jener, dessen Weisheit größer ist als seine Taten, wem gleicht er? Einem Baum, dessen Zweige viel und dessen Wurzeln wenig sind, ein Windstoß kommt und entwurzelt ihn und stürzt ihn auf seine Krone. Doch jener, dessen Taten viele sind, wem gleicht er? Einem Baum, dessen Zweige wenig und dessen Wurzeln viel sind, sodass sogar alle Winde der Welt ihn nicht von seinem Platz bewegen können.«
Ich hatte oft über diese Worte meines Vaters nachgedacht und mir vorgestellt, welcher Art die Taten wohl sein würden, die ich vollbringen könnte. Die Arbeit bei einem Bäcker war mir dabei nie in den Sinn gekommen. Vermutlich ging es bei den »Taten« auch nicht um der Hände Arbeit, sondern um Mizwot*, die guten und mildtätigen Werke.
Nachdem der Rabbi gegangen war, sagte die alte Tante, Jente solle das Mädchen gleich zu ihrer Tochter Frume bringen, die habe bestimmt auch ein paar saubere Kleidungsstücke für die Kleine. »Vielleicht hat sie ja auch etwas Passendes für den Jungen«, sagte sie. »Er braucht dringend etwas anderes zum Anziehen, damit wir seine Sachen waschen und flicken können.«
Jankel betrachtete das schmutzige, zerrissene Kleid seiner Schwester. Obwohl Jente die Kleine noch gestern Abend gründlich gewaschen hatte und ihr Gesicht und ihre Hände sauber waren, machte sie einen armseligen Eindruck, und er wusste, dass er selbst auch nicht besser aussah. »Das liegt nur an dem langen Weg von Mořina hierher«, sagte er verlegen. »Als wir von zu Hause weggingen, haben wir ordentlich ausgesehen. Unsere Tante Schejndl, sie möge leben und gesund sein, hat immer darauf geachtet, dass wir reinlich gekleidet waren.«
»Das weiß ich doch«, sagte die Tante freundlich. »Ich mache niemandem einen Vorwurf, weder eurer Tante noch euch. Aber ihr braucht saubere Kleidung, das siehst du doch ein, nicht wahr? Wir haben hier nichts, was euch passen könnte, Frume mit ihren fünf Kindern kann sich da leichter behelfen.«
So kam es, dass Jankel einige Zeit später Jente und seine Schwester zum Haus Jizchaks begleitete, des Toraschreibers* und Schwiegersohns von Rabbi Löw. Die Geschwister waren anfangs noch still und bedrückt, doch das rege Leben, das besonders in der Breiten Gasse herrschte, weckte ihre Neugier, nun, da sie bei Tageslicht alles genau sehen konnten: Straßenhändler, die ihre Waren vor sich ausgebreitet hatten, Bauersfrauen mit Körben voller Eier und Feldfrüchten. Aus den Garküchen drang der Geruch nach heißem Öl und in den Gewölben gingen Handwerker ihrem Gewerbe nach. Überall wurde gehämmert, gesägt, genäht und lautstark angepriesen. Und immer wieder tauchten Hunde und Katzen auf, liefen zwischen den Beinen der Menschen herum und suchten nach Abfällen, und vor einer Händlerin, die Hirse, Getreide und Hülsenfrüchte verkaufte, hüpften Spatzen auf dem Pflaster und zankten sich um die beim Abwiegen zu Boden gefallenen Körner. Ihre Füße hinterließen krakelige Spuren im Staub, die wie fremde Schriftzeichen aussahen.
Jankel blieb vor einer Schmiede stehen, in der ein Kutscher gerade sein Pferd beschlagen ließ. »Bei uns zu Hause, im Nachbardorf, haben wir auch einen Schmied«, erzählte er und schaute sehnsüchtig in die Flammen, in die der Schmied das Eisen hielt, bevor er es auf den Huf des Pferdes drückte. Der Gestank des verbrannten Horns mischte sich mit dem Geruch von gebratenem Fett aus den Garküchen, von Fischen und den vielfältigen Gerüchen der Menschen.
»Ich durfte immer Schumele hinbringen, die Stute meines Vaters, wenn sie beschlagen werden musste«, sagte Jankel, als Jente ihn weiterzog. »Bei einem Schmied hätte ich gerne gearbeitet, aber für einen Schmied bin ich nicht stark genug. Um Schmied zu werden, braucht man kräftige Muskeln und einen breiten Rücken.« Er hob seine schmächtigen Schultern, ließ sie wieder fallen und blieb vor einem Flickschuster stehen. »Meine Schuhe sind auch zerrissen«, sagte er und fügte entschuldigend hinzu: »Sie waren schon nicht neu, als wir uns auf den Weg gemacht haben, sie haben früher meinem Vater gehört.«
»Später«, sagte Jente beruhigend, »später lassen wir deine Schuhe reparieren.«
Das Mädchen machte sich von Jentes Hand frei und lief auf die andere Straßenseite, wo etliche Händler Obst und Gemüse feilboten. Es gab hier Früchte, die die Kinder noch nie gesehen hatten und deren Namen sie noch nicht einmal kannten. Eine Bäuerin, offenbar keine Jüdin, hatte einen großen Korb mit zwei fetten, laut gackernden Gänsen vor sich stehen, daneben einen kleineren mit Eiern. Hausfrauen kauften Fische, Gemüse, Töpfe, Besen und Körbe. Und viele Menschen liefen ohne ersichtliches Ziel herum, Kinder, junge Leute, und dazwischen immer wieder Talmudschüler, die an ihrer Kleidung zu erkennen waren und daran, dass sie die Köpfe gesenkt hielten, vielleicht, um sich von den vielen Eindrücken, den Gerüchen und der lärmenden Betriebsamkeit nicht von ihren frommen Gedanken ablenken zu lassen.
»Bei uns zu Hause gibt es nur ganz wenige Häuser aus Stein, und in denen wohnen keine Juden, nur Christen«, sagte Jankel, als sie den Dreibrunnenplatz überquerten. Er deutete auf ein großes, breites Haus mit behauenen Fenstersimsen und einem geschnitzten Holztor, durch das gerade ein vornehm gekleideter Herr trat, begleitet von einem Diener. Der Herr ging auf eine wartende Kutsche zu, der Diener riss die Tür auf und half ihm hinein, dann stieg er zu dem Kutscher auf den Bock. Der Kutscher knallte mit der Peitsche und die Pferde setzten sich in Bewegung.
Jente verneigte sich, als die Kutsche an ihnen vorbeifuhr, erst dann sagte sie: »Hier bei uns sind auch nicht alle Häuser aus Stein, die meisten sind aus Holz. Aber du hast recht, dieses Haus hier ist wirklich prächtig. Es gehört Reb Meisl, dem reichsten Juden der Stadt.«
»Ich weiß, bei dem werden sogar die Pferdeäpfel zu Gold«, rief Rochele laut. »Und seine Taler werfen Junge wie die Mäuse des Müllers nach einer reichen Ernte.«
Jente hielt ihr den Mund zu und zog sie weiter. »Sprich nicht so laut«, mahnte sie, als sie außer Hörweite von Reb Meisls Haus waren. Sie beugte sich zu den Kindern und flüsterte: »Mit seinem Reichtum geht es nicht mit rechten Dingen zu. Man sagt, er verdanke ihn übernatürlichen Mächten.«
Rochele riss die Augen auf und Jankel griff nach Jentes Arm. »Du meinst, er hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen?«, wollte er wissen.
Jente schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das nicht. Reb Meisl ist ein frommer Mann, mit dem Herrscher der Unterwelt hat er nichts zu tun.«
»Erzähl doch«, drängte Jankel, der geheimnisvolle Geschichten liebte. Aber Jente lehnte es ab, sie machte ein Gesicht, als bedauere sie, überhaupt damit angefangen zu haben. Stattdessen zählte sie auf, was Reb Meisl, Primas der Gemeinde, Vater der Armen und unerschöpflicher Wohltäter seines Volkes, schon alles für die Prager Judenstadt getan hatte: Er hatte die schmutzigen Straßen pflastern lassen, ein Spital für Arme und Kranke eingerichtet und die prächtige, nach ihm benannte Synagoge erbauen lassen, von der alle behaupteten, sie habe mehr als zehntausend Taler gekostet.