Wieland Freund
Gespensterlied
Roman
Ein Gulliver von Beltz & Gelberg
www.gulliver-welten.de
Gulliver 1094
© 2008 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Erstmals erschienen 2004 als rotfuchs Taschenbuch beim Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Neue Rechtschreibung
Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg
Einbandgestaltung: init / Karsten Molesch
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74094-6
Für A., für alles
Mein Dorf ist klein; wenn der Bus hält, steige ich immer allein aus. Jeden Mittag sitze ich vorne rechts, und durch das von den vielen Kratzern milchige Fenster kann ich das schäbige Gewächshaus der Gärtnerei sehen, den Metzger, den kleinen Laden und dann schon die Bushaltestelle vor dem Wirtshaus, das meinen Eltern gehört. Ächzend hält der Bus dort an, und mit einem Seufzer geht die Tür auf.
Das Wirtshaus meiner Eltern heißt »Der Grüne Frosch«. Meist bleibe ich noch einen Augenblick vor seiner grauen Fassade mit den schmalen Fenstern und den vergilbten Gardinen dahinter stehen und sehe dem Bus nach, wie er durch die letzte Kurve des Dorfes dröhnt und dann jaulend Fahrt aufnimmt. Manchmal ist der Bus schon lange über die nächste Hügelkuppe verschwunden und ich stehe immer noch am Straßenrand vor dem »Grünen Frosch« und starre auf Feldeisens Friedhof.
Zunächst sehe ich nicht mehr als einen einsamen Briefkasten vor einer Wiese mit welkem Gras und ein paar Maulwurfshügeln. Aber wenn ich mich anstrenge, kann ich die Mauer erkennen, das Tor und das Dach von Feldeisens Verlies, wie es über die Mauer lugt.
Alle außer mir sehen an dieser Stelle bloß eine Wiese. Es würde nichts nützen, bei uns im Dorf nach Feldeisens Friedhof zu fragen – kein Mensch hat je davon gehört. Ich stehe da und taste auf meinem Hinterkopf nach einer Narbe, die mir fehlt.
Niemand kann sich an etwas erinnern, das es nie gegeben hat, oder? Und niemand weiß, wie es war, lange bevor er geboren wurde. Manchmal aber besuchen sie mich wie Gespenster. Tobias Würfel mit seiner baumelnden Laterne, Mager auf dem V seiner Füße, Aurora auf ihrem steifen Kissen oder Christoph, wie er tief im Wald mit seiner Maschine Holz spaltet. Manchmal spukt auch Springinsfeld durch meine Gedanken, ich höre ihn eine »fröhliche Auferstehung« wünschen und sehe den kleinen Zacharias durch den Laufgraben huschen und Stoffel lachend in der Menge stehen. Heute Nacht habe ich sogar von Feldeisen geträumt, wie er sich am Ufer des Mummelsees in die Luft schwingt. Im Traum habe ich das Rauschen seiner Flügel gehört und dann plötzlich den Schuss am Elbufer.
Gottfried wird sich an all das nicht erinnern. Bestimmt geht er immer noch in sein teures Internat und weiß nicht mehr, dass er mal wusste, wer Feldeisen war. Von mir weiß er auch nichts mehr, obwohl ich immer noch hier bin in meinem Dorf. Aber das Dorf hat Gottfried auch noch nie gesehen.
Jemand anderem als Gottfried könnte ich sowieso nicht von der ganzen Geschichte erzählen. Ich müsste nur damit anfangen und käme sofort in ein Irrenhaus.
Also halte ich meinen Mund und gehe in die Wirtsstube, wo jeden Mittag schon einer beim Bier sitzt und mein Vater hinter dem Tresen steht.
»Hallo, Malte«, sagt er jedes Mal und fragt, wie es in der Schule war.
»So lala«, sage ich dann immer und gehe hoch in mein Zimmer, wo ich heimlich angefangen habe, die ganze Geschichte aufzuschreiben.
Ich habe drei besonders dicke Hefte gekauft, und auf den Umschlag des ersten Hefts habe ich »Gespensterlied« geschrieben und ein bisschen weiter darunter: »Roman von Malte«. »Roman«, habe ich herausgefunden, steht immer auf den Büchern, die erfunden sind. Falls also irgendwann irgendwer irgendwie meine Geschichte zu lesen kriegen sollte, kann ich immer noch behaupten, ich hätte sie mir ausgedacht. Dabei habe ich mir kein bisschen davon ausgedacht. Im Gegenteil: Jedes Wort ist wahr.
Feldeisens Friedhof lag die Straße runter. Von meinem Fenster aus sah ich genau drauf. Mein Zimmer liegt im ersten Stock, und wenn ich damals die Gardine beiseiteschob, konnte ich über die Mauer hinweg sogar das Gräberfeld erkennen. Nur von dem geduckten Gebäude am äußersten Rand des Friedhofs sah ich kaum etwas. Alte Bäume verbargen es.
Feldeisens Friedhof war nicht wie andere Friedhöfe. Es gab keine Blumen auf den Gräbern, keine Grablichter, die im Dunkeln rot leuchteten, keine geharkten Kieswege und auch kein Jesuskreuz am Eingang. Zwischen den Gräbern verliefen bloß schmale Pfade, über die das Moos wucherte.
Alle Grabsteine auf Feldeisens Friedhof waren aus regengrauem Stein. Die Schrift auf ihnen war verwittert und ich konnte sie von meinem Fenster aus nicht lesen, aber angeblich stand auf allen Grabsteinen sowieso derselbe Name. Derselbe Nachname zumindest – von Quast.
Feldeisens Friedhof war ein Privatfriedhof. Nur Mitglieder der Familie von Quast wurden hier bestattet. Das mag seltsam klingen, aber im Dorf war es eigentlich keine große Sache. Alle kamen dauernd an der Mauer vorbei und so richtig schaute niemand mehr hin. Ich hätte auch nicht hingeschaut, wäre mein Fenster nicht da gewesen, wo es ist.
Feldeisen selbst sah man so gut wie nie. Er kaufte nie im Laden ein und trank niemals ein Bier im »Grünen Frosch«. Nur manchmal ging das schwere Eisentor auf, und Feldeisen kam in einem alten schwarzen Auto herausgefahren, wie ich nie wieder eines gesehen habe. Jedes Mal verschwand er damit gleich über die Hügelkuppe.
Feldeisen war ein kleiner Mann, nicht dick, aber kräftig. Unmöglich zu sagen, wie alt er war. Er hätte gestern oder vor zehntausend Jahren geboren sein können. Er hatte so ein Babygesicht mit einer kleinen Nase und keinen Falten und ewig roten Wangen. Richtige Apfelbäckchen waren das. Im Nachhinein erscheint es mir widerlich, wie gesund Feldeisen immer aussah.
Im Dorf galt Feldeisen als Friedhofswärter. Wir wussten es ja nicht besser. Obwohl er nie Wege harkte, Kränze schleppte oder Blumen goss. Es kam ja auch nie jemand auf seinen Friedhof, um welche zu bringen.
Aber wenn etwas immer ist, wie es ist, dann wundert es einen nicht mehr. Ich jedenfalls habe erst als alles vorbei war, darüber nachgedacht, wie es vorher war. Und es kann schon sein, dass mir Feldeisen damals etwas unheimlich war. Hinterher ist so etwas immer schwer zu beurteilen. Doch richtig gefürchtet habe ich mich eigentlich nicht vor Feldeisen. Jedenfalls nicht bis zu der Nacht, als wir vor seinem Verlies standen.
Es war der sechste Juni, ein mörderisch heißer Tag, und ich sah sie kommen, als ich schwitzend aus dem Schulbus stieg. Es waren sechs schwere Limousinen in dunklen Farben. Bei einem Rolls-Royce waren sogar die Scheiben verdunkelt.
Die Autos fuhren ganz langsam an mir vorbei und ihre Motoren summten. Schließlich parkten sie auf der Grasnarbe zwischen der Straße und der Mauer von Feldeisens Friedhof. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Ich hatte noch nie einen Rolls-Royce gesehen, vor allem aber hatte ich noch nie eine Beerdigung auf Feldeisens Friedhof miterlebt. Ich bin im Dorf geboren, aber ich konnte mich an keine einzige Beerdigung hier erinnern.
Und doch spuckten die teuren Autos eine Trauergesellschaft aus. Schwere Türen fielen ins Schloss und am Straßenrand gesellte sich eine schwarze Gestalt wortlos zur nächsten. Die Männer trugen trotz der Hitze dunkle Anzüge, die Frauen schwarze Hüte mit Schleiern bis zum Kinn. Ein Junge fiel mir gleich auf mit seinem hellblonden Scheitel. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte – ich hätte so etwas nie angezogen. Eine hagere alte Frau hakte sich bei ihm ein, und der Junge war fast so groß wie sie, ihren Hut voller schwarzer Blumen aus Papier mit eingerechnet.
Insgesamt stiegen achtzehn Leute aus den Limousinen, ich habe sie gezählt. Keiner von ihnen sprach, während sie langsam auf das Eisentor zugingen. Sie zupften nur hier und da an ihren Kleidern, und ein älterer Mann mit Glatze trug einen großen Kranz. Ich weiß nicht mehr, wer von ihnen an das Tor klopfte. Es ging jedenfalls gleich auf, ohne dass ich Feldeisen hätte sehen können. Einer nach dem anderen drückte sich nun hinein, und ich beschloss, mich zu beeilen, dass ich in mein Zimmer käme. Ich wollte nichts verpassen.
Im »Grünen Frosch« wartete die nächste Überraschung auf mich. Alle Tische in der Wirtsstube waren gedeckt, und meine Mutter huschte nervös durch den Raum. Aus der Küche hinter dem Tresen waberte Essensgeruch herüber und ich hörte meinen Vater mit Töpfen klappern. Die Plastiktür der Mikrowelle knallte zu.
»Was ist denn hier los?«, fragte ich, die Schultasche noch im Arm.
Meine Mutter sah nicht einmal auf. »Gäste«, sagte sie knapp und fegte mit der Handkante unsichtbare Krümel von einer noch ganz steifen Tischdecke.
»Was für Gäste?«, fragte ich. Bei uns im »Grünen Frosch« sind die Tische nämlich nie gedeckt. Die Leute im Dorf kriegen Bierdeckel, wenn sie kommen.
»Eine Gesellschaft.« Meine Mutter mit ihren fahrigen Bewegungen war schon einen Tisch weiter. »Ein Leichenschmaus. Auf Feldeisens Friedhof ist eine Beerdigung. Nachher kommen die Leute.«
»Ach so«, sagte ich und tat plötzlich, als wäre eine Beerdigung auf Feldeisens Friedhof etwas Gewöhnliches. Insgeheim fragte ich mich natürlich, ob meine Eltern schon eine erlebt hatten. Aber ich hatte nie danach gefragt, und weil ich sowieso nicht viel mit meinen Eltern rede, beschloss ich, mich auch jetzt nicht verdächtig zu machen. Es ist immer besser, Eltern wissen nicht, was einem durch den Kopf geht. Alles andere bedeutet erfahrungsgemäß Ärger.
»Es wäre schön, wenn du die Treppe heute ausnahmsweise einmal nicht dreckig machen würdest«, sagte meine Mutter, während sie mit ihrer Hand nun auch über den dritten Tisch schabte. Sie warf einen Blick auf meine staubigen Schuhe. »Wir haben für heute Nacht alle Gästezimmer vermietet, und ich habe keine Zeit, noch mal die Treppe zu wischen, ja? Bitte!«
Ich nickte nur und verschwand ohne ein weiteres Wort im Treppenhaus. Es war ein rundum außergewöhnlicher Tag. Gedeckte Tische, vermietete Zimmer – das kommt nicht häufig vor im »Grünen Frosch«, und die Nachtgäste konnten nur die Leute sein, die eben bei Feldeisen vorgefahren waren. Einige von ihnen zumindest. Die, deren Heimweg zu weit war. Im »Grünen Frosch« gibt es überhaupt nur drei Gästezimmer, jedes mit einem Doppelbett.
In meinem Zimmer warf ich die Schultasche aufs Bett und trat ans Fenster. Sie waren alle da. Schweigend stand die Trauergesellschaft um eine frisch ausgehobene Grube. Ich war bislang nur auf einer einzigen Beerdigung gewesen – eine alte Nachbarin, die ich kaum gekannt hatte –, und da war das Grab mit Kunstrasen ausgeschlagen gewesen, bevor sie den Sarg hinabsenkten. Ganz anders auf Feldeisens Friedhof. Neben einem unförmigen schwarzen Loch türmte sich dort ein schäbiger Haufen aschgrauer Erde.
Irgendwie hatte ich von Anfang an nicht mit einem Pfarrer gerechnet. Die ganze Angelegenheit sah einfach nicht danach aus, aber als dann bloß Feldeisen kam, war ich doch überrascht. Feldeisen trug den Sarg ganz allein! Er hatte einen graublauen Kittel an, wie ihn Hausmeister tragen, und balancierte den Sarg einfach auf der Schulter. Ich rieb mir die Augen, aber es blieb dabei.
Etwas betreten machten die Gäste für Feldeisen eine Gasse frei, und als er die frische Grube erreicht hatte, ließ er den Sarg einfach von der Schulter auf den Aushub rutschen. Ich bildete mir ein zu hören, wie die Füße des Toten gegen die Sargwand schlugen, aber in Wirklichkeit hörte ich natürlich nichts hinter meinem Fenster.
Keiner der Trauergäste beschwerte sich über Feldeisens Respektlosigkeit. Immer noch standen alle stumm da, die Köpfe gesenkt, die Hände gefaltet, und nur der Junge mit dem blonden Scheitel schaute Feldeisen an. Da war etwas in seinem Gesichtsausdruck, Ärger, Trotz oder Wut, genau wusste ich es nicht.
Feldeisen stellte sich nun breitbeinig über die Grube, bückte sich und wuchtete den Sarg unsanft zwischen seine Beine. Dann ließ er ihn hinab. Er hatte nicht einmal einen Strick oder so etwas und schließlich ließ er den Sarg einfach los. Es war, als hätte er ihn ins Grab geworfen.
Danach erhob er sich, trat mit einem weiten Schritt seiner kurzen Beine neben das Grab und wischte sich die Hände an den Schößen seines Kittels ab. Der ältere Mann mit der Glatze legte seinen Kranz vorsichtig auf den Aushub und ordnete noch einen Augenblick lang die bunten Bänder, die an dem Kranz befestigt waren. Als er damit fertig war, erhob er sich, ohne aufzusehen, und trat langsam in die Reihe der übrigen Gäste zurück. Niemand warf eine Handvoll Erde in das Grab, keiner drückte wem die Hand und eine Rede wurde auch nicht gehalten. Ich war mir nicht sicher, aber ein bisschen sah es so aus, als würde der blonde Junge auf seiner Lippe herumbeißen. Was ging in ihm vor?
Schließlich verschränkte Feldeisen die Arme vor der Brust und wie auf Kommando zog sich die ganze Gesellschaft langsam zurück. Der eine oder andere nickte noch dem Grab zu, und der Blonde ging erst Richtung Tor, als die hagere Alte mit dem Papierblumenhut ihn ärgerlich an der Hand zog.
Nur Feldeisen stand noch eine Weile am Grab, blinzelte in die Sonne, die grell am Himmel stand, und ging erst fort, als ich schon hörte, wie die Gäste unten in die Stube traten.
Ein paar Minuten lang saß ich auf meinem Bett. Ich habe später lange überlegt, warum ich so neugierig war. Vielleicht hing es damit zusammen, dass ich schon so oft auf den Friedhof gesehen hatte, aber bestimmt hatte es auch mit Gottfried zu tun. Schon auf dem Friedhof, als ich noch nicht einmal Gottfrieds Namen kannte, habe ich seinen Mut bewundert. Er war der Einzige damals, der Feldeisen ins Gesicht sah, und es könnte sein, dass ich später überhaupt nur deshalb mitgegangen bin, weil ich auch gern so mutig sein wollte wie er.
Auf dem Bett im meinem Zimmer, während ich hörte, wie die Wirtsstube sich langsam füllte, dachte ich über so etwas natürlich noch nicht nach. Ich stellte einfachere Fragen. Ich wollte wissen, wer da beerdigt worden war. Ich wollte seinen vollen Namen erfahren, wollte hören, wie alt er geworden und warum er gestorben war. Dann wollte ich natürlich wissen, wer Gottfried war, und ich fragte mich, warum diese feinen Leute mit ihren teuren Autos und Kleidern sich von Feldeisen solche Unverschämtheiten gefallen ließen. Denn Feldeisens Verhalten war unverschämt gewesen. Ein wenig kam es mir auf meinem Bett so vor, als hätte Feldeisen die Beerdigungsgäste mit voller Absicht gedemütigt. Als wäre nicht er bei ihnen angestellt – als ihr Friedhofswärter –, sondern sie – auf irgendeine seltsame Art und Weise – bei ihm.
Ich lief zur Treppe. Aus der Gaststube drang kaum ein Laut herauf. Erst als ich die letzten Stufen nahm, hörte ich die Stimme meiner Mutter.
»Kartoffeln oder Reis?«, fragte sie.
Ich gönnte mir einen schnellen Blick in die Gaststube. Meine Mutter stand mit ihrem Block am großen Stammtisch, wo die meisten der Beerdigungsgäste Platz gefunden hatten, und notierte die Bestellungen. Mein Vater brachte Getränke an einen zweiten Tisch, an dem die meisten der Kinder saßen. Der Blonde kriegte eine Cola. Er sah mürrisch drein.
»Der Grüne Frosch« ist ein altes Haus und nicht immer eine Gaststätte gewesen. Von draußen kann man zugemauerte Fenster sehen, die irgendwann nicht mehr gebraucht wurden, und drinnen gibt es viele Winkel und Ecken, und manche Wände sind furchtbar dünn, weil man sie erst später eingezogen hat. Die dünnsten Wände im Haus sind die der Gästetoiletten. Sie sind bloß aus Sperrholz, über das man Tapeten geklebt hat, und wenn man sein Ohr an eine Wand der Herrentoilette drückt, kann man hören, was auf der anderen Seite am Stammtisch gesprochen wird. Natürlich gilt das auch andersherum. Am Stammtisch klingt die Klospülung wie ein Wasserfall.
Ich schlich so leise wie möglich in die Kabine der Herrentoilette, hockte mich auf den Klodeckel und begann zu lauschen.
»Der Weißwein?«, fragte meine Mutter. »Das Kännchen Kaffee?«
Ich hörte, wie Porzellan auf den Tisch gestellt wurde und Tasse und Untertasse sich aneinanderrieben. Zwei Gläser schlugen gegeneinander, jemand sagte: »Das Wasser für mich«, dann wurde es wieder still.
Eine Beerdigung ist eine traurige Sache, aber geht man denn nachher zusammen in ein Wirtshaus, bloß um zu schweigen? Ich fing schon an, mir komisch vorzukommen auf meinem Klodeckel, da hörte ich die Stimme eines Mannes. Sie klang ein wenig ärgerlich, so als machte sich der Sprecher Luft.
»Was sollte auch das ganze Feldeisen-Gerede! Der Fluch! Der Fluch! So macht man sich keine Freunde!«
Fluch? Ich drückte mein Ohr fester gegen die Sperrholzwand.
»Manfred, bitte!« Das war die Stimme einer alten Frau. Vielleicht war es die Hagere, die den blonden Jungen vom Friedhof gezogen hatte. Sie klang entrüstet. »Thassilo ist an einem Herzinfarkt gestorben. Vor der Zeit! Es ist pietätlos, ihm jetzt Vorwürfe zu machen.«
»Armer Thassilo!«, mischte sich jetzt eine dritte Stimme ein. »Er war noch nicht einmal siebzig.«
»Der Herrgott gibt und nimmt«, sagte die alte Frau.
»Der Herrgott!« Der Mann klang nicht weniger ärgerlich als zuvor.
»Ja, der Herrgott, Manfred. In seinen Händen liegt unser Schicksal.« Das klang schnippisch und wie ein Schlusswort. Die Stimme hatte etwas Drohendes. Wenn sie wirklich der hageren Alten gehörte, hatte der Blonde bei ihr nichts zu lachen.
Eine Weile war es nun wieder still hinter der Sperrholzwand. Dann hörte ich meine Mutter, die das Essen brachte. Teller wurden auf dem Tisch abgesetzt, meine Mutter stellte die üblichen Fragen, neue Getränke wurden bestellt und ich hörte das leise Klingen und Schaben des Bestecks.
Was war hier los? Das Wort »Fluch« ging mir im Kopf herum. Ich lehnte mich für einen Moment zurück an die kalten Kacheln gegenüber der Sperrholzwand und schloss die Augen.
»Lauschst du?«
Ich erschrak so sehr, dass ich beinahe vom Klo gefallen wäre. In der Tür stand der blonde Junge. Ich hatte vergessen abzuschließen.
»Ich meine, du gehst nicht aufs Klo, ohne vorher die Hose runterzulassen, oder?« Der Blonde steckte seine Hände in die Taschen seiner schwarzen Anzughose und zog die linke Augenbraue steil in die Höhe.
Ich starrte für einen Augenblick auf meine Gürtelschnalle. »Nein«, sagte ich dann. »Tue ich nicht.«
»Du lauschst also«, sagte der Blonde ruhig.
»Ich wohne hier«, sagte ich. »Meinen Eltern gehört das Gasthaus.«
»Und geht ihr alle mit der Hose aufs Klo?« Der Blonde klang noch nicht einmal unfreundlich, als er das sagte.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich wette, du hast sowieso nichts gehört.« Der Blonde nahm eine Hand aus der Hosentasche und kratzte sich am Ohr. Er trug eine teure mattsilberne Armbanduhr an seinem Handgelenk. »Je vornehmer so eine Familie tut, desto weniger wird geredet, weißt du?« Der Junge lächelte mit einer Spur Bitternis.
»Heißt du von Quast?«, fragte ich.
Der Blonde schob seine Hand zurück in die Tasche und nickte. »Gottfried von Quast«, sagte er dann. »Wir haben alle so blöde Namen.«
»Ich heiße Malte«, sagte ich. »Tut mir leid mit dem Lauschen.«
»Schon okay.« Gottfried zuckte mit den Schultern. »Eigentlich wollte ich aufs Klo.«
»Oh, natürlich.« Ich sprang auf. »Ich, äh … Von meinem Zimmer aus kann ich den Friedhof sehen.« Ich wusste damals selbst nicht, warum ich das sagte.
»So?« Gottfried öffnete den Knopf an seinem Jackett. »Kannst du mir ja gleich zeigen.«
Zwei Minuten später hörte ich die Wasserspülung und Gottfried kam heraus. Ich hatte im Flur auf ihn gewartet. Ohne ein weiteres Wort führte ich ihn in mein Zimmer hinauf. Ich weiß es natürlich nicht, aber ich bin mir fast sicher, dass Gottfried seinen Plan da schon fertig in der Tasche hatte. Ich muss ihm gerade recht gekommen sein. Etwas aufgeregt stieß ich die Tür auf.
Mein Zimmer ist schäbig, finde ich, bloß ein Bett, ein Schreibtisch, ein Stuhl und ein Schrank. Nicht einmal einen Computer habe ich, und als ich Gottfried in seinem teuren Anzug hereinließ, schämte ich mich ein bisschen. Ich habe eigentlich keine Freunde und ich habe nie Besuch, und es war im ersten Moment komisch, ausgerechnet Gottfried, den ich gar nicht kannte, mein Zimmer zu zeigen.
»Das Fenster?« Gottfried fragte aus reiner Höflichkeit. Mein Zimmer hat nur ein Fenster.
Ich nickte und setzte mich auf mein Bett.
Gottfried schob die Gardine beiseite und sah hinaus. »Ich könnte mir einen schöneren Ausblick vorstellen«, sagte er.
»Warst du verwandt mit, äh – Thassilo?«
Gottfried drehte sich zu mir um und grinste. »Hast du also doch was gehört. Sie haben tatsächlich geredet? Meine Familie steckt voller Überraschungen.« Gottfried musterte mich. »Thassilo von Quast«, sagte er dann, »war mein Großonkel. Er hat gar nicht weit von hier gewohnt. In Trommenheim. Das ist doch die nächste Stadt von hier, oder? Wahrscheinlich gehst du da zur Schule.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ein paar Dörfer weiter ist ein Gymnasium«, sagte ich. »Ich fahr da immer mit dem Bus hin. Trommenheim ist zu weit weg. Da müsste man in Sulsfort umsteigen.«
»So«, sagte Gottfried und drehte sich wieder zum Fenster. »Ich gehe in ein Internat. Alle von Quasts sind in ein Internat gegangen.«
Es gab eine kleine Pause.
»Hast du deinen Onkel gut gekannt?«, fragte ich schließlich. Ich wollte nicht »Mein Beileid« sagen oder so etwas.
»Ziemlich.« Gottfried sah immer noch auf Feldeisens Friedhof. »Seit er tot ist, glaube ich, Thassilo war der einzige Quast mit einem klaren Kopf.«
»Wieso?«, fragte ich. Ich spürte, dass Gottfried reden wollte. Auch wenn ich noch nicht begriffen hatte, dass er vor allem einen Verbündeten suchte.
»Das zu erklären wäre ein bisschen zu kompliziert. Wirklich.« Gottfried drehte mir immer noch den Rücken zu.
Ich biss ein wenig auf meiner Unterlippe herum, aber dann beschloss ich, mich zu trauen. Was hatte ich schon zu verlieren?
»Geht es um den Fluch?«, fragte ich.
Gottfried fuhr herum. »Was weißt du denn davon?« Seine Augen waren plötzlich weit aufgerissen.
»Nichts«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen. »Jemand, den sie Manfred genannt haben, hat davon geredet. Aber gesagt hat er eigentlich nichts.«
»Manfred!« Gottfried schnaubte verächtlich. »Heute macht er einmal den Mund auf, und morgen macht er ihn gleich wieder zu und versucht, alles zu vergessen! So sind sie alle!« Immer noch ärgerlich, drehte er sich wieder dem Fenster zu.
Auf meinem Bett wusste ich nicht genau, wie ich nun weitermachen sollte. »Ist Manfred auch ein Onkel von dir?« Irgendwie musste ich das Gespräch ja in Gang halten.
»Ein Cousin, obwohl er viel älter ist als ich. Aber das spielt keine Rolle. Eigentlich hat nur Thassilo eine Rolle gespielt. Und jetzt«, Gottfried fuhr noch einmal herum, »spiele ich eine Rolle.« Er fing wieder an, mich zu mustern. »Hast du Feldeisen oft gesehen? Ich meine, läuft er hier herum?«
»Man sieht ihn fast nie«, sagte ich. »Aber ich habe heute bei der Beerdigung zugesehen. Es geht mich ja nichts an, aber normal war das doch nicht, oder?«
Gottfried nickte. Dann kam er mit zwei bedächtigen Schritten zu meinem Bett und hockte sich neben mich. Selbst im Sitzen war er einen ganzen Kopf größer als ich. Dabei war er höchstens ein Jahr älter.
»Wieso nicht normal?« Gottfrieds Stimme hatte sich verändert. Seine Augen funkelten.
»Na ja …« Ich geriet ins Stottern. »Feldeisen … Das war sehr unhöflich. Das sah aus, als …« Ich brach ab.
»Das sah aus, als hätte er uns in der Hand. Das wolltest du doch sagen, stimmt’s? Als könnte sich Feldeisen uns gegenüber alles erlauben, richtig?« Gottfried sprang wieder auf. »Wenn du mich fragst, ist es genau so. Er hat uns in der Hand.«
Ich wusste gar nicht so genau, was ich hatte sagen wollen, aber Gottfrieds Worte beschrieben meinen Eindruck ganz gut. »Und was hat das mit dem Fluch zu tun?«, fragte ich.
Gottfried schnaubte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Uns Kindern wird nichts erzählt, und manchmal glaube ich, die Erwachsenen wollen es gar nicht so genau wissen.« Schwungvoll setzte er sich wieder neben mich. Die Matratze federte ein bisschen nach.
»Pass auf.« Gottfrieds Gesicht kam mir jetzt ziemlich nahe. »Mein Onkel Thassilo ist vor ein paar Jahren pensioniert worden. Dann ist er nach Trommenheim gezogen, in die Nähe von Feldeisens Friedhof, und hat angefangen, ziemlich verrückte Dinge zu tun. Er hat in unserer Familiengeschichte herumgewühlt, Jahrhunderte zurück. Und er hat immer wieder von Feldeisen gesprochen und dem Fluch. Hast du die dünne Alte auf dem Friedhof gesehen, mit der ich gekommen bin?«
Ich nickte.
»Das ist meine Großtante Theophila. Sie ist so etwas wie unser Häuptling. Sie wurde schrecklich böse, als Thassilo mit der ganzen Sache anfing. Er würde spinnen. Das hat sie gesagt, wenn die beiden Zuhörer hatten. Aber einmal habe ich einen Streit der beiden mit angehört, da hat sie gebrüllt, er würde sich in Gefahr bringen. Er würde bald geholt werden, wenn er so weitermachen würde.«
Mir lief ein Schauer über den Rücken. »Geholt werden?«
»Ja.« Gottfried nickte heftig. »Und dann ist Thassilo gestorben. Herzinfarkt. Nur …« Jetzt stockte Gottfried.
»Nur was?«
»Onkel Thassilo war kein bisschen herzkrank. Verstehst du?« Gottfried war wieder auf den Beinen und trat noch einmal ans Fenster.
Ich war einigermaßen verwirrt. »Was sagen denn deine Eltern zu der ganzen Sache? Kannst du mit ihnen nicht reden?«
Gottfried schüttelte den Kopf und wies mit einer knappen Bewegung seines Kinns auf Feldeisens Friedhof.
Ich schluckte.
»Schon lange her«, sagte Gottfried. »Ich bin bei Tante Theophila aufgewachsen.«
»Ein Autounfall?«, fragte ich vorsichtig. So etwas ist ja meist ein Autounfall gewesen.
»Eine bis heute ungeklärte Krankheit«, sagte Gottfried. »Ich kann mich an meine Eltern gar nicht erinnern.«
»Hm«, machte ich. Was konnte ich schon sagen?
Gottfried zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall habe ich mir vorgenommen, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich bin Thassilos Erbe.« Gottfried sah mich an. »Hilfst du mir?«
»Ich? Wieso?« Wieder erschrak ich.
»Du bist Feldeisens Nachbar. Und außerdem brauche ich Hilfe. In meiner Familie hilft mir keiner.« Gottfrieds Blick bekam etwas Stechendes, Forderndes. Später habe ich diesen Blick noch oft gesehen.
»Ich … äh … ich weiß nicht.« Ich stotterte schon wieder. »Was kann man denn tun?«
Gottfried stand vom Bett auf und schob seine Hände wieder in die Hosentaschen. »Ich übernachte hier. Theophila mag im Dunkeln nicht fahren. Wir könnten also heute Nacht auf den Friedhof gehen, du und ich.«
Plötzlich spürte ich einen leichten Schwindel. Ich bin nicht sonderlich mutig und Gottfrieds Vorschlag versetzte mich fast in Panik. »Was willst du denn auf dem Friedhof? Du kommst doch gerade erst daher.«
»Und?«, antwortete Gottfried trocken. »Glaubst du, man findet irgendwas über den Friedhof heraus, solange Feldeisen einem gegenübersteht? Pass auf. Ich muss jetzt wieder runter, damit Theophila keinen Anfall kriegt. Aber ich hole dich heute Nacht ab, okay? Ich klopfe dreimal an deine Zimmertür. Du wirst mich hören.«
Die letzten Worte hatte Gottfried bereits im Türrahmen gesagt, und bevor ich irgendetwas erwidern konnte, hörte ich ihn schon die Treppe zur Wirtsstube hinunterlaufen. Er hatte mich überrumpelt.
Es war schon später Nachmittag, als ich unten in der Wirtsstube ein großes Stühlerücken hörte. Die Gesellschaft brach auf. Ich lief ans Fenster und sah die meisten Beerdigungsgäste zu ihren großen Autos gehen, die immer noch an der Mauer von Feldeisens Friedhof parkten. Theophila und Gottfried waren nicht dabei, aber einen gedrungenen Mann mit Brille stellte ich mir als Manfred vor. Gemeinsam mit den anderen blieb er noch eine Weile auf der Straße stehen, Hände wurden geschüttelt, Manfred, wenn er es war, hob auf dem Weg zu einem BMW linkisch die Hand zum Abschied. Dann fielen Autotüren zu, Motoren wurden angelassen und eine Limousine nach der anderen rollte langsam über die Hügelkuppe davon. Nur der Rolls-Royce blieb auf der Grasnarbe zurück. Er musste Tante Theophila gehören.
Ich hockte mich auf mein Bett und war heillos unruhig.
Später hörte ich die Nachtgäste zusammen mit meinem Vater die Treppe heraufkommen. Die Gästezimmer liegen im zweiten Stock.
»Gibt es Duschen in den Zimmern?« Ich erkannte die Stimme der alten Frau wieder, die Manfred zurechtgewiesen hatte. Das musste Theophila sein. Gottfried ging jetzt bestimmt neben ihr die Treppen hoch.
»Leider nicht«, hörte ich meinen Vater antworten. »Aber auf dem Flur ist ein Badezimmer.«
Der Rest des Gesprächs verlor sich auf der Treppe nach oben.
Am Abend drückte ich mich unauffällig durch die Wirtsstube in die Küche hinter dem Tresen, wo ich die Reste vom Leichenschmaus aß, während mein Vater für die verbliebenen Gäste eine kalte Platte machte. Am Stammtisch hatte ich den Metzger und den Gärtner sitzen sehen und am Tisch daneben Theophila, Gottfried und zwei ältere Leute. Die ganze Besatzung des Rolls, nahm ich an und stellte mir die schmächtige Theophila hinter seinem Steuer vor.
Gottfried hatte versucht, mir einen verschwörerischen Blick zuzuwerfen, aber ich hatte schnell weggeschaut. Ich wusste noch nicht, dass ich mit auf den Friedhof gehen würde. Dabei hatte ich es eigentlich schon entschieden, als ich Gottfried mit Feldeisen sah. Mit den Gedanken woanders, stocherte ich in den Resten auf meinem Teller.
Weil Sommer war, fiel die Dunkelheit erst spät in mein Fenster. Ich hatte die Gardine zurückgeschoben und starrte hinaus. Nach und nach verschwanden die Umrisse des Gräberfelds im Dämmerlicht. Als würde jemand ganz langsam einen Dimmer zurückdrehen, wurde Feldeisens Friedhof Stück für Stück in völlige Finsternis getaucht.
Mein Dorf ist so klein, dass es keine Straßenlaternen gibt, und spätabends werfen nur ein paar Wohnzimmerfenster einen matten Lichtschein auf die Straße. Ich hatte eine Gänsehaut, und mein Magen warf sich hin und her, als läge er zu Bett und könnte nicht schlafen.
Ich probierte es erst gar nicht. Ich hatte sogar Schuhe an, als ich mich schließlich aufs Bett setzte – ich weiß nicht, zum wievielten Mal an diesem Tag. Seit Gottfried mein Zimmer verlassen hatte, war die Zeit nur so dahingekrochen, und jetzt schien sie überhaupt nicht mehr vergehen zu wollen. Über mir im Gästeflur hörte ich ein paarmal Türen auf- und zugehen, schließlich kamen meine Eltern die Treppe herauf. »Der Grüne Frosch« war jetzt geschlossen, es wurde ganz still. Ich löschte das Licht, hörte meinen Atem gehen und sah auf mein dunkles Fenster.
Dann klopfte es.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
Im ersten Augenblick begriff ich es gar nicht. Aber als sich das Klopfen wiederholte, wusste ich, dass Gottfried vor meiner Tür stand. Ich zögerte. Aber dann stand ich doch auf und ging – ohne Not auf Zehenspitzen – zu meiner Tür. Sie quietschte leise in den Angeln, als ich sie öffnete. Dann blendete mich ein heller Strahl.
»Hallo!«, sagte Gottfried und lachte. Er hatte eine Taschenlampe direkt in mein Gesicht gerichtet.
»Hör auf!«, sagte ich.
»Nur ein Spaß.« Gottfried knipste die Lampe aus und trat in mein Zimmer. Statt Schlips und Jackett trug er nun ein schwarzes Hemd. Ich kam mir sehr gewöhnlich vor in meinen Jeans und dem ausgebeulten T-Shirt.
»Bist du fertig?« Da lag tatsächlich so etwas wie Vorfreude in Gottfrieds Stimme.
»Ich … ich weiß nicht, ob das Ganze so eine gute Idee ist.« Ich stand ziemlich hilflos da und meine Stimme klang lahm.
»Wie?« Gottfried trat ans Fenster. »Du willst mich doch wohl nicht hängen lassen, oder? Kaum Mondlicht draußen. Die Nacht ist ideal!« Er schob die Gardine zur Seite und spähte hinaus. In der Dunkelheit meines Zimmers konnte ich nur seine Umrisse erkennen. »Tut mir leid, dass ich so spät komme. Theophila wollte einfach nicht einschlafen.« Er sah zu mir herüber. »Aber Mitternacht ist doch genau die richtige Zeit für einen Friedhofsspaziergang, oder?«
»Was genau willst du denn bei Feldeisen?«, fragte ich vorsichtig.
Gottfried schnaubte. »Ich will die Gelegenheit nutzen«, sagte er. »Ich komme hoffentlich nicht so bald wieder her.«
»Ich finde, wir sollten wissen, was wir suchen«, murmelte ich.
»Hm.« Gottfried trat zu mir heran. »Wir suchen tote von Quasts. Reicht das als Antwort?«
Ich schluckte. »Wir gehen aber nur kurz, okay? Ich habe keine Lust, Feldeisen zu treffen.« Ich wusste selbst nicht, was mich das sagen ließ. Bewusst traf ich die Entscheidung mitzugehen erst, als ich so redete.
»Warte, bis du die Grabsteine gesehen hast«, sagte Gottfried.
Wir schlichen durch die Wirtsstube, wo die Stühle auf den Tischen standen. Der schale Geruch von Bier hing in der Luft und vermischte sich mit den Gerüchen scharfer Putzmittel aus der Küche hinter dem Tresen. Der Schlüssel der großen Wirtshaustür steckte von innen. Wie Diebe stahlen wir uns in die Nacht hinaus.
Draußen war der Mond bloß eine hauchdünne Sichel am Himmel. Die Straße lag vor uns wie ein ruhiger schwarzer Fluss. Das Dorf schlief. Es war mucksmäuschenstill, und ich konnte sogar unsere Gummisohlen hören, wie sie auf dem Asphalt abrollten. Wir sagten kein Wort, bis wir das schwere Eisentor erreicht hatten. Ich legte meine Hand darauf und spürte das dicke, kühle Metall. Es war seltsam, aber ich genoss es, draußen zu sein.
»Wir klettern über die Mauer«, flüsterte Gottfried. Ich sah, wie er die Taschenlampe in seiner Hosentasche verstaute. »Wir machen eine Räuberleiter. Ich schiebe dich hoch und du ziehst mich nach. Auf dem Rückweg genauso.«
Ich nickte. Obwohl die Mauer hoch über unsere Köpfe ragte, liefen wir sie ein Stück weit geduckt entlang.
»Hier.« Gottfried war stehen geblieben und wies die Mauer hinauf. Dann stellte er sich breitbeinig mit dem Rücken zu ihr, wiegte sich ein wenig in den Knien und verschränkte die Hände fest vor seinem Bauch. »Los!«, raunte er.
Kaum war ich in seine Hände gestiegen, spürte ich auch schon den Schwung, den er mir gab. Ohne groß zu überlegen, griff ich nach der Mauerkante. Der Schmerz kam gleich und ich spürte die Wärme des Blutes in meiner Hand. »Verdammt!«
»Was ist los?«, kam es von unten.
Ohne zu antworten, zog ich mich ganz auf die Mauer, vorsichtig darauf bedacht, mich nicht noch einmal zu schneiden.