
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-74532-3)
www.beltz.de
© 2013 Beltz & Gelberg
© 2015 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten
© 2012 Carl Hiaasen
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Chomp bei Alfred A. Knopf (USA)
Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Koseler
Neue Rechtschreibung
Lektorat: Julia Röhlig
Coverillustration: © Max Meinzold
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74414-2
Über den Autor
Carl Hiaasen, Autor, Journalist und Starkolumnist des Miami Herald, lebt mit seiner Familie in Florida. In seinen zahlreichen Romanen für Erwachsene und Jugendliche schreibt er bevorzugt über Floridas dunkle Seiten. Seine Bücher sind »einfach unverschämt unterhaltende, absolut berauschende Leseabenteuer« (Washington Post) und wurden in über 21 Sprachen übersetzt. Bei Beltz & Gelberg erschienen bereits Eulen, Fette Fische und Panther. www.carlhiaasen.com
Dieses Buch ist Quinn, Webb, Jack und
natürlich auch Claire gewidmet, die
den »bissigen« Titel vorgeschlagen hat.
Ich danke dem renommierten Wildlife-Biologen und Tiertrainer Joe Wasilewski für seine Informationen und die vielen wilden, aber wahren Geschichten, die er mir erzählt hat. Wie kein Zweiter versteht er es, eine schlecht gelaunte Klapperschlange oder ein hungriges Krokodil zur Vernunft zu bringen.
1
Seit ihm ein toter Leguan von einer Palme auf den Kopf gefallen war, konnte Mickey Cray keine Aufträge mehr annehmen.
Der Leguan, der bei einem plötzlichen Kälteeinbruch verendet war, wog siebeneinhalb Pfund und war steif wie ein Brett. Nachdem Mickeys Sohn die tote Echse auf einer Fischwaage gewogen hatte, legte er sie im Kühlhaus hinter der Garage auf Eis, direkt neben das Grünzeug für die Schildkröten.
Das geschah, nachdem die Ambulanz Mickey ins Krankenhaus gebracht hatte, wo die Ärzte eine schwere Gehirnerschütterung feststellten und ihm empfahlen, eine Weile kürzerzutreten.
Und zu jedermanns Überraschung befolgte Mickey diesen Rat. Der Grund dafür war, dass er seit dem Zusammenstoß mit dem Leguan alles doppelt sah und entsetzliche Kopfschmerzen hatte. Er verlor den Appetit, nahm neunzehn Pfund ab und lag den ganzen Tag auf der Couch, um sich im Fernsehen Naturfilme anzusehen. »Ich werde nie wieder der Alte sein«, teilte er seinem Sohn mit.
»Nun mach mal halblang, Pop«, erwiderte Wahoo, Mickeys Junge.
Den Vornamen hatte Mickey ihm nach Wahoo McDaniel gegeben, einem Wrestler, der auch Football gespielt hatte und Linebacker bei den Dolphins gewesen war. Mickeys Sohn wünschte sich oft, sein Vater hätte ihn Mickey junior oder Joe oder Rupert oder sonst wie genannt – bloß nicht Wahoo, was auch die Bezeichnung für einen bestimmten Salzwasserfisch war.
Außerdem war es schwierig, diesem Namen gerecht zu werden. Von jemandem namens Wahoo erwarteten die Leute automatisch, dass er eine große Klappe hatte und sich völlig verrückt benahm, doch das war überhaupt nicht Wahoos Art. Anscheinend konnte er erst etwas gegen den Namen unternehmen, wenn er volljährig war. Sobald das der Fall war, beabsichtigte er zum Gericht von Cutler Ridge zu gehen und einem der dortigen Richter mitzuteilen, dass er einen normalen Namen haben wolle.
»Du kommst schon wieder in Ordnung, Pop«, sagte Wahoo jeden Morgen zu seinem Vater. »Du darfst dich einfach nicht unterkriegen lassen.«
Worauf Mickey Cray jedes Mal mit einem Dackelblick zu Wahoo hochsah und sagte: »Jedenfalls bin ich froh, dass wir diese Punktpunktpunkt-Echse gegessen haben.«
An dem Tag, als sein Dad aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte Wahoo den toten Leguan aufgetaut und einen Eintopf mit Pfefferkörnern daraus zubereitet, von dem seine Mom klugerweise keinen einzigen Bissen gegessen hatte. Mickey hatte steif und fest behauptet, der Verzehr des Viechs, das ihm den Schädel verbeult hatte, sei ein spirituelles Heilmittel. »Mächtige Medizin«, hatte er geraunt.
Doch der Leguan hatte scheußlich geschmeckt und danach waren Mickey Crays Kopfschmerzen nur noch schlimmer geworden. Wahoos Mutter machte sich solche Sorgen, dass sie ihrem Mann riet, nach Miami zu fahren und einen Gehirnspezialisten aufzusuchen, was Mickey jedoch ablehnte.
In all der Zeit riefen ständig Leute an, die neue Aufträge hatten und die Wahoo an andere Tiertrainer verweisen musste, denn sein Vater war nicht in der Lage zu arbeiten.
Nach der Schule fütterte Wahoo nun immer die Tiere und mistete die Gehege und Käfige aus. Das Grundstück der Crays war buchstäblich ein Zoo – mit Alligatoren, Schlangen, Papageien, Hirtenmainas, Ratten, Mäusen, Affen, Waschbären und Schildkröten. Sogar einen kahlköpfigen Adler gab es, den Mickey großgezogen hatte, nachdem die Mutter getötet worden war.
»Behandle sie wie Könige«, schärfte Mickey Wahoo ständig ein, denn die Tiere waren ziemlich wertvoll. Ohne sie wäre Mickey arbeitslos gewesen.
Es beunruhigte Wahoo, dass sein Vater sich in so miserabler Verfassung befand, weil Mickey eigentlich der zäheste Kerl war, den er kannte.
Kurz vor Sommeranfang nahm seine Mutter Wahoo eines Morgens beiseite und teilte ihm mit, dass die Ersparnisse der Familie fast aufgebraucht seien. »Deshalb fahre ich nach China«, fügte sie hinzu.
Wahoo nickte, als sei das keine große Sache.
»Für zwei Monate«, sagte sie.
»Das ist eine lange Zeit«, erwiderte Wahoo.
»Tut mir leid, mein Großer, aber wir brauchen das Geld wirklich dringend.«
Wahoos Mutter war Lehrerin für Mandarinchinesisch, eine extrem schwierige Sprache. Mrs. Cray wurde regelmäßig von großen amerikanischen Unternehmen, die Niederlassungen in China hatten, damit beauftragt, den Führungskräften dieser Firmen Chinesischunterricht zu erteilen, doch normalerweise wurden diese Leute nach Südflorida eingeflogen, um dort von Mrs. Cray instruiert zu werden.
»Diesmal wollen sie, dass ich nach Schanghai fliege«, erklärte sie ihrem Sohn. »Da drüben sitzen ungefähr fünfzig Leute, die mit irgendeiner billigen Sprachkassette Chinesisch gelernt haben. Als neulich einer von ihnen zu einem Minister sagen wollte, dass er schöne Schuhe anhabe, hat er ihm erzählt, dass sein Gesicht wie eine Warze am Hintern aussehe. Sehr peinlich.«
»Hast du Pop schon erzählt, dass du nach China gehst?«
»Das kommt als Nächstes dran.«
Daraufhin verdrückte sich Wahoo nach draußen, um Alices Teich zu säubern. Der Alligator Alice war einer von Mickey Crays Stars. Sie hatte eine Länge von vier Metern und war zahm wie ein Guppy, sah aber extrem furchterregend aus. Im Laufe der Jahre hatte Alice oft vor der Kamera gestanden und bei neun Spielfilmen, zwei Dokumentarfilmen von National Geographic, einem dreiteiligen Special über die Everglades sowie einem TV-Werbespot für eine edle französische Hautcreme mitgemacht.
Während Wahoo welkes Laub und Zweige aus dem Wasser fischte, lag Alice am schlammigen Ufer und sonnte sich. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, wusste Wahoo, dass sie lauschte.
»Hungrig, Mädchen?«, fragte er.
Der Alligator riss sperrangelweit das Maul auf, dessen Inneres so weiß wie Baumwolle war. Einige von Alices Zähnen waren abgebrochen, an den Zahnspitzen klebten grüne Teichalgen.
»Du hast vergessen, dir die Zähne zu putzen«, sagte Wahoo.
Alice stieß ein Zischen aus, worauf Wahoo ihr etwas zu essen holen ging. Als sie das Quietschen der Schubkarre hörte, öffnete sie die Augen einen Spaltbreit und drehte den riesigen gepanzerten Kopf in Wahoos Richtung.
Wahoo warf ein gerupftes Hühnchen in das aufgerissene Maul des Alligators. Das malmende Geräusch, mit dem der aufgetaute Vogel verspeist wurde, überlagerte die Stimmen, die aus dem Haus zu hören waren – Wahoos Eltern »besprachen« die Chinareise.
Nachdem Wahoo Alice zwei weitere Hühnchen serviert hatte, schloss er das Gatter zum Teich ab und machte einen kleinen Spaziergang. Als er ins Haus zurückkehrte, saß sein Vater kerzengerade auf dem Sofa, während seine Mutter in der Küche Wurstsandwiches für den Lunch zurechtmachte.
»Ist denn das zu fassen?«, sagte Mickey zu Wahoo. »Sie lässt uns einfach im Stich!«
»Pop, wir sind pleite.«
Mickey ließ die Schultern sinken. »Nicht völlig pleite.«
»Willst du, dass die Tiere verhungern?«, entgegnete Wahoo.
Während sie ihre Sandwiches aßen, wurde kaum ein Wort gesprochen. Als sie fertig waren, stand Mrs. Cray auf und sagte: »Ihr beide werdet mir fehlen. Ich wünschte, ich könnte hierbleiben.«
Dann ging sie ins Schlafzimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Mickey war wie benommen. »Dabei mochte ich Leguane immer so gerne.«
»Wir kommen schon zurecht.«
»Mein Kopf tut weh.«
»Dann nimm eine von diesen gelben Pillen«, sagte Wahoo.
»Die hab ich weggeschmissen.«
»Was?«
»Weil ich Verstopfung davon gekriegt hab.«
Wahoo schüttelte den Kopf. »Unglaublich.«
»Im Ernst. Seit Ostern geht da gar nichts mehr.«
»Danke für die Information«, sagte Wahoo. Während er das Geschirr in die Spülmaschine räumte, versuchte er, nicht daran zu denken, dass seine Mom bald zum anderen Ende der Welt fliegen würde.
Mickey stand auf und entschuldigte sich bei seinem Sohn.
»Ich bin einfach nur egoistisch. Ich will nicht, dass sie wegfährt.«
»Ich auch nicht.«
Am folgenden Sonntag standen sie alle vor Tagesanbruch auf. Wahoo schleppte die Koffer seiner Mutter zum Taxi, das bereits vor dem Haus wartete. Als sie ihm einen Abschiedskuss gab, hatte sie Tränen in den Augen.
»Pass auf deinen Dad auf«, flüsterte sie.
Anschließend sagte sie zu Mickey: »Sieh zu, dass du wieder gesund wirst. Das ist ein Befehl, Mister.«
Bedrückt blickte Wahoos Vater dem Taxi hinterher. »Kommt mir vor, als würde sie uns zweimal verlassen«, stellte er fest.
»Wie meinst du das, Pop?«
»Hast du vergessen, dass ich alles doppelt sehe? Da fährt sie davon – und da noch mal.«
Für solche Bemerkungen war Wahoo im Moment nicht in Stimmung. »Willst du Eier zum Frühstück?«
Nach dem Frühstück ging er hinaus, um sich mit einem Brüllaffen namens Jocko zu befassen, der das Schloss seiner Käfigtür geknackt hatte. Jetzt sprang er draußen herum und ärgerte die Papageien und Aras. Da Jocko ziemlich aggressiv war, musste Wahoo vorsichtig sein. Nach einer Weile gelang es ihm, den ruppigen Primaten mit einer Mandarine in den Käfig zurückzulocken. Trotzdem schaffte es Jocko noch, Wahoo in die Hand zu beißen.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst die Handschuhe anziehen«, schimpfte Mickey, als Wahoo sich die Wunde unter dem Wasserhahn auswusch.
»Du trägst ja auch nie Handschuhe«, entgegnete Wahoo.
»Tja, aber im Gegensatz zu dir werde ich nie gebissen.«
Das war Quatsch. Mickey wurde ständig gebissen; das war ein Berufsrisiko. Seine Hände waren so vernarbt, dass sie unecht aussahen, wie Halloween-Requisiten aus Gummi.
Das Telefon klingelte. Wahoo ging ran. Sein Vater wankte zur Couch und zappte sich mit der Fernbedienung durch die Kanäle, bis er den Rain Forest Channel fand.
»Wer war das denn?«, fragte er, als Wahoo aus der Küche kam.
»Wieder mal jemand mit einem Auftrag, Pop.«
»Hast du ihn zu Stiggy geschickt?«
Jimmy Stigmore war ein Tiertrainer, der oben in Davie eine Ranch hatte. Mickey Cray hielt nicht viel von ihm.
»Nein, hab ich nicht«, erwiderte Wahoo.
Sein Vater runzelte die Stirn. »Wohin dann? Doch nicht etwa zu Dander?«
Donny Dander hatte seine Lizenz für den Import exotischer Tiere verloren, nachdem man ihn bei dem Versuch erwischt hatte, achtunddreißig seltene Baumfrösche aus Südamerika ins Land zu schmuggeln. Er hatte die Frösche raffinierterweise in seiner Unterhose versteckt, doch die ganze Geschichte nahm ein peinliches Ende, als einer der Zollbeamten am Flughafen von Miami bemerkte, dass Donnys Unterhose quakte.
»Nein, zu dem auch nicht«, sagte Wahoo. »Ich hab ihn nirgendwo hingeschickt.«
»Okay, jetzt komm ich nicht mehr mit«, meinte Mickey.
»Ich habe gesagt, wir übernehmen den Auftrag. Und dass wir nächste Woche anfangen können.«
»Bist du verrückt geworden, mein Junge? Hast du vergessen, in welchem Zustand ich bin? Ich sehe alles doppelt, ich kann kaum gehen, und mein Schädel ist kurz davor, wie ein verfaulter Kürbis aufzuplatzen …«
»Pop!«
»Was ist?«
»Ich habe gesagt, wir. Wir zwei zusammen.«
»Aber was ist mit der Schule?«
»Freitag ist der letzte Schultag. Dann sind Sommerferien.«
»Jetzt schon?« Sein Dad verfolgte Wahoos Schulleben nicht so genau wie seine Mutter. »Von wem kommt der Auftrag eigentlich?«
Wahoo nannte ihm den Titel einer Fernsehsendung.
»Das ist doch die Sendung mit diesem Armleuchter!« Mickey Cray stieß ein Schnauben aus. »Über den hab ich schon die durchgeknalltesten Sachen gehört!«
»Tja, und wie hört sich tausend Dollar an?«, fragte Wahoo.
»Verdammt gut.«
»Tausend Dollar pro Tag.« Um des Effekts willen machte Wahoo eine Pause. »Aber wenn du willst, kann ich natürlich zurückrufen und ihm Stiggys Nummer geben.«
»Red keinen Stuss.« Mickey stand vom Sofa auf und umarmte Wahoo. »Das hast du gut gemacht, Junge. Das schaffen wir schon.«
»Na klar«, erwiderte Wahoo und gab sich alle Mühe, zuversichtlich zu klingen.
2
Während der großen Kältewelle in Südflorida waren Hunderte von Leguanen erfroren und von den Bäumen gefallen. Soweit Wahoo wusste, war sein Dad jedoch die einzige Person, die durch eines der herabstürzenden Reptilien ernsthaften Schaden davongetragen hatte.
Mickey Cray hatte mit einer Tasse heißem Kakao unter einer Kokospalme gestanden, als die tote Echse ihn ausgeknockt hatte. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte Mickey Wahoo damit beauftragt, das Grundstück nach überlebenden Leguanen abzusuchen, sie einzufangen und auf eine verlassene Orchideenfarm in der Nähe zu bringen.
Sehr intensiv hatte Wahoo nicht gesucht. Es war schließlich nicht die Schuld der Leguane, dass sie erfroren waren. Ihr eigentlicher Lebensbereich lag viel weiter südlich, doch die Tierhändler von Miami importierten schon seit Jahrzehnten kleine Leguane aus den Tropen. Die Kunden, die sie kauften, wussten nicht, dass die Tiere zwei Meter lang werden, alle Blumen im Garten fressen und in den Swimmingpool kacken würden. Sobald ihnen diese unangenehmen Tatsachen bewusst wurden, fuhren die unglücklichen Besitzer mit ihren Haustieren zum nächsten Park und setzten sie dort aus. Mittlerweile wimmelte es in Südflorida von großen, wild lebenden Leguanen, die unzählige kleine, wild lebende Leguane zur Welt brachten.
Dem hatte der jähe Temperatursturz ein Ende gemacht, zumindest vorübergehend.
Am ersten Tag der Sommerferien ertappte Wahoo seinen Vater morgens dabei, wie er die Bäume auf dem Grundstück inspizierte.
»Hast du welche entdeckt, Pop?«
»Nein. Die Luft ist rein«, berichtete Mickey Cray.
Obwohl seit dem Unfall Monate vergangen waren, hatte er immer noch eine Heidenangst davor, erneut eine Echse auf den Kopf zu bekommen.
»Offenbar geht es dir besser«, stellte Wahoo fest, den es freute, dass sein Dad so früh schon auf den Beinen war.
»Meine Kopfschmerzen sind wie weggeblasen!«, verkündete Mickey.
»Ist ja nicht zu glauben«, sagte Wahoo.
»All diese Pillen, die die Ärzte mir verschrieben haben, haben überhaupt nichts gebracht. Dann wache ich eines Tages auf – und peng!, die Kopfschmerzen sind weg. Ein echtes Wunder!« Mickey zuckte die Achseln. »Manche Dinge lassen sich eben nicht erklären, Junge.«
Doch Wahoo hatte den Verdacht, dass sein Vater von vier schlichten Worten geheilt worden war: tausend Dollar pro Tag.
»Hol mal Salat für Gary und Gail«, sagte Mickey.
Gary und Gail waren zwei uralte Galapagos-Schildkröten, die Wahoos Dad vor vielen Jahren, als er noch neu im Geschäft war, einem Zoo in Sarasota abgekauft hatte. Doch da Schildkröten nicht gerade dynamische Darsteller sind, wurden Gary und Gail nur selten für Tiersendungen im Fernsehen angefordert. Dass Mickey Cray sie trotzdem behielt, hatte hauptsächlich sentimentale Gründe. Jedes der Tiere war über hundert Jahre alt, und bei allen anderen Tiertrainern hätte er befürchtet, dass sie die zwei Schildkröten nicht richtig behandeln würden. Am Abend vor dem großen Kälteeinbruch war Mickey extra nach draußen gegangen, um Gail und Gary sorgfältig in dicke Steppdecken zu hüllen, damit sie nicht umkamen. Wahoo hatte ihn von seinem Schlafzimmerfenster aus dabei beobachtet.
»An diesen beiden ist er vermutlich nicht interessiert«, murmelte Mickey, während die Schildkröten laut schmatzend ihren Salat mampften.
»Nein. Die haben gesagt, dass er Alice und einen großen Python haben will«, erwiderte Wahoo.
Sie sprachen von ihrem neuen Kunden, dem berühmten Derek Badger. Er war der Star von Expedition Überleben!, einer der beliebtesten Sendungen, die es im Kabelfernsehen gab. Jede Woche landete Derek mit dem Fallschirm in irgendeiner unwirtlichen Gegend, wo es von wilden Tieren, giftigen Schlangen und krankheitsübertragenden Insekten nur so wimmelte. Nur mit einem Schweizer Armeemesser und einem Strohhalm bewaffnet, marschierte, kletterte, kroch, paddelte oder schwamm er in jeder Folge in die Zivilisation zurück – oder wurde irgendwann »gerettet«. Unterwegs ernährte er sich von Käfern, Nagetieren, Würmern und Baumschwämmen – je abstoßender das Ganze aussah, desto begeisterte stopfte Derek Badger es sich in den Mund.
Wahoo und sein Dad hatten sich Expedition Überleben! oft genug angesehen, um zu wissen, dass die meisten in der Wildnis spielenden Szenen gestellt waren. Außerdem war ihnen klar, dass Dereks Leben zu keinem Zeitpunkt wirklich in Gefahr war, da er stets von einem Kamerateam begleitet wurde, das Essen, Süßigkeiten, Sunblocker, Wasser, eine Erste-Hilfe-Ausrüstung und höchstwahrscheinlich auch ein großes Gewehr dabeihatte.
»In den Everglades hat Derek noch nie eine Sendung gemacht«, teilte Wahoo seinem Vater mit.
»Es heißt, dieser Typ sei eine wahnsinnige Nervensäge.«
»Sei nett zu ihm, Pop. Es geht schließlich um viel Geld.«
Mickey versprach seinem Sohn, sich zu benehmen. »Und wann lernen wir den Herrn persönlich kennen?«
»Seine Assistentin will heute noch vorbeikommen.«
»Was für einen Python wollen sie denn haben? Einen burmesischen? Einen afrikanischen Felsenpython?«
»Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass das eine Rolle spielt«, erwiderte Wahoo.
Dann machten sie sich daran, ein Gehege für einen jungen Rotluchs zu bauen, der von einer Ranch oben im Highlands County zu ihnen gebracht werden sollte. Der Luchs war von einem Jeep angefahren worden und hatte sich ein Bein gebrochen, das nicht verheilen wollte, sodass man ihn nicht mehr auswildern konnte. Mickey Cray hatte sich bereit erklärt, das Tier großzuziehen, und hoffte, es so weit zähmen zu können, dass es für Filmaufnahmen taugte.
Rotluchse waren kräftige Tiere und ihr Gehege musste sehr stabil sein. Da Wahoo fand, dass jemand, der alles doppelt sah, nicht mit einem Druckluftnagler hantieren sollte, ließ er seinen Dad den Maschendraht ausmessen und zurechtschneiden. Gegen Mittag kehrten Mickeys Kopfschmerzen mit solcher Heftigkeit zurück, dass er sich absolut elend fühlte. Wahoo führte ihn ins Haus, brachte ihn dazu, sich auf die Couch zu legen, und gab ihm vier Aspirintabletten.
Wenige Minuten später klopfte jemand an die Haustür. Mickey richtete sich auf. »Das ist wahrscheinlich der Typ mit dem Rotluchs«, sagte er.
Als Wahoo aus dem Fenster sah, erblickte er eine Frau mit leuchtend roten Haaren. Sie trug ockerfarbene Shorts und Glitzersandalen und hatte eine Lederaktentasche bei sich.
»Rot ist sie schon, aber kein Luchs«, teilte er seinem Vater mit.
»Dann mach doch die verflixte Tür auf.«
»Und was, wenn sie von der Bank ist?«, flüsterte Wahoo. Die Crays waren nämlich mit den Ratenzahlungen für ihr Haus Monate im Rückstand.
Mickey spähte zum Fenster hinaus. »Die ist ganz bestimmt nicht von der Bank.«
Daraufhin ließ Wahoo die Frau ins Haus, die sich als Raven Stark vorstellte. »Ich bin Derek Badgers Produktionsassistentin«, fuhr sie fort, »und habe Ihren Vertrag mitgebracht.«
»Sehr schön«, sagte Mickey.
Wahoo fiel auf, dass die Frau mit starkem Akzent sprach. Er gab sich große Mühe, nicht ihre aufgetürmte Frisur anzustarren, die wie eine Skulptur aus rotem Chrom aussah.
»Darf ich mich draußen ein bisschen umsehen?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete Wahoos Vater.
Raven Stark blickte ihn überrascht an.
»Erst müssen Sie eine Verzichtserklärung unterschreiben«, erläuterte Mickey. »Ich will nämlich nicht verklagt werden, falls Sie in den Alligatorenteich fallen und gebissen werden.«
Sie lachte. »Ich mache das hier schon eine ganze Weile, Mr. Cray.«
»Sobald Sie die Erklärung unterschrieben haben, wird mein Sohn Ihnen gern alles zeigen.«
Vor ein paar Jahren hatte Mickey einmal Wahoos Grundschulklasse eingeladen, sich seine wilden Tiere anzusehen. Ein Junge namens Tingley hatte, ohne Wahoos Warnungen zu beachten, in einen der Käfige gegriffen, um einen Waschbären am Schwanz zu ziehen. Das reizbare Tier hatte sich blitzschnell umgedreht und den Arm des Kindes derart zerkratzt, dass er aussah wie eine Straßenkarte von Hialeah. Mickey übernahm zwar die Arztkosten, teilte Tingleys Eltern vorher allerdings noch mit, dass ihr Sohn strohdumm sei. Seit diesem Vorfall bestand Mickeys Versicherungsgesellschaft darauf, dass jeder, der das Grundstück betrat, eine Erklärung unterschrieb, die besagte, dass Mickey nicht dafür verantwortlich sei, falls der Betreffende gebissen, gekratzt oder sonst wie verletzt wurde.
Während Raven Stark die Verzichtserklärung unterschrieb, unterzeichnete Mickey den Vertrag, den sie mitgebracht hatte. Wahoo bemerkte, dass sein Vater seinen Namen unterhalb der gepunkteten Linie hinkritzelte, was bedeutete, dass er nach wie vor nicht richtig sehen konnte.
»Wie lange werden die Dreharbeiten denn dauern?«, fragte Mickey.
»Bis wir alles richtig hinbekommen haben«, erwiderte Raven Stark.
Mickey machte ein zufriedenes Gesicht. »Und Sie zahlen eintausend pro Tag, ja? Plus Drehortvergütung und Leihgebühren für die Tiere.«
»Genau.« Sie nahm einen Umschlag aus ihrer Handtasche. »Hier sind achthundert Dollar Anzahlung.«
Nachdem Mickey das Geld nachgezählt hatte, wandte er sich an Wahoo. »Dann zeig dieser netten Lady mal alles, was sie sehen möchte.«
Da die Folge in den Everglades spielen sollte, interessierte Raven Stark sich besonders für den Alligator Alice. Wahoo führte sie zum Teich und schloss das Gatter auf.
Raven stieß einen Pfiff aus. »Das ist ja ein richtiges Monster.«
»Vier Meter lang«, erklärte Wahoo.
»Wie hoch ist die Leihgebühr?«
»Vierhundertfünfzig Dollar pro Meter, das sind …«
»Insgesamt achtzehnhundert«, sagte Raven. »Kein Problem.«
Wahoo konnte es kaum erwarten, seinem Vater die frohe Botschaft mitzuteilen.
»Habt ihr noch einen kleineren Alligator?«, fragte Raven.
»Ja, haben wir.«
»Einen, mit dem Derek kämpfen könnte?«
»Kämpfen?«
»Einen, der ungefähr einen Meter lang ist«, sagte Raven. »Oder auch eins fünfzig, aber nicht mehr.«
»Das muss ich erst mit Pop besprechen.« Das konnte zu Problemen führen. Wahoos Vater mochte es nicht, wenn jemand an den Tieren herummurkste.
»Wo sind eure Pythons?«, fragte Raven.
Wahoo führte sie zu den Behältern aus dickem Glas, in denen die Riesenschlangen aufbewahrt wurden. In Südflorida gab es Unmengen von großen exotischen Schlangen, die genau wie die Leguane als Haustiere importiert worden waren. Der Hurrikan Andrew hatte mehrere große Reptilienfarmen buchstäblich weggefegt und unzählige kleine Pythons und Boa constrictors über die ganze Region verteilt.
»Derek möchte eine richtige Bestie«, erklärte Raven.
Wahoo zeigte ihr eine fünf Meter lange Schlange, die eingefangen worden war, als sie in einem Container hinter der Dadeland Mall ein Opossum verschlang. Der Mann, der die Schlange entdeckt hatte, hätte sie eigentlich den staatlichen Wildhütern übergeben müssen. Stattdessen verkaufte er sie für dreihundert Dollar an Mickey Cray.
Raven gab zu, dass das ein eindrucksvolles Exemplar war. »Aber kann man auch ohne Gefahr mit ihm arbeiten?«
»Das ist eine Sie«, sagte Wahoo, »und sie ist ziemlich bissig.«
»Oh.«
»Aber Pop kommt gut mit ihr zurecht. Das wird schon klappen.«
»Das hoffe ich«, erwiderte Raven Stark. »Wie viel?«
»Siebenhundertfünfzig pro Tag.« Wahoo versuchte, cool und geschäftsmäßig zu klingen. Er war es nicht gewohnt, die Verhandlungen zu führen. Die Standardleihgebühr für Pythons betrug hundertfünfzig Dollar pro Meter.
»Okay, bestens. Wie heißt du noch mal?«
Er sagte es ihr.
»Wahoo? Wie der Fisch?«
Das nahm jeder an. »Nein. Mein Dad hat mich nach einem Wrestler genannt«, erklärte er.
»Wie interessant.«
»Nicht wirklich«, sagte Wahoo.
»Darf ich fragen, was da passiert ist?« Sie zeigte auf die weißliche Ausbuchtung, die Wahoo anstelle eines Daumes an der rechten Hand hatte.
»Klar, dürfen Sie. Das war Alice.«
»Echt?«
»Es war meine Schuld, nicht ihre«, fügte Wahoo schnell hinzu.
Das Ganze war geschehen, weil er vor einem Mädchen angeben wollte, das nach der Schule vorbeigekommen war, um sich die Tiere anzusehen. Wahoo hatte sie zum Teich geführt, damit sie miterleben konnte, wie er den Alligator fütterte. Er trat jedoch zu nahe an Alice heran, die hochschoss, nach dem aufgetauten Hühnchen in seiner Hand schnappte und dabei seinen Daumen mit erwischte. Das Mädchen, das Paulette hieß, war auf der Stelle in Ohnmacht gefallen.
Um das Thema zu wechseln, fragte Wahoo: »Wo ist eigentlich Mr. Badger?«
»In Paris«, sagte Raven.
Da Wahoo noch nie gehört hatte, dass es in Paris undurchdringliche Dschungel oder gefährliche Sümpfe gab, nahm er an, dass der berühmte Überlebenskünstler dort Urlaub machte.
Mickey Cray kam aus dem Haus und stellte sich zu ihnen vor die Schlangenbehälter. Wahoo erzählte ihm, dass Ms. Stark bei den Dreharbeiten gern Beulah, den großen burmesischen Python, verwenden würde.
»Gute Wahl«, meinte Mickey, der sich offenbar besser fühlte.
»Sie haben die Sendung natürlich schon gesehen«, sagte Raven.
»Klar«, antwortete Wahoo. »Die gibt’s immer donnerstagabends.«
»Und am folgenden Sonntagvormittag wird sie wiederholt«, ergänzte Raven. »Dann wissen Sie also, dass wir großen Wert auf Authentizität legen.«
Wahoo hatte keinen Schimmer, was dieses Wort bedeutete. Sein Vater sah ihn bloß an und zuckte die Achseln.
»Auf Echtheit«, erklärte Raven. »Wir legen bei Expedition Überleben! großen Wert darauf, dass alles echt ist. Derek betrachtet es als seine vornehmste Aufgabe, ein Band des Vertrauens zu unseren Zuschauern herzustellen.«
Wahoo warf einen Blick auf die riesigen Schlangen, die zusammengerollt in den Glasbehältern lagen. Echt waren die auf jeden Fall. Bloß dass sie nicht frei in der Wildnis lebten.
Die Produktionsassistentin wandte sich an Wahoos Vater. »Noch irgendwelche Fragen?«
Mickey lächelte. »Unsere Tiere treten ständig im Fernsehen auf. Wir kennen uns aus.«
Raven Stark beugte sich nach unten und klopfte mit einem ihrer scharlachroten Fingernägel gegen die Glasscheibe, die sie von Beulah dem Python trennte.
»Nun ja, Mr. Cray«, sagte sie. »Ich kann Ihnen versichern, dass Sie bei so was wie Dereks Sendung noch nie mitgemacht haben.«
3
Derek Badgers richtiger Name lautete Lee Bluepenny. Er hatte weder Biologie noch Botanik, noch Geologie oder Forstwirtschaft studiert, sondern kam aus dem Showbusiness.
Als junger Mann war er mit einer bekannten irischen Volkstanzgruppe durch die Welt gereist, bis er sich bei den Proben für eine Straßenparade in Montreal einen Zeh gebrochen hatte. Während er in der Notaufnahme des Krankenhauses wartete, lernte er zufällig einen Talentscout kennen, der sich mit vergammelten Austern den Magen verdorben hatte. Der Mann fand, Lee Bluepenny wirke tough und sehe attraktiv aus, und fragte ihn, ob er schon einmal an eine Karriere beim Fernsehen gedacht habe.
Sobald Lee Bluepennys gebrochener Zeh verheilt war, sorgte der Talentscout dafür, dass er nach Kalifornien flog und für eine neue Realityshow vorsprach. Die Produzenten von Expedition Überleben! waren begeistert von dem australischen Akzent, den Lee Bluepenny schamlos von dem verstorbenen Steve Irwin, dem legendären Krokodiljäger, übernommen hatte. Außerdem gefiel den Produzenten, dass Lee Bluepenny einen lebenden Salamander verschlucken konnte, ohne sich übergeben zu müssen. Was ihnen weniger gefiel, war sein Name. Lee Bluepenny sei okay für einen Jazzpianisten oder vielleicht auch für einen Kunsthändler, sagten sie, höre sich aber nicht markig genug an für jemanden, der sich jede Woche durch die Wildnis schlagen musste.
Nachdem man mehrere Namen durchprobiert hatte – Erik Panther, Gus Wolverine, Chad Condor –, entschieden sich die Produzenten für Derek Badger, was Lee Bluepenny in Ordnung fand. Er war so wild darauf, im Fernsehen aufzutreten, dass er auch den Namen Danny der Dodo akzeptiert hätte.
Zunächst hatte Expedition Überleben! mit Startschwierigkeiten zu kämpfen. Die erste Folge spielte in einem Dschungel auf den Philippinen, wo sich der Mann, der jetzt Derek Badger hieß, angeblich verirrt hatte. Bereits am zweiten Tag kam es zu einem Desaster, denn Derek Badger wurde heftig von einer gestreiften Spitzmausratte gebissen, die er als Abendessen hatte verschlingen wollen. Er hatte das Nagetier für tot gehalten, obwohl es nur ein Nickerchen machte. Von dem Biss schwollen Dereks Lippen derart an, dass sie wie aufgeblasen aussahen. In aller Eile wurde er mit einem Rettungshubschrauber nach Manila gebracht, wo man ihm eine Spritze gegen Tollwut verpasste.
Nachdem schließlich alle kleinen Mängel ausgebügelt worden waren, wurde die Sendung zu einem Superhit. Derek Badger wurde in kürzester Zeit zu einer internationalen Berühmtheit und lernte schnell, sich dementsprechend zu benehmen.
»Wie ist Frankreich?«, fragte Raven Stark, als sie mit ihm telefonierte.
»Himmlisch«, sagte er. »Der Käse hier ist fantastisch.«
»Kann ich mir vorstellen«, erwiderte Raven in leicht besorgtem Ton. Überlebenskünstler hatten schlank und durchtrainiert zu sein, und eine von Ravens Hauptaufgaben bestand darin zu verhindern, dass Derek zu schwabbelig wurde. Was nicht leicht war, da der Mann gerne aß und eine ausgesprochene Vorliebe für Käse hatte.
»Hast du einen passenden Alligator für mich gefunden?«, erkundigte er sich.
»Ja, ein Prachtexemplar.« Sie hörte ihn kauen und schmatzen.
»Wie lang?«
»Vier Meter.«
»Wunderbar!«
»Und sie haben noch einen kleineren, mit dem du kämpfen kannst.«
Derek schwieg einen Moment, was Raven Stark beunruhigte.
»Ich will aber nicht mit dem kleinen kämpfen, sondern mit dem Riesenviech«, sagte er schließlich.
Das war genau die Antwort, die sie befürchtet hatte. »Das ist zu gefährlich«, entgegnete sie.
»Wie bitte?«
»Darüber können wir später noch reden, Derek.«
»Das werden wir auch. Was ist mit dem Python? Ich hab dir doch gesagt, dass ich einen Python haben will.«
»Der Mann hat uns einen sehr großen burmesischen Python angeboten, der allerdings nicht zahm ist.«
»Umso besser!«, frohlockte Derek.
Raven Stark stieß einen unhörbaren Seufzer aus. Sie war zwar daran gewöhnt, mit Dereks aufgeplustertem Ego umzugehen, doch es gab Situationen, da hätte sie ihn gerne daran erinnert, dass er von Haus aus Stepptänzer und kein kerniger Naturbursche war.
»Hatten die noch was besonders Gruseliges?«, fragte er.
»Ich habe noch eine große Schnappschildkröte gesehen«, sagte sie.
»Wie groß?«
»Groß genug, um jemandem die Hand abzubeißen.«
»Hervorragend«, meinte Derek. »Dann baut eine Unterwasserszene ein – ich schwimme nichts ahnend durch die Everglades, und plötzlich schießt eine hungrige Schnappschildkröte unter einem Baumstamm hervor und zerrt mich zum Grund der Lagune.«
»Großartig. Bloß dass Schildkröten keine Menschen fressen.«
»Woher willst du das denn wissen?«, entgegnete Derek.
»Ruf mich an, wenn du in Miami gelandet bist«, sagte Raven Stark.
Wahoo hatte eine ältere Schwester namens Julie, die an der University of Florida in Gainesville gerade ihr Jurastudium abschloss. Insgeheim war sein Vater sehr stolz auf sie, ließ sich das aber nie anmerken.
»Genau das, was die Welt braucht – noch so ’ne verflixte Rechtsanwältin«, grummelte Mickey des Öfteren.
»Du mich auch, Dad«, sagte Julie dann immer und kniff ihm in die Wange.
Wahoo fand seine Schwester ziemlich toll, obwohl er manchmal Minderwertigkeitsgefühle hatte, weil sie so klug und lustig und gesellig war. Wahoo hingegen war schüchtern und bei Weitem nicht so selbstbewusst wie seine Schwester. Als Schülerin hatte Julie nur Einsen nach Hause gebracht, während Wahoo meistens Dreien und Vieren einheimste. Am schlechtesten war er natürlich in Mathe.
»Gib einfach dein Bestes«, sagte seine Mom in solchen Fällen immer. »Damit sind wir völlig zufrieden.«
Mickey Cray kümmerte sich kaum um die schulischen Angelegenheiten der Kinder, weil er zu sehr mit den Tieren beschäftigt war.
»Hol mal den Alten ans Telefon«, sagte Julie, als sie anrief.
»Der ist gerade draußen bei den Pythons«, erwiderte Wahoo.
»Es geht um diesen Vertrag für Expedition Überleben!. Da sehe ich Probleme auf euch zukommen.«
Wahoo faxte seiner Schwester stets die Verträge mit Fernsehsendern zu, damit sie sie durchsah, auch wenn sein Vater normalerweise unterschrieb, ohne ein Wort gelesen zu haben.
»Was denn für Probleme, Jule?«
»Na ja, auf Seite sieben heißt es, für die Dauer der Dreharbeiten könne der Sender uneingeschränkt über die gemieteten Tiere verfügen. Das heißt, sie können mit den Tieren mehr oder weniger anstellen, was sie wollen – und brauchen Pop nicht um Erlaubnis zu bitten.«
»Das ist schlecht«, erwiderte Wahoo, dem einfiel, dass Raven Stark gesagt hatte, Derek Badger wolle mit einem der Alligatoren kämpfen.
»Hat der Alte schon Geld angenommen?«, fragte Julie.
Wahoo erzählte seiner Schwester von den achthundert Dollar Anzahlung. Sie meinte, wenn Mickey das Geld zurückgebe, könne er immer noch aus der Sache aussteigen.
»Zu spät«, sagte Wahoo. »Er hat’s bereits ausgegeben.«
»Wofür denn? Für Affenfutter?«
»Um die Raten fürs Haus zu bezahlen.«
»Mist«, sagte Wahoos Schwester.
»Wir sind praktisch pleite, Jule. Seit seinem Unfall läuft gar nichts mehr.«
»Deshalb ist Mom also nach China geflogen. Verstehe.«
Da Wahoo nicht wollte, dass seine Schwester sich Sorgen machte, versuchte er, optimistisch zu klingen. »Seit wir diesen Auftrag angenommen haben, geht es Pop schon viel besser.«
»Wer ist dieser Derek Badger eigentlich?«
»Hast du denn noch nie seine Sendung gesehen?«
Julie kicherte. »Ich hab noch nicht mal einen Fernseher, Bruderherz. Ich hocke hier nur über meinen Büchern.«
»Derek Badger ist Überlebenskünstler«, sagte Wahoo und erklärte ihr, was es mit diesem Abenteuerformat auf sich hatte.
»Ist ja nicht zu fassen«, meinte seine Schwester.
»Badger ist ein Star, Jule.«
»Erzähl Dad, was ich über den Vertrag gesagt habe.«
»Muss ich?«, entgegnete Wahoo.
Das war nur halb scherzhaft gemeint. Er wusste, dass er sich diesem Problem bald stellen musste.
Mickey Cray stand barfuß auf dem Rasen und bewunderte die Zeichnung von Beulah dem Python, dessen glatte silbrige Haut schokoladenfarbene Tupfen zierten. Fünf Meter Fleisch und Muskeln – und ein Gehirn von der Größe einer Murmel.
Schon als Junge hatte Mickey Schlangen als Haustiere gehabt – grüne Baumschlangen, Milchschlangen, Rattenschlangen, Wassernattern, Ringhalsnattern, Vipernattern, sogar ein paar giftige Klapperschlangen und Mokassinschlangen Mickey hatte sie alle selbst gefangen. Und nach wie vor fand er Schlangen faszinierend und geheimnisvoll.
Jetzt waren die Everglades von exotischen Pythons überschwemmt, die Rehe, Vögel, Kaninchen und sogar Alligatoren fraßen – wahrhaft raue Verhältnisse. Die Pythons, deren natürlicher Lebensraum Südostasien war, hatten hier nichts zu suchen. Deshalb hatten die US-Regierung und der Staat Florida ihnen den Krieg erklärt.
Das konnte Wahoos Vater nachvollziehen, denn die Schlangen brachten die Natur völlig aus dem Gleichgewicht. Ein ausgewachsener burmesischer Python vermochte mehr als fünfzig Eier auf einmal zu legen. Diese Schlangen gehörten zu den größten Raubtieren der Welt, wurden bis zu sechs Metern lang und hatten angesichts ihrer Größe keine natürlichen Feinde. Selbst Panther gingen ihnen aus dem Weg.
Wegen seiner Kenntnisse und seiner Erfahrungen war Mickey Cray gebeten worden, in den Sümpfen auf Schlangenjagd zu gehen und so viele wie möglich von den Eindringlingen zu fangen. Obwohl der Staat ihm gutes Geld dafür bot, lehnte Mickey ab. Er wusste, dass jeder Python, den er einfing, eingeschläfert werden würde, und dabei wollte und konnte er nicht mitmachen. Dafür mochte er Schlangen zu sehr. Das war das Problem.
Er setzte sich in der Nähe von Beulah auf die Erde. Mit erhobenem Kopf glitt die Schlange langsam auf ihn zu, während ihre seidige Zunge rasch vor- und zurückschnellte.
Mickey grinste. »Wann bist du denn das letzte Mal gefüttert worden?«
Diese Frage beantwortete Beulah, indem sie sich in Mickeys linken Fuß verbiss und einen Teil ihres muskulösen Körpers um seine Beine wickelte.
»Nun mal sachte, Prinzessin«, sagte er.
Beulah umschlang ihn noch weiter. Schnell verschränkte Mickey die Arme vor der Brust, damit ihm nicht der Brustkorb eingedrückt wurde, doch Beulah war extrem kräftig und er in schlechter Verfassung.
»Wahoo!«, schrie er. »He!«
»Was ist?«, rief Wahoo aus dem Haus.
»Beweg mal deinen Hintern hierher!«
Die Schlange kaute an Mickeys Fuß herum, als wäre er ein Kaninchen. Mickey hütete sich, Widerstand zu leisten, denn das würde nur dazu führen, dass sie noch fester zudrückte.
Wahoo kam angerannt. Als er sah, was Beulah mit seinem Vater machte, schrie er: »Nicht bewegen!«
»Guter Witz«, keuchte Mickey. »Ich wollte gerade ein Tänzchen machen.«
»Was zum Teufel ist passiert?«
»Du hast vergessen, sie zu füttern. Das ist passiert.«
»Bestimmt nicht! Sie hat letzte Woche was bekommen. Ich schwör’s, Pop.«
»Und was hast du ihr gegeben? Einen Joghurt? Sieh dir das arme Mädchen doch mal an. Sie ist völlig ausgehungert!«
Wahoo befürchtete, dass sein Dad recht hatte. Bei ausgewachsenen Pythons lagen oft Wochen zwischen den Mahlzeiten. Vielleicht hatte er wirklich vergessen, sie zu füttern.
»Hol den Punktpunktpunkt-Bourbon«, sagte Mickey, »und zwar schnell.« Er rang bereits nach Atem.
Wahoo rannte in die Küche zurück und schnappte sich die Flasche Whiskey, die sein Dad für solche Notfälle immer im Haus hatte. Pythons verfügen über lange, gebogene Zähne, die sich nicht leicht von ihrer Beute lösen lassen. Am schnellsten bringt man sie dazu loszulassen, indem man ihnen etwas Heißes oder Unangenehmes ins Maul gießt.
Im Gegensatz zu Menschen haben Schlangen keine Geschmacksknospen auf der Zunge. Folglich hasste Beulah nicht den Geschmack des Bourbon, sondern das Brennen, das er hervorrief. Wahoo kniete sich hin und arbeitete sich durch die muskulösen Windungen, bis er zum Kopf der Schlange vorstieß, die den Fuß seines Vaters bereits halb verschlungen hatte.
»Du hast noch nicht mal Schuhe angezogen?«, fragte Wahoo.
»Nun mach schon«, ächzte Mickey.
Nachdem Wahoo die Flasche aufgeschraubt hatte, träufelte er Beulah die braune Flüssigkeit in den Hals. Nach wenigen Sekunden fing die Schlange an zu zucken. Dann zischte sie laut, löste ihre Beißerchen von Mickeys Fuß und spuckte aus. Mickey verhielt sich ruhig, während Wahoo sich daranmachte, das Reptil von ihm abzuwickeln.
Beulah leistete keinerlei Widerstand, sie hatte alles Interesse daran verloren, Wahoos Vater zu verspeisen. Der Alkohol im Bourbon war so unangenehm, dass sie in einem fort angewidert das Maul aufriss.
Es dauerte einige Minuten, bis Mickey wieder zu Atem kam und seine Beine richtig durchblutet wurden. Immerhin schaffte er es, neben Wahoo herzuhumpeln, als sie die riesige Schlange in ihren Behälter zurücktrugen. Dann gingen sie ins Haus, um Mickeys Fuß zu versorgen, der aussah wie ein purpurrotes Nadelkissen.
»Hast du sie wirklich gefüttert? Sag die Wahrheit, Junge.«
»Ich muss es vergessen haben«, gab Wahoo kleinlaut zu.
»Ich hab dir doch schon hundert Mal gesagt, dass sie im Frühling aktiv werden und dann ausgesprochen fresslustig sind.« Stöhnend legte Mickey sich auf die Couch.
»Tut mir wirklich leid, Dad.«
»Wenn wir hier fertig sind, holst du ihr sofort ein paar große fette Hühnchen aus der Tiefkühltruhe. Brat sie aber gut in der Mikrowelle durch, ja? Eis am Stiel mögen Pythons nämlich nicht.«
»Zu Befehl, Sir.«
Wahoo drückte eine ganze Tube antiseptische Salbe auf den Fuß seines Vaters und verteilte sie mit einem Buttermesser über die unzähligen kleinen Einstiche, die die Zähne hinterlassen hatten. Pythons waren glücklicherweise nicht giftig. Trotzdem konnte ihr Biss zu einer schlimmen Infektion führen.
»Tut mir leid«, sagte Wahoo noch einmal. »Das ist alles meine Schuld.«
»Lass gut sein. Jeder macht mal einen Fehler«, erwiderte sein Dad. »Außerdem hätte ich mit einer Schlange von der Größe auch nicht spielen dürfen, als wäre sie ein netter kleiner Pudel.«
»Halt still, Pop.«
Mickey starrte zur Decke hoch. »Hör mal, ich weiß, dass das für einen Jungen in deinem Alter nicht gerade ein normales Leben ist.«
»Fang doch nicht wieder damit an«, sagte Wahoo.
»Nein, im Ernst«, fuhr Mickey fort. »Was würde ich bloß ohne dich und deine Mom machen? Ich kann von Glück sagen, dass sie es all die Jahre mit mir ausgehalten hat.«
»Das stimmt. Wo ist das Verbandszeug?«
Erst nachdem Wahoo den Fuß seines Vaters verbunden hatte, erzählte er ihm, was Julie zu dem Vertrag gesagt hatte.
»Ich wusste, dass der Typ Ärger machen würde«, murmelte Mickey.
»Und was sollen wir jetzt machen?«