Über die Autorin

Gisela B. Schmidt ist in Ravensburg geboren und aufgewachsen. Schon immer waren Bücher ihre große Leidenschaft. Seit 2009 arbeitet und lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Stuttgart.

WREADERS E-BOOK

Band 114

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen

Vollständige E-Book-Ausgabe

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2021 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Druck: BoD – Books on Demand, Norderstedt

Umschlaggestaltung: Lisa Umminger

Lektorat: Marta Kubis, Vanessa Jäger

Satz: Leoni Triltsch

www.wreaders.de

ISBN: 978-3-96733-225-4

Meiner Familie gewidmet

Prolog

Das Erste, was ich wahrnahm, war der seltsame Geruch nach feuchtem Moos und fauliger Erde. Dann spürte ich die brennende Wärme in meinem Gesicht. Mit aller Kraft versuchte ich meine Augen zu öffnen, doch es fühlte sich an, als hätte jemand meine Wimpern aneinandergeklebt und irgendetwas Schweres auf meine Lider gelegt. Ich ergab mich dem Druck und ließ sie geschlossen, konzentrierte mich stattdessen auf den Schmerz, der meinen ganzen Körper beherrschte. Es brannte, pochte und stach in allen Gliedern zugleich.

Ich spürte, dass ich auf dem Rücken lag. Zwar hatte ich keine Ahnung wo oder warum, doch ich fühlte deutlich, dass unter meinem Oberkörper und meinen Oberschenkeln etwas Hartes lag, das sich in meinen Körper bohrte und den Schmerz noch zusätzlich verstärkte. Es kostete mich Kraft und Überwindung, doch nur so gelang es mir schließlich, wie in Zeitlupe meine Augen zu öffnen.

Das gleißend grelle Licht blendete mich. Reflexartig hielt ich die rechte Hand vor meine Augen, um sie vor der stechenden Helligkeit zu schützen. Ich setzte mich auf – langsam und vorsichtig, als könne mein schmerzender Körper bei der kleinsten Bewegung auseinanderbrechen – und musste zunächst ein paar Mal blinzeln, bevor die Bilder hinter meinen Pupillen endlich an Schärfe gewannen.

Ich befand mich mitten in einem Wald.

Um mich herum waren Bäume zu sehen, ein paar Büsche und jede Menge Blätter, die die Bäume bereits abgeworfen hatten.

Ich hievte mich auf meine Knie und drehte mich ein Stück weit um. Dadurch konnte ich auch erkennen, was sich in meinen Rücken gebohrt hatte: Es war das verknorpelte Wurzelgeflecht eines dicken, alten Baumes, auf dem ich vermutlich längere Zeit gelegen hatte. Aber warum bloß? Hatte ich hier etwa geschlafen?

Schlagartig wurde mir furchtbar schlecht. Die Bäume, die mich umgaben wie ein schützender Wall aus Stämmen und Blättern, begannen sich zu drehen, wie ein außer Kontrolle geratenes Karussell. Ich wankte ein wenig und tastete vergeblich mit meinen Händen nach Halt, bevor ich erneut zu Boden ging. Panisch versuchte ich, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen, den meine Lungen inzwischen nur noch stoßweise hervorpressten. Die Erkenntnis schlug in mein Gehirn ein wie ein viel zu greller Blitz: Ich hatte keine Ahnung, wer ich war.

Keuchend stützte ich meine Hände auf dem weichen Waldboden ab. Ich versuchte, gleichmäßig zu atmen und hoffte, dass sich dadurch auch mein Puls wieder normalisieren würde, dessen Frequenz in einem bedenklich hohen Bereich lag. Vorübergehend so hoch, dass ich befürchten musste, einen Herzinfarkt zu bekommen. Warum wusste ich das? Warum wusste ich, bei welcher Frequenz ein Herzschlag medizinisch bedenklich war, hatte aber keine Ahnung, was ich hier machte oder wer ich war?

Mit erschreckender Klarheit wurde mir bewusst, dass ich nicht einmal eine Ahnung hatte, wie mein Name lautete.

Instinktiv ging ich in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durch: Anna, Lisa, Marie, Sophia. Vielleicht etwas Längeres wie Elisabetha? Was war noch gleich der erste Name gewesen, der mir eingefallen war? Anna? Hieß ich Anna? Doch warum hatte ich dann überhaupt kein Gefühl für diesen Namen? Müsste ich nicht irgendetwas empfinden, wenn mir mein eigener Name wieder einfiel? Ein Zucken? Eine Art der Erkenntnis?

Nein. Da war nichts. Absolut gar nichts, das mir Aufschluss über meine Identität oder Situation hätte geben können. Warum war ich überhaupt hier im Wald? War ich joggen gewesen?

Schnell sah ich an mir hinunter. Es war regelrecht unheimlich, dass ich mich nicht einmal daran erinnern konnte, welche Kleidung ich am Körper trug. Mit einem seltsamen Gefühl senkte ich meinen Blick und nahm ein schwarzes Top und eine blaue Jeans wahr. Erstaunlicherweise war ich über diese Wahrnehmung weder erleichtert noch überrascht oder enttäuscht. Ich nahm sie lediglich zur Kenntnis, so wie man die Nachricht eines Mitbewohners zur Kenntnis nimmt, der auf der WG-Pinnwand notiert hat, dass die Margarine leer ist. Woher wusste ich, wie sich die Nachricht eines Mitbewohners las? Hatte ich einen? War ich Studentin?

Einen kurzen Moment lang ärgerte ich mich darüber, mein Gesicht nicht sehen zu können, während ich gleichzeitig begriff, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich aussah. Energisch tastete ich nach meinem Haar, das offenbar zu einem Pferdeschwanz gebunden war, zog wütend das Zopfband heraus und hielt mir eine schulterlange Strähne vor das Gesicht. Schwarz. Meine Haare waren schwarz. Wenigstens eine kleine Information. Doch sie löste nichts in mir aus. Keine Erkenntnis, keine Erinnerung, nicht den kleinsten Gedanken an irgendetwas.

Plötzlich spürte ich, wie heiße Tränen in mir aufstiegen. Tapfer schluckte ich gegen den dicken Kloß an, der mir die Kehle zuschnürte und mir erneut den Atem zu nehmen drohte, doch es gelang mir nicht, die Tränen zurückzuhalten. Unaufhörlich strömten sie meine Wangen hinunter und tropften auf den warmen, würzig duftenden Waldboden, wo sie lautlos aufschlugen und verschwanden. Ebenso, wie meine Erinnerung verschwunden war. Es war alles gelöscht. Einfach weg.

Eine Weile lang weinte ich vor mich hin und ließ zu, dass die Verzweiflung meinen Körper schüttelte. Tränen der Fassungslosigkeit brachen aus mir heraus und ich hatte nicht die Kraft, sie zurückzuhalten. Irgendwann schien ich keine Tränen mehr zu haben, denn sie versiegten allmählich.

Schließlich wischte ich mir mit den Handflächen über das Gesicht, um es von dem salzigen Nass zu trocknen und stellte überrascht fest, dass dieser Vorgang schwarze Schlieren auf meiner Haut hinterließ. Offenbar war ich geschminkt und hatte nun wahrscheinlich die gesamte Mascara quer über mein Gesicht verteilt. Na toll! Ich wusste, was Mascara war, konnte mich aber nicht an meinen eigenen Namen erinnern.

Frustriert wischte ich die Hände an meinem schwarzen Top ab. Schwarz auf Schwarz würde nicht besonders auffallen. Dann leckte ich die Kuppen meiner Zeigefinger ab und fuhr mir unter dem unteren Wimpernkranz entlang über die Haut, in der Hoffnung, eventuelle Farbspuren an dieser Stelle restlos abwischen zu können. Wer auch immer ich war, ich schien Wert auf mein Äußeres zu legen, dachte ich mit einem Hauch von Sarkasmus.

Erneut sah ich an mir herab, diesmal nicht, um herauszufinden, welche Art von Kleidung ich trug, sondern gewissermaßen, um den Schaden zu begutachten. Es sah nicht gut aus: Meine Jeans war an mehreren Stellen zerrissen und von Flecken übersäht, die vermutlich von einem größeren Sturz herrührten. Über meinem linken Knie war der Stoff gänzlich aufgerissen und ich konnte Blut erkennen, das an den ausgefransten Rändern bereits getrocknet war.

Wieder kämpfte ich mich auf die Füße. Ich war ziemlich wackelig auf den Beinen, doch es ging. Glücklicherweise schien ich mir nichts gebrochen zu haben. Ich atmete auf, als ich schließlich meine nackten Arme betrachtete und erleichtert feststellte, dass auch sie, außer ein paar hässlichen blutigen Kratzern, nicht viel abbekommen zu haben schienen.

Endlich war ich in der Lage, einen einigermaßen klaren Gedanken zu fassen: Ich befand mich in einem Wald. Irgendwie musste ich hierhergekommen sein. Und wenn ich hierhergekommen war, dann musste es auch möglich sein, wieder von hier wegzukommen. Ich musste lediglich einen Weg oder Pfad in diesem Wald finden, dann könnte dieser mich vielleicht zum nächsten Ort führen. Und dort würde es sicherlich eine Polizeistation, ein Krankenhaus oder zumindest eine Gaststätte geben. Bestimmt könnte mir dort jemand helfen. Vielleicht hatte ich sogar so großes Glück, dass mich jemand erkennen würde und mir direkt sagen könnte, wer ich war. So schwierig dürfte es schon nicht sein, meine Identität aufzuklären. Wer weiß, vielleicht würde meine Erinnerung ja sofort zurückkehren, sobald mich jemand anderes daran erinnerte, wer ich war. Ich hatte schon mehrere Filme gesehen, in denen jemand sein Gedächtnis verloren hatte. Meist gab es dann irgendeinen ganz banalen Auslöser, aufgrund dessen die betreffende Person ihr Gedächtnis wiedererlangte. Ich musste also nur meinen Auslöser finden. Warum wusste ich das? Das war doch alles völlig verrückt! Andererseits bedeutete es, dass noch irgendeine Art von Erinnerung vorhanden war und das war ja schon einmal tröstlich.

Hoffnungsvoll drehte ich mich einmal um die eigene Achse und versuchte auszumachen, aus welcher Richtung ich gekommen sein könnte. Augenblicklich wurde mir klar, was geschehen sein musste, als mein Blick auf einen steilen Abhang fiel, der hinter mir lag. Über diesen hinweg zog sich von oben nach unten eine deutliche Schleifspur bis genau zu der Stelle, wo ich stand und vor ein paar Minuten zu mir gekommen war. Dort, wo die Spur entlangführte, war teilweise die blanke braune Erde zu sehen. Man musste kein Meisterdetektiv sein, um zu kombinieren, was hier passiert war: Offensichtlich war ich den Abhang hinuntergestürzt und hatte mir im Fall derart den Kopf gestoßen, dass ich dabei mein Gedächtnis verloren hatte.

Mit prüfendem Blick schätzte ich meine Chancen ab, den Abhang wieder hinaufklettern zu können. Sie standen nicht besonders gut, denn er war wirklich sehr steil. Kein Wunder, dass ich meinen Sturz nicht unterwegs hatte abfangen können. Vermutlich verlief oberhalb des Abhangs ein Pfad, auf dem ich gegangen und dann plötzlich abgerutscht war. Doch wenn ich nicht riskieren wollte, erneut zu stürzen, würde ich einen anderen Weg finden müssen, um dorthin zurückzugelangen. Den steilen Abhang in meinem Zustand hinaufzuklettern, wäre viel zu gefährlich.

Forschend sah ich mich um, doch ich konnte auf den ersten Blick keine andere Möglichkeit erkennen, die mich zu dem vermeintlichen Pfad hätte zurückführen können. Dafür erregte etwas anderes plötzlich meine Aufmerksamkeit: Ein paar Meter neben dem Baum, auf dessen Wurzelgeflecht ich aufgewacht war, lag eine schwarze Sporttasche. Mein Herz machte einen Sprung. Ich erkannte sie zwar nicht wieder, aber da es sehr unwahrscheinlich war, dass eine Sporttasche einfach so im Wald herumlag, musste sie wohl mir gehören. Vielleicht war ich gerade auf dem Weg zu irgendeinem Training gewesen, als ich den Abhang hinuntergestürzt war. Tennis? Schwimmen oder vielleicht ins Ballett? Keine der Sportarten, die mir so spontan durch den Kopf gingen, rief auch nur die leiseste Erinnerung wach. Dennoch keimte in meinem Innersten eine spürbare Hoffnung auf. Wenn das tatsächlich meine Sporttasche war, dann befanden sich bestimmt auch ein paar persönliche Dinge darin: Ein Handy. Ein Geldbeutel. In diesem vielleicht sogar ein Ausweis.

Allein der Gedanke daran, dass ich gleich wissen könnte, wer ich war und vielleicht sogar meine gesamten Erinnerungen zurückbekommen würde, beschleunigte meinen Herzschlag rasant. Vor Aufregung überkam mich ein leichtes Schwindelgefühl, sodass ich mich regelrecht konzentrieren musste, um nicht gleich vor Freude durchzudrehen.

Euphorisch stürmte ich zu der schwarzen Tasche und öffnete mit vor Erregung zitternden Fingern den Reißverschluss. Beim Anblick des Inhalts sog ich geräuschvoll die Luft ein und starrte wie paralysiert auf die vielen Bündel vor mir. Ungläubig schüttelte ich den Kopf, als könnte ich damit das Bild, das sich meinen Augen bot, einfach aus der Realität schütteln, doch es änderte nicht das Geringste. Die Sporttasche war fast bis zum Rand vollgestopft mit Geldbündeln. Etwas weiter an der Seite lag ein dunkelrotes, fast bräunliches Tuch. Zunächst machte ich mir keine Gedanken über die Farbe, doch dann erkannte ich zu meinem Entsetzen, dass es sich bei der Färbung um Blut handeln musste.

Mit spitzen Fingern ergriff ich eine Ecke des Tuches, die vom Blut unbehelligt geblieben war, und zog mit Daumen und Zeigefinger daran. Das Tuch entfaltete sich, etwas fiel heraus und blieb zwischen den dicken Geldbündeln liegen.

Ich senkte den Kopf ein wenig, um den Gegenstand genauer betrachten zu können. Eine vollkommen überflüssige Bewegung, denn ich hatte ihn auf den ersten Blick erkannt: Ein Klappmesser mit spitzer Klinge, an der ebenfalls Blut klebte.

Schockiert schlug ich mir die Hände vor den Mund und erstickte damit einen Schrei des Entsetzens. Was hatte ich nur getan? Mit einem Schlag war die Hoffnung zerstört, dass diese Sporttasche meine Probleme lösen könnte, denn offensichtlich war genau jene das größte Problem, das ich hätte haben können.

Panisch wühlte ich mit beiden Händen durch die Masse der dicken Geldbündel, doch außer ihnen und dem blutigen Messer befand sich nichts darin. Kein Ausweis, kein Portemonnaie, nicht einmal eine Packung Kaugummis oder Taschentücher. Erst als mir schwindelig wurde, zwang ich mich dazu, gleichmäßig zu atmen.

Als ich mich schließlich wieder gefasst hatte, arbeitete mein Gehirn auf Hochtouren. Wenn ich nicht durchdrehen wollte, musste ich mich zusammenreißen, die Ruhe bewahren und möglichst logisch kombinieren: Was war das Geheimnis hinter dieser Sporttasche? Ich hatte ja wohl kaum mit einem läppischen Küchenmesser eine Bank überfallen, oder etwa doch? Gerne hätte ich mir eingeredet, dass das Geld aus einer Erbschaft stammte, aber dann hätte ich es doch nicht in einer Tasche durch den Wald geschleppt. Lotto vielleicht? Aber das Messer …

So sehr ich mir wünschte, dass es mit dieser Tasche eine harmlose Bewandtnis hätte, so sehr musste ich mir eingestehen, dass ich mit solchen Ideen lediglich versuchte, mich selbst zu belügen. Doch das brachte mich nicht weiter. Ich war erstaunt über mich selbst, darüber wie klar mein Verstand auf einmal zu arbeiten schien:

Da ich eine Tasche voller Geld und ein blutiges Messer mit mir herumschleppte, musste ich wohl oder übel davon ausgehen, dass ich keine von den Guten war. Entweder hatte ich tatsächlich eine Bank überfallen oder ich hatte eine Menge Lösegeld von irgendjemandem erpresst. Beide Fälle stellten ein massives Problem dar, denn beides war eine Straftat. Bestimmt wurde ich bereits polizeilich gesucht. Möglicherweise war ich sogar auf der Flucht vor der Fahndung in diesen Wald gerannt. Sehr wahrscheinlich sogar. Umso erstaunlicher, dass sie mich bis jetzt noch nicht gefunden hatten, denn es war nun doch schon eine ganze Weile her, seit ich wieder zu mir gekommen war. Wenn die Suchtrupps noch irgendwo in der Nähe gewesen wären, müssten sie mich längst entdeckt haben. Vielleicht war genau der Sturz, den ich bis eben noch innerlich verflucht hatte, meine Rettung gewesen. Vielleicht hatten meine Verfolger schlichtweg nicht mitbekommen, dass ich gestürzt war. Vielleicht waren sie einfach weiter dem Weg gefolgt, immer weiter fort von mir, die ich bereits ohnmächtig auf dem warmen Waldboden gelegen hatte.

Doch das waren einfach zu viele Vielleichts.

Wie ich es drehte und wendete, eines war sicher: Ich durfte von niemandem gesehen werden, wenn ich nicht auf schnellstem Wege im Knast landen wollte. Ich musste zusehen, dass ich von hier verschwand und irgendwo, möglichst weit weg von hier, erst einmal untertauchte. Zumindest so lange, bis ich meine Erinnerungen wiederfand. Mit diesem Gedanken war natürlich auch meine Idee, mich schnellstmöglich zur nächsten Ortschaft durchzuschlagen, gestorben. Stattdessen würde ich versuchen müssen, unerkannt von hier zu verschwinden. Ein Bahnhof! Ich musste unbedingt einen Bahnhof finden. Ein Zugticket konnte man sich ohne einen Pass beschaffen. Und Geld hatte ich schließlich genug.

Mein Plan stand fest. Allerdings würde ich mich vorher noch ein bisschen säubern müssen, denn in dieser Aufmachung, mit blutigen Armen und erdverkrusteter Hose, würde ich mit Sicherheit sofort auffallen. Zudem hatte ich noch immer keine Ahnung, wie schlimm es um mein Gesicht stand, von dem ich groteskerweise nicht die geringste Vorstellung hatte. Wenn es allerdings nur halb so zerschlissen war, wie meine Oberarme, dann hatte ich wirklich ein Problem.

In der Hoffnung, zunächst überhaupt aus diesem Wald herauszufinden, entschied ich mich, nicht den Abhang wieder hinaufzuklettern, sondern genau die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Natürlich war mir bewusst, dass diese Entscheidung auch ein enormes Risiko barg, denn schließlich hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie viele Kilometer sich der Wald in dieser Richtung wohl erstreckte. Möglicherweise würde ich mich tagelang durchschlagen müssen, bis ich irgendwo ankommen würde. Und das, obwohl ich keinerlei Ahnung hatte, wie ich mir hier Nahrung beschaffen, geschweige denn, mich nachts gegen wilde Tiere verteidigen sollte. Doch wenn ich eine reelle Chance haben wollte, dann musste ich es versuchen.

Auch ohne den blassesten Schimmer, wer ich sein könnte, war mir schnell klar, dass ich kein Mensch war, der sich oft im Wald aufhielt. Meine Schritte auf dem holprigen Untergrund fühlten sich unbeholfen an und immer wieder stolperte ich aus bloßer Unachtsamkeit. Dennoch verfiel ich bald in einen gleichmäßigen Trott. Die Sporttasche schien mit fortschreitender Strecke immer schwerer zu werden und ihre Träger schnitten unangenehm in meine Schultern. Ich versuchte, mich abzulenken, den Schmerz, der meinen Körper noch immer beherrschte, zu ignorieren, indem ich mich auf die Geräusche konzentrierte, mit denen der Wald meinen einsamen Gang begleitete: Vögel zwitscherten ihre fröhlichen Lieder. Blätter rauschten sanft im Wind und ab und zu knackte ein Ast unter meinem schweren Tritt. Ein verräterisches Rascheln zeigte immer wieder an, dass ein Tier sich hektisch im Gebüsch versteckte, ängstlich auf der Flucht vor dem unwillkommenen Eindringling.

Unwillkürlich musste ich an das blutige Messer in meiner Tasche denken. Angesichts dessen, was für ein schrecklicher Mensch ich offensichtlich zu sein schien, war es wohl besser, Angst vor mir zu haben. Was hatte ich nur getan? Und vor allem: Warum hatte ich es getan?

Innerlich hoffte ich, dass ich zumindest ein nachvollziehbares Motiv für meine Tat gehabt hatte. Das wäre leichter zu akzeptieren, als wenn ich schlichtweg aus purer Bosheit gehandelt hätte. Andererseits: Wie konnte ich das schon wissen? Vielleicht war ich wirklich ein abgrundtief böser Mensch. Und noch schlimmer: Vielleicht machte mir das überhaupt nichts aus? Allein beim Gedanken daran bekam ich eine Gänsehaut. So sehr ich mir meine Erinnerung zurückwünschte, so sehr begann ich sie zu fürchten. Doch die ewige Ungewissheit war ganz sicher keine annehmbare Alternative. Es führte kein Weg daran vorbei: Ich musste mich erinnern. Egal, wie lange es dauern würde oder wie brutal die Erkenntnis letzten Endes sein würde. Und schließlich zwang mich niemand dazu, böse zu sein. Hoffte ich zumindest. Wenn ich erst meine Erinnerung zurückhatte, stand es mir doch frei, mich zu ändern, und doch noch ein guter Mensch zu werden, oder?

Mit jedem Schritt, den ich vorwärtsging, kam ich auch einen Schritt mehr mit mir ins Reine. Ich spürte, wie neuer Mut in mir aufkeimte. Ich hatte ein Ziel und ich hatte eine Aufgabe. Ich würde herausfinden, wer ich war und schnellstmöglich in mein altes Leben zurückkehren. Doch zuvor würde ich mir eine neue Identität beschaffen. Eine Art Ersatzleben, das ich führen konnte, bis ich wieder in mein altes Dasein zurückgefunden hätte. Schritt für Schritt. Und dazu benötigte ich all meine Konzentration und Zuversicht.

Ein vertrautes Geräusch ließ mich innehalten. Es war ein leises Plätschern. Wie es schien, war der Zufall mir wohlgesonnen, denn das hörte sich eindeutig nach einem kleinen Bach, einem winzigen Wasserfall oder etwas Derartigem an.

So schnell ich konnte, ohne über meine eigenen Füße zu stolpern, änderte ich meinen Kurs und eilte dem plätschernden Geräusch entgegen. Ich hatte Glück. Bereits wenige Minuten später kniete ich am Ufer eines kleinen Baches und tauchte meine Hände tief in dessen kaltes, klares Wasser. So gut es ging, versuchte ich das schmerzhafte Brennen zu ignorieren, als ich zuerst meine Oberarme und anschließend mein Knie von Blut und Dreck säuberte. Dann formte ich meine Hände zu einer kleinen Schale und führte sie gierig zum Mund. Das kalte Wasser rann mir die staubtrockene Kehle hinunter und obwohl ich mir dessen bewusst war, dass es möglicherweise nicht besonders gesund war, hatte ich das Gefühl, noch nie etwas Köstlicheres in meinem Leben getrunken zu haben.

Nachdem mein Durst gestillt war, schöpfte ich mit meinen hohlen Händen erneut Wasser. Ich atmete tief ein, hielt die Luft an, in Erwartung eines brennenden Schmerzes, und schleuderte mir das eiskalte Nass ins Gesicht. Immer wieder tauchte ich die Hände in den Bach und rieb mit dem klaren Wasser mein Gesicht ab. Auf meinen Handflächen zeigte sich Dreck und auf meiner linken Wange sowie meiner Stirn spürte ich einen brennenden Schmerz. Dennoch rieb ich weiter, bis ich mir sicher war, dass mein Gesicht sauber wäre. Anschließend befühlte ich auf meiner rechten Wange einen tiefen Kratzer. Auf meiner Stirn konnte ich hingegen keine definierte Wunde ertasten, die das schmerzhafte Brennen erklären könnte. In der Hoffnung, vielleicht in meinem Spiegelbild etwas erkennen zu können, beugte ich mich über den klaren Bach, doch die Oberfläche war derart unruhig, dass ich außer meinen schwarzen Haaren nichts erkennen konnte.

Frustriert schlug ich mit der Handfläche ins Wasser, wodurch mein Gesicht in sich ausbreitende Ringe zerfiel. Dann stand ich wieder auf und zog meine Hose aus. Ich klopfte und schüttelte sie so lange, bis die größten Verschmutzungen entfernt waren. Leider ließen sich die blutigen Flecken nicht so einfach abklopfen. Wie stumme Zeugen meiner schrecklichen Tat hafteten sie an der Jeans, entschlossen mich zu begleiten, wohin auch immer ich gehen würde. Ich versuchte, diesen fürchterlichen Gedanken zu ignorieren, zog in Ermangelung sauberer Kleidung die Hose wieder an und machte mich weiter auf den Weg, den ich zuvor eingeschlagen hatte.

Eine Weile lang ging ich völlig gedankenlos voran, setzte einen Fuß vor den anderen und spürte nichts als eine wohltuende Leere. Doch dann riss mich plötzlich ein unerwartetes Geräusch aus meinen Gedanken, das ich zunächst nicht einordnen konnte, welches aber bereits im nächsten Moment ein enormes Glücksgefühl in mir auslöste. Es war eine Männerstimme, die durch einen Lautsprecher verfremdet irgendetwas ankündigte. Dann das schlichte Geräusch einer Trillerpfeife mit dem anschließenden Rattern eines abfahrenden Zuges. Am liebsten hätte ich Luftsprünge gemacht, doch die schwere Tasche lastete so drückend auf meinen Schultern, dass ich froh war, überhaupt noch meine Füße anheben zu können, um einen Schritt vor den anderen zu setzen. War das zu fassen? Wie viel Glück konnte ein Mensch denn bitte haben? Offensichtlich hatte mich meine spontane Flucht genau auf den richtigen Weg geführt. Oder erinnerte sich mein Unterbewusstsein etwa an diesen Bahnhof und hatte mich intuitiv in diese Richtung gehen lassen?

Ich stellte die schwarze Sporttasche neben mir auf den Boden und machte mit den Schultern kreisende Bewegungen, um sie nach der langen Qual wieder etwas zu entspannen, während ich nachdachte: Wenn ich tatsächlich eine Straftat verübt hatte, die größeren Ausmaßes war, und die Polizei nach mir suchte, dann würde sie das doch sicherlich auch am Bahnhof tun. Wie sollte ich also ungesehen von hier in einen Zug gelangen?

Nach kurzer Überlegung entschied ich mich dazu, bis zur Dunkelheit abzuwarten. Sicherlich würde es nachts einfacher sein, sich auf den Bahnhof zu schleichen. Erstens waren dann bestimmt weniger Menschen unterwegs und damit auch weniger Menschen, die mich erkennen könnten. Zweitens würde die Polizei ihre Suche bestimmt irgendwann einstellen, zumal nachts ja weniger Beamte arbeiteten als bei Tag. Und drittens waren nachts schließlich alle Katzen grau, wie ein altes Sprichwort besagte.

Innerlich wütend darüber, dass ich die Beamtenverteilung in verschiedenen Dienstschichten und alte Sprichwörter zu kennen schien, mich aber an meinen eigenen Namen noch immer nicht erinnern konnte, legte ich mich in das weiche Moos und lehnte meinen Oberkörper an die schwarze Sporttasche. Die Geldbündel darin drückten unangenehm von hinten in meine ohnehin schon schmerzenden Rippen, doch das war mir in diesem Moment egal. Denn jetzt, während ich in dem weichen Moos lag und seinen leicht modrigen Geruch einatmete, wurde mir erst bewusst, wie erschöpft ich eigentlich war.

Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und war sofort eingeschlafen.

Kinderheim Sankt Barbara

August 1999

»Oh, wie schade … Nein, so meinte ich das nicht, bitte verzeihen Sie, ich gratuliere Ihnen natürlich ganz herzlich … und Ihrem Mann selbstverständlich auch … Das ist ein Wunder … O ja, natürlich, das verstehen wir. Es ist nur sehr schade für die kleine Pia … Herzlichen Glückwunsch Ihnen und Ihrem Mann … Ja, natürlich … Wir wünschen Ihnen alles Gute … Empfehlen Sie uns gerne weiter … Vielen Dank … Ja, selbstverständlich … Auf Wiedersehen.«

Enttäuscht stellte Schwester Klara das Telefon zurück in die Ladestation. Dann ließ sie sich resigniert auf dem weichen Polsterstuhl nieder, der eigentlich der Oberschwester vorbehalten war, und nahm einen tiefen Schluck von ihrem Kaffee. Am Telefon so freundlich zu bleiben, hatte sie wirklich Kraft gekostet.

Wie sollte sie der kleinen Pia das nur erklären? Seit einem Jahr hatte diese sich nun darauf gefreut, bald in eine richtige Familie zu kommen. Eine richtige Mutter und einen echten Vater zu bekommen, so wie die Kinder in den Büchern, die Schwester Klara vor dem Schlafengehen immer vorlas.

Obwohl sie erst fünf Jahre alt war, hatte Pia längst verstanden, was es bedeutete, adoptiert zu werden. Zudem schien die Kleine sogar genau zu wissen, dass ihre Chancen auf eine Adoption sanken, je älter sie wurde. Wie sehr hatten sich da alle mit ihr gefreut, als die von Landsfelds erklärt hatten, es sei ihnen lieber, bereits ein größeres Kind zu adoptieren, da man bei einem solchen schon eindeutige Charakterzüge erkennen könne. Schwester Klara war ehrlich beeindruckt von dieser Ansicht gewesen, denn so hatte sie das noch gar nie betrachtet. Die meisten Menschen wollten – wenn überhaupt – dann nur ein Baby adoptieren. Je jünger, desto besser. Und so mussten die älteren Kinder immer wieder mit ansehen, wie Familien kamen und die kleinen Babys abholten, während sie selbst im Kinderheim zurückblieben, im steten Bewusstsein, dass ihre eigenen Chancen auf eine echte Familie mit jedem Tag, den sie älter wurden, weiter sanken. Auch die kleine Pia hatte, seit sie hier war, bereits viele Male hinter der Scheibe des großen Speisesaals gesessen und wehmütig den Familien hinterhergesehen, die stolz mit einem kleinen Baby davongefahren waren. Fort, in ihr neues Leben. Pia beneidete die kleinen Babys, obwohl sie ihnen die Familie gönnte. Wie gerne hätte sie mit einem von ihnen getauscht.

»Schwester Klara?!«

Der irritierte Ausruf der Oberschwester ließ Schwester Klara erschrocken zusammenfahren. Sofort stand sie auf und senkte schuldbewusst den Blick.

»Gibt es einen Grund dafür, dass Sie am helllichten Tag auf meinem Stuhl sitzen und Kaffee trinken?«

Die Oberschwester war eine sehr freundliche Frau. Auch jetzt wirkte ihre Frage keinesfalls erbost, sondern aufrichtig interessiert, obwohl beide anwesenden Damen genau wussten, dass Schwester Klaras Verhalten wirklich unerhört war.

»Verzeiht, Oberschwester, ich habe nicht nachgedacht. Ich war nur so enttäuscht.«

»Hat Ihre Enttäuschung eventuell etwas mit dem dringenden Anruf zu tun, den Sie eben erhalten haben? Brauchen Sie vielleicht Hilfe?«

»Nein, nein, vielen Dank.« Wie schon so oft war Schwester Klara tief beeindruckt von der klugen Sanftmut der Oberschwester und froh darüber, dass auch sie selbst damals ihre Stimme für Schwester Agneta abgegeben hatte.

»Leider war der Anruf tatsächlich sehr frustrierend«, erklärte sie dann. »Es war Frau von Landsfeld, die die Adoption unserer kleinen Pia abgesagt hat.«

»Was? Wieso das denn auf einmal? Ich dachte, es sei längst alles in trockenen Tüchern?« Das Entsetzen der Oberschwester war aufrichtig. Auch sie hatte sich wahnsinnig mit der kleinen Pia gefreut. Obwohl es nun bereits fünf Jahre her war, konnte sie sich noch an die Entdeckung des Mädchens erinnern, als sei es gestern gewesen. Als sie den Alarm gehört hatte, den die Babyklappe automatisch fünf Minuten nach deren Öffnen auslöste – genug Zeit, um zu verschwinden für eine Mutter, die anonym bleiben wollte – war sie sofort nach unten gestürmt, um das arme Würmchen aufzunehmen. Wie hatte sie gestaunt, als sie die Klappe geöffnet und den kleinen Engel vor sich liegen gesehen hatte, zufrieden mit seinen Fingerchen spielend in eine dicke, weiße Decke eingehüllt. Obwohl das Baby winzig war, wurde das Köpfchen von vielen blonden Löckchen umrahmt. Die großen blauen Kulleraugen schienen zu strahlen und als das kleine Wesen Schwester Agneta angesehen hatte, da hatte es sofort begonnen, glucksend zu lachen. Die Oberschwester war augenblicklich dahingeschmolzen beim Anblick dieses kleinen Engels.

Bei der Untersuchung durch den Arzt hatten sie erfahren, dass das Kind schon mehrere Wochen alt war. Dann hatten sie das kleine Mädchen feierlich auf den Namen Pia getauft.

Alle Schwestern waren sich sicher gewesen, dass es gewiss nicht lange dauern würde, bis jemand diesen zuckersüßen kleinen Engel adoptieren würde. Doch sie hatten sich geirrt. Die nächste Adoptionsanfrage war erst ein Jahr später gestellt worden und da hatte Pia bereits als Kleinkind gegolten. Auch dieses junge Paar hatte sich damals für ein Neugeborenes entschieden. So war Pia bei den Schwestern von Sankt Barbara geblieben und zu einem freundlichen, kleinen Mädchen herangewachsen, das die Schwestern wegen ihres niedlichen Aussehens liebevoll »unser Engelchen« oder »unser Püppchen« nannten.

Zur großen Freude der Nonnen sah Pia nicht nur hübsch aus, sondern auch ihr Verhalten war tadellos. Sie war so brav, dass die Schwestern keinerlei Mühe mit ihrer Erziehung hatten und obwohl sie sich eine Familie für Pia wünschten, wurden sie doch jedes Mal etwas wehmütig bei dem Gedanken, dass jemand ihren kleinen Goldschatz mitnehmen könnte. Als die von Landsfelds dann vor einem halben Jahr ihr Interesse an Pia verkündet hatten, waren alle Schwestern überglücklich gewesen. Die von Landsfelds waren eine sehr wohlhabende Unternehmerfamilie aus dem Ort. Mit Sicherheit würde es Pia bei ihnen an nichts fehlen. Ein halbes Jahr lang hatten die von Landsfelds Pia immer wieder besucht, um sie näher kennenzulernen, und natürlich waren sie begeistert gewesen von dem kleinen Mädchen mit den großen Augen und den tadellosen Manieren.

»Sie passt einfach perfekt in diese Familie«, hatte Schwester Klara der Oberschwester leise zugeraunt, als sie gemeinsam beobachtet hatten, wie Frau von Landsfeld und Pia sich gemeinsam ein Buch angeschaut hatten. Auch Pia hatte ihre zukünftigen Adoptiveltern schnell ins Herz geschlossen und obwohl sie Schwester Klara immer wieder versichert hatte, sie oft zu besuchen, wenn sie bei den von Landsfelds sei, hatte sie sich wahnsinnig darauf gefreut, endlich eine richtige Familie zu bekommen: Eine Mama und einen Papa. Und dazu sogar noch ein eigenes Kinderzimmer. Erst gestern hatte Schwester Klara die Adoptionsunterlagen fertiggestellt. Und nun dieser Anruf. Die von Landsfelds stoppten die Adoption. Sie entschieden sich einfach so gegen Pia. Nein, nicht einfach so, aus gutem Grund, aber dennoch war es furchtbar. Schwester Klara wollte sich gar nicht ausmalen, wie enttäuscht die kleine Pia sein würde.

Oberschwester Agneta ging schnell zu ihrer Ordensschwester hinüber und nahm sie fest in den Arm, als sie bemerkte, dass dieser die Tränen in die Augen traten.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie sanft.

»Sie ist schwanger«, antwortete Schwester Klara. »Offensichtlich hat sie heute Morgen einen Test gemacht. Der Arzt, den sie sofort aufgesucht haben, hat die Schwangerschaft bestätigt.« Dankbar nahm sie das Taschentuch, das ihr die Oberschwester entgegenstreckte, und schnäuzte sich geräuschvoll. »Und jetzt wollen sie unsere kleine Pia eben doch nicht mehr adoptieren. Sie brauchen sie ja nun nicht mehr.« Obwohl Schwester Klara wusste, dass es nicht ihren christlichen Werten entsprach, anderen Menschen einen solchen Groll entgegenzubringen, musste sie sehr mit sich kämpfen, um nicht vor Wut zu schreien. Auch die Oberschwester schüttelte ungläubig den Kopf und schlug sich mitfühlend eine Hand vor den Mund. Doch sie gewann schneller die Fassung wieder als ihre Ordensschwester.

»Jemand muss es Pia sagen«, stellte sie traurig fest.

Schwester Klara nickte stumm.

»Ich kann das gerne übernehmen«, bot die Oberschwester freundlich an.

Erneut nickte Schwester Klara. Sie war der Oberschwester wirklich dankbar, denn Pia eine so enttäuschende Nachricht zu überbringen, hätte ihr selbst das Herz gebrochen.

Eine halbe Stunde später gab Schwester Klara vor, das Spielzimmer etwas aufzuräumen. Dabei beobachtete sie verstohlen aus dem Augenwinkel, wie die Oberschwester der kleinen Pia die traurige Nachricht überbrachte. Die Nachricht, dass all ihre Hoffnung auf ein neues Leben, ihr großer Traum von einer eigenen Familie mit einem einzigen Telefonanruf in tausend Scherben zerbrochen war wie eine viel zu teure Vase, die jemand einfach so im Vorbeigehen herunterstieß.

Das kleine Mädchen hörte den Erklärungen von Schwester Agneta mit weit aufgerissenen Augen zu. Dann warf sie sich in deren geöffnete Arme und weinte an ihrer Schulter bittere Tränen der Enttäuschung. Immer und immer wieder strich die Oberschwester ihr beruhigend über die blonden Löckchen, doch auch diese liebevolle Berührung vermochte die Gefühle des kleinen Mädchens nicht wegzustreicheln. Fast eine Stunde lang blieben die beiden in ihrer eng umschlungenen Trauer. Dann wand sich Pia plötzlich aus der Umarmung, stellte sich aufrecht hin und sah die Oberschwester aus ihren großen Augen an.

»Wenn mich niemand haben will, dann muss ich eben alleine klarkommen«, sagte sie mit einer solchen Festigkeit in der Stimme, dass man sie für eine Erwachsene hätte halten können. Schwester Agneta öffnete den Mund, um etwas Tröstendes zu erwidern, doch da lief Pia bereits in die Puppenecke und spielte mit ihrer Lieblingspuppe.

Sprachlos blieb die Oberschwester zurück. Schwester Klara hingegen beobachtete ratlos, wie das kleine Mädchen ihrer Puppe liebevoll die Haare bürstete und beruhigend auf sie einredete. Irgendetwas an der Kleinen war anders. So anders, dass sie glaubte, den kleinen Engel kaum wiederzuerkennen, den sie noch vor wenigen Minuten im Spielzimmer angetroffen hatten. Wenige Minuten bevor Schwester Agnetas Nachricht das Leben des Kindes derart aus den Fugen gehoben hatte.

Die Gedanken von Kindern waren einfach ein unergründliches Rätsel.

Eine Frau

2019

Als ich wieder zu mir kam, brauchte ich einen Moment, um mich in der Situation zurechtzufinden, doch als ich den Druck der dicken Geldbündel in meinem Rücken spürte, erinnerte ich mich sofort daran, was geschehen war. Naja, zumindest seit ich vor ein paar Stunden in diesem Wald bereits schon einmal zu mir gekommen war. Das, was vor diesem Zeitpunkt geschehen war, verbarg mein Gedächtnis nach wie vor vehement in einem großen schwarzen Nichts. Trotzdem hielt ich einen Augenblick inne, um meinem Gehirn die Möglichkeit zu geben, sich an etwas zu erinnern, was vor meinem Sturz geschehen war. Meine Hoffnung blieb unerfüllt.

Seufzend stand ich auf und klopfte mir Erde, Moos und kleine Ästchen von der Jeans, die aufgrund meiner liegenden Position daran haften geblieben waren. Der Schlaf hatte gutgetan. Wider Erwarten fühlte ich mich ausgeruht und frisch, was eine sehr gute Ausgangsform für das Abenteuer war, das mir nun wahrscheinlich bevorstand.

Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Der perfekte Zeitpunkt, um von hier zu verschwinden. Leider hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie spät es war, doch das würde ich ja gleich am Bahnhof in Erfahrung bringen können. Eigentlich war es nicht einmal wichtig. Wichtig war allein die Frage, ob ich es schaffen würde, ungesehen von hier zu verschwinden. Nicht nur aus dem Wald, sondern vor allem von diesem Ort oder dieser Stadt oder wo auch immer ich eben gerade war.

Plötzlich durchzuckte mich der schockierende Gedanke, dass der Ort, in dem ich mich befand so klein sein könnte, dass nachts überhaupt keine Züge mehr von hier abfahren würden.

Schnell versuchte ich, diesen schrecklichen Gedanken zu verdrängen, schulterte die schwarze Sporttasche und machte mich auf den Weg.

Bereits nach wenigen Metern atmete ich auf, denn ich vernahm erneut die blecherne Stimme, die über den Lautsprecher die Abfahrt eines Zuges verkündete.

So schnell es mir möglich war, ohne zu stolpern, kämpfte ich mir meinen Weg durch das Gestrüpp, das hier am Waldrand noch einmal undurchdringlicher wurde. Ich hätte auch einen Weg außen um die dichten Büsche herum suchen können, doch der Gedanke, dass einer der Züge der letzte an diesem Tag sein könnte, trieb mich unaufhaltsam vorwärts. Schützend hielt ich mir die Hände vors Gesicht, um zu verhindern, dass die Zweige der Sträucher mich treffen und weitere hässliche Striemen hinterlassen konnten.

Endlich wurde das Gestrüpp lichter. Zu meinen Füßen schlängelte sich quer ein von Menschenhand angelegter Weg, der Spaziergängern die Möglichkeit bot, am Waldrand entlangzulaufen. Bestimmt wäre dies eine schöne Strecke, um zu joggen, fuhr es mir durch den Sinn und wieder fühlte ich diese kalte, innere Leere, weil ich nicht wusste, woher dieser Gedanke auf einmal kam. Doch anstatt mich in eine sinnlose Trauer über mein verlorenes Gedächtnis zu versenken, presste ich die Lippen fest aufeinander und drängte weiter vorwärts. Mein Ziel, der Bahnhof, war bereits in greifbarer Nähe. Die Stimme des Lautsprechermannes wurde immer lauter und schon konnte ich in einiger Entfernung sogar die weiß leuchtende Schrift auf den blauen Tafeln lesen, welche die Einfahrt des nächsten Zuges auf dem jeweiligen Gleis ankündigte. Ich erinnerte mich an diese Tafeln. An jedes noch so winzige, dämliche Detail. Daran, dass in der obersten Spalte Verspätungen angezeigt wurden, die über den Bildschirm wanderten. Darunter links die Zeitangabe, wie viele Minuten das Eintreffen des Zuges noch dauern würde und in der Mitte die Fahrtrichtung und der Ankunftsbahnhof in etwas größerer Schrift. Ich wusste auch, wie ein Schaffner aussah. Ich erinnerte mich an die roten Mützen, die metallenen Trillerpfeifen und daran, wie Schaffner winkend dem Lokführer ein Signal gaben, dass die Türen geschlossen werden konnten. Ich erinnerte mich daran, dass Gleise wie gebogene Leitern aus Metall über den Boden dahinflossen und an das steinige Gleisbett. Ich erinnerte mich an den Duft des Kaffees und der frischen Brötchen, die morgens am Bahnhof verkauft wurden, ebenso wie an den Duft von frisch gedruckten Zeitungen. Allein daran, wer ich war oder woher ich dieses Wissen hatte, erinnerte ich mich nicht. Nicht im Geringsten. Es war zum Verrücktwerden.

Der Frust über dieses Eingeständnis ließ mich noch schneller laufen, meine Schritte noch fester in den Boden treten. Längst hatte ich den Wald hinter mir gelassen. Doch auch der Anblick der Straßen und der wenigen Autos, die diese noch befuhren, löste in mir keinerlei Erkenntnis aus.

Nachdem ich dem unnachgiebigen Drang gefolgt war, auf das grüne Zeichen der Ampel zu warten, überquerte ich eine Straße und da lag er vor mir: ein kleiner Bahnhof. Er sah genauso aus, wie ich ihn vor meinem inneren Auge gesehen hatte. Ich war definitiv schon einmal hier gewesen.

Schnell lief ich zu den metallenen Tafeln, wo hinter großen Plexiglasscheiben die An- und Abfahrtszeiten aller Züge auf riesigen gelben Plakaten abgedruckt waren.

Wilms. So hieß also der Ort, in dem ich mich befand. Der Name löste keinerlei emotionale Reaktion aus. Ein Blick auf die große Uhr im Wartebereich verriet mir, dass es erst halb zehn Uhr abends war. Schnell drehte ich mich zu den langen gelben Plakaten um und überflog die Abfahrtszeiten. Mir war klar, dass ich jetzt keinen Fehler machen durfte, wenn ich nicht gleich zu Beginn meiner Flucht geschnappt werden wollte. Konzentriert überprüfte ich genauestens alle Details der einzelnen Fahrten. Vermutlich wäre es am einfachsten, einen ICE zu wählen, um möglichst schnell möglichst weit wegzukommen. Doch ich befürchtete, dass die Polizei, die eventuell noch immer nach mir fahndete, genau davon ausgehen würde, und entschied mich schließlich für einen ICE, der mit nur wenigen Zwischenhalten innerhalb von fünf Stunden in einem Ort namens Kanningen ankommen würde. Auch diesen Namen hatte ich noch nie in meinem Leben gehört und in diesem Moment hätte ich wirklich viel darum gegeben, ein Handy zu besitzen, mit dem ich einfach kurz hätte nachforschen können. Ich erstarrte. Vor meinem inneren Auge konnte ich es ganz deutlich sehen: Ein weißes iPhone mit einem grünen Schmetterling auf der Rückseite des Schutzumschlags. Ich spürte die Gänsehaut auf meinen Armen, während diese Erinnerung so klar vor mir stand, als hielte ich mein Handy gerade jetzt in den Händen.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Der Klang der fremden Stimme riss mich unsanft aus meiner Erstarrung und mein Blick fand zurück in die Gegenwart, wo er auf eine junge Frau fiel, die mich besorgt ansah.

»Geht es Ihnen gut? Sie sind auf einmal so blass geworden. Möchten Sie sich vielleicht einen Moment hinsetzen?«

Obwohl die Frau es nur gut meinte, war ich wütend auf sie. Vielleicht war die Erinnerung an mein Handy nur der Anfang einer Reihe von Erinnerungen gewesen, die ich wiedererlangt hätte, wenn sie sich nicht eingemischt hätte. Stattdessen fand ich mich nun ihrem mitleidigen Blick ausgesetzt und sah mich zu allem Überfluss auch noch dazu gedrängt, mich zu rechtfertigen.

»Nein, alles in Ordnung. Ich habe nur zu lange nichts gegessen, deshalb ist mir ein bisschen schlecht«, antwortete ich so freundlich wie möglich, obwohl es mir wirklich schwerfiel, die unterschwellige Aggression in meiner Stimme zu unterdrücken. Dies bemerkte wohl auch die überfürsorgliche Dame, denn sie nickte nur verständnisvoll und zog sich dann auf eine der Wartebänke zurück.

Na toll. Mein Plan, nicht aufzufallen, schien ja hervorragend zu funktionieren, wenn mich direkt innerhalb der ersten Minuten ein völlig fremder Mensch darauf ansprach, ob etwas mit mir nicht stimmte.

In einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit, beschloss ich, mir erst einmal das Ticket für den Zug nach Kanningen zu kaufen. Allerdings würde ich dieses am Automaten bezahlen müssen und vielleicht war es keine so gute Idee, vor den Augen der anderen Wartenden eine Sporttasche zu öffnen, in der sich außer unzähligen Geldbündeln auch noch ein blutiges Messer befand. Mit einem schnellen Blick musterte ich meine Umgebung. Obwohl der Bahnhof recht klein war, was darauf schließen ließ, dass es sich bei Wilms wohl eher um einen kleineren Ort als um eine Großstadt handeln musste, war er noch relativ gut besucht. Trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit hatte der Bäcker noch geöffnet und offenbar mehr als genug Laufkundschaft, denn vor seinem Tresen hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Erst jetzt fiel mir auf, dass die gesamte Bahnhofshalle eigenartig nach frischem Kaffee duftete. Ein Geruch, den ich unter anderen Umständen vielleicht sogar gemocht hätte, doch in dieser penetranten Dominanz rief er fast einen Würgereiz in mir hervor, weshalb ich mich plötzlich nach frischer Luft sehnte. Hastig überprüfte ich ein letztes Mal die auf dem Plan angegebene Abfahrtszeit des von mir ausgewählten Zuges und eilte dann durch die schwere Tür hinaus auf den Vorplatz, über den ich zuvor hereingekommen war.

Bei meiner Ankunft hatte ich gesehen, dass ein Stück weiter links vom Eingang lange Fahrradständer aufgestellt waren, die sich weitläufig bis zu einer Böschung erstreckten. Schnell lief ich ganz nach hinten. Dort angekommen drehte ich mich noch einmal um und betrachtete mein Umfeld. Von dieser Position aus konnte ich die lange Reihe der Fahrräder sehr gut überblicken. Ein paar vereinzelte Drahtesel standen noch da und ganz vorne befreite ein junger Mann gerade sein Mountainbike von einem Zahlenschloss, doch entweder hatte er mich gar nicht bemerkt oder meine Anwesenheit war ihm einfach herzlich egal. Jedenfalls würdigte er mich keines Blickes.

Mit klopfendem Herzen setzte ich die Tasche ab, beugte mich über sie und holte eines der Geldbündel heraus.

Meine Finger zitterten, während ich das dünne Paketband, in das es eingeschnürt war, löste und dann schnell ein paar der Scheine lose in den Taschen meiner Jeans verschwinden ließ. Das blutige Messer lag wie eine stumme Mahnung obenauf. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich es nicht einfach in die Böschung schleudern sollte, doch dann machte mir der Gedanke daran, dass es jemand finden und mich anhand meiner Fingerabdrücke eines Mordes überführen könnte, zu große Angst. Statt es an dieser Stelle ein für alle Mal loszuwerden, griff ich nach dem Tuch, das noch immer daneben lag. Zwar war das Blut inzwischen getrocknet, trotzdem fiel es mir schwer, das Messer hineinzuwickeln und tiefer nach unten in die Tasche zu stopfen. Als ich den Reißverschluss endlich wieder zu zog, verspürte ich Erleichterung darüber, dass mein Handeln bis zu diesem Zeitpunkt unentdeckt geblieben war. Ich konzentrierte mich darauf, ruhig durchzuatmen und wischte schnell die kleinen Schweißperlen weg, die sich unbemerkt auf meiner Stirn gebildet hatten. Dann erst fiel mir auf, dass ich keine Ahnung hatte, wie viele Minuten während dieser Aktion vergangen waren. Ich hatte mich so sehr auf das fokussiert, was ich da tat, dass ich jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Hoffentlich hatte ich den Zug nicht inzwischen verpasst.