Christina Wagner, geb. Zieger, Amberg, verfasst als Mitglied einer Schreibwerkstatt seit vielen Jahren hauptsächlich Kurzgeschichten. Besonders liegen ihr Geschichten für Senioren am Herzen, die zu anregenden Gesprächen zwischen Jung und Alt führen.

Andreas Ascherl, Amberg, ist Journalist und schreibt auch gerne Geschichten, die zum Nachdenken anregen und alte und junge Menschen gleichermaßen begeistern.

Von Christina Wagner, vorm. Zieger, ebenfalls im Ernst Reinhardt Verlag erschienen: Helga Blum, Christina Zieger: „Und immer wieder lockt das Leben. Kurze Geschichten für Senioren zum Lesen und Vorlesen“ (ISBN 978-3-497-02581-7, 2. Aufl. 2017).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02710-1 (Print)

ISBN 978-3-497-60419-7 (PDF)

ISBN 978-3-497-60970-3 (EPUB)

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

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Satz: Sabine Ufer, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Karl Valentin

Mit Pauken und Trompeten

Du klingst in meinem Herzen!

Eins zu Null fürs Leben

Der Geburtshelfer

Der Blitz

Petticoat

Ein Lächeln geht auf Reise

Gut behütet

Kartoffelkäfer

Das Glücksmädel

Glückauf!

Pizza für Laura

Vorfahrt für Irene

Karl Valentin

Denke ich an meine erste Liebe, dann erinnere ich mich gleichzeitig an den Herbst 1944. Damals war ich 12 Jahre alt und musste mit meiner Mutter und den Großeltern aus Bajmok (Deutsch: Nagelsdorf), Kreis Subotica fliehen. Mein Vater war leider im Krieg gefallen. Ich war eine sehr gute Schülerin, sprach Serbisch, Ungarisch und Deutsch, konnte in Ungarisch und Deutsch auch lesen und schreiben. Im kommenden Schuljahr in der alten Heimat wollte ich an die Oberschule gehen, die mich nach einer erfolgreichen Aufnahmeprüfung angenommen hatte. Mein Traumberuf war Lehrerin, und mit dieser Prüfung war ich ihm ein Stück näher gekommen. Als dann überraschend unsere Flucht begann, hatte ich keine Vorstellung davon, was das für mich und meine Zukunftsträume bedeuten könnte. Als einziges Kind von zwei berufstätigen Eltern, mit einer Wäschefrau für den Haushalt und einem Knecht für unsere Pferde, die Kuh, das Schwein, die Tauben und das Geflügel, fehlte es mir bis dahin an nichts, und ich führte ein glückliches und sehr behütetes Leben.

Bis der Krieg bei uns einzog. Die Situation spannte sich immer mehr an und über Nacht, so erschien es mir wenigstens, mussten wir fliehen. Mit gerade einmal 12 Jahren musste ich meine geliebte Heimat verlassen. Ich erinnere mich noch, dass jedem Familienmitglied ein Koffer zustand, der mit persönlichen Dokumenten, Wäsche und anderen Habseligkeiten vollgestopft wurde. Auf dem eilends zusammengenagelten Planwagen machten wir noch Platz für eine der Nachbarfamilien, die keine eigene Reisemöglichkeit hatte. Gemeinsam begaben wir uns auf eine lange, beschwerliche Reise. Acht Wochen lang fuhren wir über Ungarn, Österreich und die Tschechoslowakei nach Schlesien, im heutigen Polen. Dort sollten wir sicher sein, so hofften wir. In Gottesberg wurden wir dann auch freundlich aufgenommen, anfangs in einem Flüchtlingslager mit dutzenden von Hochbetten, wo wir auch endlich wieder drei geregelte Mahlzeiten am Tag bekamen. Nach einigen Wochen entspannte sich die Wohnsituation weiter, meine Mutter und ich wurden bei einer älteren Dame privat untergebracht. Doch der Krieg holte uns noch einmal ein, und gemeinsam mit den Schlesiern, die uns aufgenommen hatten, wurden wir in Züge verladen und in Richtung Deutschland transportiert. Nun begann eine gefährliche Fahrt. Immer wieder unterbrochen von Fliegeralarmen und dem angeordneten Nachtfahrverbot, fuhren wir einem unbekannten Ziel entgegen. In die Heimat meiner Vorfahren. Zehn Tage lang teilten wir uns mit 34 anderen Flüchtlingen ein Abteil, und außer zwei gegenüberliegenden Holzbänken fand kein Mobiliar im Wagen Platz. Selbst wenn man sehr eng zusammenrückte, waren lediglich 14 Sitzplätze vorhanden, und so mussten viele der Reisenden abwechselnd stehen oder auf ihren Koffern sitzen. Den älteren Flüchtlingen gewährte man längere Zeit auf den Bänken, ansonsten wurde im Zweistundentakt durchgewechselt. Nachts schliefen wir auf dem Boden, mit unserem Koffer in der Hand, zusammengepfercht auf engstem Raum. Männer gab es wenig, vier alte Herren und einen Jungen, der ungefähr so alt war wie ich und daher noch nicht zur Wehrmacht eingezogen worden war. Er hatte blondes, struppiges Haar, ein langes ovales Gesicht und eine markante Nase. Mit seinen langen, dünnen Beinen bewegte er sich wie auf Stelzen, soweit das unter diesen beengten Umständen überhaupt möglich war. Seine Augen waren ständig in Bewegung, und sein Mund schien mich permanent zu verspotten. Wenn ich anfing Trübsal zu blasen, brachte er mich mit seinen Grimassen zum Lächeln. Er machte es sich zur Aufgabe, immer auf der Holzbank genau mir gegenüber Platz zu nehmen. Dafür ließ er sogar anderen den Vortritt, wenn es auf meiner Seite einmal länger dauerte. Ich hatte das wunderbare Gefühl, dass inmitten dieser schrecklichen Fahrt, dieser Junge mit seinen lebhaften Blicken Geschichten zu mir herüberwarf und unsere Gedanken ineinander verwoben waren. Ohne ein einziges Wort unterhielt er mich, und seine Anwesenheit gab mir das Gefühl, dass diese Reise nicht real war, ein Traum, nicht mein wirkliches Leben. Und dieses Gefühl ließ mich Tag für Tag überstehen, ohne dass mich die große, dunkle Angst in meinem Kopf überrollen konnte.

Nach unendlich langen 10 Tagen wurden wir ausgeladen und am Bahnhof von mehreren Ochsengespannen abgeholt. Noch nie im Leben hatte ich davor gesehen, dass jemand mit Ochsen ein Fuhrwerk zog. Wir wurden in ein Wirtshaus gebracht und mit ungefähr 70 Personen auf dem ehemaligen Tanzboden untergebracht. Mein junger Begleiter, den ich heimlich Valentin nannte, weil ich im Deutschunterricht einmal von einem Komödianten mit Namen Karl Valentin gehört hatte, der ihm wohl sehr ähnlich sah, wurde nach ein paar Stunden von uns getrennt und als Stallbursche untergebracht. Zu dieser Zeit waren Männer Mangelware, und auch Buben wurden für schwere Arbeiten herangezogen. Als er sein Hab und Gut zusammengepackt hatte, kam er zu mir an meine Pritsche, auf der ich noch immer benommen von der Reise saß, und gab mir zum Abschied die Hand.

Er sah mich lange an, bevor er das erste Wort zu mir sagte: „Du bist das schönste Mädchen, das ich je in meinem Leben gesehen habe, und wenn ich erwachsen bin, werde ich dich heiraten.“

Ich wurde rot wie eine überreife Tomate, und alle um mich herum begannen zu lachen.

Mein Großvater aber gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und schickte ihn weiter: „Geh, und mach deine Arbeit, mein Junge, du bist ja noch grün hinter den Ohren.“

Meine Großmutter, die wohl viel praktischer dachte, rief ihm hinterher: „Schau, dass du erst mal was Gescheites lernst, Junge. Aus dir kann mal was werden.“

Danach verloren wir uns aus den Augen und mit den weiterwandernden Jahren auch aus dem Sinn.

Entgegen meiner ursprünglichen Pläne konnte ich im zerstörten Nachkriegsdeutschland keinen höheren Schulabschluss machen. Doch da ich mich sehr geschickt anstellte, schenkte mir die Bäuerin, bei der ich mich vorübergehend als Erntehelferin verdingte, eine alte Nähmaschine. Mit dieser Maschine als Kapital begann ich das Handwerk der Schneiderin zu erlernen. Ich spezialisierte mich auf Weißwaren, wichtig für die Aussteuer der jungen Mädchen damals. Außerdem bekam ich alte Bettwäsche, Tücher, getragene Kleider und Mäntel als Bezahlung für Blaubeeren, Preiselbeeren und Holler, welche ich sammelte und bei den umliegenden Bäuerinnen dafür eintauschte. Schon bald eilte mir ein exzellenter Ruf voraus, und ich konnte vom Verkauf der selbstgefertigten Dirndlkleider, Kinderkleidung und Hemden sowie der Aussteuer leben. Nach und nach kamen auch vornehme Herrschaften zu mir und ließen aus teuren Stoffen moderne Kleidung nach den neuesten Schnitten anfertigen. Meine Mutter und meine Großmutter halfen mir beim Zuschneiden und den Heftarbeiten sowie beim Bügeln und Verpacken. Wir Frauen, drei Generationen vereint, waren bald ein erfolgreiches kleines Familienunternehmen.

Trotzdem war Schmalhans oft Küchenmeister bei uns daheim. Alles Geld, das wir erwirtschafteten, steckten wir in die Einrichtung der Schneiderei oder sparten mit dem Ziel, später wieder ein eigenes Haus zu kaufen. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt erst 21 Jahre alt war, war ich das, was man heute als Karrierefrau bezeichnen würde. Als Preis dafür setzte ich keinen Fuß auf einen Tanzboden, geschweige denn, dass ich meine kostbare Zeit in einem Kino verschwendete. Bis zu dem Tag, der mein ganzes Leben ändern sollte.

Draußen wütete ein Schneesturm und wirbelte die bauschigen Schneeflocken in den Kellerschacht vor das verschlossene Fenster, an dem die ersten Eisblumen blühten. In meiner Nähstube, welche im Untergeschoß des von uns angemieteten Reihenhauses untergebracht war, bollerte ein Kohleofen, der dem Raum behagliche Wärme spendete. Wie immer am Vormittag kümmerten sich meine Mutter und meine Großmutter um den Haushalt und das Mittagessen. Diese ruhigen Morgenstunden nutzte ich gerne, um mich mit besonders wichtigen oder auch schwierigen Kleidungsstücken zu beschäftigen, denn ich brauchte dafür meine volle Konzentration. Meine Stammkunden wussten das und suchten mich normalerweise erst nach dem Mittagessen auf. Ich säumte gerade den Rock eines Hochzeitskleides, und meine neumodische Nähmaschine ratterte gleichmäßig vor sich hin, als jemand ins Zimmer trat. Da ich davon ausging, dass es jemand von meiner Familie war, vollendete ich erst gewissenhaft die begonnene Naht, bevor ich mich umdrehte, um zu fragen, was es denn gebe. Überrascht sah ich in die lebhaften blauen Augen eines fesch gekleideten, jungen Mannes. In seinem widerspenstigen Haarschopf hatten sich vorwitzige Schneeflocken verfangen, die begannen sich in Wasser aufzulösen und auf sein Gesicht zu tropfen. Er machte eine sehr wichtige Miene, und mit den Schneetränen im Gesicht sah das überaus komisch aus. Ich verbiss mir das Lachen und schaute ihn fragend an.

Wie um mir auf die unausgesprochene Frage Antwort zu geben, holte er hinter seinem Rücken einen riesengroßen Strauß roter Rosen hervor. Er überreichte sie mir, zog einen freien Stuhl zu sich heran und stellte ihn direkt gegenüber von mir auf. Nachdem er darauf Platz genommen hatte, fixierte er mich mit seinem Blick und fragte: „Erkennst du mich denn nicht wieder?“.

Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Ja der Karl, Karl Valentin“. Schon schämte ich mich für meine Worte. Diesen Namen hatte ich ihm ja damals, auf der Flucht, heimlich gegeben und mir seinen richtigen Namen gar nicht gemerkt.

Er lachte: „Nein, Therese, Karl Valentin bin ich nicht. Du aber bist für mich immer noch das schönste Mädchen, das ich je in meinem Leben gesehen habe.“ Er stand auf, nahm mich in die Arme und küsste mich leidenschaftlich. Und obwohl ich mich einerseits maßlos überrumpelt fühlte, schwebte ich doch auf einen Schlag im siebten Himmel.

Ab diesem Tag haben wir uns, wann immer es möglich war, getroffen. Wir sind gemeinsam zum Tanzen oder ins Kino gegangen, und wenn wir beide zu müde dafür waren, haben wir einfach mit meiner Familie gegessen, sind anschließend in der guten Stube beieinander gesessen und haben uns verliebt an den Händen gehalten. Martin, so hieß er mit richtigem Namen, hatte auf den Rat meiner Großmutter gehört, wie er mir später erzählte, und eine ordentliche Ausbildung gemacht. Dadurch hatte er eine Festanstellung bei Siemens in Nürnberg bekommen, wohin ich bereits ein halbes Jahr später mit meiner Familie umzog – als seine Ehefrau und als Inhaberin eines kleinen Schneiderateliers, das in dem Haus am Stadtrand untergebracht war, das wir uns gemeinsam kauften.

Heute sind mein Mann und ich immer noch glücklich miteinander. Wir erfreuen uns beide guter Gesundheit und sind dankbar, dass wir uns in den Wirren des Krieges kennengelernt haben. In einigen Monaten erwarten wir unseren ersten Urenkel, und der soll den gleichen Namen tragen wie sein Großvater, der unser Erstgeborener war, Valentin.

Mit Pauken und Trompeten

Meine Liebesgeschichte beginnt mitten im Leben.

Wo sie eigentlich nicht hingehört hätte. Zu meiner Zeit vor allem nicht.