Sonntag 06:04 Uhr
Es ist zu früh, als dass ich mit meinem riesigen Koffer wirklich jemanden belästige, außer mir sind nur wenige um diese Uhrzeit an einem Sonntag unterwegs. Trotzdem steht der Koffer im Weg und ich rolle ihn umständlich zwischen meine Beine, lächele dem Mann mir gegenüber zu und verfluche mich dafür, nicht Viktors Angebot des zweiten Kaffees angenommen zu haben. Mit etwas Glück habe ich gestern zwei Stunden geschlafen, weil Viktor eine genaue Wiedergabe meiner Fahrt durch die Nacht hören wollte und ich sie ihm nur deswegen erzählt habe, um sie noch einmal zu erleben.
Jetzt kommt es mir allerdings so vor, als hätte ich ihm ein Geheimnis verraten, das ich eigentlich für mich behalten wollte. Ein Blick auf mein Handy lässt mich wissen, dass keine weitere Nachricht eingegangen ist. Nur die Info, dass meine Eltern an mich denken und mein Flieger pünktlich sein wird, zumindest ist das der aktuelle Stand.
Von Lara keine Spur.
Zugegeben, ich hatte gehofft, sie würde mir gestern Nacht noch schreiben. Oder heute Morgen. Es ist zu früh, ich weiß, aber je länger sie sich nicht meldet, desto mehr zweifele ich daran, dass das gestern wirklich alles passiert ist.
»Nächster Halt Schwabstraße, Ausstieg in Fahrtrichtung links.«
Die S-Bahn wird langsamer, wir fahren in die gelbe Haltestelle und ich muss daran denken, wie der Jeanstyp uns hier noch mal einen Abschiedsmittelfinger mit auf den Weg gegeben hat. Sofort muss ich lächeln und lehne mich etwas weiter in meinen Sitz. Heute Abend werde ich schon in Venezuela sein und wenn Lara sich bis dahin nicht gemeldet hat, werde ich es eben tun. Ihr ein Foto von meiner Unterkunft schicken oder so was.
»Entschuldigung …«
Eine Frau tippt mir auf die Schulter und ich sehe überrascht auf.
»Ben? Bist du das? Mensch, das ist ja eine Ewigkeit her.«
Sie trägt das gleiche Outfit wie gestern, die Lederjacke, die Boots, sogar die Tasche. Neu sind die zwei Kaffeebecher in ihrer Hand. Mein Lächeln sprengt fast mein Gesicht, als ich versuche, das alles zu verarbeiten.
»Ich bin es, Marie! Erinnerst du dich? Wir waren zusammen in Barcelona!«
»Natürlich erinnere ich mich!«
Trotz des riesigen Koffers zwischen meinen Beinen, rutsche ich einen Sitz weiter und Lara nimmt neben mir Platz, reicht mir einen der Pappbecher und grinst mich glücklich an.
»Dass ich dich hier treffe, das muss Schicksal sein.«
»Schicksal, ja?«
Ich möchte sie so gerne noch mal küssen.
»Schicksal, dem man ein bisschen unter die Arme gegriffen hat. Dein Kaffee ist übrigens mit Hafermilch, hoffe, das ist okay.«
Sie hat sich tatsächlich gemerkt, dass ich Veganer bin. Und wann ich am Flughafen sein muss. Und noch so vieles mehr.
»Hafermilch ist perfekt.«
»Auf die Hafermilch.«
»Auf das Schicksal.«
Dabei prostet sie mir mit ihrem Kaffeebecher zu und lehnt ihren Kopf an meine Schulter, so wie sie es letzte Nacht getan hat.
Stuttgart, du verrücktes Ding. Versteckst diese Frau jahrelang vor mir, spuckst sie erst aus, als ich auf dem Absprung bin und sorgst jetzt dafür, dass ich zu dir – und ihr – zurückkomme. Wie viele solcher Liebesgeschichten hast du dir wohl schon ausgedacht?
Ich lege den Arm um Lara und lasse mich gemeinsam mit ihr diesmal von der S3 in die Zukunft chauffieren.
Wie auch immer diese aussehen mag.
Alle Haupt- und Nebenfiguren sowie die Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten oder Namensgleichheiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Dieser Titel ist ausschließlich als E-Book erschienen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 Adriana Popescu
c/o Literarische Agentur Michael Gaeb
Chodowieckistraße 26,
10405 Berlin
Kontakt: adriana@adriana-popescu.de
Umschlaggestaltung & Satz: Grace Gibson Grafkdesign
Lektorat & Korrektorat: Kerstin Thieme https://korrektorat-thieme.de
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 9783750413917
Adriana Popescu, 1980 in München geboren, arbeitete als Drehbuchautorin für das Deutsche Fernsehen, bevor sie als freie Redakteurin für verschiedene Zeitschriften und schließlich als Autorin für mehrere renommierte Buchverlage Romane schrieb. Sie lebt mit großer Begeisterung in Stuttgart.
Mehr Infos unter: http://adriana-popescu.de/
Für die Menschen, die in der U-Bahn schon mal eine Chance verpasst haben.
Stay on the train. The scenery will change.
David Duchovny
»Achtung! S-1 nach Kirchheim Teck fährt ein …«
Außer mir ist niemand mehr am Bahnsteig, als die erlösende Ansage kommt und ich mich von der Bank, auf der ich die letzten zwanzig Minuten die Müdigkeit und den sich anschleichenden Schlaf bekämpft habe, erhebe. Mein Rucksack ist deutlich leichter als das Gepäck, das zu Hause bereits auf mich wartet, und ich ziehe ihn über meine linke Schulter, als die rote S-Bahn mit einigen Graffiti am Waggon vor mir zum Stehen kommt. Für gewöhnlich entscheide ich mich für einen in der Mitte, aber diesmal nehme ich den ersten, damit ich es nachher nicht so weit zu den Rolltreppen habe. Wie um diese Uhrzeit zu erwarten, ist die Bahn so gut wie leer. Es ist Samstag, da sind die meisten Menschen um viertel vor eins erst auf dem Weg zur nächsten Party oder in einen neuen Club, wo man bis zur Morgenröte zu wummernden Beats tanzen kann.