Prof. Dr. Klaus Sarimski, Dipl.-Psych. lehrt sonderpädagogische Frühförderung und allgemeine Elementarpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg mit den Arbeitsschwerpunkten: Fragen der sozialen Teilhabe und Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten von Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen.

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ISBN 978-3-497-02691-3 (Print)

ISBN 978-3-497-60407-4 (PDF)

ISBN 978-3-497-60454-8 (EPUB)

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Inhalt

1      Grundlagen und Arbeitsprinzipien der Frühförderung

1.1    Geschichte, Organisation und Versorgungsstrukturen

1.1.1 Entstehung des „Hilfesystems Frühförderung“

1.1.2 Medizinisch-therapeutische und pädagogische Leistungsangebote

1.1.3 Herausforderungen für die Praxis

1.1.4 Frühförderung als Komplexleistung

1.1.5 Rahmenbedingungen und Leistungsstrukturen der allgemeinen Frühförderung

1.1.6 Frühfördersystem im Wandel – die Diskussion über die „Große Lösung“

1.2    Grundprinzipien der Frühförderung

1.2.1 Resilienzorientierung

1.2.2 Familienorientierung

1.2.3 Interaktions- und Beziehungsorientierung

1.2.4 Interdisziplinäre Kooperation und Teamorientierung

1.2.5 Qualitätssicherung

1.3    Diagnostik

1.3.1 Diagnostik im Kontext des ICF-Systems

1.3.2 Rahmenbedingungen der Untersuchung

1.3.3 Auswahl von Testverfahren

1.3.4 Einschätzung des sozialen Umfeldes und der familiären Belastung

1.3.5 Planung diagnostischer Arbeitsschritte

1.3.6 Integration diagnostischer Befunde

2      Kernaufgaben der Frühförderung

2.1    Frühförderung bei Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung

2.1.1 Entwicklung unter den Bedingungen einer globalen Entwicklungsbeeinträchtigung

2.1.2 Soziale Teilhabe von Kindern im Vorschulalter

2.1.3 Förderung zur Prävention schulischer Lernschwierigkeiten

2.2    Förderung bei Beeinträchtigung der sprachlichen Entwicklung

2.2.1 Verspäteter Sprechbeginn

2.2.2 Spezifische Sprachentwicklungsstörung

2.2.3 Einschränkungen der sozialen Teilhabe

2.3    Förderung bei Beeinträchtigung der motorischen Entwicklung

2.3.1 Entwicklung unter den Bedingungen einer motorischen Störung

2.3.2 Physiotherapeutische Behandlung

2.3.3 Behandlung von umschriebenen motorischen Entwicklungsstörungen

2.3.4 Spiel- und Kommunikationsförderung

2.4    Förderung bei Beeinträchtigung der sozial-emotionalen Entwicklung

2.4.1 Bindungsentwicklung und frühe Regulationsstörungen

2.4.2 Sozial-emotionale Verhaltensauffälligkeiten im Kindergartenalter

2.4.3 Autismus-Spektrum-Störung

2.5    Förderung der Entwicklung unter der Bedingung einer Hörschädigung

2.5.1 Sprachentwicklung hörgeschädigter Kinder

2.5.2 Laut- und gebärdensprachliche Konzepte der Förderung

2.5.3 Praxis der familienorientierten Förderung

2.5.4 Förderung der sozialen Teilhabe in Kindertagesstätten

2.6    Förderung unter den Bedingungen einer Sehschädigung

2.6.1 Entwicklung sehbehinderter und blinder Kinder

2.6.2 Behinderungsspezifische Förderbedürfnisse

2.6.3 Soziale Teilhabe in Kindertagesstätten

2.7    Förderung bei schwerer und mehrfacher Behinderung

2.7.1 Komplexe Behinderung

2.7.2 Unterstützung der sozialen Teilhabe

2.7.3 Elternbegleitung bei spezifischen Pflegebedürfnissen

3      Kooperationsaufgaben der Frühförderung bei ausgewählten Entwicklungsstörungen

3.1    Entwicklungsrisiken und Begleitung von frühgeborenen Kindern

3.1.1 Entwicklungsverlauf nach unreifer Geburt

3.1.2 Unterstützungsbedarf von Eltern frühgeborener Kinder

3.1.3 Effektivität früher Beratung und Förderung

3.1.4 Kooperation in der interdisziplinären Nachsorge

3.2    Unterstützung von Kindern in Armutslagen

3.2.1 Kinderarmut in Deutschland

3.2.2 Kompensation sozialer Benachteiligung

3.3    Unterstützung für Familien mit Migrationshintergrund

3.3.1 Pädagogischer Unterstützungsbedarf

3.3.2 Kinder mit Behinderungen

3.4    Unterstützung von Kindern mit psychisch kranken Eltern

3.4.1 Psychische Erkrankungen der Eltern als Risikofaktor

3.4.2 Aufgaben der Frühförderung

3.4.3 Alkohol- oder Drogenabhängigkeit in der Familie

3.4.4 Umfassender Hilfebedarf

3.5    Beratung von Früh- und Elementarpädagogen in inklusiven Kindertagesstätten

3.5.1 Aufgaben von Früh- und Elementarpädagogen

3.5.2 Unterstützung der sozialen Teilhabe bei besonderem Förderbedarf

3.5.3 Konsultative Beratung und Coaching

4      Belastungen und Beratung von Familien mit Kindern mit Behinderungen

4.1    Herausforderungen für Familien und Ressourcen zur Bewältigung

4.1.1 Erste Reaktionen auf die Diagnose

4.1.2 Elterliches Belastungserleben im weiteren Verlauf

4.1.3 Persönliche und soziale Ressourcen zur Bewältigung

4.2    Empowerment als Ziel familienorientierter Frühförderung

4.2.1 Stärkung der persönlichen Bewältigungskräfte

4.2.2 Stärkung der sozialen Ressourcen

4.2.3 Förderung von Erziehungskompetenzen

4.2.4 Partnerschaftliche Kommunikation mit den Eltern

4.2.5 Vermittlung von sozialrechtlichen Hilfen

4.3    Väter, Geschwister und Großeltern

4.3.1 Erlebte Belastung und Bewältigungsstile von Vätern

4.3.2 Belastungen und Bedürfnisse von Geschwistern

4.3.3 Großeltern behinderter Kinder

Literatur

Sachregister

Vorwort

Als ich vor mehr als 35 Jahren meine Tätigkeit in der Frühförderung begonnen habe, hätte ich mir ein Handbuch gewünscht, das umfassend über dieses Arbeitsfeld informiert: Was ist über die Entwicklung von Kindern mit Beeinträchtigungen in den unterschiedlichen Entwicklungsbereichen bekannt? Wie wirken sich biologische und soziale Risiken auf die Entwicklung aus? Welche Methoden stehen zur Förderung zur Verfügung? Was lässt sich aus der Entwicklungsforschung und aus Evaluationsstudien über die Wirksamkeit dieser Methoden sagen? Welche Schlussfolgerungen für die praktische Arbeit lassen sich daraus ziehen?

Damals standen Praxis und Forschung zur Frühförderung von Kindern mit Behinderungen und Entwicklungsgefährdungen noch am Anfang. Mittlerweile hat sich ihr Arbeitsfeld um viele neue Aufgaben erweitert und ausdifferenziert. Die Vielfalt der Forschungsergebnisse – insbesondere in der internationalen Fachliteratur – und ihre Relevanz sind für den Praktiker kaum noch zu überblicken.

Hans Weiß (2005) hat die Aufgaben der Frühförderung in einem Aufsatz unter dem Titel „Woher und Wohin – Entwicklungslinien und Perspektiven“ in Kernaufgaben und kooperative Beiträge gegliedert. Zu den Kernaufgaben gehören die Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder vom Säuglings- bis zum Kindergartenalter und die Beratung ihrer Eltern. Darüber hinaus unterstützt die Frühförderung mit kooperativen Beiträgen andere Systeme mit dem Ziel, die soziale Teilhabe aller Kinder zu sichern, deren Entwicklung von unterschiedlichen biologischen und sozialen Risiken bedroht ist.

Ein Handbuch über ein solch umfassendes Arbeitsfeld „aus einer Hand“ anzubieten, birgt Chancen und Risiken. Leserinnen und Leser werden darin Leitlinien für die Arbeit finden, die sich für mich in meiner praktischen Tätigkeit in einer Frühförderstelle, in einem Sozialpädiatrischen Zentrum und in der Lehre an einer Hochschule sowie in der stetigen Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur herausgebildet haben. Diese Leitlinien folgen konsequent familienorientierten und evidenz-basierten Prinzipien. Allerdings: Die Auswahl der Methoden, ihre Beurteilung – es ist eben meine Sicht der Dinge. Andere Autoren würden den einen oder anderen Akzent anders setzen, Forschungsergebnisse anders bewerten. Für sie wäre es vielleicht weniger wichtig, ob sich eine Methode auf nachvollziehbare empirische Forschungsergebnisse stützen kann. So bleibt es den Leserinnen und Lesern überlassen, zu entscheiden, was sie aus diesem Handbuch überzeugend finden und in ihre Arbeit integrieren möchten. Meine Hoffnung ist, dass ihnen die Darstellung der Kern- und Kooperationsaufgaben der Frühförderung für ihre praktische Tätigkeit nützlich ist – so wie ich es nützlich gefunden hätte, vor 35 Jahren ein Handbuch dieser Art vorzufinden.

Heidelberg / München, im Frühjahr 2017

Prof. Dr. Klaus Sarimski

1 Grundlagen und Arbeitsprinzipien der Frühförderung

Das System „Frühförderung“ ist ein System im Wandel. Um seine Entwicklung zu verstehen, ist es sinnvoll, sich seine Struktur, seine Finanzierungsgrundlagen und seine Arbeitsprinzipien bewusst zu machen.

1.1 Geschichte, Organisation und Versorgungsstrukturen

Der systematische Aufbau des „Hilfesystems Frühförderung“ geht in Deutschland auf den Beginn der 1970er Jahre zurück. Von Anfang an entwickelten sich dabei zwei Teilsysteme: die allgemeinen (interdisziplinären) Frühförderstellen (IFS) und die Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ).

1.1.1 Entstehung des „Hilfesystems Frühförderung“

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Hilfesystem Frühförderung in Deutschland. Auch in Österreich und der Schweiz bestehen vielfältige Angebote zur Frühförderung. Das Versorgungssystem in diesen beiden deutschsprachigen Ländern ist jedoch teilweise anders organisiert.

Die ersten Sozialpädiatrischen Zentren wurden 1968 und 1971 in München und Mainz durch die Professoren Hellbrügge und Pechstein gegründet. In diesen überregional organisierten Zentren arbeiten interdisziplinäre Teams aus Ärzten, Psychologen, Pädagogen und Therapeuten. Die Leitung liegt in ärztlicher Hand. Die Finanzierung ist nach dem Sozialgesetzbuch V (SGB V) als Leistungen der Krankenkasse geregelt. Inzwischen gibt es in Deutschland ca. 140 Sozialpädiatrische Zentren.

Die ersten allgemeinen Frühförderstellen wurden zur gleichen Zeit gegründet. Treibende Kraft war dabei die Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. als Elternverband sowie Professor Speck in München, auf dessen Initiative zunächst in Bayern ein flächendeckendes Netz von Frühförderstellen aufgebaut wurde. Im Unterschied zu den SPZs werden diese Einrichtungen von Pädagogen oder Psychologen geleitet. Sie bieten (heil-) pädagogische Leistungen und medizinisch-therapeutische Leistungen (Sprachtherapie, Physiotherapie, Ergotherapie) an und sind regional organisiert. Mittlerweile gibt es etwa 750 solcher allgemeinen Frühförderstellen im Bundesgebiet. Die Arbeit der Frühförderstellen umfasst folgende Aufgaben (Weiß et al. 2004):

Früherkennung von Entwicklungsrisiken und Entwicklungsproblemen,

kindbezogene Hilfen durch Entwicklungsdiagnostik, Therapie und Förderung,

Eltern-Kind-bezogene Hilfen durch Information, gemeinsame Beobachtung und Zielsetzung, Anleitung und Beratung der Eltern,

Eltern- und familienbezogene Hilfen durch Information, Begleitung und Unterstützung der Familie und

Integrationshilfen für Kind und Familie durch umfeld- und netzwerkbezogene Maßnahmen, z.B. Vermittlung von Kontakten, Elterngruppen, Zusammenarbeit mit Kindergärten, Öffentlichkeitsarbeit.

Eine Sonderstellung nimmt das Land Baden-Württemberg ein. In diesem Bundesland wurden nur etwa 35 interdisziplinäre Frühförderstellen gegründet. Die Aufgabe der frühen pädagogischen Förderung von Kindern, die behindert oder von einer Behinderung bedroht sind, wurde schwerpunktmäßig an 338 Sonderpädagogische Beratungsstellen übertragen. Diese Beratungsstellen sind den Sonderschulen (Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren) angegliedert. Ihre Aufgaben werden vom Kultusministerium finanziert.

Für Kinder mit Sinnesbehinderungen (Hör- oder Sehschädigungen) sind die pädagogischen Frühförderstellen bundesweit an die jeweiligen Sonderschulen bzw. Förderzentren angegliedert. Ihr Einzugsgebiet ist in der Regel größer als das Einzugsgebiet der allgemeinen Frühförderstellen bzw. der Sonderpädagogischen Beratungsstellen. Es stehen etwa 100 solcher spezifischer Frühförderstellen zur Verfügung.

Die Zahl der Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren ist bis 2016 in den neuen Bundesländern niedriger als in der „alten“ Bundesrepublik. Dies ist dadurch bedingt, dass in der ehemaligen DDR ein umfassendes flächendeckendes System der frühen Kinderbetreuung in Krippen und Kindertagesstätten bestand, in das auch Kinder mit Behinderungen einbezogen waren. Ein Unterstützungssystem zur Betreuung von Kindern mit besonderem Förderbedarf in der Familie wurde erst mit der Übernahme der gesetzlichen Grundlagen aus den alten Bundesländern nach der Wiedervereinigung entwickelt.

1.1.2 Medizinisch-therapeutische und pädagogische Leistungsangebote

Die Zuständigkeit für medizinisch-therapeutische Leistungen in der Frühförderung liegt bei den Krankenversicherungen. Sie finanzieren die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung von kindlichen Entwicklungsstörungen und sozialpädiatrische Basisleistungen, die in der Praxis des Kinderarztes angeboten werden, sowie auf der Basis der Heilmittelverordnung die Behandlung von Kindern mit Physiotherapie, Ergotherapie oder Sprachtherapie (Logopädie) in den entsprechenden Praxen.

Mit der Einführung der gesetzlichen Grundlagen für die Sozialpädiatrischen Zentren im SGB V wurden sowohl Kriterien für die Zulassung von Einrichtungen als SPZ, Richtlinien für die Zusammensetzung ihres Personals sowie die Finanzierung der Leistungen festgelegt. Die meisten Sozialpädiatrischen Zentren rechnen ihre Leistungen im Rahmen von Quartalspauschalen ab, die von den Krankenkassen für jedes Kind gezahlt werden, das im SPZ betreut wird. Im § 119 SGB V ist ihr Aufgabenbereich geregelt. Sie sollen als überregionale Zentren für Kinder mit einer besonderen Schwere und Dauer der Entwicklungsbeeinträchtigung zuständig sein und sind zur Behandlung von Kindern bis zum Alter von 18 Jahren ermächtigt. Eine strikte Trennung zu den Aufgaben der allgemeinen Frühförderstellen ist jedoch nicht intendiert, so dass auch beide Einrichtungen parallel mit jeweils spezifischer Fragestellung in Anspruch genommen werden können und eine Kooperation der SPZ mit niedergelassenen Ärzten und Frühförderstellen vorgesehen ist.

In der Praxis erfolgen die Klärung der Ursache einer Entwicklungsstörung und die Behandlung komplexer Entwicklungsstörungen häufig in einem Sozialpädiatrischen Zentrum Die kontinuierliche Behandlung oder pädagogische Förderung findet dagegen mit engmaschigeren Terminen meist in einer allgemeinen Frühförderstelle statt.

Zielgruppe für die Förderung in allgemeinen Frühförderstellen sind alle Kinder, die durch eine Behinderung in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, wesentlich eingeschränkt sind oder von einer solchen Behinderung bedroht sind (§ 53, SGB XII). Die Altersspanne ist auf Kinder beschränkt, die noch nicht eingeschult sind (§ 55, SGB IX). Die Einbeziehung von Kindern, die von einer Behinderung bedroht sind, bedeutet, dass auch Kinder gefördert werden können, die eine Entwicklungsgefährdung aufweisen, während die Kostenübernahme medizinisch-therapeutischer Leistungen durch die Krankenkasse an eine ärztliche Diagnose (nach ICD-10 oder DSM-IV/V) gebunden ist.

Die Einbeziehung von Kindern mit Entwicklungsfährdung in die Zielgruppe der Frühförderung entspricht den Ergebnissen der entwicklungspsychologischen Forschung, die die Bedeutung von ungünstigen Lebens- und Sozialisationsbedingungen für die Entwicklung von Kindern aufgezeigt hat. Die Zielgruppe ist damit grundsätzlich erweitert von Kindern mit Behinderungen auf Kinder mit sehr unterschiedlichen Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten, die in Wechselwirkungen zwischen kindlichen Dispositionen, deprivierenden sozialen Entwicklungsbedingungen und dysfunktionalen Familienbeziehungen entstehen. Die Zahl der Kinder, die damit potenziell für eine Frühförderung infrage kommen, ist damit sehr groß und übersteigt – als Hilfesystem für so breit gefächerte Bedürfnisse von Kindern und Familien – die Kapazität der meisten Frühförderstellen.

Für die Perspektiven der Weiterentwicklung des Systems Frühförderung bedeutet dies, dass zwischen „Kerngeschäft“ und „kooperativen Beiträgen“ unterschieden werden muss (Weiß 2005). Die Kernaufgaben betreffen die Beratung und Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder vom Säuglings- bis zum Kindergartenalter und im Kindergartenalter. Kooperative Beiträge können von den Frühförderstellen z. B. zur Nachsorge frühgeborener Kinder, zur Früherkennung von Entwicklungsproblemen im Kindergarten, zur Unterstützung der Integration von Kindern im allgemeinen Kindergarten oder bei niedrigschwelligen Hilfen für Kinder und Eltern in Armutsquartieren geleistet werden. Die Angebote müssen bedarfsgerecht differenziert und flexibilisiert werden, um den unterschiedlichen Bedürfnissen hinsichtlich Entwicklungsproblemen, Lebenslagen, Familienstrukturen und Herkunft gerecht zu werden.

1.1.3 Herausforderungen für die Praxis

Die Erweiterung der Zielgruppe der Frühförderstellen bringt verschiedene Herausforderungen für die Praxis mit sich. Die Fachkräfte bedürfen zum einen einer hohen fachlichen Qualifikation für die Diagnostik und eines fundierten Wissens über die Wirksamkeit verschiedener Förder- und Behandlungsansätze, um zu entscheiden, bei welchen Kindern eine Förderung in der Frühförderstelle angezeigt ist und bei welchen Kindern eine Überweisung an eine andere Einrichtung sinnvoll ist. Zum anderen müssen sie verbindliche Kooperationsstrukturen aufbauen, z. B. zu Nachsorge-Einrichtungen für frühgeborene Kinder, Einrichtungen der Frühen Hilfen zur Prävention von Kindeswohlgefährdungen, sozialpsychiatrischen Hilfesystemen für Familien, in denen die Entwicklung eines Kindes im Kontext einer psychiatrischen Erkrankung eines Elternteils gefährdet ist, und Kindertagesstätten, die sich als inklusive Einrichtungen für Kinder mit sozialen Benachteiligungen und Kinder mit Behinderungen verstehen.

Die Konfrontation mit Familien mit komplexen Unterstützungsbedürfnissen stellt das Selbstverständnis vieler Fachkräfte der Frühförderung infrage. Einige entscheiden sich für eine kindorientierte Förderung in der Annahme, damit „wenigstens etwas für das Kind zu tun“. Sie unterschätzen jedoch, dass eine Förderung nur dann nachhaltig effektiv sein kann, wenn sich auch die Eltern im Alltag auf die besonderen Bedürfnisse ihrer Kinder einstellen und entwicklungsförderliche Impulse setzen. Andere Fachkräfte nehmen die Wechselwirkungen zwischen kindlichen Entwicklungsproblemen und sozialen Entwicklungsbedingungen zum Anlass, sich familientherapeutisch-systemische Kompetenzen anzueignen. Sie überfordern damit jedoch vielfach ihre fachlichen, persönlichen und zeitlichen Ressourcen.

Weder eine rein auf die Förderung des Kindes ausgerichtete Arbeit der Fachkraft noch familientherapeutische Interventionen werden dem Unterstützungsbedarf der Kinder und ihrer Familien gerecht, die in den Frühförderstellen vorgestellt werden Es geht vielmehr um ein familienorientiertes Konzept der Förderung und verbindlich geregelte Kooperationen mit anderen Unterstützungssystemen.

1.1.4 Frühförderung als Komplexleistung

Der Gesetzgeber ist dem komplexen Unterstützungsbedarf von Kindern, die behindert oder von einer Behinderung bedroht sind, nachgekommen, indem er im SGB IX die Frühförderung als Komplexleistung definiert hat. Danach sind medizinisch-therapeutische Leistungen und (heil-)pädagogische Leistungen gleichwertig und sollen auf einer gemeinsamen Grundlage finanziert werden. Der Gesetzgeber folgt damit der Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Rehabilitationsträger (BAR 2002, 7f.):

„Wesentliche Merkmale aller Leistungen der Früherkennung und Frühförderung sind Ganzheitlichkeit, Familien- und Lebensweltorientierung sowie die Beachtung der Ressourcen von Kind und Familie. Alle Elemente werden interdisziplinär und nahtlos in diesen Kontext eingebunden und sind darauf gerichtet, sowohl die Kompetenzen des Kindes zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als auch die Entwicklungskräfte der Familie zu erkennen, zu fördern und zu stärken.“

Das Konzept der Frühförderung als Komplexleistung in interdisziplinären Frühförderstellen entspricht dem Verständnis der Einschränkungen von Aktivitäten und gesellschaftlicher Teilhabe, wie es die WHO im Rahmen der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen“ (ICF-CY; WHO 2011) festgeschrieben hat. Die Grundlage für die Finanzierung von Komplexleistungen wurde mit der Verabschiedung der „Frühförderverordnung“ (FrühV) 2003 gelegt. Die konkrete Auslegung dieser Verordnung wurde jedoch den einzelnen Bundesländern überlassen, die dieser Verpflichtung in unterschiedlicher Form und z. T. erst mit mehrjähriger zeitlicher Verzögerung nachkamen. Die Frühförderverordnung regelt „die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und heilpädagogische Leistungen, die unter Inanspruchnahme von fachlich geeigneten Frühförderstellen und sozial-pädiatrischen Zentren unter Einbeziehung des sozialen Umfelds der Kinder ausgeführt werden“ (http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/fruehfoerderungsverordnung.pdf?_blob=publicationFile, 03.02.17).

Eine Frühförderstelle gilt dann als interdisziplinär, wenn sowohl medizinisch-therapeutische als auch pädagogische Fachkräfte zu ihrem Team gehören oder wenn verbindliche Kooperationsvereinbarungen getroffen sind, die eine Zusammenarbeit der pädagogischen Fachkräfte mit niedergelassenen Therapeuten sicherstellen. Wie diese Zusammenarbeit ausgestaltet wird, bleibt den Einrichtungen vor Ort überlassen.

Die Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung bringt wesentliche Veränderungen in den Leistungsstrukturen mit sich (ISG 2008; Engel et al. 2009). Für die Entscheidung über die Indikation hat sich eine „Zwei-Kreuze-Regelung“ als Konsens durchgesetzt. Eine Komplexleistung ist dann indiziert, wenn bei einem Kind sowohl medizinisch-therapeutische Leistungen als auch pädagogische Leistungen vom behandelnden Kinderarzt bestätigt werden. Diese Interpretation der Vereinbarung lässt allerdings die Möglichkeit offen, dass die Diagnostik zunächst in beiden Bereichen unabhängig voneinander erfolgt und u. U. die Notwendigkeit einer pädagogischen Leistung vom Kinderarzt nicht bestätigt wird (und damit die Kostenübernahme nach den Finanzierungsvorschriften der FrühV nicht gedeckt ist).

Weiterhin wurde in der FrühV geregelt, dass Frühförderstellen auch als offene Anlaufstellen zur Verfügung stehen sollen, wenn Eltern sich um die Entwicklung ihrer Kinder sorgen. Ein Erstkontakt und eine diagnostische Einschätzung, um den Förderbedarf des Kindes zu klären und die Eltern zu beraten, sollen möglich sein, ohne dass zuvor eine förmliche Antragstellung und ärztliche Begutachtung erfolgt. Dies ist allerdings nur in einigen Landesrahmenempfehlungen (z. B. in Nordrhein-Westfalen und Bayern) explizit so vorgesehen.

Nach der Diagnostik ist ein Förder- und Behandlungsplan zu erstellen. Er soll in der Regel die Diagnosestellung nach ICD 10, die wesentlichen Befunde zu Kompetenzen und Förderbedürfnissen des Kindes, die geplanten Förder- und Behandlungsangebote für das Kind unter Einbeziehung seiner Bezugspersonen, die Behandlungsform und die Zielsetzung beinhalten. Für den Förder- und Behandlungsplan sind jedoch keine formalen Kriterien vorgesehen, die die fachliche Qualität sichern.

Der Förderplan ist mit dem behandelnden Kinderarzt abzustimmen, wenn die Maßnahmen als Komplexleistung durchgeführt und finanziert werden sollen. Die konkrete Ausgestaltung des damit intendierten Genehmigungsverfahrens wird in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich gehandhabt. Teilweise wird für die Kostenübernahme von heilpädagogischen Leistungen in einer Frühförderstelle von den Eltern erwartet, dass sie ihr Kind zusätzlich einem Arzt im Gesundheitsamt vorstellen. Dies erleben viele Eltern als zusätzliche Belastung.

Leistungen für die Beratung, Unterstützung und Anleitung der Eltern werden unterschiedlich gehandhabt. Bei einem Teil der Einrichtungen sind sie im pauschalen Vergütungssatz pro gefördertem Kind enthalten, in anderen können sie analog zu heilpädagogischen Förderleistungen für das Kind abgerechnet werden, ohne dass zwischen kind- und elternbezogenen Leistungen unterschieden wird. In einer dritten Variante ist dieser Teil der Aufgaben in die Zeitwerte und Vergütungssätze einer heilpädagogischen Fördereinheit integriert. Grundsätzlich ist damit die Einbeziehung der Eltern in die Förderung gesichert. Die Vergütungssätze selbst variieren jedoch erheblich. Pro Quartal standen im Jahr 2016 den Frühförderstellen pro Kind zwischen 200 und 1.500 Euro zur Verfügung. Die Vergütungssätze für einzelne heilpädagogische und medizinisch-therapeutische Leistungen variieren zwischen 31 und 53 Euro / Stunde (ISG 2008).

Ort der Leistungserbringung kann die Frühförderstelle oder die Wohnung der Familie sein. Mobile (Hausfrüh-)Förderung ist dabei nur im Leistungskatalog der allgemeinen und spezifischen Frühförderstellen vorgesehen. In einigen Bundesländern muss jede Hausfrühförderung gesondert begründet werden. Dies widerspricht der Intention des Gesetzgebers und ist lediglich durch das Streben der Kostenträger nach einer Kostensenkung begründet, da mobile Frühförderung durch die damit verbundenen An- und Abfahrten mehr zeitliche Ressourcen der Fachkräfte bindet.

Zusätzlich werden von einigen Sozialpädiatrischen Zentren stationäre Leistungen angeboten. Sie dienen der Abklärung von medizinischen Ursachen einer Entwicklungsstörung oder Erkrankung (z. B. eines Anfallsleidens) oder der Einleitung von intensiven Behandlungsmaßnahmen bei komplexen Störungsbildern unter Einbeziehung der Eltern.

Leistungen der Frühförderung können auch in teilstationären Einrichtungen (Kindertagesstätten) erbracht werden. Dies trägt einerseits der Entwicklung Rechnung, dass zunehmend mehr Eltern von ihrem Rechtsanspruch Gebrauch machen und ihr Kind ab dem ersten Geburtstag in einer Kinderkrippe anmelden. Somit ergibt sich für die Frühförderung der Auftrag, sowohl die familiären Erziehungs- und Bewältigungskompetenzen zu stärken als auch die Fachkräfte in der Kindertagesstätte darin zu unterstützen, sich auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder einzustellen (Sarimski et al. 2013a). In der Praxis sehen die meisten kommunalen Kostenträger mobile oder ambulante Leistungen der Frühförderstelle und Leistungen in einer Kindertagesstätte als äquivalent an und schließen eine gleichzeitige Finanzierung als „Doppelbetreuung“ aus.

Damit die soziale Teilhabe eines Kindes mit besonderem Förder- und Unterstützungsbedarf in einer Krippe oder einem Kindergarten gelingt und seine Entwicklung umfassend unterstützt wird, bedarf es der Kompetenz von Fachkräften der Frühförderung Sie müssen sowohl die Mitarbeiter in der Gruppe im Umgang mit den besonderen Bedürfnissen des Kindes beraten als auch die Eltern in ihren Möglichkeiten bestärken, die Entwicklung im familiären Alltag zu fördern. Ein Ausschluss von familienorientierten Frühförderleistungen im Moment der Aufnahme in eine Krippe oder einen Kindergarten, wie er pauschal von einigen Kostenträgern gehandhabt wird, ist deshalb nicht zu akzeptieren.

1.1.5 Rahmenbedingungen und Leistungsstrukturen der allgemeinen Frühförderung

Im Auftrag der Bundesregierung hat das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) die Rahmenbedingungen und Leistungsstrukturen der deutschen Frühfördereinrichtungen untersucht (ISG 2008). Engel et al. (2009) fassen die Ergebnisse zusammen. „Steckbriefe“ der Frühförderstrukturen in den einzelnen Bundesländern auf der Grundlage dieser Daten beschreibt Sohns (2010). Es wurde eine schriftliche Befragung von 265 allgemeinen Frühfördereinrichtungen, 35 spezifischen Frühförderstellen sowie 86 Sozialpädiatrische Zentren in Deutschland durchgeführt. Nicht berücksichtigt wurden die 338 Frühförderstellen in Baden-Württemberg, die an Sonderschulen angegliedert sind. Die schriftliche Befragung wurde durch die Erstellung anonymer „Kinder-Fallstudien“ auf der Grundlage von 905 Aktenanalysen ergänzt, Diskussionen der lokalen Situation der Frühförderung mit den Beteiligten im Rahmen von „Runden Tischen“ sowie eine schriftliche Befragung von 1236 Eltern, deren Kinder in den teilnehmenden Frühförderstellen betreut werden.

Nach den Ergebnissen dieser bundesweiten Erhebung sind zwei Drittel der Einrichtungen interdisziplinär besetzt, ein Drittel ist (heil-)pädagogisch ausgerichtet. Der Anteil der interdisziplinär besetzten Stellen schwankt zwischen 20 % (Sachsen-Anhalt) und 87 % (Bayern). Nach den Ergebnissen der Erhebung verfügt eine allgemeine Frühförderstelle im Bundesdurchschnitt über 9.45 fest angestellte Fachkräfte (mit 6.58 Vollzeitstellen). Abbildung 1 zeigt die Verteilung der Berufsgruppen auf der Basis der 2475 Fachkräfte, die in den teilnehmenden Einrichtungen tätig waren.

Der Bundesdurchschnitt für ambulante Leistungen liegt nur bei 35 %, d. h. in 65 % aller Frühförderstellen liegt der Schwerpunkt auf mobil-aufsuchender Förderung. Der Anteil mobiler Arbeitsformen ist jedoch regional sehr unterschiedlich. In einzelnen Bundesländern (z. B. Schleswig-Holstein, Brandenburg) beträgt er weniger als 10 %.

10 % der heilpädagogischen Förderung und 4 % der medizinisch-therapeutischen Förderung werden als Gruppenförderung angeboten. Kooperationen mit anderen Frühförderstellen, therapeutischen Praxen, niedergelassenen Ärzten und Sozialpädiatrischen Zentren werden von fast allen allgemeinen Frühförderstellen angegeben, sind aber nur in wenigen Fällen vertraglich geregelt. Feste Vereinbarungen mit therapeutischen Praxen wurden z. B. in 21 % der Einrichtungen geschlossen.

Nach den Befragungsergebnissen förderten die befragten Frühförderstellen am Stichtag (31.12.2006) rund 32.500 Kinder. Die Betreuungszahlen pro Einrichtung schwanken stark. Die Hälfte der Einrichtungen versorgte weniger als 100 Kinder. 31 % der geförderten Kinder erhielten sowohl heilpädagogische als auch medizinisch-therapeutische Leistungen als Komplexleistung, 57 % ausschließlich heilpädagogische Leistungen. Aus diesen Daten lässt sich eine Hochrechnung über die Zahl der bundesweit versorgten Kinder erstellen.

Abb. 1: Verteilung der Berufsgruppen (fest angestellte Mitarbeiter) in allgemeinen Frühförderstellen (ISG 2008)

Es werden 85.500 Kinder in Frühförderstellen versorgt, das sind 1.67 % aller Kinder in den 16 Bundesländern.

In den befragten 35 spezifischen Frühförderstellen (für Kindern mit Sinnesbehinderungen) sind insgesamt 252 Pädagogen (davon 154 Sonderpädagogen) mit 142 Vollzeitstellen beschäftigt. Fast alle kooperieren mit allgemeinen Frühförderstellen und niedergelassenen Therapeuten. Das Leistungsangebot konzentriert sich auf heil- und sonderpädagogische Leistungen, die in 90 % der Einrichtungen überwiegend mobil-aufsuchend erbracht werden. Insgesamt wurden in den spezifischen Frühförderstellen zum Stichtag 3.618 Kinder betreut (im Durchschnitt 113 Kinder je Frühförderstelle).

Die 128 Sozialpädiatrischen Zentren verteilen sich bundesweit sehr unterschiedlich. Über ein dichtes Netz verfügt z. B. Nordrhein-Westfalen mit 33 Zentren, während in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern zum Erhebungszeitpunkt nur jeweils zwei Zentren zur Verfügung standen, so dass die Eltern weite Anfahrtswege in Kauf nehmen müssen. Die Zusammensetzung der Mitarbeiterteams verteilt sich – entsprechend den Zulassungsvoraussetzungen für SPZ – auf Ärzte (17 %), Psychologen (15 %), medizinisch-therapeutische Fachkräfte (34 %) und heilpädagogische Fachkräfte (10 %).

Aus den Angaben der teilnehmenden SPZ lässt sich auch für dieses Teilsystem eine Hochrechnung erstellen. Danach wurden etwa 91.100 Kinder im Alter bis einschließlich sechs Jahren in Sozialpädiatrischen Zentren versorgt, was einer Versorgungsquote von 1.8 % entspricht. Das kleinste Zentrum versorgte zum Erhebungszeitpunkt 193 Kinder, die größte Einrichtung 2.883 Kinder.

Aus den Ergebnissen einer vertiefenden kinderbezogenen Aktenanalyse von 905 zufällig ausgewählten Akten kann schließlich die Zusammensetzung des geförderten Klientels abgeschätzt werden. 19 % der geförderten Kinder waren unter zwei Jahre alt, 33 % im Alter von drei bis vier Jahren, knapp die Hälfte der Kinder jedoch über fünf Jahre alt. Bei 13 % der Kinder begann die Frühförderung erst mit fünf Jahren oder später, d. h. viele Kinder erhalten erst dann Leistungen der Frühförderung, wenn sich abzeichnet, dass der Besuch einer allgemeinen Schule infrage gestellt ist. 85 % der Kinder waren deutscher Nationalität, 15 % hatten einen Migrationshintergrund. Dies entspricht etwa dem Bevölkerungsanteil nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes.

Abb. 2: Ärztliche Diagnosen bei 905 Kindern (ISG 2008)

Aus den ärztlichen Diagnosen der Kinder, die in diese Aktenanalyse einbezogen wurden, ergibt sich, dass mehr als die Hälfte der Kinder wegen Entwicklungsstörungen des Sprechens und ein Fünftel der Kinder wegen allgemeiner Entwicklungsverzögerung vorgestellt werden (Abb. 2). Dies bestätigt sich in den Angaben der Eltern, die sich an der Befragung beteiligten. Etwa 40 % von ihnen gaben zudem an, dass ihr Kind sowohl Leistungen des SPZs als auch Leistungen von Frühförderstellen und/oder Therapeuten erhält.

Sonderpädagogische Frühberatungs- und Frühförderstellen in Baden-Württemberg

Zur Struktur der Angebote in den sonderpädagogischen Frühförderstellen in Baden-Württemberg, die an Sonderpädagogische Beratungs- und Förderzentren angeschlossen sind, liegt eine unveröffentlichte Erhebung vor, die im Jahre 2012 durchgeführt wurde (Sarimski 2013a). In die Auswertung konnten 525 Fragebögen einbezogen werden, die 10.237 Kinder in diesem Bundesland mit 5166 Lehrer-Deputatsstunden betreuen. Das entspricht etwa 60 % der personellen Ressourcen, die dafür zur Verfügung stehen.

Die Mitarbeiterzahl der Frühförderstellen schwankt zwischen 2.12 (Schulen für erziehungsschwierige Kinder) und 8.94 (Schulen für Sprachbehinderte). Mehr als 70 % der Teilnehmer sind überwiegend im Schuldienst eingesetzt. Anders als in allgemeinen Frühförderstellen macht die Frühförderung somit nur einen Teil ihrer Aufgaben aus. Im Durchschnitt betreuen die Mitarbeiter 19.5 Kinder. 25 bis 30 % der Kinder, die in Frühförderstellen für Körperbehinderte, Geistigbehinderte, Hörgeschädigte und Sehbehinderte/Blinde betreut werden, sind unter drei Jahre alt.

Nur 13 % der Fachkräfte geben an, dass sie bei den von ihnen betreuten Kindern die Eltern regelmäßig in die Einzelförderung einbeziehen. Die kindbezogene Einzelförderung macht in vielen Frühförderstellen somit einen beträchtlichen Anteil der Leistungen aus. Für 26 % gehört die systematische Elternberatung und Elternanleitung bei den meisten von ihnen betreuten Kindern zu ihren Angeboten. Der Anteil solcher elternbezogener Maßnahmen ist in Frühförderstellen für Kinder mit Hörschädigungen relativ hoch, in Frühförderstellen, die an Förderschulen oder Schulen mit Schwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung angegliedert sind, deutlich niedriger; dort nehmen diagnostische Aufgaben einen größeren Raum ein.

Leistungsangebot der bayerischen interdisziplinären Frühförderstellen

Weiteren Aufschluss über Leistungsangebote der interdisziplinären Frühförderung gibt eine flächendeckende Untersuchung, die 2010 in Bayern durchgeführt wurde („Fragen zur Lage“, FranzL, Thurmair et al. 2010). Ihre Ergebnisse sind in einem dreiteiligen Forschungsbericht im Internet zugänglich (http://www.fruehfoerderung-bayern.de/projekte/franzl-2010/, 03.02.17) und ergänzen die Erhebung des ISG mit weiteren Daten, exemplarisch erhoben in diesem Bundesland. Der ausführliche Fragebogen wurde von 89 Leiterinnen und Leitern aus 130 Frühförderstellen ausgefüllt. Zusätzlich machten 590 Mitarbeiter Angaben zu ihrer Arbeitssituation.

In den bayerischen interdisziplinären Frühförderstellen waren 22.8 % der betreuten Kinder unter drei Jahre alt. Dies entspricht dem relativen Anteil, der in der bundesweiten ISG-Studie ermittelt wurde. Auch diese Studie macht deutlich, dass sich die Zielgruppe der Frühförderung seit Ende des 20. Jahrhunderts gewandelt hat. Störungen der sozial-emotionalen Entwicklung und des Verhaltens nehmen einen hohen Anteil ein, Kinder mit körperlichen oder genetisch bedingten Behinderungen stellen die Minderheit dar.

Bei einem Drittel der Kinder, deren Eltern sich in Frühförderstellen melden, übernimmt die Frühförderstelle eine „Lotsenfunktion“ und nicht selbst die regelmäßige kind- und elternbezogene Förderung. Gegenüber den Aufbaujahren der Frühförderung hat die Hausfrühförderung als Angebotsform deutlich abgenommen. Nach den Angaben der FranzL-Studie beträgt der Anteil der mobilen Frühförderung noch 43 %. Fast die Hälfte der Frühförderstellen erbringen ihre mobilen Leistungen überwiegend in Kindertagesstätten. Dies wird damit begründet, dass die Kinder den ganzen Tag über in der Kindertagesstätte und beide Eltern berufstätig sind, so dass eine Förderung in der Familie nicht in Betracht komme.

Im Rahmen dieser Erhebung wurden die Fachkräfte auch nach den Konzepten gefragt, die sie bei den von ihnen geförderten Kindern einsetzen. Am häufigsten werden dabei für die kindbezogene Förderung die psychomotorische Übungsbehandlung (47.3 %), die Sensorische Integrationstherapie (43.3 %), Basale Stimulation (34.7 %) und das Frostig-Konzept (34.2 %) genannt (Kap. 2.1, 2.3, 2.7). Es folgen Konzepte der Verhaltenstherapie (21.6 %), personenzentrierten Spieltherapie (20.8 %) sowie der Physiotherapie nach Bobath (21.0 %), Castillo-Morales (13.4 %) oder Vojta (6.7 %; Kap. 2.3). Bei der Elternberatung werden klientenzentrierte Gesprächsführung (46.5 %) und Familientherapie / systemische Beratung (26.0 %) als Arbeitsgrundlagen genannt. Jeweils etwa 10 % der befragten Fachkräfte greifen auf verschiedene Konzepte der videogestützten Arbeit zurück (entwicklungspsychologische Beratung nach Ziegenhain, Marte Meo, Interaktionsberatung nach Papousek; Kap. 1.2.3).

Das Spektrum der Methoden, die in der Frühförderung eingesetzt werden, ist sehr vielfältig. Für die Qualitätssicherung ist es deshalb unerlässlich, dass sich die Fachkräfte mit dem Forschungsstand zu ihrer Wirksamkeit vertraut machen und ihre Interventionen systematisch evaluieren.

1.1.6 Frühfördersystem im Wandel – die Diskussion über die „Große Lösung“

Die Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sind bisher in unterschiedlichen Sozialleistungssystemen geregelt. Bestimmungen für die Eingliederung von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderung, geistiger und körperlicher Behinderung finden sich in §§ 53 ff im SGB XII (Sozialhilfe). § 35a SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) räumt seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen, d. h. Kindern mit sozial-emotionalen Störungen mit erzieherischem Bedarf, einen Anspruch auf Leistungen zur Eingliederungshilfe ein.

Diese Zweiteilung führt zu Streitigkeiten über die Zuständigkeit der verschiedenen Ämter für die Kostenübernahme von Leistungen und Verzögerungen bei der Bewilligung. Uneinigkeit besteht über die Abgrenzung zwischen geistiger und / oder körperlicher und seelischer Behinderung, Wechselwirkungen werden ignoriert. Die Ämter bestehen nicht selten auf wiederholten Diagnoseverfahren, die allein das Ziel haben, Zuständigkeiten zu klären. Die Orientierung an Behinderungsformen und Institutionenlogik anstelle von individuellen Ressourcen und Bedürfnissen steht sinnvollen Kooperationsformen entgegen, wie sie insbesondere für die Verwirklichung inklusiver Konzepte erforderlich sind.

In der Fachöffentlichkeit besteht mittlerweile Einigkeit darüber, dass eine leistungsrechtliche Zusammenführung von erzieherischem und behinderungsbedingtem Bedarf zu einer Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe sinnvoll ist („Große Lösung“). In diesem Zusammenhang wird auch eine Aufnahme der Komplexleistung Frühförderung ins SGB VIII diskutiert, um die Kostenteilung zwischen Trägern der Sozialhilfe und der Krankenversicherung zu überwinden. Eine Leistungsgewährung aus einer Hand würde damit möglich, die an dem spezifischen Entwicklungs- und Förderbedarf des Kindes statt einer Behinderungsdiagnose orientiert wäre.

Die gesetzliche Zusammenführung aller Leistungen für Kinder und Jugendliche im System des SGB VIII bedeutet für sich allein allerdings noch keine Verbesserung. Sie bietet zwar die Chance, dass bei der Ausgestaltung der Hilfeangebote verstärkt (sozial)pädagogische Kompetenz einfließt und die umfassenden Unterstützungsbedürfnisse des Kindes bei der sozialen Teilhabe anerkannt werden. Auf Seiten der Jugendämter setzt dies aber fachliche Kompetenzen in allen Fragen von Pflege, Erziehung und Teilhabe von Kindern mit Behinderungen voraus, die meist dort nicht vorhanden sind, und erfordert eine ausreichende finanzielle und organisatorische Ausstattung, um den neuen Aufgaben gewachsen zu sein.

Die Mittel für Eingliederungshilfeleistungen müssten im Rahmen der „Großen Lösung“ dann von den Kommunen als Träger der Jugendhilfe finanziert werden. Viele Kommunen haben jedoch bereits große Schwierigkeiten, allein ihre Pflichtaufgaben in der Jugendhilfe zu erbringen. Das bedeutet unwägbare Risiken für die Finanzierung der Frühförderung als Komplexleistung und birgt die Gefahr, dass Leistungen der Frühförderung unter Kostengesichtspunkten gekürzt werden.

 ZUSAMMENFASSUNG 

Das System der Frühförderung umfasst interdisziplinäre Frühförderstellen, Sonderpädagogische Beratungsstellen und Sozialpädiatrische Zentren. Ihre Aufgaben umfassen die Früherkennung von Entwicklungsproblemen, Diagnostik, Förderung und Therapie sowie eltern- und familienbezogene Hilfen.

Pädagogische und medizinisch-therapeutische Leistungen werden in den meisten Einrichtungen als Komplexleistung angeboten und auf der Grundlage der bundesweit gültigen Frühförderverordnung finanziert Die Zahl der Einrichtungen und die Vergütungsstrukturen variieren allerdings in den einzelnen Bundesländern erheblich Heil- und Sozial- sowie Sonderpädagogen stellen den größten Anteil der fest angestellten Mitarbeiter in Frühförderstellen.

1.2 Grundprinzipien der Frühförderung

Frühförderung orientiert sich an einem bio-psycho-sozialen Entwicklungsmodell. Im frühen Kindesalter entwickeln sich Kinder eigenaktiv in ihrer sozialen Umwelt von Familie und Kindertagesstätte. Der Verlauf ihrer Entwicklung wird von biologischen und sozialen Risiko- und Schutzfaktoren beeinflusst, die miteinander in einer dynamischen Wechselwirkung stehen. Frühförderung hat das Ziel, die Resilienz der Kinder, d. h. ihr Potential für eine günstige Entwicklung trotz beeinträchtigender Risikokonstellationen, zu stärken (Kühl 2003).

1.2.1 Resilienzorientierung

Der Begriff der Resilienz bezieht sich auf die Erfahrung, dass es Kinder gibt, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit extrem ungünstige Lebensbedingungen meistern.

 DEFINITION 

 

Resilienz bezeichnet eine psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und sozialen Entwicklungsrisiken.

Diese Widerstandsfähigkeit ist kein individuelles, stabiles Persönlichkeitsmerkmal des Kindes, sondern ergibt sich aus seinen Kompetenzen zur Bewältigung der alltäglichen Entwicklungsaufgaben und der Unterstützung, die es dabei in seiner sozialen Umwelt erfährt. Welche Faktoren dabei jeweils von Bedeutung sind, hängt von der individuellen Lebenslage des Kindes ab und kann sich über die verschiedenen Lebensphasen hinweg verändern.

Weltweit gibt es eine Reihe von Langzeitstudien, die den Entwicklungsverlauf von Kindern, die unter ungünstigen sozialen Bedingungen aufwachsen, bis in das spätere Schul- oder Erwachsenenalter begleiten (Bengel et al. 2009). Dazu gehört z. B. die Kauai-Studie, die bereits in den 1950er Jahren in Hawaii begonnen wurde (Werner 2011). In Deutschland wurde eine repräsentativ zusammengestellte Kohorte von Kindern mit unterschiedlichen biologischen und sozialen Risiken in der Mannheimer Risikokinderstudie (Laucht 2012) bis ins späte Schulalter begleitet. Im Minnesota-Parent-Child-Project (Sroufe et al. 2005) wurde die Entwicklung von Kindern in Armutslagen und zusätzlichen sozialen Belastungen bis zum Alter von 25 Jahren dokumentiert.

Die Langzeitstudien belegen einen kumulativen Effekt von Risikofaktoren, d. h., die Entwicklung eines Kindes wird umso stärker beeinträchtigt, je mehr Risikofaktoren vorliegen. Eine solche Kumulation findet sich häufig bei Kindern in Armutslagen. Armut bedeutet nicht nur reduzierte materielle Möglichkeiten zur Entwicklungsförderung, sondern geht häufig mit psychischer Belastung der Eltern, familiären Konflikten und sozialer Isolation einher, die es den Eltern erschweren, ihre Aufmerksamkeit den Bedürfnissen des Kindes zuzuwenden.

Weitgehend übereinstimmend kommen diese Studien zu ähnlichen Ergebnissen, welche personalen und sozialen Ressourcen die Entwicklung der Kinder auch unter den Bedingungen sozialer Risiken begünstigen (Bengel et al. 2009; Weiß 2010; Grotberg 2011). Zu diesen Schutzfaktoren gehören:

Eigeninitiative zur Auseinandersetzung mit der Umwelt,

Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, Herausforderungen zu bewältigen (Überzeugung von Selbstwirksamkeit),

Fähigkeit zur Selbstregulation von Emotionen und Handlungen und

Fähigkeit zur Gestaltung positiver sozialer Beziehungen.

Günstige Bedingungen für die Entwicklung dieser „Schlüsselkompetenzen“ sind:

mindestens eine stabile, verlässliche Bezugsperson, die Sicherheit, Vertrauen und Autonomie fördert und als positives Rollenmodell fungiert,

wertschätzendes, unterstützendes Klima zuhause und in Bildungseinrichtungen,

individuell angemessene Leistungsanforderungen, die Erfolgserlebnisse ermöglichen und

gute Bewältigungsfähigkeiten der Eltern in Belastungssituationen.

Resilienzorientierung

Im Sinne einer Förderung von Schlüsselkompetenzen und sozialer Schutzfaktoren ersetzt Resilienzorientierung den Begriff der „Ganzheitlichkeit“, der traditionell zur Beschreibung eines Prinzips der Frühförderung verwendet wurde Er diente den Autoren zur Abgrenzung von funktionalen Trainingsverfahren und Förderansätzen, die auf die isolierte Übung einzelner kindlicher Fertigkeiten in den Bereichen der Wahrnehmung, Motorik, Sprache oder Kognition ausgerichtet waren, war aber unzureichend definiert. Dies führte nicht selten dazu, dass Fachkräfte der Frühförderung ihre Angebote als allgemeine Förderung der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder verstanden, ohne ausreichend zu spezifizieren, welche spezifischen Bedürfnisse das Kind hat, welche Kompetenzen es im Einzelnen erlernen und mit welchen Strategien dies geschehen sollte Resilienzorientierung stellt dem gegenüber einen Bezug her zum empirischen Forschungswissen, welche Faktoren für die kindliche Entwicklung förderlich und durch gezielte Interventionen beeinflussbar sind.