Christine Bratu/Moritz Dittmeyer

Theorien des Liberalismus zur Einführung

Wissenschaftlicher Beirat

Michael Hagner, Zürich

Ina Kerner, Berlin

Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2017 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: Eugène Delacroix,
Die Freiheit führt das Volk (1830)

E-Book-Ausgabe September 2019

ISBN 978-3-96060-108-1

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-797-9

1. Auflage 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner

Ina Kerner

Dieter Thomä

Inhalt

1.Einleitung: Lost in Rawlsland?

2.Die normative Grundannahme des Liberalismus: Das Recht auf Freiheit

2.1 Verschiedene Freiheitsbegriffe

2.2 Das Recht auf Freiheit im Liberalismus

3.Formen des Liberalismus

3.1 Rechte- und Rechtfertigungsliberalismus

3.2 Politischer und perfektionistischer Liberalismus

4.Kennzeichen des Liberalismus

4.1 Toleranz

4.2 Neutralität

4.3 Privatheit

5.Kritik am Liberalismus

5.1 Die richtigen Fragen? Einwände aus der feministischen Philosophie und den Critical Race Studies

5.2 Sinnvolle anthropologische Annahmen? Kommunitaristische und links-schmittianische Einwände

5.3 Sinnvolles Verständnis von Rechtfertigung? Libertäre und liberal-perfektionistische Einwände

5.4 Sinnvolle normative Grundannahme? Kommunitaristische und perfektionistische Einwände

6.Liberalismus international: Das Recht auf Bewegungsfreiheit

6.1 Das Recht auf globale Bewegungsfreiheit

6.2 Interne Kritik: Die Rolle nicht-idealer Theoriebildung

6.3 Externe Kritik: Kollektive Selbstbestimmung als weitere normative Grundannahme

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Über die Autorin und den Autor

1. Einleitung: Lost in Rawlsland?

Warum sollte man im Jahre 2017 eigentlich noch eine Einführung in den Liberalismus schreiben (oder lesen)? Zwei Überlegungen, warum diese intellektuelle Unternehmung sinnlos sein könnte, drängen sich auf: Zum einen stellt sich die Frage, ob heutzutage noch irgendjemandem genauer erklärt werden muss, was der Liberalismus eigentlich ist. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts in den 1990er Jahren breitet er sich als vorherrschendes Paradigma politischer Ordnung immer weiter aus – so sehr, dass gar nicht mehr klar ist, wer eigentlich sein theoretischer Gegenspieler sein könnte. Sogar Politiker*innen, die ihren Autokratismus nur wenig verschleiern (wie etwa Donald Trump, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan), kleiden ihre unfreiheitlichen Doktrinen mitunter in freiheitliche Rhetorik. Doch wenn sogar politisch und sozial Konservative den Eindruck haben, sich im liberalen Gewand zeigen zu müssen, ist der Liberalismus dann nicht bereits so sehr im gesellschaftlichen Mainstream angekommen, dass er keiner weiteren Darstellung bedarf? Sind wir nicht alle schon – zumindest der Theorie nach – Bürger*innen in »Rawlsland«1 (für diese Wendung vgl. Mills 2014)?

Zum anderen stellt sich die Frage, ob wir den Liberalismus am Anfang des 21. Jahrhunderts überhaupt noch als politisches Paradigma akzeptieren sollten. Objektiv betrachtet hat diese politische Philosophie, die immer mit dem Anspruch aufgetreten war, Menschen zu befreien und ihre Lebenssituation zu verbessern, eine sehr durchwachsene Erfolgsbilanz vorzuweisen. Während sich die liberale Idee, dass alle Menschen gleichermaßen ein Recht auf Freiheit haben, immer weiter über den Globus ausbreitete, fanden zugleich auch deutlich weniger erhabene Überzeugungen und damit einhergehende soziale Praktiken Zustimmung. Denn in den Augen vieler Liberaler war der Liberalismus über lange Zeit mit Kolonialismus, Rassismus und Sexismus vereinbar (vgl. Mills 2017 sowie Losurdo 2006). Oft wird behauptet, es sei nur ein unglücklicher Nebeneffekt der historischen Großwetterlage, dass liberale Vordenker wie John Locke vom transatlantischen Sklavenhandel profitiert (vgl. Losurdo 2006: Kapitel 1) oder sich wie Immanuel Kant in anstößigster Weise über Frauen und Menschen nicht-europäischer Abstammung geäußert haben (vgl. Mikkola 2011). Aber wie plausibel ist diese Entschuldigung, wenn sich doch gleichzeitig nicht leugnen lässt, dass es Anhänger*innen der liberalen Tradition über Jahrhunderte hinweg verpasst haben, rassistische und sexistische Diskriminierungen und damit einhergehende Unterdrückung explizit zu problematisieren (vgl. Mills 2009)? Ähnlich kritisch kann man auch das Verhältnis von Liberalismus und sozioökonomischer Ungleichheit und Ausbeutung betrachten. Denn während der Liberalismus behauptet, alle Menschen seien in ihrer Freiheit zu respektieren, hat er scheinbar kein Problem mit Wirtschaftspraktiken, die einen immer größer werdenden Teil der Menschheit in prekäre (wenn nicht sogar hoffnungslose) ökonomische Verhältnisse bringen – und das, obwohl das globale Wohlfahrtsniveau insgesamt stetig ansteigt. Kurz gesagt: Warum sollten wir uns (und unseren geneigten Leser*innen) die Mühe machen, eine Tradition der politischen Philosophie zu erläutern, mit der die meisten bereits hinlänglich bekannt sind und die zudem (zumindest teilweise) fürchterliche Folgen hatte?

Auf die erste Frage, ob der Liberalismus nicht eine bereits hinlänglich bekannte Theorie darstelle, lässt sich folgendermaßen antworten: Selbst wenn es wirklich der Fall wäre, dass wir alle bereits hinlänglich mit dem Liberalismus als politischer Philosophie vertraut sind, sollten wir dennoch nicht damit aufhören, uns kritisch mit seinen Ideen auseinanderzusetzen. So behauptet John Stuart Mill – der selbst als Vordenker einer wichtigen Strömung im zeitgenössischen Liberalismus gelten kann (vgl. Kapitel 3.2) –, dass man jede Theorie »so richtig sie auch sein mag, nur für totes Dogma und nicht als lebendige Wahrheit ansehen kann, wenn sie nicht vollständig, oft und furchtlos zur Debatte gestellt wird« (Mill 1859: 49). Damit will Mill auf das Faktum hinweisen, dass wir uns Argumente, die wir bereits zu kennen und zu verstehen glauben, nur dann in einem umfassenden Sinne aneignen, wenn wir sie immer wieder hinterfragen. Denn nur so kennen wir nicht nur ihre Konklusionen, sondern sehen auch ein, von welchen Prämissen sie ausgehen, ob ihre Schlussfolgerungen tatsächlich Gültigkeit beanspruchen dürfen und mit welchen Gründen man sie verteidigen kann. Vor allem aber ist fraglich, ob es überhaupt möglich ist, hinlänglich genug mit dem Liberalismus bekannt zu sein. Dies wird einerseits durch die lange und vielfältige Tradition des Liberalismus erschwert. Zwar gibt es Streit darüber, ob schon Thomas Hobbes als Liberaler gelten kann (vgl. Ottmann 2006: Kapitel 4.3.6), aber spätestens seit John Lockes Zweiter Abhandlung über die Regierung, also seit 1689, gibt es im europäischen Raum liberales Gedankengut. Von Locke führt dann ein (mehr oder weniger straff gespannter) roter Faden liberaler Tradition weiter zu deontologischen Denkern wie etwa Kant im Zeitalter der Aufklärung und John Rawls in den USA des 20. Jahrhunderts, zu republikanisch gesinnten Autoren wie Jean-Jacques Rousseau am Vorabend der Französischen Revolution und Philip Pettit als zeitgenössischem Vertreter des Republikanismus, dem bereits erwähnten Mitbegründer des Utilitarismus Mill im 19. Jahrhundert und den perfektionistischen Liberalen der Gegenwart wie etwa Joseph Raz – um nur diejenigen Protagonisten zu erwähnen, deren Überlegungen wir uns auch im vorliegenden Band widmen. Andererseits ist der Liberalismus noch keinesfalls »zu Ende gedacht«. Zu vielen liberalen Kernbegriffen (wie etwa »Freiheit«, vgl. Kapitel 2.1, und »Neutralität«, vgl. Kapitel 4.2) gibt es nach wie vor philosophischen Streit, so dass gar nicht klar ist, was uns mit Blick auf diese Konzepte bereits »hinlänglich bekannt« sein könnte.

Mit Blick auf die zweite Frage, ob der Liberalismus als Theorie mit mitunter fürchterlichen Folgen heutzutage noch attraktiv sei, möchten wir dagegen Folgendes erwidern: Gerade weil man sich immer wieder kritisch mit dem Liberalismus auseinandersetzen sollte, darf man dessen dunkle Seiten – d.h. die exkludierenden Tendenzen des Denkens einiger seiner vermeintlichen Lichtgestalten ebenso wie sein durchwachsenes historisches Erbe – keinesfalls unter den Teppich kehren. Dem werden wir in Kapitel 5 Rechnung tragen, wenn wir die Kritiker*innen des Liberalismus ausführlich zu Wort kommen lassen. Dennoch scheint es uns legitim, zwischen den genuinen Inhalten einer philosophischen Tradition und den historischen Personen, die sie vorgebracht haben, zu unterscheiden – ebenso wie zwischen besagten Inhalten und der Anwendung, die sie historisch erfahren haben. So wie man die Plausibilität des Sozialismus nicht daran bemessen sollte, wie seine Ideen in den Ländern des sogenannten Ostblocks umgesetzt wurden (vgl. Cohen 2009: 82), sollte man auch den Liberalismus nicht schon deswegen verdammen, weil in Staaten, die sich als liberal bezeichnen, bestimmte soziale Gruppen nach wie vor strukturell diskriminiert werden. Mit dem vorliegenden Band hoffen wir zu zeigen, dass der Liberalismus eine plausible Theorie für unser wechselseitiges Miteinander ist – auch wenn seine Vordenker zum Teil höchst problematische Figuren waren und seine praktische Umsetzung oft nicht radikal genug bzw. schlicht nicht liberal (vgl. Mills 2012 und 2017 sowie Nussbaum 1997) war und ist.

Dabei werden wir unseren Überlegungen folgendes Verständnis von Liberalismus zugrunde legen: Allgemein gesprochen ist der Liberalismus als Ansatz in der politischen Philosophie eine Theorie staatlicher Legitimität. D.h., der Liberalismus bestimmt, welche Handlungen ein Staat vollziehen darf bzw. wie dessen Institutionen beschaffen sein müssen, damit er insgesamt als legitim angesehen werden kann. Als Testkriterium oder Prüfstein staatlicher Legitimität legt der Liberalismus dabei das Recht auf Freiheit fest. Genauer gefasst besagt der Liberalismus, dass ein Staat in seinen Handlungen bzw. durch seine Institutionen das Recht auf Freiheit seiner Bürger*innen respektieren muss, damit er als legitim angesehen werden kann. In den Kapiteln 2, 3 und 4 werden wir dieses allgemeine Verständnis des Liberalismus genauer ausbuchstabieren, doch schon an dieser Stelle wollen wir ein paar grundlegende Klärungen vorausschicken:

1. Dass ein Staat das Recht auf Freiheit seiner Bürger*innen respektiert, ist für den Liberalismus notwendige, aber nicht unbedingt auch hinreichende Bedingung für staatliche Legitimität. Es ist durchaus vorstellbar, dass liberale Autor*innen vom Staat mehr fordern, als nur der Freiheit der Bürger*innen angemessen Rechnung zu tragen. Der bereits erwähnte Rawls fordert etwa (wie wir in 3.1 näher darstellen werden), ein legitimer Staat müsse nicht nur die Freiheit seiner Bürger*innen respektieren, sondern auch sicherstellen, dass materielle Ungleichheit insbesondere den sozioökonomisch am schlechtesten Gestellten zugutekommt. Nochmals anders gewendet: Es ist durchaus mit dem Liberalismus vereinbar, wenn Autor*innen anspruchsvolle Anforderungskataloge aufstellen, denen ein Staat entsprechen muss, um als legitim angesehen werden zu können. Damit auch solche anspruchsvollen Theorien als liberal gelten können, muss ihr Anforderungskatalog lediglich dem Respekt vor dem Recht auf Freiheit der Bürger*innen den Vorrang gegenüber den weiteren Anforderungen einräumen. Dass das Recht auf Freiheit der ausschlaggebende Prüfstein für die Legitimität eines Staates ist, wollen wir als die normative Grundannahme des Liberalismus bezeichnen.

2. Zwar ist das Recht auf Freiheit der Bürger*innen für den Liberalismus der ausschlaggebende Prüfstein für staatliche Legitimität, doch dies impliziert nicht, dass der Liberalismus davon ausgeht, die Bürger*innen bräuchten für ein gelungenes Leben nichts weiter als Freiheit. Angesichts der komplexen Bedürfnisnatur menschlicher Wesen wäre diese These sehr naiv, doch glücklicherweise legt seine normative Grundannahme den Liberalismus nicht auf diese These fest. Vielmehr kann der Liberalismus zugestehen, dass Menschen verletzliche Lebewesen sind, die einander (und zudem noch viele weitere Ressourcen) für ein gelungenes Leben brauchen. Seine normative Grundannahme schreibt lediglich fest, dass der Staat nichts tun darf – auch nicht die für ein gelungenes Leben notwendigen Ressourcen bereitstellen –, wodurch er die Freiheit seiner Bürger*innen in unzulässiger Weise einschränkt.

3. Mit der Forderung, dass der Staat das Recht auf Freiheit seiner Bürger*innen respektieren muss, um als legitim angesehen werden zu können, will der Liberalismus der normativen Relevanz jeder einzelnen Bürger*in Rechnung tragen. Zwar haben verschiedene liberale Ansätze unterschiedliche Begründungen dafür, warum den Bürger*innen das Recht auf Freiheit zukommt (oder auch nicht, wie wir in Kapitel 3.2 diskutieren werden). Aber dadurch, dass sie die Legitimität staatlichen Handelns an die Beachtung dieses Rechts knüpfen, bringen alle liberale Theorien zum Ausdruck, dass jede einzelne Bürger*in wichtig ist und vom Staat in allem, was er tut, berücksichtigt werden muss. 2. und 3. kann man auch folgendermaßen zusammenfassen: Wie 3. zeigt, ist der Liberalismus in normativer Hinsicht individualistisch, weil jeder Bürger*in Rechnung getragen werden soll. Doch wie 2. zeigt, ist der Liberalismus nicht auf deskriptiven Individualismus und also auf die Annahme festgelegt, Menschen bräuchten einander nicht.

4. Und schließlich noch ein terminologischer Punkt: Viele der liberalen Theorien, die wir in diesem Band behandeln, bezeichnen sich selbst als Theorien der Gerechtigkeit. Paradigmatisch können wir hier wieder auf Rawls verweisen, der seinen liberalen Staatsentwurf selbst Eine Theorie der Gerechtigkeit nannte (vgl. Rawls 1971). Wenn man unter »Gerechtigkeit« ganz allgemein das Set von Regeln versteht, das ein Staat befolgen muss, um moralisch gerechtfertigt zu sein, sind »Gerechtigkeit« und »Legitimität« so, wie wir diesen Begriff hier verwenden werden, synonym. Allerdings hat sich in den letzten Jahren im philosophischen Diskurs ein engeres Verständnis von Gerechtigkeit eingebürgert, wonach mit »Gerechtigkeit« ein Set von Regeln zur Verteilung materieller Güter gemeint ist, das ein Staat befolgen muss, um mit Blick auf eben diese Verteilungsfrage moralisch gerechtfertigt zu sein (für dieses Verständnis von Gerechtigkeit vgl. etwa Honneth 2010: 53). Um deutlich zu machen, dass die moralische Rechtfertigung eines Staates für den Liberalismus nicht vorrangig von der richtigen Verteilung materieller Güter abhängt (auch wenn diese – siehe Punkt 1 in dieser Auflistung – durchaus eine Rolle spielen kann), haben wir uns dafür entschieden, im Folgenden mit dem Begriff »Legitimität« weiterzuarbeiten.

Nachdem mit dieser kurzen Auflistung deutlich geworden sein sollte, welches allgemeine Verständnis von Liberalismus der Darstellung in diesem Band zugrunde liegt und was dieses impliziert (und was nicht), wollen wir nun auch deutlich machen, was wir in diesem Band nicht leisten werden: Zum einen legen wir keine detaillierten autor*innenbezogenen Referate einzelner liberaler Theorien vor. Stattdessen entwickeln wir ein analytisches Raster, mit dessen Hilfe sich liberale Theorien kategorisieren lassen. D.h., in diesem Band gibt es keine Unterkapitel, die dezidiert einzelnen klassischen Autor*innen gewidmet sind, vielmehr werden deren Ansätze als Beispiele für Kategorien innerhalb unseres analytischen Rasters erörtert. Dieses Vorgehen erscheint uns sinnvoll, weil es bereits viele autor*innenbezogene Einführungswerke gibt (vgl. Euchner 2011 und Kersting 2015). Unser Ziel ist daher, eine Übersicht zu bieten, die dabei hilft, die Vielfalt liberaler Ansätze – soweit dies bei einer so langen und vielfältigen philosophischen Tradition möglich ist – zu systematisieren. Zum anderen werden wir den Liberalismus als Theorie staatlicher Legitimität diskutieren und nicht als normative Theorie wirtschaftlicher Praxis. Uns geht es also darum zusammenzutragen, was der Staat liberalen Theorien zufolge seinen Bürger*innen schuldet, und nicht darum, wie liberalen Theorien zufolge (ökonomische) Märkte verfasst sein sollten. Mit dieser Weichenstellung wollen wir keinesfalls ausblenden, dass es liberale Ansätze gibt, die Aussagen dazu treffen, wie Märkte verfasst sein sollten. Im europäischen Raum wird der Begriff »Liberalismus« sogar eher mit Fragen des Marktes – und zwar insbesondere mit der Auffassung, dass Märkte nicht durch den Staat reguliert werden sollten – als mit Fragen der politischen Legitimität verbunden (vgl. Biebricher 2012: 10). Doch so, wie wir den Liberalismus hier einführen, gibt es zwischen ihm und bestimmten wirtschaftspolitischen Forderungen keine notwendige Verbindung: Daraus, dass der Staat das Recht auf Freiheit seiner Bürger*innen respektieren muss, folgt noch nicht, dass wirtschaftliches Handeln nicht vom Staat reguliert werden darf. Damit dies folgt, muss man dem Recht auf Freiheit eine bestimmte Lesart von Freiheit zugrunde legen (nämlich entweder ein negatives Möglichkeitskonzept von Freiheit, das wir in 2.1 diskutieren und für den Liberalismus verwerfen) oder eine bestimmte Annahme dazu, was vor den Bürger*innen gerechtfertigt werden kann (wie es – im Gegensatz zum Liberalismus – der Libertarismus behauptet, vgl. 5.3). Tatsächlich ist es, wie wir in der Auflistung unter 1 bereits deutlich gemacht haben, für den Liberalismus sogar möglich, neben der Beachtung des Rechts auf Freiheit auch die Beförderung sozioökonomischer Gleichheit als Kriterium für staatliche Legitimität festzuschreiben (vorausgesetzt, dass Ersteres Vorrang vor Zweitem hat). Weil also die Verbindung zwischen dem Liberalismus als politischer Philosophie und der Forderung nach deregulierten Märkten nicht notwendig ist, werden wir auf Theorien, die Letztere vertreten, in diesem Band nicht weiter eingehen (vgl. hierzu Biebricher 2012).

Nach diesem ersten Überblick dazu, warum wir es für sinnvoll halten, sich weiterhin mit dem Liberalismus als politischer Philosophie zu beschäftigen, wie wir diesen im Weiteren verstehen und welche Fragen wir absichtlich unbehandelt lassen werden, wollen wir nun abschließend unser Vorgehen in diesem Band skizzieren. In Kapitel 2 beginnen wir damit, die normative Grundannahme des Liberalismus näher auszubuchstabieren. Denn wenn der Liberalismus diejenige politische Philosophie ist, die behauptet, dass der Staat (zumindest) das Recht auf Freiheit seiner Bürger*innen respektieren muss, um als legitim angesehen werden zu können, ist es essenziell zu wissen, wie wir das Recht auf Freiheit eigentlich zu verstehen haben. Dafür betrachten wir die einzelnen Bestandteile der liberalen Grundannahme, d.h. was in diesem Kontext mit »Freiheit« (2.1) und was mit »Recht« (2.2) gemeint ist. Während Letzteres wenig umstritten ist, gehen die Positionen zur ersten Frage von unterschiedlichen und sich zum Teil ausschließenden Intuitionen aus. Insbesondere diskutieren wir, ob man Freiheit in einem negativen oder einem positiven Sinne verstehen sollte, ob es sich bei Freiheit um ein Möglichkeits- oder ein Ausübungskonzept handelt und wie der republikanische Freiheitsbegriff einzuordnen ist. Weil unterschiedliche Autor*innen eben unterschiedliche Intuitionen dazu haben, wann wir behaupten sollten, eine Person A sei frei zu einer Handlung x, lässt sich aber der Streit um die richtige Auffassung von Freiheit nicht durch einen bloßen Abgleich von Intuitionen lösen. Stattdessen ist es sinnvoll, die praktischen Folgen der jeweiligen Freiheitsbegriffe abzuwägen, um zu klären, welche Konzeption von Freiheit am geeignetsten ist. D.h., wir werden darlegen, wie ein liberaler Staat, dessen Legitimität vom Respekt vor dem Recht auf Freiheit der Bürger*innen abhängt, aussehen würde, je nachdem, welche Auffassung von Freiheit man dem Recht auf Freiheit zugrunde legt. Hierbei zeigt sich, dass der Liberalismus am besten damit fährt, Freiheit im Sinne eines positiven Möglichkeitskonzepts zu verstehen.

In Kapitel 3 untersuchen wir dann, welche konkreten Formen eine liberale Theorie bzw. ein liberaler Staat annehmen kann, wenn er das Recht auf Freiheit seiner Bürger*innen im Sinne eines positiven Möglichkeitskonzepts ausbuchstabiert. Denn das Recht auf Freiheit ist zu abstrakt, um daraus ohne weitere Explikation konkrete politische Maßnahmen ableiten zu können. Liberale Autor*innen haben auf diese Herausforderung mit zwei unterschiedlichen Strategien reagiert, die wir in Kapitel 3.1 darstellen: Entweder haben sie Vorschläge dazu gemacht, in welche konkreten Forderungen das Recht auf Freiheit münden sollte (diese Strategie bezeichnen wir als Rechteliberalismus). Oder sie haben festgelegt, dass der Staat das Recht auf Freiheit der Bürger*innen wahrt, indem er nur solche Gesetze beschließt, die vor den Bürger*innen rechtfertigbar sind (dies ist die Strategie des sogenannten Rechtfertigungsliberalismus). Im Zuge unserer Diskussion von Rechte- bzw. Rechtfertigungsliberalismus werden wir zudem die Asymmetriethese einführen, die für viele zeitgenössische Liberale wichtig ist. Dieser These zufolge kann man trennscharf zwischen Theorien des richtigen wechselseitigen Miteinanders und solchen Konzeptionen unterscheiden, die darüber hinaus Aussagen zum richtigen Selbstverhältnis machen, d.h. darüber, was für die jeweilige Person selbst ein gutes Lebens ausmacht. Eine zweite Herausforderung für den Liberalismus ist die Frage, wie sich seine normative Grundannahme begründen lässt. Denn was spricht eigentlich dafür, dass den Bürger*innen das Recht auf Freiheit zukommt und dass sich ein legitimer Staat an diesem messen lassen muss? Mit Blick auf diese zweite Herausforderung haben liberale Autor*innen wieder mit zwei unterschiedlichen Strategien reagiert: Entweder sie behaupten, man könne das Recht auf Freiheit der Bürger*innen unter Rückgriff auf bestimmte Theorien zum richtigen Selbstverhältnis begründen. Autor*innen, die diese Strategie wählen, sind unter Umständen aus Gründen der Konsistenz dazu gezwungen zuzugestehen, dass ein liberaler Staat Maßnahmen ergreifen darf, seine Bürger*innen dabei zu unterstützen, dieses Selbstverhältnis auszubilden. Weil diese Strategie also unter Umständen mit sich bringt, dass ein liberaler Staat Maßnahmen zur Beförderung eines bestimmten Selbstverhältnisses ergreifen darf, werden solche Ansätze als perfektionistischer Liberalismus bezeichnet. Falls sie diese Implikation vermeiden wollen, können liberale Autor*innen stattdessen behaupten, dass das Recht auf Freiheit keiner weiteren Begründung bedarf – entweder weil es selbstevident ist oder weil es von allen Bürger*innen bereits akzeptiert wird. Ansätze, die hoffen, dass das Recht auf Freiheit in diesem Sinne unumstritten ist, werden im Anschluss an Rawls als politischer Liberalismus bezeichnet.

In Kapitel 3 etablieren wir bestimmte Formen des Liberalismus als Unterkategorien, in welche man gängige liberale Theorien einordnen kann. Diese Kategorisierung soll es den Leser*innen erleichtern, konkrete liberale Ansätze zu verstehen und zu bewerten. In Kapitel 4 wollen wir darüber hinaus in einige wichtige Kennzeichen des Liberalismus einführen. Genauer gesagt diskutieren wir hier Toleranz (4.1), Neutralität (4.2) und Privatheit (4.3). Dies sind Kennzeichen, die man häufig mit dem Liberalismus verbindet – aber wie genau müssen wir uns diese Verbindung vorstellen? In jedem dieser Unterkapitel nehmen wir zuerst eine Begriffsklärung vor und diskutieren dann, inwiefern der Liberalismus auf diese Kennzeichen festgelegt ist. Dabei wird sich zeigen, dass in einem liberalen Staat sowohl der Staat gegenüber seinen Bürger*innen als auch diese untereinander Toleranz üben müssen, weil den Bürger*innen das Recht auf Freiheit zukommt. Neutralität ist dagegen eine Eigenschaft, die staatlichem Handeln zukommt, weil ein liberaler Staat – da er das Recht auf Freiheit seiner Bürger*innen respektieren muss – bei der Begründung seiner Handlungen nicht auf umstrittene Theorien zum richtigen Selbstverhältnis zurückgreifen darf. Und ebenso resultiert die – dezisionale, informationelle und lokale – Privatheit der Bürger*innen daraus, dass der Staat in seinem Handeln ihr Recht auf Freiheit nicht übertreten darf.

Die Kapitel 2 bis 4 sind nicht nur eine Beschreibung des Liberalismus; vielmehr hoffen wir, diesen so plausibel darzustellen, dass sie gleichzeitig als Argumente für den Liberalismus dienen können. Doch wie wir am Anfang dieser Einleitung deutlich gemacht haben, gibt es Aspekte des Liberalismus, die durchaus kritikwürdig sind. Einige Varianten der Kritik am Liberalismus, welche der philosophische Diskurs über die letzten Jahrzehnte hinweg vorgebracht hat, stellen wir in Kapitel 5 vor. Genauer gesagt wollen wir Autor*innen zu Wort kommen lassen, die behaupten, dass der Liberalismus politisch irrelevante Fragen aufwirft (5.1), dass er von falschen anthropologischen Annahmen ausgeht (5.2), dass er ein falsches Verständnis von Rechtfertigung voraussetzt (5.3) und dass schließlich seine normative Grundannahme falsch ist (5.4). In jedem dieser Unterkapitel halten wir auch fest, wie der Liberalismus auf diese Einwände antworten könnte – wobei vorweggeschickt sei, dass er nicht auf alle diese Einwände eine plausible Antwort hat.

Wie jede philosophische Theorie steht also auch der Liberalismus vor noch unbewältigten Herausforderungen. Dies machen die Einsprüche der Kritiker*innen aus Kapitel 5 deutlich, aber auch das Faktum, dass nach wie vor unklar ist, ob und wie sich der Liberalismus von einer Theorie staatlicher Legitimität in eine Theorie überführen lässt, die auch zu transnationalen Fragen etwas zu sagen hat. Auf dieses Problem wollen wir im letzten Kapitel dieses Bandes eingehen. Hier diskutieren wir, ob der Liberalismus durch seine normative Grundannahme darauf festgelegt ist, seinen Bürger*innen bzw. allen Personen ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit einzuräumen. Wir stellen dar, was für diese These spricht (6.1) und wie man diese kritisieren könnte, wenn man innerhalb des liberalen Argumentationsrahmens verbleiben will (6.2) bzw. sofern man bereit ist, diesen zu verlassen (6.3).

Für die aufmerksame Durchsicht des Manuskripts und ihre vielen hilfreichen Anmerkungen dazu danken wir ganz herzlich Elsa Rimmerle. Ebenso danken wir dem LMU Mentoring-Programm für die großzügige finanzielle Unterstützung. Schließlich sei auch Steffen Herrmann für sein umfassendes Lektorat und die Betreuung dieses Bandes gedankt.

2. Die normative Grundannahme des Liberalismus: Das Recht auf Freiheit

In Kapitel 1 haben wir deutlich gemacht, dass der Liberalismus als politische Philosophie eine Theorie zur Grenze staatlicher Legitimität ist. Zudem haben wir angedeutet, wo diese Grenze dem Liberalismus zufolge verläuft, nämlich entlang des Rechts auf Freiheit der Bürger*innen. In diesem Kapitel wollen wir nun das Recht auf Freiheit – die normative Grundannahme des Liberalismus – im Detail beleuchten. Genauer gesagt wollen wir diskutieren, was wir unter Freiheit verstehen sollten, d.h. welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir von einer Person oder einer Menge von Personen (wie etwa einer Bürgerschaft) behaupten können, sie sei frei (Kapitel 2.1). Dabei wird sich zeigen, dass Freiheit ein Konzept ist, über dessen Inhalt sich sinnvoll streiten lässt und in der Philosophiegeschichte auch viel gestritten wurde. Im Anschluss daran werden wir erörtern, was es bedeutet, wenn den Bürger*innen vom Liberalismus ein Recht auf Freiheit zugesprochen wird und inwiefern sich die daraus resultierenden unterschiedlichen Formen eines liberalen Staates – jeweils in Abhängigkeit von dem ihnen zugrunde liegenden Verständnis von Freiheit – unterscheiden (Kapitel 2.2).

2.1 Verschiedene Freiheitsbegriffe

Bevor wir mit unserer Diskussion der verschiedenen Konzepte von Freiheit beginnen, müssen wir allerdings auf drei grundsätzliche Einschränkungen hinweisen. Zum einen werden wir uns im Folgenden ausschließlich mit Handlungsfreiheit beschäftigen. Wir möchten also klären, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir von einer Person A behaupten können, sie sei frei zu einer bestimmten Handlung x. Handlungsfreiheit ist nicht die einzige Spielart von Freiheit, mit der sich Philosoph*innen beschäftigt haben. Ein großer Teil des philosophischen Diskurses um Freiheit dreht sich um Willensfreiheit und damit um die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir von einer Person A behaupten können, sie sei frei dazu, ihre Motive und Wünsche selbständig auszubilden und ihren Willen zu bestimmen. Diese zweite Spielart von Freiheit werden wir im Folgenden ausblenden, so dass immer Handlungsfreiheit gemeint ist, wenn wir in nicht näher spezifizierter Weise von Freiheit sprechen. Denn als Ansatz der politischen Philosophie, der das Verhältnis der Bürger*innen untereinander bzw. zum Staat in den Blick nimmt, geht es dem Liberalismus darum, sinnvoll festzulegen, was die Akteur*innen tun (und nicht: wollen) können, also um ihre Handlungsfreiheit.

Zum anderen geht es uns um Handlungsfreiheit in einem deskriptiven und nicht in einem normativen Sinne. D.h., wir möchten klären, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir von einer Person A behaupten können, sie sei frei zu einer bestimmten Handlung x in dem Sinne, dass ihr x möglich ist bzw. sie x tun kann. Fragt man nach der normativen Freiheit einer Person A zu einer Handlung x, so fragt man stattdessen danach, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir von A behaupten können, sie sei frei zu x in dem Sinne, dass sie x tun darf oder dass es ihr erlaubt ist, x zu tun. Der Grund, aus dem wir uns auf Handlungsfreiheit im deskriptiven Sinne beschränken, ist natürlich nicht, dass es im Liberalismus nicht darum geht zu klären, was Menschen tun dürfen und was nicht. Aber das normative Setup des Liberalismus, d.h. wie dieser seine normative Grundannahme wählt, erlaubt es uns, die Frage nach der deskriptiven Freiheit der Akteur*innen und die nach ihrer normativen Freiheit getrennt voneinander zu betrachten. Wie in Kapitel 1