Stefan Schmidl
Jules Massenet
Stefan Schmidl
Jules Massenet
Sein Leben, sein Werk, seine Zeit
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Bestellnummer SDP 65
ISBN 978-3-7957-8613-7
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Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer SEM 8310
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Inhalt
Einleitung
Jahre der Ausbildung und Krieg (1842– 1873)
Kindheit
Rompreis (1863)
Zurück in Paris (1866): Genrestücke, Lieder und Heirat
Operndebüt im komischen Fach: La Grand’tante (1867)
Massenet im Krieg (1870)
Musiktheater im größeren Maßstab: Don César de Bazan (1872)
Melancholie: Les Érinnyes (1873)
Aufstieg zwischen Können und Kalkül (1873 – 1882)
Erotische Heilige: Marie-Magdeleine (1873)
Etablierung: Scènes pittoresques, Scènes dramatiques, Phèdre-Ouvertüre und Ève (1873 – 1875)
Der musiktheatralische Durchbruch: Le Roi de Lahore (1877)
Professor am Conservatoire (1878): Leitbild einer Generation
Das dritte Oratorium: La Vierge (1880)
Religion, Sexualität und Politik: Hérodiade (1881)
Paradise lost: Scènes alsaciennes (1882)
Große Gefühle (1883 – 1888)
Rezept eines Welterfolges: Manon (1884)
Spanisches Heldenleben: Le Cid (1885)
Deutsche Tragödie: Werther (1887)
Im Fokus der Welt (1889 – 1894)
»Voici le divin moment«: Esclarmonde (1889)
Musik über Frauen, Musik für Frauen
Le Mage (1891) und Neubeginn
Triumphe in Wien (1892): Werther und Le Carillon
Zwischen Diesseits und Jenseits: Thaïs (1894)
Jahre nach der letzten Mode (1894 – 1899)
Nostalgisches Sequel: Le Portrait de Manon (1894)
Verismo à la française: La Navarraise (1894)
Éducation sentimentale: Sapho (1897)
Lukrative Märchenwelt: Cendrillon (1899)
Massenets Jahrhundertwende (1900 – 1903)
Überwältigung jenseits der Oper: La Terre promise (1900)
Mirakelspiel im technologischen Zeitalter: Grisélidis (1901)
Männeroper: Le Jongleur de Notre-Dame (1902)
Zurückgenommene Avantgarde: Amadis
Massenets Bayreuth: Monte Carlo
Rastloses Alter (1903 – 1910)
Klavierkonzert (1903) und Cigale (1904)
Hommage an Mozart: Chérubin (1905)
Klassizität und Opulenz: Ariane (1906)
Melancholie und Blut: Thérèse (1907)
Balletttragödie in Spanien: Espada (1908)
Griechische Mythologie, Buddha, Affenschlachten: Das Fiasko Bacchus (1909)
Auskomponiertes Sterben: Don Quichotte (1910)
Späte Experimente, Tod und Vermächtnis (1911/1912)
Neue Einfachheit: Panurge (1911) und Souvenirs (1911/1912)
Pflicht oder Gefühl: Roma (1912)
Versuche über das Wort-Ton-Verhältnis: Expressions lyriques und Suite parnassienne
»La mort divine«: Cléopâtre (1912)
Massenets Tod und Verklärung
Fazit: Massenet, die Moderne und der Geschmack des Fin de Siècle
Anhang
Anmerkungen
Literatur (Auswahl)
Zeittafel
Werke (Auswahl)
Diskografie (Auswahl)
Werkregister
Personenregister
Bildnachweis
Einleitung
Jules Massenets Nachruhm gründet sich auf zwei Opern und einem Opernintermezzo: Manon, Werther und der Méditation religieuse aus Thaïs. Im französischen und angloamerikanischen Raum sind es noch seine Élégie und die Klavierlieder Nuit d’Espagne und La Crépuscule, mit denen Massenets Name dauerhaft im sängerischen Konzertrepertoire vertreten ist. Dennoch stellen diese Werke nur eine kleine Auswahl eines umfangreichen, zum Zeitpunkt seines Todes noch viel gepflegten Œuvres dar. Massenet, einst »der beliebteste unter den zeitgenössischen Musikern« (wie ihn Claude Debussy in seinem Nachruf betitelte),1 geriet aber ins Abseits der Wertschätzung – ein Abseits, das sich besonders auf Massenets Image als »Frauenkomponist«, als Komponist eines spezifisch »weiblichen Tons«,2 gründete.
Zu Massenets zwiespältiger Rezeption trug auch bei, dass er als Mensch schwer auf einen Nenner zu bringen war. Während ihn Georges Bizet privat als »intrigant« beschrieb,3 war er zeitlebens um ein gefälliges, unverbindliches Image in der Gesellschaft bemüht und vermied es auch, allzu eindeutig Stellung zu den in der Dritten Republik Frankreichs zum Teil heftig geführten Auseinandersetzungen um Musik und Ideologie zu beziehen. Selbst in seinen Souvenirs, am Ende seines Lebens, sah er von der Preisgabe von Überzeugungen ab. Hinter der Maske des Unverdächtigen, zu der auch die von ihm gerne öffentlich demonstrierte Eigenheit seiner Premierenangst zählt, mit der er wohl Sympathien erheischen wollte, wahrte Massenet ein durchgehendes Inkognito. Dieses Verhalten teilte er mit einem seiner Zeitgenossen, dem Schriftsteller Charles Baudelaire, dessen Masken aber ganz anderer Natur waren.4
Massenets Habitus wirft Fragen auf: War die Motivation dieser Rolle auf seine Persönlichkeit zurückzuführen oder war sie simples Kalkül? Setzte er aus Rücksicht auf sein Stammpublikum lieber auf dieses Image als auf das eines sensationellen Provokateurs oder Irritators? Warum schrieb er aber dann dennoch Werke, in denen er unerwartet neue musikalische Ausdrucksmöglichkeiten verwirklichte (wie in seinem zweifellos ungewöhnlichsten Werk, Amadis)? Gerade in diesem Verhalten, das vorsichtig als Abwägen zwischen Gewinnorientierung und künstlerischem Interesse erklärt werden kann, ist Massenet ein sehr aufschlussreicher Komponist und gewährt Einblick in das Feld musikalischer Produktion im 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Nicht weniger ambivalent und damit bezeichnend für seine Zeit ist Massenets Musik. An der Oberfläche erscheint sie delikat und keinerlei Schwierigkeiten bereiten zu wollen. Blickt man jedoch genauer hinter die »Maske« Massenet, entzieht sie sich dieser Klassifizierung. Das dem problemlosen Hören vermeintlich Entgegenkommende, wie es sich vor allem in den beständigen Opernerfolgen darstellt, lässt nämlich Massenets stupende kompositorische Technik, lässt das Ambitionierte seiner Musik übersehen. Es ist symptomatisch, dass jene Werke, in denen er die Virtuosität seiner Mittel deutlicher zur Schau stellte, das früh verfestigte Image des Playboy-Komponisten störten und deswegen kaum rezipiert wurden. So blieb etwa von Thaïs nur die Violinkantilene der Méditation übrig, nicht aber die restliche Oper, die in ihrem Nuancenreichtum durchaus neben Debussys Pelléas et Mélisande bestehen kann. Ebenso wenig Beachtung fand auch die beinahe aphoristische Ästhetik seines Spätwerks. Zuletzt war es Massenets fortwährendes Ausprobieren von Operngenres, das ihm schnell den Ruf eines Eklektikers einbrachte. Wenn er sich jedoch in so unterschiedlichen Moden wie der Grand opéra, der Opéra comique, des Märchenspiels oder jener des Verismo versuchte, so zeichneten sich diese nicht durch dogmatische Handhabung der jeweiligen stilistischen Normen aus, sondern waren immer individuelle Interpretationen.
Angesichts eines so reichen, originellen Schaffens und dessen Relevanz für das Verständnis des Fin de Siècle ist es umso erstaunlicher, dass in der deutschsprachigen Musikliteratur bislang nicht der Versuch unternommen wurde, Massenet eine biografische Studie zu widmen. Der 100. Todestag des rätselhaften Komponisten gibt daher Anlass, dieses Desideratum mit vorliegendem Buch über Massenets Leben, Werk und Kontext endlich einzulösen.
Jahre der Ausbildung und Krieg
(1842 – 1873)
Kindheit
Jules Émile Frédéric Massenet wurde am 12. Mai 1842 geboren. Alexis Massenet (1788 – 1863), sein Vater, entstammte einer elsässischen Familie aus Straßburg,5 hatte im sächsischen Freiberg Polytechnik studiert und dabei Begabung für Ingenieurskunst und Bergbau bewiesen. Im Zuge der Napoleonischen Kriege wurde er Stabsoffizier6 und kam bis ins französisch besetzte Spanien, wo ihm sein Fachwissen für den Zinnoberabbau im Ort Almadén zugutekam.7 1813 nahm er seinen Abschied von der Armee und ging in die Metall verarbeitende Privatwirtschaft. Drei Jahre später ehelichte er in Toulouse Sophie de Jaegerschmidt,8 die ihm acht Kinder gebar, bevor sie 1829, im Alter von nur 32 Jahren, im Kindbett verstarb. Bereits im folgenden Jahr heiratete Alexis Massenet erneut. Mit Éléonore-Adélaïde Royer de Marancour (1809 – 1875), der Tochter eines Kriegskommissars unter Kaiser Napoléon I.,9 vermehrte sich die Zahl seiner Nachkommenschaft um weitere vier Kinder – Jules sollte das letzte sein.
1842 war Massenets Familie in dem im Département Loire gelegenen Montaud, einem Vorort von Saint-Étienne im Großraum Lyon, ansässig. Alexis Massenet stand dort inzwischen als Direktor einer Fabrik vor, in der qualitativ hochwertige Sensen mit großer Nachfrage produziert wurden.10 Seinen Erfolg verdankte er auch der postnapoleonischen Restaurationszeit. Obwohl Alexis Massenet persönlich überzeugter Anhänger Napoléons war, profitierte er – gemäß der Devise der Ära »Enrichissez-vous« (»Bereichert Euch«) – wie viele andere bürgerliche Industrielle vom kaum reglementierten Wirtschaftsliberalismus unter dem »Roi Citoyen«, dem »Bürgerkönig« Louis-Philippe.
Nach der Übersiedelung nach Pont-Salomon, wo er zwei Jahre lang noch eine weitere Firma leitete, verkaufte Alexis Massenet 1847 seine dortigen Anteile und zog mit der Familie nach Paris,11 wo er eine stattliche Wohnung in der Rue de Beaune, unweit der Tuilerien, bezog. Hier erlebte sein Sohn Jules den Ausbruch der Februarrevolution von 1848, die zur Absetzung des Königs und zur Ausrufung der Republik führte: Die Ereignisse dieser Tage beeindruckten Massenet so sehr, dass er mit ihnen 63 Jahre später seine Lebenserinnerungen beginnen ließ.12
Montaud, 1860
In der Hauptstadt erhielt der junge Jules von seiner Mutter den ersten Klavierunterricht.13 Er zeigte dabei so viel Talent, dass Alexis Massenet sich dazu entschloss, seinen Sohn, der seit 1851 Schüler des Lycée Saint-Louis war, auf das Pariser Conservatoire zu schicken. Sein Vater ermöglichte ihm damit eine künstlerische Laufbahn, ohne auf eine weitere Ausbildung zu bestehen, die im Falle eines Scheiterns seine Existenzgrundlage hätte bilden können.
1853 wurde der elfjährige Jules am Conservatoire zugelassen. Er lernte zunächst in der Klavierklasse des ehemaligen Kavallerieoffiziers Adolphe-François Laurent (1796 – 1867) und in der Solfège-Klasse von Augustin Savard (1814 – 1881). Doch schon ein Jahr später musste er seine Studien einschränken. Da der Gesundheitszustand des an Rheuma leidenden Vaters einen dauerhaften Aufenthalt in Paris unmöglich machte, zog die Familie erneut um, diesmal ins alpine Chambéry, nahe des Kurortes Aix-les-Bains.14 Jules Massenet konnte zwar zunächst noch in Paris bleiben, da sich für ihn die Möglichkeit ergab, bei seiner mit dem Maler Pierre-Paul Cavaillé verheirateten Schwester zu wohnen,15 aber in den Jahren 1856 und 1857 lebte auch er durchgehend in Chambéry, wo er eigenständig seine Übungen am Klavier fortsetzte und die Kompositionen des in Frankreich noch wenig bekannten Robert Schumann für sich entdeckte.16
1857 erlaubte Alexis Massenet seinem Sohn die Rückkehr nach Paris – Jules lebte nun wieder in der Wohnung seiner Schwester. Erneut eingeschrieben am Conservatoire, erzielte er alsbald erste öffentliche Erfolge. 1859 gab er nicht nur seinen ersten Klavierabend, er gewann für sein Klavierspiel in einem Wettbewerb auch den ersten Preis. Im selben Jahr begann sein Unterricht in Harmonielehre beim renommierten Komponisten und Conservatoire-Professor François Bazin (1816 – 1878), der sich von Massenet jedoch nicht im Geringsten beeindruckt zeigte und ihm vermutlich unmissverständlich bedeutete, seine Stunden zu verlassen.17 Nicht viel besser erging es ihm in der Orgelklasse von François Benoist (1794 – 1878), die er ebenfalls bald nicht mehr besuchte.18 Harmonielehre studierte er in der Folge zunächst privat bei seinem früheren Solfège-Lehrer Augustin Savard. Erst 1860 belegte er wieder eine entsprechende Klasse am Conservatoire, jene von Napoléon-Henri Reber (1807 – 1880).
Neben seiner musikalischen Ausbildung arbeitete Massenet als Klavierlehrer, als Cafépianist und als Perkussionist. In letzterer Funktion war er zunächst im Orchester des Théâtre du Gymnase am Boulevard de Bonne Nouvelle Triangelspieler. Dieser bescheidenen Tätigkeit folgte ein Engagement als Paukist im Orchester des Théâtre Lyrique,19 wo er 1859 die Uraufführung von Charles Gounods Faust mitgestaltete. In Hinblick auf seine spätere Karriere sollten Erfahrungen wie diese grundlegende Bedeutung erlangen, lernte er hier doch Konventionen und Praxis städtischen Musiktheaters aus erster Hand kennen. Später war Massenet auch Substitut am Théâtre Italien und konnte in dieser Funktion den Proben der drei Konzerte beiwohnen, die Richard Wagner anlässlich der Pariser Premiere seines Tannhäuser gab.20 Massenet war somit unter den ersten französischen Komponisten, die Wagners »Zukunftsmusik« in Aufführungen kennenlernten – und sich für sie begeisterten.
1861 erschien erstmals eine Komposition Massenets, der mittlerweile nicht mehr bei seiner Schwester wohnte,21 im Druck: die Grande fantaisie de concert über Themen aus Giacomo Meyerbeers Oper Le Pardon de Ploërmel (die auch unter ihrem kürzeren Titel Dinorah bekannt ist). Er widmete sie seinem Klavierlehrer Laurent.22 Mit dieser Paraphrase erwies Massenet einerseits Meyerbeer, dem führenden Opernkomponisten in Frankreich seit den 1830er-Jahren, seine Reverenz, andererseits Franz Liszt, der mit seinen virtuosen Klavierparaphrasen eine charakteristische Form der Selbstpräsentation, aber auch der Auseinandersetzung mit den Werken anderer Komponisten gefunden hatte. Die solcherart gewürdigten Musiker blieben für das weitere Schaffen Massenets einflussreich: Meyerbeer als Komponist eines überaus erfolgreichen Musiktheaters, der Grand opéra, und Liszt als Künstler, der in der Lage war, Ausdrucksspektren auszuloten und mühelos zwischen Ernst, Ironie, Sentimentalität und purer Unterhaltung zu changieren.
Doch zunächst wollte Massenet seiner Ausbildung den letzten Schliff geben. Im November 1861 trat er in die Kompositionsklasse von Ambroise Thomas (1811 – 1896) ein, der bereits seit 1856 Professor am Conservatoire war.23 Thomas genoss damals einen guten Ruf in der französischen Musikwelt,24 doch erst seine lyrischen Dramen Mignon (1866) und Hamlet (1868) sollten ihn zu einer internationalen Berühmtheit machen. Er entpuppte sich als entscheidende Persönlichkeit in Massenets Studienjahren: Überzeugt von dessen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten, ließ Thomas seinem Schüler in bald freundschaftlicher Verbundenheit alle theoretischen Fertigkeiten und alle Förderungen angedeihen, die ihm selbst zur Verfügung standen.
Ambroise Thomas
Rompreis (1863)
Die private und öffentliche Anerkennung, die Massenet einerseits durch Thomas, andererseits durch seine erste Publikation erfuhr, spornte ihn an, sich nach nur sechs Monaten Kompositionsunterricht bei Thomas erstmals um den begehrten, von der Académie des Beaux-Arts seit 1803 jährlich ausgeschriebenen Prix de Rome zu bewerben. Dieser sowohl prestigeträchtige wie inspirierende Preis ermöglichte es angehenden Künstlern, als Stipendiaten nahezu fünf Jahre in der römischen Villa Medici zu verbringen. Wie frühere Preisträger wie Jacques Fromental Halévy oder Charles Gounod gezeigt hatten, konnten Komponisten dort wichtige Stimuli für ihr Schaffen empfangen und danach beachtliche Karrieren in Frankreich beginnen.
Um den Rompreis zu gewinnen, mussten eine Kantate für Soli und Orchester sowie vier Chorsätze komponiert und eingereicht werden, die nach einem strengen Auswahlverfahren bewertet wurden. Bei seinem ersten Anlauf im Mai 1862 gewann Massenet zwar noch nicht, aber er wurde von der Jury bereits lobend erwähnt.25 Zudem erreichte er in der Kategorie Kontrapunkt und Fuge den zweiten Platz.26
Mitten in Massenets Vorbereitungen zur neuerlichen Bewerbung für den Prix de Rome fiel im Januar 1863 der Tod des Vaters: Alexis Massenet war es nicht mehr vergönnt, den Triumph seines Sohnes mitzuerleben, dem es sechs Monate später gelang, für die Kantate David Rizzio (auf einen Text von Gustave Chouquet) den ersehnten Preis zugesprochen zu bekommen. Noch vor der Abreise nach Italien beendete Massenet seine erste Orchesterkomposition, die Ouverture en sol.27 Im Januar 1864 traf er schließlich in Rom ein.28
Seinem Aufenthalt in Italien widmete Massenet in seinen Lebenserinnerungen breiten Raum.29 Die anhaltende Begeisterung für das Goethe’sche »Land, wo die Zitronen blühn« teilte er mit vielen anderen Künstlern des 19. Jahrhunderts. Sie wollten Italien als arkadische, vermeintlich unberührte Idylle inmitten einer wirtschafts- und kapitalorientierten Welt erleben, als einen Ort, der zudem maßgebliche Artefakte des klassischen Altertums bereithielt. Der Imaginationsort Italien war somit doppelt anziehend – Massenet widmete ihm noch während seines Aufenthaltes die Orchestersuite Pompéia und setzte ihm schließlich am Ende seiner Laufbahn mit der Oper Roma ein spätes musiktheatralisches Denkmal.
In Italien lernte Massenet aber nicht nur das Erbe der römischen Antike, sondern auch eine lebende Legende der Musik des 19. Jahrhunderts kennen: Franz Liszt. Liszt hatte sich in jenen Jahren infolge seiner Hinwendung zum Katholizismus, die in der Annahme der Niederen Weihen eines Abbés gipfelten, im Kloster Madonna del Rosario einquartiert. In der irrigen Hoffnung, vom Papst mit dem Amt des vatikanischen Kapellmeisters betraut und damit in den Rang eines neuen Palestrina erhoben zu werden, schrieb Liszt damals vor allem Werke sakralen Inhalts, verzichtete deswegen aber nicht auf den Empfang internationaler Gäste.
Einer dieser vielen Besucher war Massenet, den Liszt sogleich protegierte, indem er ihn Louise-Constance (genannt Ninon) de Gressey, die in Rom bei einem von Liszts Schülern vorübergehend Klavier studierte,30 als lehrenden Musizierpartner empfahl.31 Ninon ging gern auf diesen Vorschlag ein, zumal er auch von ihrer Mutter, Madame de Sainte-Marie, die mit ihr den Winter in Rom verbrachte, gutgeheißen wurde. Die unklaren Familienverhältnisse Ninons, die nicht den Familiennamen ihrer Eltern trug, und deren Mutter aus der Identität des Vaters ein großes Geheimnis machte,32 störten Massenet dabei keineswegs.
Das intime römische Musizieren blieb nicht ohne Folgen. Zwischen Lehrer und Schülerin bahnte sich eine amouröse Beziehung an, die auch nach deren Rückkehr nach Paris Bestand haben sollte. Massenets zweijähriger italienischer Aufenthalt hat auf diese Weise auch jenseits künstlerischer Erfahrung einen prägenden Eindruck hinterlassen.
Franz Liszt. Gemälde von Elisa Ransonnet-Villez, 1879
In Rom setzte sich Massenet – nicht zuletzt inspiriert vom vierhändigen Klavierspiel mit der sechs Jahre älteren Ninon – erneut mit der Musik der deutschen Romantik, besonders mit Schumann,33 auseinander. Zudem begann er, nach zwei vorangegangenen Operettenversuchen, sich intensiver mit dem Medium Musiktheater zu befassen. Als Sujet wählte er Victor Hugos großen Romanerfolg Notre-Dame de Paris – eine Mixtur aus Vergangenheitskonstruktion, überlebensgroß gezeichneten Figuren und einer drastisch geschilderten Handlung. Massenet wählte mit diesem Roman einen Stoff, der prädestiniert war für die Grand opéra, jene aufsehenerregende und gewinnbringende Gattung, mit der Komponisten wie Halévy, Daniel-François-Esprit Auber, besonders aber Meyerbeer seit den 1830er-Jahren durchgehend Erfolge erzielten. Auch wenn Massenet dieses erste große Musiktheaterprojekt nicht zu Ende führte, zeichnet sich hier bereits das langfristige Ziel seiner künstlerischen Bemühungen ab: Er wollte Opernkomponist werden.
Der junge Massenet in Rom. Zeichnung von Jules-Clément Chaplain, 1864
Zurück in Paris (1866): Genrestücke, Lieder und Heirat
Für gewöhnlich verbrachten Rompreis-Gewinner zunächst zwei Jahre in Rom, dann ein Jahr in Deutschland und schließlich noch zwei weitere Jahre in Paris.34 Massenet kehrte dagegen schon nach zwei Jahren endgültig nach Paris zurück. Er nutzte die finanzielle Unabhängigkeit, die ihm das verbleibende Stipendium garantierte, um sich in der Metropole, die gerade im Auftrag Napoléons III. zur mondänen Weltstadt umgewandelt wurde, möglichst schnell einen Namen zu machen – wohl auch, um Ninon heiraten zu können.
Eingemietet in der Rue Taitbout im 9. Bezirk,35 erreichte er im Februar 1866 eine orchestrale Aufführung seiner Suite Pompéia im Café Le Casino.36 Massenets Werk, das mit suggestiven Satztiteln wie Hymne à Éros (Danse grecque), Chant funèbre (Chœur des funérailles) und Bacchanale aufwartete, wurde damals sogar mit einer Zeitungskritik geehrt, die den Einfluss von Berlioz und »horreur des lieux communs«37 (»schreckliche Gemeinplätze«) feststellte. Ohne davon entmutigt zu sein, versuchte sich Massenet nach diesem Debüt gleich nochmals im Konzertfach. Im Sommer 1866 erlebten seine Deux fantaisies für Chor und Orchester, bestehend aus einer Noce flamande (Flämischen Hochzeit; nach einem Text von Gustave Chouquet, dem Dichter seiner Rompreis-Kantate) und dem orientalisierenden Retour d’une caravane (Rückkehr einer Karawane) in den Concerts des Champs-Élysées ihre Premiere.38
Massenet bediente aber auch den Markt des häuslichen Musizierens. In den Dix pièces de genre, als sein Opus 10 publiziert, zeigt sich Massenet eher den Vorbildern Robert Schumanns und Felix Mendelssohn Bartholdys verpflichtet als jenem Franz Liszts. In dieser Sammlung von Genrestücken, bestehend aus Nocturne, Marche, Barcarolle, Rigodon, Mélodie, Saltarello, Vieille chanson, Légende, Fughetta (die Massenets brillante kontrapunktische Fertigkeiten vorführt) und Carillon, sticht vor allem die Lento-Mélodie in e-Moll heraus, aus der später Massenets beliebte Élégie werden sollte. Mit dieser chromatisch abwärtsfallenden Kantilene fand er einen schlüssigen, publikumswirksamen musikalischen Ausdruck für Melancholie, jenen für das 19. Jahrhundert so bezeichnenden Zustand.
Jeunes filles au piano.
Gemälde von Pierre-Auguste Renoir, 1872
1866 entstand mit dem Liederzyklus Poème d’avril noch eine ungewöhnliche Komposition. Die literarischen Vorlagen dazu lieferte der Dichter Armand Silvestre (1837 – 1901), den Massenet erst kurz zuvor kennengelernt hatte.39 Massenets Lieder fielen in die Blütezeit dieser Gattung:40 Die mélodie, wie die Form in Frankreich genannt wurde, unterschied sich deutlich von der deutsch-österreichischen Tradition und hatte im Laufe des 19. Jahrhunderts eigenständige Konventionen herausgebildet. Viel mehr als im deutschen Lied standen bei der mélodie das vertonte Gedicht als solches, das Auskosten seiner metrischen Nuancen, mehr noch: das Zelebrieren der französischen Sprache (wie es Roland Barthes formuliert hat)41 im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sie war zuallererst eine Kunstform der Salons,42 der bürgerlichen Repräsentation. Die Eigenart, Lieder als Zyklus zu bündeln, war allerdings ungewöhnlich. Zwar gab es in Frankreich schon zuvor einige Liederzyklen, etwa Hector Berlioz’ Les Nuits d’été (1841), sie hatten aber keine Verbreitung gefunden.
Einheit verlieh Massenet seinem Zyklus Poème d’avril, indem er ihm drei wiederkehrende, sich entwickelnde Motive zugrunde legte.43 Besonders hervorstechend ist jedoch die Anweisung, vor den einzelnen Liedern jeweils das ursprüngliche Gedicht rezitieren zu lassen. Der sich dadurch ergebende theatralische Effekt war prädestiniert für den Vortrag im Salon, wo er seine Wirkung nicht verfehlte. Massenets »Entdeckung« des Melodramatischen, des Wechselspiels aus gesprochenem und gesungenem Wort, sollte ihn bis zu seinen letzten Kompositionen beschäftigen.
Ende 1866 erhielt Massenet endlich die Zustimmung seiner zukünftigen Schwiegermutter, Ninon zu heiraten, die für ihn ihre eigene mögliche Karriere als Konzertpianistin aufgab. Im pittoresken Dorf Avon (Arrondissement Fontainebleau) gaben sie sich am 8. Oktober 1866 das Jawort. Anschließend zogen sie zu Ninons Mutter in deren Wohnung im 9. Pariser Bezirk.44 Zynisch wird Guy de Maupassant später bemerken, Massenet hätte, »als er noch unbekannt war, eine jene Künstlerehen geschlossen, die man dann bis zu seinem Tode durch die ganze Zeit des Ruhmes wie eine Fessel mit sich schleppt.«45
Operndebüt im komischen Fach: La Grand’tante (1867)
Unter der Bedingung, jährlich einen Einakter eines Rompreisträgers zu produzieren, erhielt die Opéra Comique staatliche Subventionen.46 Ihr Direktor Adolphe de Leuven (1800 – 1884) bat die Kompositionsprofessoren des Conservatoire daher um Empfehlungen. Ambroise Thomas, der seinen vielversprechendsten Schüler weiterhin protegierte, empfahl Massenet, der prompt aufgefordert wurde, ein entsprechendes Werk zu komponieren. Gleichzeitig ergingen aber auch Einladungen an zwei weitere Komponisten. Die schiere Schnelligkeit, mit der Massenet die Aufgabe bewältigte, gab letzten Endes den Ausschlag: Sein Einakter war als erster beendet und aufführungsbereit.47
Das von Massenet vertonte Libretto aus der Feder von Jules Adenis (1823 – 1900) und Charles Granvallet († 1898) – zuerst Alice,48 später La Grand’tante übertitelt – wartete mit einer Lustspielhandlung auf: Der junge Guy de Kerdrel ist als Kavalleriesergeant in Afrika stationiert. Die Nachricht vom Tod seines Großonkels, vor allem aber die damit verbundene Aussicht auf das zu erbende Schloss, veranlasst ihn, nach Frankreich zurückzukehren. Tatsächlich hat der Großonkel seinem Großneffen das Anwesen vermacht, allerdings, so meint die Haushälterin Chevrette, existiere noch ein jüngeres, aber nicht unterschriebenes Testament, das das Erbe der Ehefrau des Onkels zuspricht. Diese stellt sich als die 20-jährige Schönheit Alice heraus, die ihren Mann wie einen Vater geliebt und erst auf dem Totenbett geheiratet hat. Die jungen Hinterbliebenen gefallen sich auf Anhieb. Kerdrel gibt sich großmütig und geht sogar so weit, die Unterschrift seines Großonkels auf dem zweiten, mittlerweile aufgefundenen Testament zu fälschen, damit Alice doch noch in den Besitz des Schlosses kommen kann. Widerstrebend nimmt sie das Erbe an. Kerdrel verspricht, bald zurückzukehren, um nach abgelaufener Trauerzeit um die Hand seiner Tante anzuhalten.
Massenets erste Bühnenuraufführung fand am 3. April 1867 an der Opéra Comique statt. La Grand’tante war das Eröffnungsstück an diesem Abend, gefolgt von der dreiaktigen komischen Oper Le Voyage en Chine (Die Reise nach China) seines ehemaligen Lehrers François Bazin.49 Mit dem renommierten Tenor Victor Capoul, der Nachwuchssopranistin Marie Heilbronn und der beliebten Caroline Girard standen Massenet vorzügliche Interpreten zur Verfügung, die dem Debütwerk einen achtbaren, wenn auch nicht berauschenden Premierenerfolg bescherten. Mit seinen knappen Nummern und seiner burlesk-komödiantischen Handlung bot La Grand’tante Massenet kaum eine seinen Ambitionen entsprechende Entfaltungsmöglichkeit. Dennoch zeigen sich hier bereits Anfänge einer eigenständigen Ästhetik: So weist die Romanze »Je vais bientôt quitter« deutlich auf spätere Melodieerfindungen des Komponisten voraus.
Während La Grand’tante weiter mit wohlwollender Resonanz aufgeführt wurde, scheiterte Massenet mit seinen unmittelbar darauffolgenden Opernversuchen. Im Zuge der Pariser Weltausstellung 1867 hatte Napoléon III. drei Opernwettbewerbe für die Häuser der Opéra, der Opéra Comique und des Théâtre Lyrique ausgelobt.50 Massenet reichte zwei Werke ein: eine Vertonung des (vorgegebenen) Librettos La Coupe du roi de Thulé für die Opéra und Le Florentin für die Opéra Comique. Sein Roi de Thulé errang bei 44 eingegangenen Vertonungen den zweiten, Le Florentin bei 53 Bewerbungen den dritten Platz.51Roi de Thulé52