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Inhaltsverzeichnis
 
 
 
 
 

Geleitwort
Aus Gesprächen mit Schmerzpatienten wissen wir, wie vielfältig das individuelle Leid durch chronische Schmerzen sein kann. Folge sind häufiger Wechsel des behandelnden Arztes, viele unterschiedliche verordnete Arzneimittel, Selbstmedikation mit diversen freiverkäuflichen Schmerzmitteln, Krankenhausaufenthalte, wiederholte Arbeitsunfähigkeit, Frühberentung und damit insgesamt verbunden eine stark eingeschränkte Lebensqualität bis hin zur totalen Verzweiflung.
 
Als landesweit größter gesetzlicher Krankenversicherungsträger im nördlichsten Bundesland wollten wir diesen immerwährenden Behandlungskreislauf der chronischen Schmerzpatienten durchbrechen und haben aktiv die Errichtung der Schmerzklinik Kiel gefordert, begleitet und unterstützt. Mit diesem bundesweit einmaligen Projekt sorgt diese innovative Einrichtung für eine innovative medizinische Versorgung mit ökonomischer Effizienz. Grundlage für die Einrichtung war eine zwischen der Schmerzklinik Kiel und der AOK Schleswig-Holstein abgeschlossene Modellvereinbarung. Kooperationspartner sind neben den vielen Vertragsärzten die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Wir freuen uns mit den vielen Patienten, die in den letzten acht Jahren die Schmerzklinik Kiel aufgesucht haben und dort Linderung oder gar Besserung ihrer chronischen Schmerzerkrankung erfahren konnten. Das Team um Professor Hartmut Göbel beweist tagtäglich, dass den meisten chronisch schmerzkranken Patienten nachhaltig geholfen werden kann. Wir von der AOK Schleswig-Holstein, die wir oft als Mitbegründer der Schmerzklinik Kiel gelobt werden, sind auch ein wenig stolz auf diese Rolle. Aber das darf nicht im Mittelpunkt stehen. Das Wichtigste ist natürlich das Wohl unserer Patienten!
Dr. rer. soc. Dieter Paffrath
Vorstandsvorsitzender der AOK Schleswig-Holstein

Lernen, mit Schmerz zu leben
Schmerz gehört zu unserem Leben. Als »guter« Schmerz schützt er unseren Körper und die Gesundheit. Er zeigt uns, was den Körper bedroht, und lehrt uns, solche Gefahren zu meiden. Aber es gibt auch »bösen« Schmerz. Die Warnfunktion spielt bei ihm keine Rolle mehr. Seine Ursachen sind bekannt oder sie lassen sich nicht finden. Diese sinnlosen Schmerzen warnen vor nichts, sie sind vielmehr eine ernste Bedrohung. Sie können sogar aufgrund von Komplikationen zu Leiden und vorzeitigem Tod führen. Sie sind für nichts gut. Im Gegenteil: Der Beruf kann nicht mehr ausgeübt werden. Man kann sich nicht mehr um seine Familie kümmern, das soziale Leben wird zerstört. Am Ende stehen Schlafstörung, Depression und Zermürbung ohne Ausweg.

Betroffene kommen zu Wort

Vieles ist bereits über chronische Schmerzen geschrieben worden. Die Schmerzerkrankungen werden diagnostiziert und behandelt. Statistiken geben über die Erfolge von Therapien Auskunft – das individuelle Schicksal bleibt jedoch verborgen. In diesem Buch sollen dagegen die Betroffenen an erster Stelle stehen. Sie erzählen, wie sich ihr Leben durch Schmerzen geändert, wie sich ihre soziale Umwelt umgestellt hat. Sie informieren darüber, welche Auswirkungen die Schmerzen für ihr eigenes Leben und ihre Welt hatten.
Die folgenden Interviews wurden mit Patienten während der Behandlung in der Schmerzklinik Kiel geführt. Die Namen wurden geändert und in wenigen Fällen auch einige Angaben zu den Lebensumständen, um die Anonymität zu gewährleisten. In den Gesprächen drücken die Betroffenen aus, was Schmerzen bedeuten. Sie beschreiben ihren Leidensweg und wie sie sich bemüht haben, eine Wende herbeizuführen. Die Gespräche zeigen die bewundernswerte Haltung der Betroffenen, die trotz Schmerzen nicht aufgegeben haben. Dies macht Mut. Schmerzen können gelindert werden, denn es gibt wirksame Wege aus dem Schmerz.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Hartmut Göbel

ERSTER TEIL
Interviews mit Schmerzpatienten

Heinz V. (55), Landwirtschaftsberater: seit 2,5 Jahren Phantomschmerz

Wie haben Sie Ihren Arm verloren?
Das war ein Arbeitsunfall: Ich bin von einem Bauernhof zum nächsten gefahren, und weil ich gerne das Angenehme mit dem Nützlichen verbinde, nahm ich das Motorrad. Ich war so richtig schön in Schwung, als ein Auto aus der Seitenstraße kam und mir die Vorfahrt nahm. Ein Motorradfahrer weiß, dass er selbst die Knautschzone ist. Mein Arm wurde abgerissen, das Schlüsselbein zerstört, das Schulterblatt kaputt.
 
Wurde der Arm sofort nach dem Unfall abgenommen?
Zunächst nicht. Erst wurde in zwei sehr langwierigen Operationen versucht, den Arm zu retten. Es wurde alles wieder zusammengeflickt, und man hat auf medikamentösem Weg versucht, die Nerven zu stimulieren, damit sie an der Anschlussstelle wieder zusammenzuwachsen. Danach ergaben sich Durchblutungsstörungen, die irreparabel waren, und man teilte mir mit, ich könnte mich entscheiden, ob der Arm abgenommen werden oder dranbleiben soll. Letzteres würde ich allerdings wahrscheinlich nicht überleben. (Lacht.) Immerhin hatte ich eine Alternative! Ich bat darum, es möglichst bald zu machen. Als ich aus der Narkose aufwachte, war ich gefesselt und die Schwester ging äußerst ungnädig mit mir um. Offenbar hatte ich randaliert und alle Schläuche abgerissen, aber daran konnte ich mich nicht erinnern. Dann kam der Tag, an dem ich von allen Schläuchen und Fesseln befreit wurde und allein zur Toilette gehen konnte. Das war ein Feiertag!
 
War es ein Schock, als Sie ohne linken Arm aus der Narkose aufwachten?
Nein. Aber ich konnte von Anfang an den abgenommenen Arm fühlen. Das war zunächst einmal eine ganz witzige Erfahrung. Später habe ich mich an dieses trügerische Gefühl gewöhnt. Ich spüre den Ellenbogen, die Hand. Ich kann sogar ein bisschen die Finger bewegen. Wenn ich mich sehr anstrenge, bringe ich Daumen und Zeigefinger zusammen. Ich könnte Sie kneifen und Sie würden es nicht merken, denn für Sie ist da ja nichts. Nur Luft. Aber keine Sorge, im Augenblick liegt die linke Hand ganz entspannt in meinem Schoß. Für mich fühlt es sich an, als sei sie in einer zähen Masse, in Ton vielleicht, in dem man sich ganz schwer bewegen kann. Manchmal juckt der Arm, nur ist da leider nichts, was man kratzen könnte!
Ich habe eine Prothese, die ich allerdings nicht trage, weil der Arm so weit oben abgenommen ist, dass ich keinen Stumpf habe, an dem sie vernünftig befestigt werden könnte. Ich hab’s versucht und das war höchst merkwürdig, denn da hatte ich drei Arme! Die müssen Sie erst mal richtig koordinieren. Aber ernsthaft: Im normalen Leben macht mir der abgenommene Arm keine Probleme. Wenn eine Schraube herunterfällt, fange ich sie mit der rechten Hand auf. An das einarmige Dasein habe ich mich ganz schnell gewöhnt. Blitzartig, möchte ich sagen.
 
Wann traten die Schmerzen auf?
In dem Augenblick, als nach der Narkose die schmerzlindernden Medikamente verringert wurden. Daran hat sich bis heute eigentlich nichts geändert. Da ist zum einen dieser Dauerschmerz. Er ist vergleichbar etwa mit einem Zahnschmerz, bei dem man sagt: »Heute gehe ich noch nicht zum Zahnarzt, aber morgen ganz bestimmt!« Das ist auf die Hand und den Ellenbogen beschränkt. Dazu kommt ein durchschießender Schmerz in verschiedenen Stärken. Wenn er so richtig zuschlägt, setzt man sich auf den Hintern. Da verliert man das Gleichgewicht. Da fühlt man nur noch Schmerz und dann kippt man um. Das passiert glücklicherweise immer seltener. Dann gibt es noch den milderen Schmerz, den kann ich kontrollieren, wenn ich alleine bin. In dem Moment, da er kommt, lache ich ihn aus und sage: »Du bist ein Phantom, dich gibt’s gar nicht! Geh weg!« Oder ich schreie: »Hau ab!« Er verschwindet dann tatsächlich. Wenn ich ihn hochkommen lasse, habe ich verloren. Ich habe den Schmerz also personifiziert und tue so, als sei er eine Person, die meinen Körper mit mir teilen will. Wir kämpfen und ich bin nicht bereit, ihm Platz zu machen. Es gibt allerdings auch Tage, an denen der Schmerz sich nicht mehr kontrollieren lässt. Dann liege ich auf dem Bett und werde von Krämpfen geschüttelt, als stünde ich unter Strom. Diesem Zustand bin ich ausgeliefert. Trotzdem kommt es vor, dass ich auch dann noch irgendwie neben mir stehe und mich von außen beobachte. Gestern war es z. B. ganz schlimm: Ich hatte drei Stunden lang diese Zuckungen und außerdem noch eine leichte Depression. Da sagte ich mir: »Das liegt an dem neuen Medikament, das wir ausprobieren, es geht wieder vorbei.« Den Dauerschmerz versuche ich zu ignorieren. Er gehört zu mir. Der Arm ist weg und an seine Stelle ist der Schmerz getreten. Ich liebe ihn nicht, aber er ist da. Wenn wir es hier in der Klinik schaffen, ihn zu verringern, umso besser.
 
Können Sie in dem Zustand arbeiten?
Wenn ich bei der Arbeit voll konzentriert bin, geht es, aber kaum bin ich zu Hause und entspanne mich, fangen die Zuckungen an. So eine Attacke dauert unterschiedlich lange, sagen wir: eine Stunde im Durchschnitt. Ich habe jetzt meine Arbeitszeit reduziert. Nicht unbedingt wegen der Schmerzen, sondern wegen einer allgemeinen Antriebslosigkeit. Wahrscheinlich kommt das durch die Medikamente, die ich nehmen muss. Manchmal sitze ich am Schreibtisch und frage mich: »Was hast du die letzten Stunden eigentlich gemacht?« Als ich das merkte, wollte ich meinen Job nicht gefährden und bin auf eine Zweidrittelstelle gegangen. Vielleicht reduziere ich noch weiter. Ich kann mir meine Arbeit vollkommen selbstständig einteilen, das ist ein großer Vorteil.
 
Sie scheinen Ihr Schicksal mit Humor zu tragen …
Eigentlich hätte ich mir bei dem Unfall das Genick brechen müssen – ich bin also glücklich, dass ich lebe. Ich kann meine Frau noch in den Arm nehmen, ich kann sehen, wie die Kinder groß werden – für mich ist das Glas halb voll und nicht halb leer. Ich weiß das Leben jetzt viel mehr zu schätzen als vorher. Im Unfallkrankenhaus habe ich viele verbrannte Menschen gesehen und junge Leute, die querschnittsgelähmt waren. Früher hatte ich gedacht: »Das ist nicht lebenswert.« Aber diese Patienten haben einen so starken Lebenswillen! Ich gehe mit diesen Fragen jetzt viel feinfühliger um als vor dem Unfall. Was mich stört, ist die Tatsache, dass ich nicht mehr Motorrad fahren kann. Das war mein großes Hobby. Meine Frau ist heilfroh! Und dann gibt es da noch ein Problem: Ich habe leichte Potenzstörungen bekommen. Das liegt wahrscheinlich an den Medikamenten. Ja, also, es ist nicht mehr so wie früher. Da war ich vielleicht auch nicht gerade ein Panther, aber wir hatten ein ganz normales Sexualleben. Wenn das gestört ist, macht man sich schon so seine Gedanken. Bisher geht meine Frau ganz gut damit um, und ich – naja, »I do my very best«, wie der Engländer sagt.
 
Was haben Sie außer Medikamenten und Autosuggestion zur Schmerzbekämpfung getan?
Im Unfallkrankenhaus lernte ich die Akupunktur kennen. Ich war total von den Socken! Das Schmerzempfinden wurde dadurch merklich gesenkt. Es hält immerhin einige Stunden an. Ich habe dann eine Ärztin gefunden, die das ambulant macht.
 
Wie kommt Ihre Familie mit Ihren Schmerzen zurecht?
Die Kinder haben mir erzählt, dass meine Frau viel geweint hat, als ich noch in der Klinik lag. Das hat sie mehr mitgenommen als mich. Naja, ich war bei der Geburt unserer Kinder dabei, das hat mich auch mindestens so geschlaucht wie sie! Man steht so hilflos daneben. Die Kinder sind jetzt groß, die können damit umgehen, aber wenn meine Frau neben mir liegt, während ich vor Schmerzen zucke, leidet sie mindestens so wie ich. Sie hat mich dann gedrängt, in die Schmerzklinik Kiel zu gehen.
 
Sie sind jetzt seit sechs Tagen hier. Wie geht es Ihnen?
Erst hat man getestet, auf welche Medikamente ich anspreche. Ein Teil des Dauerschmerzes ist auch schon zurückgegangen. Und ich habe den Eindruck, dass sich auch die einschießenden Schmerzen verringern. Vielleicht verschwinden sie sogar ganz. Bevor ich nach Kiel kam, habe ich ungefähr 14 Tabletten pro Tag geschluckt. Das schlug auf die Leber. Die möchte ich mir doch eigentlich für einen guten Rotwein aufbewahren und nicht an die Pillen verschwenden! Wir sind jetzt bei neun bis zehn Tabletten täglich. Weniger Schmerzen und weniger Tabletten. Das ist doch schon was!

Nadine I. (42), Angestellte, und ihr Mann Klaus: seit 18 Jahren Clusterkopfschmerz

Nadine
Es war am 26. Februar vor 18 Jahren. Ich wachte nachts um halb zwei mit unerträglichen Schmerzen auf. Damals wusste ich noch nicht, dass es mein erster Clusteranfall war. Nach 30 Minuten war der Spuk vorbei. Aber in der nächsten Nacht wiederholte er sich, auch in der übernächsten usw. bis zum 15. April. Danach war Ruhe bis zum nächsten Februar. So ging das mehrere Jahre lang.
 
Klaus
In dieser Zeit fiel uns noch gar nicht auf, dass es eine Regelmäßigkeit gab. Man führt ja nicht von vornherein einen Schmerzkalender. Auf die Idee, dass es einen Jahresrhythmus gibt, kommt man doch gar nicht so schnell. Wir hatten ja noch nie etwas von Cluster gehört.
 
Nadine
Nach fünf Jahren ging ich endlich zum Neurologen. Ich schilderte ihm die Symptome, er nahm sein dickes Buch, blätterte darin und sagte: »Was Sie mir erzählen, können Sie eigentlich gar nicht haben. Das bekommen nur Männer zwischen 40 und 50 Jahren. Frauen haben das nicht – und Medikamente dagegen gibt es auch nicht.« Ich dachte, ich bin die Einzige auf der Welt, die so etwas hat. Einmal fuhr ich ins Krankenhaus, weil ich es nicht mehr aushielt, aber dort schickten sie mich wieder nach Hause.
 
Klaus
1999 war ein besonders schlimmes Jahr. Manchmal bat mich meine Frau, bei ihr zu bleiben, weil sie Angst hatte, es nicht aushalten zu können. Die einzige Hilfestellung, die ich ihr geben konnte: Ich führte während der gesamten Schmerzattacke einen Monolog, erzählte ihr, was wir am vergangenen Tag gemacht hatten und was wir noch vorhätten, von den Kindern, vom Haus, von der Arbeit … Ich redete ununterbrochen und erwartete nie eine Antwort, höchstens einmal eine Geste. So lenkte ich sie ein bisschen ab. Die Geräuschkulisse tat ihr gut.
Später versuchte ich, ihr beizustehen, indem ich sie zu den Ärzten begleitete, ihnen meine Beobachtungen und Vermutungen mitteilte und viel fragte. Aber die wenigsten Ärzte akzeptieren, dass sich Angehörige Gedanken machen. Dabei kann man doch nicht von mir verlangen, tatenlos zuzusehen!
 
Nadine
Ich wollte mir schon die Zähne mit der Zange ziehen, um einen Gegenschmerz zu haben. Schließlich schickte mich meine Ärztin zur Kur. Auf dem Antrag stand, dass ich psychisch am Ende sei, was ja auch stimmte, aber in der Kurklinik kontrollierte man mich auf Alkohol und Tabletten. Zuerst begriff ich gar nicht, was da vor sich ging, dann sagte ich ihnen, dass ich Cluster habe, aber damit konnten sie nichts anfangen. Sie schickten mich zu psychiatrischen Gesprächen. Die Kur war völlig für die Katz!
Auch die Behandlung durch den Neurologen half nichts. Neun Jahre lang versuchte er es mit den unterschiedlichsten Medikamenten, steigerte sie von leichten Kopfschmerz- bis hin zu starken Migränetabletten. Ein wirksames Mittel gab er mir erst, nachdem es schon jahrelang auf dem Markt war!
Er galt als Koryphäe auf seinem Gebiet, deshalb blieb ich bei ihm. Zu lange, wie ich heute denke. Einmal war ich bei einer Schmerztherapeutin, die mir zu Sauerstoff riet. Aber das konnte ich mir nicht vorstellen, und so ging ich nicht wieder hin. Hätte ich bloß auf sie gehört!
 
Klaus
Am schlimmsten für mich war diese völlige Hilflosigkeit. Als Mann hat man doch diesen Hüte-Instinkt und will jede Gefahr von außen abhalten. Man fühlt sich verantwortlich – und hier war eine Situation, in der ich nichts machen konnte. Da sitzt meine zerbrechliche Frau und löst sich in meinem Beisein auf, ohne dass ich es verhindern kann! Das hat mich wahnsinnig belastet.
 
Nadine
Anfangs lief ich während der Attacken wie eine Verrückte durch die Wohnung, aber später merkte ich, dass es besser ist, wenn ich ruhig sitzen bleibe. Dann laufen mir zwar die Tränen herunter, aber ich behalte die Nerven. Die Schmerzen hören keinen Augenblick auf, ich bin die ganze Zeit über bei vollem Bewusstsein. Wenn ich durch den nächtlichen Schlafentzug müde bin und mich mittags hinlege, wird dadurch ein neuer Anfall ausgelöst.
 
Klaus
Man sieht meiner Frau die Anfälle auch äußerlich an: Das rechte Augenlid wird dick, das Auge tränt …
 
Nadine
… und ich habe Sehstörungen. Die ganze rechte Kopfhälfte tut unerträglich weh, also auch die Zähne und das Ohr. Die Nase fühlt sich von innen wund an. Es ist, als sei von der Gesichtshälfte die Haut abgezogen. Das brennt so stark, dass ich mich dort nicht berühren kann. Im Lauf der Jahre wurden die Schmerzen immer schlimmer. Ich dachte jedes Mal, dass es eigentlich keine Steigerung geben könne, aber das war ein Irrtum. Auch die Dauer der Anfälle verlängerte sich auf vier bis fünf Stunden. Während dieser Periode bin ich tagsüber sehr erschöpft und übermüdet, zumal auch am Tag noch Schmerzen im Gesicht zurückbleiben, etwa wie bei einer Nebenhöhlenentzündung über und unter dem Auge. Das ist der so genannte Restschmerz. Aber diese Bezeichnung kannte ich damals noch nicht.
Klaus
Wir versuchten, eine Ursache für die Schmerzen zu finden, und analysierten unsere Wohnsituation. Gab es vielleicht Formaldehyd in den Möbeln? Oder könnte es so etwas wie eine Pollenallergie sein? Die Schmerzen traten immer in der gleichen Jahreszeit auf, da bot sich diese Vermutung an. Also riss ich sämtliche Sträucher im Garten vor dem Schlafzimmer heraus. Oder war die Lage des Schlafzimmers schuld? Also zogen wir innerhalb der Wohnung um. Kühle Temperatur und frische Luft, das war es, wonach meine Frau während der Anfälle verlangte. Das hätte ein Hinweis sein können. Heute wissen wird, dass Sauerstoffinhalation hilft.
 
Nadine
 
Ich mochte das Schlafzimmer gar nicht mehr betreten und habe mein Bett gehasst, weil dort ja während der Nacht die Schmerzen begannen!
 
Klaus
An die angenehmen Dinge, die sich sonst im Bett abspielen, ist während der Schmerzphase überhaupt nicht zu denken. Da ändert sich das Leben total. Alles, was uns sonst wichtig erscheint, wird so unwichtig! Rund ums Haus könnten Bomben einschlagen – das würde uns überhaupt nicht interessieren! Aber das eheliche Leben ist ja nicht für alle Zeit zu Ende. Cluster ist eine episodische Erkrankung, die dann auch irgendwann wieder vorbei ist. Damit lernt man zu leben. Wir sind jetzt im 19. Jahr verheiratet – und das erschüttert unsere Ehe nicht! Meine Frau ist ja auch für mich da, wenn ich mal irgendwas habe.
 
Nadine
Schwierig war es vor allem, solange die Kinder noch klein waren. Da musste ich die Nachbarin zu Hilfe holen, um die Kinder fertig für die Schule zu machen. Aber mit den Jahren hat es sich gut eingespielt. Die Kinder verstehen es. Ich habe ihnen erklärt, was für eine Krankheit das ist, und sie unterstützen mich unglaublich gut. Allerdings haben wir erst jetzt herausgefunden, wie sehr die Kleine leidet. Sie ist jetzt 16 und kennt mich nicht anders, aber wenn ich die schlimme Phase habe, kann sie sich nicht mehr auf die Schule konzentrieren. Das hat uns ganz schön getroffen! Sie ließ sich zu Hause nichts anmerken und fraß alles in sich hinein. Obwohl ich nicht schreie! Ich habe gelernt, ruhig sitzen zu bleiben, und schaukle nur ein bisschen mit dem Oberkörper vor und zurück. Unsere Tochter hat mit ihrer Lehrerin gesprochen: Jetzt wird sie während der Anfallszeit nur halb bewertet. Eigentlich ist sie eine sehr gute Schülerin, aber in dieser Zeit sackt sie extrem ab. Sie hat Angst, dass ich mir etwas antun könnte.
Auch beruflich gab es Probleme. Wenn ich mich krank schreiben ließ, wurde ich vom Chef zum Gespräch vorgeladen und ich traute mich nicht, ihm zu sagen, was ich habe. Das war ein unwahrscheinlicher Druck. Irgendwann habe ich es ihm gesagt, er war sehr nett, meinte aber, dass die Krankheit bestimmt nicht wiederkomme. Die Menschen verstehen diese Erkrankung eben nicht. Später erfuhren wir, dass man einen Antrag auf Schwerbehinderung einreichen kann. Ich bekam 50 Prozent. Jetzt läuft es in der Firma gut.
 
Klaus
Mein Arbeitgeber weiß auch Bescheid. Meine Vorgesetzten haben Verständnis dafür, dass ich manchmal kurzfristig meinen Arbeitsplatz verlasse und nach Hause zu meiner Frau fahre.
Es gab auch Phasen, in denen sie mal zwei Jahre Ruhe hatte. Da dachten wir: Es kommt nie wieder! Heute wissen wir, dass es ein Fehler ist, die Krankheit nach den Schmerzepisoden zu verdrängen. Man will dann nichts mehr davon hören und nicht mehr darüber sprechen, sondern einfach nur vergessen. Dabei sollte man sich gerade in der Zeit, in der man sich gesund und kräftig fühlt, um Informationen und Hilfe kümmern.
Vor einigen Jahren kaufte ich mir einen Computer und ging zum ersten Mal ins Internet. Dort fand ich die Homepage der Cluster-Selbsthilfeorganisation. Ich klickte mich ins Forum ein und siehe da: Es gab so viele Menschen, die diese Erkrankung hatten! Ich konnte wildfremden Menschen Fragen stellen. Das waren keine überheblichen Weißkittel, sondern ganz normale Menschen! Tag und Nacht saß ich vor dem Computer und druckte Informationen aus, die ich aktenweise zur Hausärztin schleppte. Sie nahm das sehr gut auf, las alles und fragte immer wieder, ob ich etwas Neues hätte. Die Organisation steckte noch in den Kinderschuhen, aber es gab schon mehrere lokale Selbsthilfegruppen im Bundesgebiet. Da kam die gesammelte Erfahrung der Mitglieder zusammen, die das ganze »Ärzte-Hopping« schon hinter sich hatten.
 
Nadine
Wir waren begierig darauf, endlich Leidensgenossen persönlich zu sprechen. So machten wir uns eines Tages zu einem Regionaltreffen in einem anderen Bundesland auf. Wir fühlten uns geradezu wie Sensationstouristen! Und dann sahen wir sie: ganz normale Leute, mit Zigarette im Mundwinkel, Witze erzählend, plaudernd. So habe ich zum ersten Mal andere Clusterpatienten und ihre Angehörigen getroffen – das löste ein unbeschreibliches Gefühl von Glück, Erleichterung, Erwartung und Rührung aus! Da war die fassbare Gewissheit: Ich bin nicht allein! Auf Vorträgen wurde gezeigt, was Cluster überhaupt ist, was während der Anfälle im Kopf chemisch und physikalisch vor sich geht. Und ich bekam praktische Tipps von anderen Betroffenen. Es war fantastisch!
 
Klaus
Ich habe mich beim Aufbau einer Selbsthilfegruppe in unserer Region engagiert, sitze viel am Computer und tausche mich mit anderen aus. Wir haben Kontakte zu den großen Schmerzkliniken und hoffen, dadurch schnell zu erfahren, wenn es Fortschritte in der Medizin gibt. Der Zeitaufwand ist ziemlich groß, aber es sind mittlerweile mehr als 45 Leute, die auf mich bauen. Ich werde gebraucht. Das ist alles, was ich für meine Frau tun kann. Ich bewundere sie. Mittlerweile habe ich ja viele Betroffene kennen gelernt, darunter baumstarke Kerle, die wie kleine Kinder zusammenbrechen und lautstark leiden. Meine Frau behält die Fassung. Andererseits stößt ein Mann mit Schmerzen auf weniger Akzeptanz als eine Frau. Wenn er losgeht und sagt, dass er eine Kopfschmerzkrankheit hat, denkt sein Chef doch garantiert: »Kerl, du hast gestern wohl zu viel getrunken!«
 
Nadine
Heute behandele ich mich während der Attacken mit Sauerstoffinhalation und einem modernen Migränemittel. Das verhindert die Schmerzen zwar nicht, aber es verkürzt die Dauer der einzelnen Anfälle. Ideal ist diese Behandlungsmethode noch nicht, weil ich sehr viel einnehmen muss, möglicherweise mehr, als gesund ist. Nachdem sich die Schmerzphasen jahrelang von Februar bis April erstreckten, begannen sie im vergangenen Jahr schon im Januar. Dafür waren sie aber nicht ganz so heftig. Ich habe mich damit abgefunden, dass die Krankheit unheilbar ist und dass ich damit leben muss, aber ich habe die Hoffnung, dass die Forschung irgendwann noch mehr Hilfe bringen kann.

Sonja M. (39), Arbeiterin: seit 14 Jahren Migräne

Wann trat Ihre Migräne zum ersten Mal auf?
Gleich nach der Entbindung von meiner Tochter und zwar richtig stark, so dass ich nicht schlafen, nicht essen und nicht trinken konnte und mich übergeben musste. Jeden Monat, mit Beginn der Regel, lag ich drei Tage lang im Bett – und danach war alles wieder in Ordnung.
Als unsere Tochter drei Jahre alt war, fing ich in einem Betrieb unseres Dorfes als Transformatorenwicklerin an. Solange sich die Migräne auf drei Tage beschränkte, war das eigentlich kein Problem. Manchmal musste ich einen Tag aussetzen, dafür nahm ich dann einen Urlaubstag. Es war ein kleiner Betrieb und mir wäre es peinlich gewesen, jedes Mal den gelben Krankenschein abzugeben. Ich verstand mich mit den Kolleginnen und Kollegen sehr gut und ich möchte auch immer der Typ sein, auf den man sich verlassen kann. Mein Chef hatte Verständnis. Das beruhigte mich sehr! Er hatte mich gerne um sich, denn wenn ich mich gesund fühle, bin ich ein sehr lebenslustiger und fröhlicher Mensch.
 
Da müssen im Lauf der Jahre viele Urlaubstage draufgegangen sein!
Ja, sehr viele. Aber ich wollte nicht nur zu Hause sitzen, deshalb habe ich das irgendwie hingedeichselt.
 
Beschreiben Sie bitte die Attacken.
Zuerst fühlt es sich an, als würde alles aus meinem Kopf herausgezogen, dann beginnt es zu pochen und danach zieht der Schmerz – das sind die ganz schlimmen Phasen – schräg durch den Kopf. Ich kann dabei den Schmerz nicht richtig lokalisieren. Das ist schwerer zu ertragen, als wenn er sich auf eine genau definierbare Stelle konzentriert. Zehn Jahre lang spielte sich das auf der rechten Seite ab, jetzt springt es manchmal auch nach links. Das Riechen ist das Schlimmste und der Gedanke an Essen. Man sieht mir meinen Zustand sofort an. Ich kann nicht mehr gut sprechen und bin ganz weiß im Gesicht. Die Augen werden hohl, mit tiefen Schatten darunter, und der ganze Körper sieht aus, als hätte er schlagartig einige Kilo verloren. Durch die Übelkeit und das Erbrechen wurde ich auch tatsächlich immer dünner. Ich versuche zwar in den migränefreien Wochen ordentlich zu essen, aber das reicht nicht, um alles wieder aufzuholen. Anfangs fühlte ich mich nach den Attacken wie neugeboren. Überschwänglich. Der Tag danach war am besten: Ich habe geredet und telefoniert und mich gefreut, wenn Besuch kam. Ich wollte am liebsten das ganze Haus von oben bis unten putzen und bummeln gehen. Mit den Jahren hat sich das allerdings verändert. Da war ich dann nur noch erschöpft.
 
Nahmen Sie damals Schmerzmittel ein?
Nein. Ich wollte nur diese drei Tage hinter mich bringen und anschließend nicht mehr daran denken.
Dann wurde ich wieder schwanger. Das war meine beste Zeit. Keinen Tag Kopfschmerzen! Ich war glücklich und zufrieden und fühlte mich rundum gesund – eine wunderschöne Zeit. Aber als der Junge da war, ging alles wieder von vorne los. Wir hatten gebaut und da saß ich nun in einem Haus, auf das ich mich jahrelang gefreut hatte. In Gedanken hatte ich es schon hundertmal eingerichtet und mir immer wieder vorgestellt, wie schön und sauber es sein würde. Alles sollte perfekt sein. Jeden Tag. Das setzte mich sehr unter Druck, so sehr, dass die Migräne nicht mehr nur zu Beginn der Regel kam, sondern noch einmal während des Eisprungs. Trotzdem wollte ich wieder arbeiten gehen, als mein Sohn in den Kindergarten kam. Mein Leben bestand ja nur noch aus Migräne, Kindern und Hausputz! Ich bin gerne Mutter, ich liebe meine Kinder und ich möchte ein schönes Zuhause haben, aber ich muss gelegentlich einmal auch nur ich sein dürfen.
 
Hatten Sie bis dahin überhaupt schon einmal ärztliche Hilfe gesucht?
Einmal bei meiner Frauenärztin. Wenn ich aus dem Haus ging, war ich immer korrekt angezogen, geschminkt und freundlich – also, ich hatte das Gefühl, dass sie mich nicht ganz ernst nahm, als ich vor ihr saß und erzählte, wie schlecht es mir ginge. Sie meinte, dass mir eine Spirale helfen könnte, aber die hat nichts gebracht. Im Gegenteil: Ich hatte wahnsinnig starke Blutungen. Das sei normal, sagte man mir. Und so nahm ich es hin. Unseren Dorfarzt habe ich auch aufgesucht, er gab mir Aufbauspritzen, weil ich immer dünner wurde. Er erkundigte sich nach der Familie und sagte: »Nimm mal ein paar Arnikakügelchen.« Er hat mich doch auch nicht für voll genommen! Ich hätte ungeschminkt hingehen müssen oder mitten im Anfall. Aber das hätte ich gar nicht gekonnt.
Jedenfalls fing ich trotz allem in meiner alten Firma wieder an zu arbeiten und war dankbar, dass ich mit meiner Krankheit überhaupt so einen Job bekam. Andere wären längst abserviert worden! Zu dem Zeitpunkt begann ich, in der Apotheke alles zu kaufen, was ich gegen Kopfschmerzen bekommen konnte. Alles. Alles, alles, alles.
 
Halfen Ihnen diese Medikamente?
Eher nicht. Es war immer diese Hoffnung: einwerfen, arbeiten können … Dann erzählte mir eine Bekannte von speziellen Migränezäpfchen. Da begann die schlimmste Zeit meines Lebens. Am Tag hielt ich mich mit allen Sorten von Pillen über Wasser und abends mit Zäpfchen, vorschriftsmäßig je eines im Abstand von sechs Stunden. Die Wirkung kam frühestens nach dem dritten, da hatte ich dann bereits achtzehn Stunden hinter mir. Manchmal kam ich nicht mehr die Treppe herunter, so schlecht fühlte ich mich. Das war so schlimm, dass ich an Selbstmord dachte. Mein Mann ist bei der Polizei und ich sagte manchmal zu ihm: »Vergiss nicht, die Knarre mit in den Dienst zu nehmen, sonst kann ich für nichts garantieren.« Ich war so ausgelaugt, als hätte ich keine Knochen mehr im Leib.
 
Haben Sie nie einen Notarzt geholt?
Nein. Das wäre mir viel zu peinlich gewesen. Ich mochte nicht einmal erzählen, dass ich unter Migräne leide. Das ist doch nur etwas für alte Tanten! Ich sagte dann zur Erklärung lieber: »Ich habe Kopfschmerzen.«
In meiner Firma musste ich immer öfter absagen und kam mir deshalb schlecht vor. Das schaukelte sich alles so hoch, dass ich irgendwann jede Woche drei bis fünf Tage Schmerzen hatte. Ich konnte kaum noch essen, musste aber doch für meine Kinder kochen und mit ihnen am Tisch sitzen, damit sie ein gesundes Essverhalten lernen! Und wenn sie dann sahen, dass ich würgen musste und mein Essen nicht bei mir behalten konnte – was für ein schlechtes Vorbild! Die Kinder waren in dieser Zeit oft auf sich allein gestellt. Das Mädchen war dann irgendwann aber so weit, dass sie ein Butterbrot schmieren oder Nudeln mit Ketchup machen konnte.
Schließlich kam der Tag, an dem ich Blut im Stuhl fand. Ich hatte wohl zu viel Thomapyrin genommen. Da bekam ich einen Schock. Mein Mann musste den Arzt rufen, weil es mir schon wieder peinlich war.
 
Wieso hat Ihr Mann nicht schon früher etwas unternommen?