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Alles über Rico und Oskar im Carlsen-Verlag:

Rico, Oskar und der Diebstahlstein
Rico, Oskar und das Herzgebreche
Rico, Oskar und die Tieferschatten
Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch


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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2017
Umschlag und Illustrationen: Peter Schössow
Lektorat: Franziska Leuchtenberger
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-646-92985-0

Meiner Patentante
Helke

 

Normalerweise kann man vom großen Fenster unserer Dachwohnung aus, oben im Fünften, prima über Kreuzberg gucken. Es gibt noch mehr Fenster in andere Richtungen, sogar eins oberhalb der Wendeltreppe zum Dachgarten. Aber das Kreuzberg-Fenster mit seinem Ausblick über tausend Dächer ist das tollste.

Heiligabend, dachte ich, heute ist Heiligabend!

Geschenke, Geschenke, Geschenke!

Ich stand schon eine ganze Weile hier, aber von den Kreuzberger Dächern war so gut wie nichts zu sehen. Es war bereits nach zehn Uhr, da sollte es draußen längst richtig hell sein, aber es fiel nur Winterdämmerlicht ins kuschelig warme Wohnzimmer.

Das lag am Schnee. Es schneite pausenlos seit fast einer Woche, Tag und Nacht. In den Straßen türmte sich der Schnee, und die Luft über Berlin war so weiß, als würden tausend Engel Milch über der Welt ausschütten. Oder als wäre der ganze Himmel eine einzige riesige Bingotrommel mit Milliarden weißen Kugeln drin. Oder als wäre das Bettenlager von Frau Holle im Märchenland explodiert. Oder als wäre … Jedenfalls konnte ich kaum den Blick abwenden. Das weiße Wirbeln hinter dem Glas war wie eine mächtige Hypnose.

HYPNOSE: Wenn etwas oder jemand anderes dir seinen Willen aufzwingt. Du musst dann tun, was von dir verlangt wird, und kannst dich nicht wehren. Zum Beispiel guckst du einen Schokoriegel an und er zwingt dich, ihn sofort zu essen. Vom Schokoriegel ist das natürlich dumm. Denn erstens hat er nach dem Essen keine Macht mehr über dich, und zweitens hättest du ihn ja auch freiwillig verputzt.

Dass ich wieder zu mir kam, lag bestimmt am Hunger. Zwischen dem Frühstück und dem Mittagessen rückt Mama höchstens einen Joghurt mit Natur drin für mich raus. Oder irgendein Müsli, in dem sogar für das reingeschnibbelte Obst noch mal extra Gemüse drin ist, damit das auch was Gesundes kriegt. Ich muss leider sagen, dass die Ernährungssituation zu Hause besser war, als Mama noch im Nachtclub gearbeitet hat. Plus, als sie noch nicht schwanger war. Neulich, als ich um ein winziges Stückchen Schokolade betteln musste, sagte sie, es würden sowieso schon viel zu viele dicke Kinder durch die Gegend rennen oder rollen, da müsste ja nicht ihr einziger Sohn dazugehören, der dann wegen seiner Tiefbegabung vom Gehsteig runter direkt vor einen Lieferwagen kullern könnte – mit überhöhter Verkehrsgeschwindigkeit von entweder dem Laster oder dem Sohn –, und dann tschüssikowski!

Ich warf mich vor ihr auf den Boden und tat so, als hätte ich einen Zuckermangelschock. So was gibt es, man kann sich dann nicht mehr bewegen, weil der Körper ganz plötzlich keine Energie mehr hat, und denken kann man auch kaum noch, außer an Schokolade und andere Sachen mit Zucker drin. Mama ließ mich eine Viertelstunde lang im Weg rumliegen. Dann wurde sie doch noch erbärmlich und päppelte mich endlich auf, bevor auch noch meine Atmung versagen konnte.

Das alles für ein Stückchen Schokolade!

Ich guckte auf die Uhr. Für halb elf waren Oskar und ich zum Einkaufen verabredet, da war nicht mehr viel Zeit. Wir wollten zum Karstadt am Hermannplatz laufen und bei der Gelegenheit auch gleich Frau Dahling an der Wursttheke besuchen. Das mit dem Essen, überlegte ich, konnte ich bis dahin verschieben. Frau Dahling rückt immer eine kleine Wurstigkeit für einen raus, wenn man sie besucht. Plus, in unserem Kühlschrank herrscht in letzter Zeit eh ständig Ebbe. Schwangere essen ja gern mal was zwischendurch, auch wenn Mama behauptet, ich würde viel mehr verspachteln als sie und das Baby zusammen, zum Beispiel vorgestern erst ihre Silberzwiebelchen, dabei hatte ich die Silberzwiebelchen nie angerührt, und überhaupt fragt man sich, was soll das mit diesen Silberzwiebelchen? Andere schwangere Frauen essen Gewürzgurken.

Wichtiger war, dass ich im Karstadt was für mein Geschwisterbaby besorgen wollte. Es war ein Geheimnis und eine Überraschung, auch für Mama, und es funktionierte nur, solange das Baby noch in ihrem Bauch war. Wenn es erst mal draußen war, würden Jahre vergehen, bis es das Geschenk wieder benutzen konnte.

Oskar wollte im Karstadt auch noch was besorgen, und zwar für Lars. Plus was Kleines für Lars’ besten Kumpel, den dicken Otto. Otto würde heute gegen Mittag mit seiner ziemlich neuen Freundin anrauschen, deshalb wollten Oskar und ich bis dahin vom Einkaufen wieder zurück sein. Auf diese Freundin war ich schon ein bisschen gespannt, weil ich bis jetzt nur ihren Namen kannte. Sie hieß Anna, und das fand ich total witzig, dass es jetzt ein Liebespaar gab, wo beide einen Vorwärts-Rückwärts-Namen hatten. Außerdem stellte ich mir vor, dass diese Anna genauso dick war wie Otto, was echt sehr dick bedeuten würde. Es war ein Wunder, dass er als Kind nicht ständig vor Lieferwagen gekullert und überfahren worden war.

Hinter mir pennte Porsche zusammengekringelt auf dem Nachdenksessel. Aber kaum bekam er mit, wie ich mich an ihm vorbeischleichen wollte, klappte er die Augen auf, sprang vom Sessel und kam begeistert auf mich zugewedelt.

»Gassi ist später«, sagte ich. »Ich muss erst mit Oskar zu Karstadt, und da darfst du nicht rein. Weißt du doch.«

Porsche legte die Öhrchen an und begann kläglich zu fiepen. Er wäre sowieso am liebsten den ganzen Tag draußen, aber zusätzlich liebt er auch noch Schnee, und zwar möglichst hohen. Da wühlt er sich drunter durch wie ein Maulwurf.

Ich kraulte ihn hinter einem Ohr. Wirklich Mitleid hatte ich keins. Wenn Porsche was nicht passt, kläfft und winselt er manchmal fürchterlich, das kann wirklich nerven. Zum Beispiel macht er totale Randale, wenn er länger als fünf Minuten irgendwo ohne Aufsicht vor einem Laden angebunden ist. Sobald man rauskommt, wartet dann garantiert schon irgendein Blödmann oder eine Blödfrau bei dem armen verlassenen Tier und hält einem einen Vortrag über ordentliche Hundehaltung und tierische Grausamkeit.

»Wir gehen heute Nachmittag raus«, versprach ich. Wir waren nach dem Frühstück schon draußen gewesen, das Fiepen war also kein Pulleralarm. »Jaulen hat bis dahin keinen Zweck! Oder willst du lieber raus auf den Dachgarten?«

Das war keine echte Frage. Der Dachgarten war längst völlig zugeschneit. Nur noch ein kleiner Pfad führte durch den Schnee bis zu unserem Vogelhäuschen, den lief ich jeden Morgen, um die Piepmätze zu füttern. Inzwischen blieb das Futter aber unberührt. Die Tschilpies schienen sich im Schnee genauso wenig zurechtzufinden wie ich. Wenn man bei diesem Wetter da oben herumtapste, kippte man dabei mit etwas Pech übers Geländer und fiel und fiel und fiel. Das einzig Gute war, dass man bei dieser Kälte den Aufprall nicht mitkriegte, weil man längst erfroren war, bis man unten ankam.

Porsche trottete mit einem verächtlichen WUFF! zum Sessel zurück, ohne sich noch mal nach mir umzudrehen. Ich lief ins Nachbarzimmer und dort die Treppe runter durchs Aquarium nach unten. Das Aquarium hat der Bühl bauen lassen, kaum dass er mit Mama verheiratet war. Seine und unsere Wohnungen liegen ja übereinander, im vierten und im fünften Stock. Aus der Zimmerdecke vom Bühl, die gleichzeitig der Fußboden von Mama und mir war, wurde ordentlich was rausgeschlagen, und zack! – fertig war der Durchbruch. In den hinein wurde dann eine schicke Treppe aus dunkelbraunem Holz gebaut, und jetzt können wir beide Wohnungen benutzen, ohne dafür jedes Mal den Umweg durch den Hausflur nehmen zu müssen. Weil die Zimmerdecke vom Bühl mit Wasser und Fischen und Seetang hübsch vollgemalt ist, nenne ich den Treppendurchgang das Aquarium. Ein bisschen nenne ich ihn auch so, damit es nach was Besonderem klingt. Die Kesslers haben so einen Durchbruch nämlich schon viel länger, zwischen ihren Wohnungen im Ersten und Zweiten. Bei ihnen ist es aber nur ein stinklangweiliger Durchgang, ohne Wasser und Meeresfrüchte und Grünzeug.

Mama saß am Wohnzimmertisch vom Bühl und verpackte ein Geschenk. Sie trug eine weite Blümchenbluse, die man im Frühjahr bestimmt toll als Tarnzelt benutzen konnte. Die Bluse hatte Irina ihr geschneidert, und noch eine Menge andere hübsche, sehr weite Klamotten, wegen der Umstände.

Überall im Raum brannten Kerzen und kleine Lichter, das war sehr gemütlich. Ein Teller voller Obstschnitze und ein Schälchen mit Nüssen standen vor Mama auf dem Tisch. Den hatte sie ein Stück vom Sofa weggeschoben, damit sie besser dranpasste. Das Baby war für Anfang Januar angekündigt, und es wurde auch wirklich langsam Zeit. Mama sah so aus, als hätte sie einen Wasserball runtergeschluckt. Das hatte allerdings auch sein Gutes. Mama kam nämlich schon seit Wochen kaum noch rauf in den Fünften, auch nicht zum Schlafen, sondern blieb lieber gleich beim Bühl. So ersparte sie sich das anstrengende Treppenlaufen mit ihrem dicken Bauch. Bis sie den Wasserball auf die Welt brachte, hatte ich deshalb unsere Dachwohnung so gut wie für mich alleine. Plus unseren Fernseher. Plus den Kühlschrank, den Mama vom Bühl oder von mir immer mal wieder auffüllen ließ, um sich irgendwann nachts heimlich nach oben zu schleppen und über wehrlose Silberzwiebelchen herzufallen.

»Guck mal, wie findest du die?« Mama hob irgendwas Bammeliges hoch. Sie war genauso hübsch wie immer und sah kein bisschen dicker aus, bis auf die Bauchstelle mit dem Wasserball. Jetzt strahlte sie, als hätte sie das Geschenk des Jahrhunderts gefunden. Und vielleicht war es das ja auch. Ich runzelte die Stirn.

»Was ist das?«

»Hosenträger.«

»Sind die für den Mommsen?«

Der Mommsen trug manchmal Hosenträger. Wenn er sie vergaß, konnte man, wenn er sich im Hinterhof nach Müll bückte, seine nackte Poporitze sehen. Das war kein schöner Anblick. Frau Dahling hatte ihm mal gesagt, wenn sie ihn noch mal so erwischte, würde sie ihm einen Euro reinstecken.

Mama schüttelte den Kopf. »Für Simon.«

»Der Bühl braucht Hosenträger? Seit wann das denn?«

Der Bühl ist zwar jetzt mein Vater, aber ich nenne ihn immer noch den Bühl. Außer wenn ich ihn direkt selber anrede, dann sage ich Simon, genau wie Mama. Und außer wenn ich sauer auf ihn bin, dann ist er nur dieser Typ, den meine Mutter geheiratet hat.

»Natürlich braucht er keine«, sagte Mama. »Ich fand, sie sehen einfach witzig aus. Guck doch mal.«

Ich schaute genauer hin, und plötzlich ging es in meinem Bauch ziemlich tief abwärts. Auf den vorderen und hinteren Gummizugdehnbarkeitstragedingern waren Bildchen drauf, immer abwechselnd Handschellen und kleine Pistolen. Ich wünschte mir zu Weihnachten etwas Ähnliches: Auf meiner Wunschliste ganz oben stand ein Koffer mit Polizeiausrüstung. Da waren Handschellen drin, eine Wumme, eine Taschenlampe und dergleichen. Leider gab es die Sachen nur aus Plastik. Der Bühl hätte mir das natürlich alles in echt von der Arbeit mitbringen können, aber er weigerte sich. Ich will ja nicht undankbar sein, aber so was regt mich dann doch ein bisschen auf. Da hat man endlich einen Vater, noch dazu einen Polizisten, und plötzlich ist der so kniepig! Und genau das war der Hauptgrund dafür, dass ich ihn weiter beim Nachnamen nannte und nicht Papa zu ihm sagte. Außerdem würde mir so der Abschied etwas leichter fallen, falls ich Mama irgendwann überreden musste, den Bühl womöglich abzuschaffen.

Den Kriminalkoffer und dazu noch eine kleinere Detektiv-Ausstattung wünschte ich mir, um Fingerabdrücke sichtbar zu machen und Blutproben vom Boden abkratzen zu können, wenn einer abgekratzt war. Aber wenn Mama dem Bühl jetzt schon die Hälfte meiner Wünsche als Hosenträger schenkte, gab es bestimmt nicht noch mal fast dasselbe für mich im Köfferchen.

Mann, Mann, Mann!

Am liebsten hätte ich losgeheult, aber das war seit der Schwangerschaft nicht mehr so einfach. Mama heulte nämlich seit ein paar Monaten bei allem mit. Man konnte nicht mal eine Packung Milch aufmachen, ohne dass sie Mitleid mit irgendeinem Kälbchen kriegte, dem wir jetzt die Milch wegtrinken würden, und dann legte sie los, aber wie! Die Niagarafälle waren nichts dagegen. Für das Baby konnte das nicht gut sein, weil in Tränen Salz ist, und das wird beim Heulen aus dem Körper gespült. Wenn Mama heulte, hatte das Baby also sofort Salzmangel, was schlecht war, weil ohne Salz ein Körper nicht richtig funktioniert. Das Baby könnte also womöglich mit einem Körperteil zu wenig auf die Welt kommen, einem Finger oder einem Ohr, einer Zehe oder gleich dem ganzen Fuß. Und ich wäre schuld, nur weil ich mich wegen ein paar Weihnachtsgeschenken nicht zusammengerissen hatte, obwohl ich ein Kind mit einem Ohr zu wenig natürlich genauso lieb haben würde wie ein Kind mit einem Ohr zu viel.

Also kein Heulen. Besser abhauen und sich abregen.

»Ich geh jetzt mit Oskar zum Karstadt«, sagte ich. »Brauchst du noch was?«

»Nein, danke. Simon bringt alles mit – Baum inklusive. Er hat eben angerufen, um –«

Ich hätte mich gern gebremst, aber nun wurde es mir doch zu viel. Erst die Enttäuschung mit dem Hosenträger, und nun das noch obendrauf.

»Den Baum wollten wir doch zusammen kaufen!«

»Ja, aber Simon hat irgendein Sonderangebot im Baumarkt erwischt. Ihr hättet sonst extra noch mal losgemusst, und für heute Nachmittag ist doch dieser heftige Sturm angesagt. Womöglich wärt ihr dann gar nicht mehr fündig geworden, weil alle Märkte und Geschäfte noch früher dichtmachen als ohnehin schon.«

Mama guckte mich mit diesem Mutterblick an, der zur einen Hälfte aussah, als würde sie gleich in Mitleid ausbrechen – nicht für mich, sondern für das Weihnachtsbäumchen, das extra wegen uns gefällt worden war –, und zur anderen Hälfte, als wollte sie sofort aufspringen und mir was zu essen kochen oder sonst was Mütterliches mit mir veranstalten.

»Sei nicht sauer, Schatz«, sagte sie. »Okay?«

Ich nickte und zwang mich zu einem Lächeln, drehte mich um und schlappte in Richtung Tür. Es war gar nicht okay. Jeden Tag hauen Kinder von zu Hause ab oder wandern aus, weil Erwachsene ihnen Dinge versprochen haben, ohne sie zu halten. Ich beschwerte mich bloß deshalb nicht, damit Mama sich nicht aufregte. Aufregung ist für ein Baby im Bauch genauso schlecht wie Salzmangel, und mein erster Bruder oder meine erste Schwester sollte mit einem guten Eindruck von mir auf die Welt kommen. Wenn er oder sie dann schrie, lag es jedenfalls nicht an mir, sondern an diesem Typ, den meine Mutter geheiratet hatte und der sich nicht an Absprachen hielt und einen für Neugeborene völlig unpassenden Baum anschleppte.

Ich war schon fast zur Wohnzimmertür raus, als Mama hinter mir herfragte: »Wann hast du eigentlich die Schränke durchsucht?«

Ihre Stimme war freundlich, aber irgendwie schaffte Mama es, dass sie dabei auch scharf klang, und das Fragezeichen am Schluss war wie ein ganzer neuer Satz: Jeder Widerstand ist zwecklos!

»Vor ein paar Tagen«, gab ich zu. »Aber nur ein Mal.«

Mist.

Verdammter.

Dabei war es nicht mal Absicht gewesen. Ich hatte ein T-Shirt gesucht und es nicht gefunden, und da hatte ich gedacht, es wäre vielleicht in Mamas Schrank gelandet oder bei der Wäsche vom Bühl. Und weil es mein kleinstes T-Shirt war – winzig, wirklich! –, hatte ich mich ein bisschen durch alle Sachen gewühlt, schließlich können winzige Sachen ja auch mal in eine Ritze fallen. Zufällig fand ich bei der Suche keine Geschenke. Also hatte ich überlegt, dass das T-Shirt vielleicht im Keller gelandet war, da stand nämlich in unserem Verschlag ein alter Schrank. Allein traute ich mich aber da unten nicht hin, deshalb fragte ich Oskar, ob er mitkommen würde.

Oskar sagte, er könne erst am nächsten Tag, und dabei wirkte er fast ein bisschen panisch. Wahrscheinlich brauchte er diesen einen Tag, um tief Luft zu holen und Mut zu schöpfen, denn das war mal klar, dass er genauso viel Schiss vor diesem nur funzelbelichteten Keller hatte wie ich. Immerhin, tags darauf hielt er sein Wort und wir durchsuchten die Kellerräume von Doretti und Bühl – aber leider Fehlanzeige. Eigentlich waren es sowieso bloß Holzverschläge mit weiß getünchten Mauerwänden, und es war kalt darin wie in einem Kühlschrank. Niemand bei Verstand würde hier Geschenke verstecken, und so fanden wir im Schrank auch nur wirklich alte Klamotten und von Mama weggepackte Sommersachen, ansonsten haufenweise gestapelte Kartons, leere Koffer und Rucksäcke. Plus, an einer Holzwand lehnte Mamas Fahrrad mit einem Platten. Der Bühl hatte es im Herbst reparieren wollen, war aber bisher nicht dazu gekommen.

Oskar schien es eilig damit zu haben, wieder nach oben zu verschwinden. Er guckte sich angespannt um, hauptsächlich in Richtung von seinem eigenen Kellerraum, wo die vordere Bretterwand mit einer krumpeligen alten Wohndecke abgehängt war. Die war rostrot. Oder blutrot, je nach Beleuchtung. Oskar starrte angstvoll auf die Farbe, als erwartete er, dass irgendwas hinter der Decke hervorkommen würde, und plötzlich kriegte ich auch totalen Schiss, und zack, saßen wir eine Minute später auch schon wieder in seiner Küche und tranken heißen Kakao.

»Komm mal her und hol dir ’nen Knutscher zur Strafe«, sagte Mama in meine Erinnerung hinein. Ich ging zu ihr und ließ mir einen Kuss auf die Backe drücken und mir durch die Haare wuscheln. »Wir kriegen was Kleines«, sagte sie, »also solltest du dir keine Hoffnungen auf was Großes machen. Sparen ist angesagt.«

Schon wieder kullerte mir irgendwas durch den Bauch, bestimmt so eine Art Weihnachtspanik. »Ich dachte, die Boutique läuft gut?«, sagte ich und drückte mich dabei von ihr weg. »Hast du doch gesagt, oder? Das Weihnachtsgeschäft –«

»Es läuft ja auch alles gut. Wir überlegen sogar, eine Aushilfe dazuzunehmen, eine Halbtagsstelle. Aber das macht Irina und mich noch lange nicht zu Millionären. Wir müssen investieren, wir müssen Steuern zahlen, Versicherungen und Miete … ich befürchte, es dauert noch eine ganze Weile, bis bei uns der Wohlstand ausbricht. Und dazwischenkommen darf dabei auch nichts.«

Schöne Aussichten! Ich schnappte mir ein paar Nüsschen, dann noch ein paar Nüsschen und noch eine Handvoll Nüsschen, bevor ich ging. Falls wir verarmten, wollte ich vorher wenigstens noch ausreichend gegessen haben.

Im Zweiten stand Oskar an seinem Fenster, die Handflächen und die Nase gegen die Scheibe gepresst, fast genau so, wie ich vorhin oben im Fünften am Fenster gestanden hatte. Wo er gegen das Glas atmete, war es beschlagen. Gerade als ich dachte, er wäre von dem weißen Gewimmel da draußen total hypnotisiert, sagte er, ohne sich zu mir umzudrehen:

»Heute fallen noch mal mindestens dreißig Zentimeter! Stell dir das vor: Dreißig Zentimeter Schnee, an einem Tag – Wahnsinn! Wenn das sechzig Tage lang ununterbrochen so weitergeht, liegt der Schnee bei euch ganz oben direkt vorm Fenster.«

Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört. Mit Mathe kann bei mir jeder behaupten, was er will, ich kann es ja nicht nachprüfen, weil es in meinem Gehirn keine passende Abteilung dafür gibt. Ich stellte mich neben Oskar. Er guckte so begeistert raus in das Schneegewirbel, als wollte er tatsächlich eine Rechenaufgabe daraus basteln. Man kennt so einen Blödsinn ja aus Mathebüchern.

RECHENAUFGABEN: Gerne mal blödsinnig. Wenn es jeden Tag dreißig Zentimeter schneit und in sechzig Tagen der Schnee am Dachfirst ankommt, wie hoch ist dann das Haus? Als ob es, wenn der Schnee so hoch liegt, auf ein paar Meter noch ankommt, wenn man tiefer unten nicht mal mehr aus der Haustür rauskommt, um zum Beispiel einkaufen zu gehen. Oder um Schnee zu schippen.

Der Mommsen war seit Tagen total am Durchdrehen wegen der vielen Schneeschipperei! Oskar und ich guckten runter zum Gehsteig, wo er gerade wieder zugange war. Er trug seinen dicken grünen Parka und die blaue Pudelmütze, die Frau Kessler für ihn gestrickt hatte. Die Mütze war zu weit und rutschte ihm ab und zu in die Stirn, obwohl Frau Kessler sich, extra wegen dieser Kopfweite, mit Frau Dahling beratschlagt hatte. Frau Dahling hatte gefragt, warum Frau Kessler ausgerechnet dem knötterigen Mommsen eine Mütze stricken wollte, und Frau Kessler hatte gesagt, na ja, er habe ja trotz allem doch ein gutes Herz, der Mommsen, und jetzt, wo er wegen der Schneeschipperei tagsüber kaum noch zum Trinken käme (in Wirklichkeit hatte sie Saufen gesagt), sei er ja auch viel zugänglicher als sonst, geradezu freundlich, und außerdem, es sei ja Weihnachten, da müsse man eben noch ein bisschen mehr als sonst an die anderen denken, so, und was schätzen Sie denn jetzt, wie groß sein Kopfumfang ist?

»Wenn du mich fragst«, hatte Frau Dahling gesagt, als sie mir brühwarm von der Unterhaltung erzählte, »hat die Kessler ein schlechtes Gewissen, und weißt du, warum?«

»Klar … Warum denn?«

»Weil sie Fitzke immer so mies behandelt hat, darum! Das will sie jetzt an Mommsen wiedergutmachen. Mit Weihnachten hat das nichts zu tun.«

Die blaue Mütze mit der dicken Bommel sah trotzdem ganz hübsch aus, fand ich. Ich klopfte gegen die Scheibe und winkte dem Mommsen zu, aber er hörte mich nicht und guckte nicht zu uns rauf.

»Kannst ihm ja draußen frohe Weihnachten wünschen«, sagte Oskar. Er wandte sich vom Fenster ab. »Gehen wir?«

»Klar. Was willst du Lars eigentlich genau kaufen?«

»Weiß noch nicht. Was zum Anziehen. Ich gucke mich um, es wird sich schon was Schönes finden.«

Ich wusste, dass es so eine Art Geschenk für einen tollen Vater werden sollte, weil Lars sich seit Oskars und meinem frühsommerlichen Abenteuer an der Ostsee mit dem Vatersein wirklich Mühe gab. Nur im Oktober, in den Herbstferien, war er mal kurz durchgedreht, aber das hatte Oskar sich selber eingebrockt. Da hatte er im Böcklerpark tagelang Kastanien gesammelt, insgesamt fünf Plastiktaschen voll, und die nach Hause geschleppt. Tausende mussten das gewesen sein. Er bunkerte sie in seinem Zimmer, aber irgendwann, als Lars auf Arbeit war, begann er, die Kastanien in der Küche zu wiegen.

Auf einer kleinen Briefwaage.

Jede einzelne.

Das Gewicht trug Oskar in ein Heft ein, und die gewogenen Kastanien warf er hinter sich. Sie kullerten teilweise bis raus in den Flur, und da rutschte Lars drauf aus, als er nach Hause kam. Er brachte Otto mit, aber der hatte Glück, weil er stehen blieb. Lars brüllte, was der Blödsinn soll, und Oskar erklärte ihm ganz ruhig, dass er das Durchschnittsgewicht von Rosskastanien bestimmte, weil das weltweit noch niemand getan hatte, so grundsatzmäßig, und deshalb wollte er das tun.

Lars brüllte ihn an – man darf nicht vergessen, da lag er immer noch auf dem Fußboden und hatte Angst, sein Hintern wäre womöglich gebrochen und für immer gelähmt und so weiter –, also, er brüllte, so rein grundsatzmäßig würde er Oskar eine ballern, sobald er wieder auf den Beinen wäre, aber der Otto konnte ihn Gott sei Dank wieder beruhigen, und zuletzt wogen sie alle zusammen in der Küche die letzten siebenhundert Kastanien mit einem Durchschnittsgewicht von 12,69 Gramm und tranken dabei würzigen Bio-Yogitee, von Otto zubereitet. Und deshalb wollte Oskar dem dicken Otto auch was schenken.

Weihnachten, dachte ich. Heiligabend!

Geschenke, Geschenke, Geschenke!