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Buch

Als die junge Archäologin Dr. Samantha Goodwin den Auftrag zur Untersuchung einer versunkenen Burganlage an der walisischen Küste erhält, die der Legende nach zum verschollenen Königreich von Cantre’r Gwaelod gehört, ist sie begeistert. Sie quartiert sich bei ihrer Großmutter Gwen ein, die in einem kleinen Cottage im Fischerdorf Borth ganz in der Nähe wohnt. Auf dem Weg zur Ausgrabungsstätte begegnet Sam dem kleinen Max und seinem Vater, dem Bootsbauer Luke Sherman, der sich seit dem Unfalltod seiner Frau liebevoll um Max kümmert. Sam fühlt sich sofort zu dem charismatischen Luke hingezogen. Und auch Luke kann sein Interesse an Sam nicht verhehlen.

Doch Sams Untersuchungen auf dem Meeresboden bringen mehr als antike Funde zu Tage: Sie stößt auf einen Toten, der kaum länger als 60 Jahre dort gelegen hat. Die alte Gwen ist davon überzeugt, dass es sich um ihren Mann, Sams Großvater Arthur, handelt, der vor Jahren in einer stürmischen Nacht auf dem Meer verschwand, dessen Leiche jedoch nie gefunden wurde. Als Sam zusammen mit Luke der Sache nachgeht und im Dorf Nachforschungen anstellt, schlägt ihr breite Ablehnung entgegen, und sie fühlt sich verfolgt. Es scheint, als ob irgendjemand um jeden Preis verhindern will, dass sie das Rätsel um ihren Großvater löst. Und dann gerät Sam in tödliche Gefahr …

Informationen zu Constanze Wilken

und weiteren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

CONSTANZE WILKEN

Sturm

über dem Meer

Roman

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Für Alessa

Das versunkene Königreich Cantre’r Gwaelod

Cantre’r Gwaelod war einst ein mächtiges Königreich. In der Bucht von Cardigan hatten die Menschen dem Meer in mühevoller Arbeit fruchtbares Land abgerungen. Dieses Land wurde von einem starken Deich beschützt. Ein Hektar dieses Landes war so viel wert wie vier Hektar anderswo. In dem Deich befand sich ein Schleusentor, das bei Ebbe geöffnet wurde, um das Wasser abfließen zu lassen. Bei Flut musste das Tor geschlossen werden, um das Land und die Menschen vor dem Meer zu schützen. Jede Nacht wurde eigens ein Wächter zur Sicherung der Schleuse bestimmt.

Anno Domini 600 wehte ein Sturm von Südwest herauf und trieb eine Springflut gegen die Deiche. In dieser Nacht fiel Seithennin, einem Freund von König Gwyddno Garanhir, Longshanks genannt, die ehrenvolle Aufgabe der Schleusenwache zu. Aber Seithennin war ein verworfener Geselle, der gern trank und mit den Weibern tändelte. Es trug sich zu, dass Seithennin auf einer Feier in Aberystwyth war und seine Pflicht vergaß.

Das Meer stieg weiter und weiter, und der Sturm drückte die aufgewühlten Fluten gegen den Deich von Cantre’r Gwaelod. Seithennin aber lag in den Armen der schönen Meredid und dachte nicht an seine Leute, die arglos in den Dörfern hinter dem Deich schliefen. Und so kam es, dass das wütende Meer sich Bahn brechen konnte durch die offenen Tore. Das fruchtbare Land mit sechzehn Dörfern wurde überschwemmt. Die meisten Bewohner wurden im Schlaf vom Wasser überrascht und ertranken elendiglich, genau wie das Vieh. Nur König Longshanks und einigen Mitgliedern seines Hofstaats gelang die Flucht nach Sarn Cynfelin.

Nach diesem schrecklichen Unglück war der Deich zerstört, das fruchtbare Land verloren, und der König und seine Leute mussten ein ärmliches Dasein in den nahen Hügeln von Wales fristen.

Seitdem, so geht die Legende, läuten die Glocken von Cantre’r Gwaelod, wenn Gefahr droht.

Machynlleth, 20. Dezember 1955

Ein kalter Wind fegte über den Platz am Uhrenturm. Schnee drückte auf die Dächer des Bergdorfs, das durch die spärlichen bunten Lichter kaum freundlicher wirkte. Die Mauern der Häuser waren aus den grauen Steinen der Berge ringsherum erbaut und trotzten seit Jahrhunderten dem unwirtlichen walisischen Wetter. In der nasskalten Luft mischten sich die Gerüche von Schafdung, heißem Gewürzwein und Fettgebackenem, denn die Schafzüchter der Gegend hatten ihre Tiere zum letzten großen Markt des Jahres zusammengetrieben. Die Männer, rotgesichtig, mit dicken Wollmützen, die Kragen der Wachstuchmäntel hochgeschlagen, feilschten um Preise für den besten Bock, wie sie es seit Jahrhunderten taten. Es wurde gejohlt und gelacht, gefeixt und gebrüllt, und am Ende besiegelte ein Handschlag das Geschäft.

Eine Gruppe Zigeuner spielte zum Tanz auf und bot exotische Waren feil. Kurz vor Weihnachten waren die Menschen spendabler, auch wenn sie selbst nicht viel zum Leben hatten. Der lange Krieg hatte allen zugesetzt, doch den Walisern mehr, denn der wirtschaftliche Aufschwung fand in England statt, nicht in entlegenen Bergdörfern an der Irischen See. So kurz vor Weihnachten suchten die Frauen nach letzten Zutaten für das Festessen, hatten vielleicht auch einen Groschen für bunten Tand übrig, den sie sonst nicht kaufen würden. Aber die Kinderaugen sollten leuchten, lange genug hatten sie alle gedarbt und sich nach friedlichen, blühenden Zeiten gesehnt.

Früher hatte ein steinernes keltisches Kreuz über Machynlleth und seine Bewohner gewacht. Unter Queen Viktoria hatte es zu Ehren des Markgrafen von Londonderry einem hässlichen neugotischen Uhrenturm weichen müssen.

Niemand achtete auf den kleinen Mann mit der tief ins Gesicht gezogenen Mütze, dem groben Wollschal, den er sich bis über die Nase gezogen hatte, und den Stiefeln, in denen eine ausgebeulte graue Hose steckte.

Er trug einen Segeltuchsack auf dem Rücken, den er mit beiden Händen festhielt, als habe er Angst, man könne ihn berauben. Dabei sah der Mann viel zu ärmlich aus, als dass man mehr als ein totes Lamm oder einen Haufen Felle in dem Sack vermutet hätte. Seine Hände waren rau und kräftig von harter Arbeit an der Luft. Unsicher schaute er sich um und winkte abweisend, als ein Zigeunermädchen ihm einen Seidenschal unter die Nase hielt. Er merkte nicht, dass ihm die Schafe blökend aus dem Weg gehen mussten, weil er nicht darauf achtete, wo er hintrat.

Sein ungelenkes Verhalten ließ erahnen, dass er nicht oft unter Menschen war. Er lächelte nicht, obwohl angesichts des nahen Weihnachtsfestes die meisten fröhlich wirkten. Zumindest ein Mal im Jahr wollte man vergessen, wollte die Mühsal des täglichen Daseins in süßem, heißem Wein ertränken und essen und singen, bis der Pfarrer von der Kanzel den Kopf schüttelte und mahnend, wenn auch mit einem Augenzwinkern, den Finger hob. Davon war der Mann mit dem Seesack weit entfernt. Er stand jetzt direkt neben dem Sockel des Uhrenturms und starrte auf die Häuserreihe dahinter.

Die dunkelblaue Fassade gehörte zur Bank, vor dem roten Haus baumelte ein goldener Fuchs und verkörperte den Namen des Pubs. Daneben standen im Schaufenster eines Fachwerkhauses alte Medizinflaschen und Gefäße mit lateinischen Namen und machten das Apothekenschild überflüssig. Langsam ging der Mann mit dem Seesack um den Turm herum und steuerte auf einen Laden zu, in dessen Fenster Silberschalen, eine Kommode und ein verschnörkelter Spiegel standen. »Whitfields Antiquitäten« stand in goldenen Lettern auf einem dunkelgrünen Schild.

Tief Luft holend schulterte der Mann seinen Sack und stieg die Stufen hinauf. Er drückte die Türklinke und schreckte zusammen, als eine Glocke sein Eintreten verkündete.

»Guten Tag, Sir, was kann ich für Sie tun? Suchen Sie noch ein Geschenk für Ihre Frau?«, wurde er von dem Ladeninhaber begrüßt, dessen Tränensäcke und rote Flecken auf Nase und Wangen auf eine Vorliebe für Alkoholisches schließen ließen.

Aber Reece Whitfield kannte sich aus in seinem Metier. Schon sein Vater und sein Großvater hatten mit Antiquitäten gehandelt und ihn gelehrt, dass man Kunden nicht nach dem Äußeren beurteilen durfte. Manchmal hatten die seltsamsten Vögel viel Geld oder einen unverhofften Fund auf dem Dachboden eines Hauses gemacht. Die Möglichkeiten waren unendlich vielfältig, genau wie die Menschen, und deshalb musterte Whitfield den Kunden neugierig und nicht abfällig.

»Guten Tag.« Der Mann ließ den Sack zu Boden gleiten, wobei ein leises Klirren erklang. »Ich will was verkaufen. Man hat mir gesagt, dass Sie auch Sachen kaufen.«

Reece Whitfield setzte seine Brille auf und schob Füllfederhalter und ein Buch von der ledernen Arbeitsfläche des Verkaufstisches. »Dann zeigen Sie mal her, was Sie haben. Mit Besteck wird es schwierig, das sage ich gleich. Das müsste schon massives Silber sein.«

Eine Frau kam aus dem hinteren Teil des Hauses. »Reece, wir müssen noch über die Raten für das Auto und den Kredit sprechen …«

Barsch drängte Whitfield seine Frau zurück. »Nicht jetzt. Du siehst doch, dass ich Kundschaft habe.«

Der Fremde, dessen Hände in ausgefransten halben Handschuhen steckten, wühlte in seinem Sack und brachte ein unförmiges Bündel zum Vorschein. Er legte es auf den Tisch: Einfaches Tau war um gewachstes Tuch geschlungen, auf dem sich die für Salzwassereinwirkung typischen weißen Ränder zeigten. Vorsichtig, beinahe ehrfürchtig, entknotete der Mann das Bündel mit zittrigen Fingern. Schließlich zog er das feste Tuch auseinander und entlockte dem erfahrenen Antiquitätenhändler ein ungläubiges »Heilige Mutter Gottes!«.

1

University of Oxford, Institut für Archäologie, Oktober 2014

Dr. Samantha Goodwin warf den Bleistift auf ihren Schreibtisch und starrte wütend auf den Brief, der ihre Karriere bedrohte, wenn er sie nicht schon zerstört hatte.

»Verfluchter Mistkerl!«, fauchte sie und zerknüllte das Schreiben von Professor Christopher Newman, dessen Wappen golden auf dem Briefkopf prangte und sie zu verhöhnen schien.

Vor gar nicht langer Zeit waren sie und Christopher ein Liebespaar gewesen und hatten gemeinsam archäologische Schätze aus den Meeren der Welt geborgen und untersucht. Gemeinsam hatten sie die Ergebnisse erarbeitet, ausgewertet und veröffentlicht. Ihrer beider Namen hatte auf den Forschungsberichten gestanden, sie beide hatten Vorträge über ihre Erkenntnisse gehalten und sich Ehrungen und Auszeichnungen geteilt. Damit war es nun ganz offensichtlich vorbei!

»Wie kann er mir das antun!« Sam, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, stand auf und riss die Jacke vom Stuhl.

Dieser Oktober war kalt, nass und windig. Selbst ein kurzer

Weg über den Innenhof des Institutsgebäudes konnte einen durchnässen. Durch jahrelanges Arbeiten an Ausgrabungsstätten im Freien unter widrigsten Bedingungen war sie einiges gewohnt, aber sie wusste auch, dass etwas Zugluft ausreichte, um sich eine Erkältung einzufangen.

Sie warf sich ihre Wachstuchjacke über, griff nach dem zerknüllten Brief und glättete den Bogen beim Verlassen ihres Büros. Auf dem Flur standen zwei Studenten, die anscheinend auf sie gewartet hatten.

»Tut mir leid, ich habe jetzt keine Zeit«, wiegelte Sam ab, doch die beiden jungen Frauen gaben nicht so schnell auf. War sie selbst auch einmal so hartnäckig gewesen? Wahrscheinlich, sonst hätte sie es nicht bis ans renommierte Oxford Centre for Maritime Archaeology geschafft.

»Okay, was ist? Ich habe nur eine Minute.« Sam stopfte den Brief in ihre Tasche, strich sich eine lange dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und versuchte ein Lächeln.

»Dr. Goodwin, wir möchten uns für Baia anmelden. Wir haben beide Tauchscheine und können alle Kosten übernehmen«, sagte eine der jungen Studentinnen, deren Designerkleidung und teure Armbanduhr von wohlhabenden Eltern sprachen.

Innerlich stieß Sam einen Stoßseufzer aus. Es war so ungerecht, dass fast nur diejenigen, deren Eltern es sich leisten konnten, die begehrten Plätze in den ausländischen Forschungsprojekten bekamen. Baia, ausgerechnet der versunkene antike Badeort vor Neapel musste es sein! »Geht zu Professor Newman. Ich kann euch da nicht helfen.«

»Aber wir möchten gern in Ihre Gruppe, weil …«, sagte die zweite Studentin.

»Ich betreue Baia nicht mehr. Geht zu Professor Newman, danke!« Damit ließ Sam die verdutzten Studentinnen stehen und ging rasch davon.

Der römische Badeort, in dem schon Cäsar und Nero Erholung gesucht hatten, war ihr Steckenpferd, ihr Lieblingsprojekt gewesen. »Ah!«, presste sie wütend durch die Zähne und stieß die Tür zum Innenhof auf.

Die nasskalte Luft kühlte ihre aufgestauten Emotionen etwas ab, und Sam blieb kurz stehen, um sich zu sammeln. Zwar war Professor Farnham, der Institutsleiter, ein Gemütsmensch, doch unprofessionell und hysterisch wollte sie auch auf ihn nicht wirken.

Während sie langsamer auf den Eingang zum Hauptgebäude zuging, rekapitulierte sie das Geschehene. Mit vierunddreißig Jahren hatte sie viel erreicht, sich einen Ruf als Expertin für meereskundliche Archäologie erarbeitet und zahlreiche hochgelobte Aufsätze veröffentlicht. Das hatte rein gar nichts damit zu tun, dass sie und Christopher ein paar Jahre lang ein Liebespaar gewesen waren! Und er hatte die Frechheit, sie jetzt öffentlich als Nutznießerin seiner Gunst bloßzustellen. Hätte sie es kommen sehen müssen? Himmel, so schlecht hätte sie niemals von ihm gedacht! Das hatte er doch gar nicht nötig. Newman war der erste Juniorprofessor mit eigener Außenstelle in Neapel gewesen. Es war sein Verdienst, dass der European Research Council das Sponsoring für Baia übernommen hatte. Das hatte sie ihm nie streitig gemacht.

»Hallo, Sam!« Ein schlaksiger Mann im Tweedjackett winkte ihr zu, als sie in den Flur des archäologischen Instituts trat.

»Martin, hallo. Schon wieder zurück?« Martin MacLean gehörte zu einem internationalen Team, das in Syrien das Wassersystem des alten Androna mitsamt dem byzantinischen Bad ausgrub.

Martin küsste sie zur Begrüßung auf die Wangen. Er sah gebräunt aus, doch seine Miene war sorgenvoll. »Es wird schon wieder geschossen. Und keiner weiß so genau, warum und wie es weitergehen soll … Sehr schade, wo wir schon so weit sind.« Er hob die Schultern und kratzte sich den Dreitagebart. »Und bei dir?«

»Frag nicht. Ich muss zu Farnham und erzähl’s dir später. Heute Abend im Lamb and Flag?« Sam hatte schon die Tür zum Büro des Dekans im Auge.

»Gerne! Das hat mir gefehlt, unsere Mittwochabende im Pub. An Shisha und Tee werde ich mich nie gewöhnen.« Martin schüttelte grinsend den Kopf und wurde dann von einem anderen Kollegen abgelenkt, der ihn begrüßte.

Sam hatte den Eindruck, dass dieser junge Dozent sie mit einem herablassenden Blick bedachte. Er wusste es also schon. Wahrscheinlich hatte Christopher seine miesen Anschuldigungen als Gerücht wohldosiert gestreut, und sie dumme Gans hatte nichts mitbekommen. Entschlossen klopfte sie an die Tür des Dekans. Es dauerte nicht lang, und Stimmen näherten sich. Dann wurde die Tür geöffnet, und eine gutaussehende blonde Frau, deren hochmütiges Gesicht Sam wohlbekannt war, kam heraus, musterte sie kurz und sagte zu Farnham: »Danke, mein Lieber, ich werde darauf zurückkommen.«

Lauren Paterson war eine von Christophers wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und wahrscheinlich seine aktuelle Geliebte. Als Sam das triumphierende Aufblitzen in Laurens perfekt geschminkten Augen sah, traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag. Wahrscheinlich steckte Lauren hinter der miesen Kampagne, um Sam endgültig aus dem Weg zu räumen. Lauren war wohl eifersüchtig auf das nach wie vor gute Verhältnis von Sam und Christopher, denn als Forschungsteam waren sie unschlagbar. Gewesen, setzte Sam in Gedanken hinzu, ignorierte Lauren und schenkte Farnham ein Lächeln.

Seit vier Jahren leitete Professor Farnham das Institut souverän und erfolgreich, was weniger seinen familiären Verbindungen zum Königshaus als vielmehr seiner wissenschaftlichen Kompetenz zu verdanken war. Struppige graue Haare, ein von Jahren in tropischen Gefilden gegerbtes Gesicht und eine verbogene Brille passten so gar nicht zum Image eines Dekans. Aber Farnham war ein Original, und seine blauen Augen hefteten sich interessiert auf Sam.

»Kommen Sie herein, liebe Samantha. Was führt Sie zu mir?«

Er bot ihr Platz in einem der Ledersessel und eine Tasse Tee an.

»Danke.« Sam versank in einem der riesigen Sessel und wartete, bis er ihr einen Becher russischen Karawanentee in die Hand drückte. Der rauchige Duft stieg ihr in die Nase und besänftigte ihr aufgewühltes Gemüt ein wenig.

Das Leder knirschte, als Oscar Farnham sich ihr gegenüber niederließ und sie erwartungsvoll ansah.

Wortlos nahm sie den zerknitterten Brief aus ihrer Tasche und reichte ihn Farnham. Beim Überfliegen des Inhalts verdüsterte sich seine Miene. »Das ist nicht schön.«

»Nein. Ganz und gar nicht. Vor allem ist es gelogen!«

»Davon gehe ich aus. Ich kenne Sie beide seit Jahren und kann nicht verstehen …« Farnham fuhr sich durch die Haare, schob seine Brille über den Nasenhöcker und machte ein schnalzendes Zungengeräusch. »Doch, ich kann.«

»Lauren«, war alles, was Sam sagte.

»Lauren Patersons Vater finanziert die kommende Saison des Baia-Projekts. Und Lauren und Christopher haben mich zu ihrer Hochzeit eingeladen.« Farnham trommelte mit den Fingern auf die Sessellehne.

Konnte es noch schlimmer kommen? Wohl kaum, dachte Sam. »Das wusste ich nicht. Ich meine, das mit der Hochzeit.«

»Sie hat es mir eben gesagt.« Farnham räusperte sich. »Ich will ganz ehrlich sein. Paterson als Sponsor zu verlieren wäre eine Katastrophe für das Baia-Projekt. Die Zukunft des Instituts hängt daran. Baia verschafft uns Aufmerksamkeit in der Presse und zieht Studenten und Laienforscher an. Aber was sage ich, Sie wissen selbst, wie das heutzutage läuft.«

»Christopher bezichtigt mich des Diebstahls geistigen Eigentums – und das stimmt nicht!«

»Hm, das ist wahr. Haben Sie sich gestritten?«

»Nein! Überhaupt nicht! Alles lief gut. Wir bereiten gerade den Bildband vor, für den Lauren unbedingt den Artikel über …« Sie hielt inne und biss sich auf die Lippen. »Lauren …«

»Ach, Samantha, das tut mir wirklich schrecklich leid für Sie. Aber wie es aussieht, hat Lauren großen Einfluss auf ihren zukünftigen Gatten.«

»Sie steckt dahinter. Ich soll von der Bildfläche verschwinden. Aber so einfach geht das nicht!«, wehrte sich Sam und ahnte, dass sie bereits verloren hatte, als Farnham sich seufzend zurücklehnte. »Mein Ruf als Wissenschaftlerin steht auf dem Spiel! Ich kann den Leuten hier doch schon ansehen, dass sie denken, ich wäre nur durch Christophers Protektion so weit gekommen!«

»Jetzt übertreiben Sie aber. Die Gerüchteküche kocht ab und an über, aber Sie werden nicht in diesem giftigen Sud ertrinken, liebe Samantha.« Farnham lächelte ermutigend. »Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

»Ich lasse das nicht so stehen!«

»Können Sie Ihren Anteil an den Forschungen genau belegen?«

»Ja, nein, wir haben zusammen … Mal habe ich kartiert und beschrieben und dann …« Sie schluckte. »Nein.«

»Ich billige Christophers Verhalten nicht und werde diesbezüglich mit ihm sprechen. Aber ich empfehle Ihnen, sich aus dem Baia-Projekt zurückzuziehen. Gegen eifersüchtige Verlobte bin ich machtlos«, sagte er lächelnd.

Doch Sam war nicht nach Scherzen zumute. »Sie entziehen mir das Projekt also?«

Sie stellte den Becher ab und erhob sich.

»Im Moment halte ich das für die einzige Lösung. Um die Wogen schnell zu glätten, und, wie gesagt, ich kläre das mit Christopher.«

»Und Lauren?«

»Äh, offiziell liegt nur Christophers Brief vor, und Lauren, nun ja, ihr Vater …« Der Dekan wand sich und wich ihrem Blick aus.

»Ich verstehe. Unter diesen Umständen sollte ich vielleicht unbefristeten Urlaub nehmen und mir neue Perspektiven überlegen.«

»Aber nein! Liebe Samantha, wir finden etwas für Sie. Lassen Sie mich schauen.« Farnham hatte sich ebenfalls erhoben und wühlte in den Unterlagen auf seinem mit Bücherstapeln und Akten überfüllten Schreibtisch. »Syrien fällt weg. Martin ist gestern wieder … Die Western Marmarica Coastal Survey Studie ist auch schwierig geworden, weil Libyen die Grenzen teilweise zugemacht hat.«

Sam schaute deprimiert zu, wie der Dekan Fotos von begehrten Ausgrabungsstätten zur Seite legte und wollte sich schon abwenden, als ihr Blick auf die Aufnahme eines Strandes fiel.

Sie zog das Bild heraus. »Wales. Das ist doch der Strand von Borth. Der Sturm vor einigen Tagen hat den versteinerten Wald freigelegt.«

»Sie sind damit vertraut?« Farnham richtete sich auf und schaute beinahe mitleidig auf die unspektakuläre Aufnahme. »Ich überlege noch, ob wir ein Team hinschicken. Viel Aufwand für eine so große Fläche, die bald wieder im Meer verschwunden ist.«

Samantha nickte gedankenverloren. »Meine Großmutter lebt in Borth. Ich habe viele Sommer dort verbracht und kenne jede Ecke des Strandes.« Sie betrachtete eingehend das Foto der dunklen Erhebungen auf dem Meeresboden. »So weit waren die Baumstümpfe noch nie freigelegt, und das hier sieht aus wie die Reste einer der Burganlagen … Mein Gott, kann das sein? Cantre’r Gwaelod … das versunkene Königreich …«

Farnham zog eine Mappe aus einer Ablage und legte weitere Fotografien hinein. »Bitte, es ist Ihr Projekt, Samantha. Wales im Oktober ist sicher nicht mit Aleppo zu vergleichen. Aber zumindest fliegen Ihnen dort keine Kugeln um die Ohren. Was sagen Sie?«

»Ich fahre nach Wales.«

2

Shermans Bootswerft, Borth, Oktober 2014

Der Wind hatte aufgefrischt, die Wellen wurden größer, türmten sich und bildeten weiße Schaumkronen. Wie wütende Pferde treiben sie auf den Strand zu, dachte Luke und suchte mit dem Fernglas nach einer kleinen Gestalt in roter Jacke. Endlich entdeckte er seinen achtjährigen Sohn, der im schlickigen Watt herumstrolchte und mit einem Stock an den alten Baumstümpfen herumstocherte. Das untergegangene Königreich … Luke schüttelte grinsend den Kopf. Für derlei Geschichten hatte er nicht viel übrig. Als ehemaliger Navy-Offizier konnte er sich Aberglauben nicht leisten. Er glaubte an das, was er sah, und für seinen Geschmack hatte er wahrlich genug gesehen. Wozu Menschen fähig waren, wusste er nur zu gut. Noch heute plagten ihn Albträume, die er mit niemandem teilen konnte.

Luke wollte Max gerade zurufen, nicht noch weiter hinauszulaufen, da blieb sein Sohn stehen, drehte sich um und winkte in seine Richtung. Luke hob den Arm. Der Junge hatte die braunen Haare und dunklen, verträumten Augen seiner verstorbenen Frau. Vor drei Jahren war Sophie bei einem Autounfall gestorben und hatte durch ihren viel zu frühen Tod sein Leben auf den Kopf gestellt. Der Schmerz und die Trauer waren eine Sache, aber das Leben musste weitergehen, und Max brauchte ihn. Bei seinen Kameraden war er auf wenig Verständnis gestoßen, als er den Dienst quittiert und sich nach Borth zurückgezogen hatte. In dieses gottverlassene walisische Kaff am Ende der Welt. Das waren Zacharys Worte gewesen, nicht seine.

Zac Malory war noch immer sein bester Freund, auch wenn sie einander selten sahen. Sie hatten Dinge zusammen erlebt, die einen auf ewig verbanden. Der Wind wehte Luke eine blonde Strähne über die Augen. Er setzte das Fernglas ab und zog eine Mütze aus der Jackentasche. Auf dem dunkelblauen Wollstoff prangte in orangefarbener Schrift Sherman’s Boatyard. Er war Luke Sherman, und die Bootswerft in Borth gehörte ihm.

Wenn man zwanzig Jahre beim SBS, dem Special Boat Service der Royal Marines, gedient hatte und ehrenvoll ausschied, war die Abfindung großzügig. Luke hob das Fernglas wieder an die Augen. Max stand jetzt neben einer Frau, die aufs Meer hinauszeigte und dann die Baumstümpfe fotografierte. Lange, dunkle Haare schauten unter einer Wollmütze hervor. Luke richtete sein Fernglas auf ihr Gesicht. Etwas irritierte ihn. Vielleicht war er zu lange im Dienst gewesen, um Menschen überhaupt noch unvoreingenommen begegnen zu können. Aber wenn das eine Touristin war, dann sollte ihn der Teufel holen.

Sie hob das Kinn, und er schaute ihr plötzlich direkt in die Augen. Neugierige, forsche bernsteinfarbene Augen, die ihn unmöglich gesehen haben konnten. Sie wandte sich Max zu, sagte etwas und ging davon. Das Vibrieren seines Telefons in der Hosentasche riss ihn aus seinen Beobachtungen.

»Sherman«, sagte Luke und verließ die Düne, von der aus er die Bucht überblickt hatte.

»Mr Sherman, schön, dass ich Sie gleich erreiche. Peters, wir haben ein Boot in Aberdovey liegen, und es muss unbedingt noch überholt werden …«

Während Luke sich das Anliegen des Kunden anhörte, folgte er dem Holzsteg durch die Dünen bis zu einem kleinen Parkplatz, auf dem er seinen Geländewagen abgestellt hatte. Neben ihm stand der Wagen eines Rangers vom Nationalpark. In dieser Jahreszeit hatten die Ranger weniger Sorgen mit wild Campenden in den Dünen als mit ortsunkundigen Strandwanderern, die sich nicht um die Gezeiten kümmerten, von Nebel und Flut überrascht wurden und eingesammelt werden mussten.

»Okay, Mr Peters, wenn Sie das selbst machen können, bringen Sie das Boot in unsere Werkstatt. Morgen Vormittag passt es.« Luke beendete das Gespräch und öffnete seinen Wagen, als Ranger Steven mit einem Sack Plastikmüll aus den Dünen kam.

»Hallo, Luke, alles klar?« Steven, Ende zwanzig, kleiner und drahtiger als der eher muskulöse Luke, schwenkte den Sack. »Hoffe, das war’s langsam für diese Saison.«

»Aye, mir reicht es auch, bin froh, wenn die Caravanparks dichtmachen.« Luke stammte aus Yorkshire, und seine Sprache war noch immer dialektgefärbt.

»Im Prinzip nichts dagegen, wir leben alle vom Tourismus, aber müssen die so viel Müll hinterlassen? Wie laufen die Geschäfte?«

»Habe gerade einen neuen Winterauftrag reinbekommen. Ein Mr Peters von drüben.« Er nickte Richtung Norden. Der Dovey mündete hier ins Meer, und auf der anderen Seite der Flussmündung lag Aberdovey, ein hübsches, verschlafenes Feriendorf.

Steve warf den Sack auf die Ladefläche seines Pick-ups und nickte. »Yup, Peters, dem gehört ein Hotel, das er nicht selbst betreibt, seine Exfrau, glaube ich. Kommt aus Manchester.«

»Ah, danke. Ist immer besser, man weiß, mit wem man es zu tun hat.«

»Oh, dem kannst du eine saftige Rechnung schicken, da tut’s nicht weh … Habe deinen Jungen unten gesehen. Soll ich ihn nachher mitnehmen?«

Eine heftige Böe fegte durch die Dünen, und dunkle Wolken ballten sich über dem Meer zusammen. »Ja, danke dir. Ich weiß auch nicht, was ich mit ihm machen soll. Ist ein lieber Junge, aber seit Sophies Tod kapselt er sich ab. Und am Meer fühlt er sich wohl. Es tut ihm gut, und er weiß, dass er nicht zu weit hinauslaufen darf.« Hilflos hob Luke die Schultern. Er machte sich immer Sorgen um seinen Sohn, aber er konnte ihn schließlich nicht einsperren, und Max war ein helles Kerlchen.

»Das dauert eben, und ich sehe ihn ja auch mit den anderen Kindern. Gib ihm Zeit, dann kommt er wieder zu sich.« Steven klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Dir fehlt eine Frau, Luke, damit wieder Leben in euren verschrobenen Männerhaushalt kommt.«

Luke verzog das Gesicht. »Hast du nicht eben gesagt, das dauert?«

»Aber nicht zu lange, sonst verlernst du’s am Ende noch.«

»Ich vergesse immer, dass du frisch verheiratet bist, Steven. Es sei dir verziehen.« Er zog die Autotür auf und schwang sich hinein. »Bis nachher. Und danke!«

»Jederzeit!« Steven griff nach einem leeren Müllsack und stapfte durch den weichen Dünensand davon.

Luke verließ Ynyslas, den nördlichen Strandabschnitt von Borth, über einen Feldweg und bog auf die kaum breitere Straße, die direkt an den Dünen entlang nach Borth führte. Nach einem Kilometer wurden die Dünen niedriger, und die ersten Fairways des Golfplatzes schmiegten sich in die raue Küstenlandschaft. Gegenüber, auf der Landseite der Straße, stand ein einzelnes weißes Cottage und trotzte windschief den Elementen. Dort lebte die alte Gwen Morris seit Jahren allein. Im Sommer saß die alte Dame meist auf der Veranda und schaute auf das Meer hinaus.

Heute stand eine silberne Limousine vor dem Haus, und Luke hoffte für die alte Dame, dass ihre Familie sie besuchte. Nun folgten in knappen Abständen einzelne mehr oder weniger gepflegte Ferienhäuser, meist Bungalows. Als er ein Schild mit der Aufschrift »Camping« passierte, bog er links ab. Seine Bootswerkstatt befand sich an einem Ausläufer des Dovey am Moor. Der Wagen ruckelte über Schlaglöcher, teilweise war die Fahrbahn an den Rändern abgebrochen, und die Räder sanken im weichen Boden ein. Hohes Schilfgras säumte die von zahlreichen kleinen Flussarmen zerfurchte Landschaft. Die Grünflächen dazwischen waren saftig, aber zu feucht, um als Bauland verkauft zu werden.

Luke fuhr langsam über die einspurige Brücke, welche die Ufer des Lery miteinander verband. »Sherman’s Boatyard« stand in orangefarbenen Lettern auf einem Holzschild an der Bootshalle. Vor zwei Jahren hatte er den heruntergewirtschafteten Betrieb gekauft und kämpfte noch immer gegen den schlechten Ruf seines Vorgängers an. Doch seine Sorgfalt bei der Auswahl von Mitarbeitern zahlte sich aus. Die Aufträge häuften sich, und das Unternehmen schrieb schwarze Zahlen.

Er hielt vor dem geöffneten Hallentor, legte die Mütze auf den Beifahrersitz und sprang aus dem Wagen. Auf dem Hof lagen sechs Boote, die winterfest gemacht werden sollten, weitere fünf waren bereits fertig und mussten von den Besitzern abgeholt werden. Auf einem Gelände, das Luke erst kürzlich dazugekauft hatte, standen mehr als ein Dutzend Motorboote und Segelyachten im Winterquartier.

Aus der Halle tönte ohrenbetäubend laute Musik zum rhythmischen Sound einer Schleifmaschine.

»Liam!«, brüllte Luke und stellte sich so, dass der junge Mann in T-Shirt und Weste ihn sehen konnte.

Liam, der dabei war, einen Schiffsrumpf von altem Lack zu befreien, stellte die Maschine ab, nahm den Mundschutz vom Gesicht und wischte sich mit einem Handschuh den Schweiß von der Stirn, wobei er den Rand der Wollmütze nach oben schob. »Boss, bin fast fertig!«

Luke drehte die kleine Stereoanlage leiser, die vor dem Büro auf einem Holzstapel stand. »Wie hältst du diesen Lärm nur aus!«

Lachend machte Liam eine Luftgitarrenbewegung mit der Schleifmaschine. »Das ist kein Lärm, das ist Pantheon, bester Metal Sound!«

»Wenn’s dir gefällt. Van Morrison ist mehr nach meinem Geschmack.«

»Softi«, grinste Liam, schien sich zu erinnern, wen er vor sich hatte, und sagte: »Sorry, Boss.«

»Und hör auf, mich Boss zu nennen.« Luke ging um den aufgebockten Rumpf des kleinen Segelschiffs herum und fuhr mit den Fingerspitzen über die Oberfläche. »Da musst du noch mal drüber. Das muss alles runter.«

»Okay, Boss, äh, Luke.« Liam war nicht der Schnellste, aber gutmütig und hörte zumindest zu, wenn man ihm etwas erklärte. Er kam aus dem nahen Aberystwyth und verdiente sich mit verschiedenen Jobs sein Auskommen.

Mehr als eine Vollzeitkraft konnte Luke sich noch nicht leisten, und die Stelle hatte er dem gelernten Bootsbauer Tyler French gegeben. Der kostete ihn zwar mehr, kannte aber alle Tricks und Kniffe seines Metiers aus jahrelanger Erfahrung auf verschiedenen Werften. Zuletzt hatte er für einen britischen Unternehmer auf einer Werft in Thailand gearbeitet. Das Heimweh hatte den fünfzigjährigen Tyler nach Wales getrieben, und Luke hoffte, dass den geschätzten Mitarbeiter nicht allzu bald wieder das Fernweh packte.

»Wo ist Ty?«

»An der Stingray, die vorgestern reingekommen ist.« Liam zog seine Maske übers Kinn. »Kann ich heute früher gehen? Ich will mit Gareth zu einem Konzert in Carmarthen.«

»Wenn das hier fertig wird, ja. Und vergiss nicht, wer saufen kann, kann auch arbeiten«, ermahnte er Liam, denn die Vergangenheit hatte gezeigt, dass er nach ausgiebigen Touren mit Gareth in der Werkstatt tagelang unbrauchbar war.

Liam verdrehte genervt die Augen, zog sich die Maske übers Gesicht und stellte die Schleifmaschine an. Luke verließ die Halle, denn das Motorboot war in einem kleineren Gebäude aufgestellt worden. Kaum trat er nach draußen, wurde er von einer Windböe erfasst, die ihm den aufgewirbelten Sand in die Augen trieb. Das würde einen heftigen Sturm geben, dachte Luke und nahm sich vor, später alle Boote samt Planen zu überprüfen, die draußen festgemacht waren. Er war froh, dass Steven sich um Max kümmerte, sonst hätte er jetzt losfahren müssen.

In der kleineren Werkstatt war es bis auf gelegentliches Klopfen und leises Fluchen still. »Ty?«

»Verhenkertes … ah, Luke, gut, dass du kommst. Sieh dir das hier an.« Eine graue Strubbelmähne tauchte hinter dem Bootsrumpf auf. Tylers eisblaue Augen begrüßten Luke, doch in Gedanken war der Bootsbauer ganz bei seinem Problem. Er hielt einen kleinen Gummihammer und klopfte einen Bereich neben dem Kiel ab. »Hörst du das?«

»Aye, ein Riss, würde ich sagen.« Luke war zwar kein gelernter Bootsbauer, doch er hatte sein Hobby zum Beruf gemacht und durch sein Leben im Dienst der Royal Navy viel gelernt.

»Der Eigner hat von zehn Litern pro Stunde gesprochen, die das Boot zieht. Ich habe den Rumpf überprüft. Den Bereich um den Riss herum könnte ich mit der Rotex anschäften, austrocknen lassen, Epoxidharz und 420er Glasfasergelege, und es wäre wieder so gut wie neu.« Tyler hob den Kopf und legte die flache Hand gegen das Motorboot. Er war einen Kopf kleiner als Luke, doch drahtig und kraftvoll. »Das ist die günstige Variante.«

Luke überlegte kurz. »Mach das. Der Eigner ist ein netter Typ und empfiehlt uns sicher an seine Freunde.«

Ein Wagen fuhr auf den Hof, und Luke nickte Tyler noch einmal bestätigend zu, bevor er die Werkstatt verließ. Beide Gebäude waren von Grund auf renoviert und mit viel Holz regional typisch verkleidet worden. Zunehmend sahen sich auch Touristen gern auf dem Gelände um, und Luke überlegte, ob er im Sommer eine Kitesurfschule am Strand eröffnen sollte.

Als er seinen Schwiegervater aus dem Auto steigen sah, wurde sein Herz schwer. Rhodri Perkins war einer der Gründe gewesen, warum Luke nach Borth gezogen war. Der frühe Tod seiner Tochter hatte Rhodri mehr zugesetzt, als er jemals zugeben würde. Rhodri führte das Lighthouse, einen gut gehenden Pub in Borth, und war in zweiter Ehe mit der um einige Jahre jüngeren Leah verheiratet. Leah hatte eine Tochter mit in die Ehe gebracht, die neunzehnjährige Lucy, deren lockerer Lebenswandel ihn die eigene Tochter noch schmerzlicher vermissen ließ.

Die beiden Männer nahmen einander kurz in den Arm. »Rhodri, was führt dich her?«

»Ich habe eine Überraschung für Max. Wo ist der kleine Racker?« Suchend schaute sich Max’ Großvater um.

»Am Strand. Steven bringt ihn gleich vorbei. Willst du warten und einen Kaffee mit mir trinken?« Luke hatte ein Cottage am Rande des Moors gemietet, von dem aus er auch zu Fuß zur Werft gehen konnte. Doch jetzt steuerte er mit Rhodri auf das Büro in der Werkshalle zu, in dem neben Schreibtisch und Sitzecke für Kunden auch eine Teeküche untergebracht war.

»Gern. Warte, ich nehm’s schon mal aus dem Wagen.« Rhodri öffnete die Heckklappe seines Kombis und hob ein kleines Mountainbike heraus.

»Ich wusste gar nicht, dass Max Geburtstag hat«, meinte Luke und schüttelte den Kopf. »Du verwöhnst ihn.«

Rhodri lächelte, wobei sich die scharfen Linien um Mund und Augen vertieften. Um seine Augen lagen dunkle Schatten, aber das brachte das Nachtleben mit sich. Seinen rasierten Schädel versteckte er meist unter einer verwaschenen Baseballcap. Über einem dicken Wollpullover trug er eine Weste zu ausgebeulten Jeans. Er war fast sechzig Jahre alt, und man sah ihm jedes einzelne Jahr an.

»Kannst du mir das verdenken? Max ist ein Sonnenschein, was ich von Lucy leider nicht behaupten kann.« Er stellte das Fahrrad vor dem Eingang ab.

Gemeinsam betraten sie die Halle, wo Liam eifrig die Schleifmaschine betätigte. Nachdem Luke die Bürotür hinter ihnen geschlossen hatte, wurde es ruhiger. Er hatte die Tür und das schmale Fenster zur Halle isoliert, um relativ ungestört arbeiten und telefonieren zu können.

»Ist sie schwanger, oder hat sie das Praktikum geschmissen?«, fragte er und stellte die Espressomaschine an.

Rhodri ließ sich in einen der abgewetzten Ledersessel fallen, nahm die Cap vom Kopf und rieb sich den Schädel. »Ich weiß gar nicht, ob eine Schwangerschaft das Ärgste wäre, sie ist gefeuert worden – aus einem Praktikum!«

Der Espresso zischte unter dem ratternden Geräusch der Maschine in zwei Tassen. Luke konnte auf vieles verzichten, aber nicht auf seinen Espresso. Er gab in beide Tassen einen Löffel Zucker und reichte Rhodri eine. »Was kann man denn schon falsch machen, wenn man ein Praktikum bei einem Immobilienmakler macht? Hat sie den Kunden Tee über die Hose gegossen?«

»Wenn sie überhaupt aufgetaucht ist, kam sie zu spät, und dann war sie auch noch patzig zu einem wichtigen Kunden. Ich bin am Ende meiner Weisheit. Meine Kontakte sind aufgebraucht. Soll sie zusehen, wie sie klarkommt«, meinte Rhodri bitter.

»Tja, sie ist neunzehn und muss selbst wissen, was sie tut. So hart das klingt, aber was willst du machen? Außerdem ist sie nicht deine leibliche Tochter und hat dich nie akzeptiert. Das macht es nicht gerade einfacher …«

Luke leerte seine Tasse in einem Zug und horchte nach draußen, wo ein Wagen vorfuhr.

»Nein, das macht es nicht, und Gott weiß, dass ich mir Mühe gegeben habe. Aber nun soll es so sein. War das eben ein Auto?« Rhodris Miene erhellte sich. Er stand auf und stellte seine Tasse auf den Tisch.

Und sie hörten bereits Max’ helle Stimme. »Dad? Ich bin wieder da, und rate mal, wen ich getroffen habe?«

Wie eine frische Brise stürmte ein dunkelhaariger Junge durch die Halle auf sie zu, ließ sich von Luke umarmen und von seinem Großvater die Haare zerzausen. Ranger Steven folgte ihm mit einem breiten Grinsen.

»Hallo zusammen!« Er hob schnuppernd die Nase. »Kaffee!«

»Geh rein und mach dir einen«, lud Luke seinen Freund ein, bevor er sich seinem Sohn zuwandte. »Okay, wen hast du getroffen?«

Doch Max war bereits von seinem Großvater in Beschlag genommen, der ihn an der Hand nach draußen zu seinem neuen Fahrrad führte. Das Geschenk wurde mit Freudenschreien begrüßt, und Luke ließ die beiden allein.

»Mach mir bitte auch noch einen, Steven«, sagte er.

»Wir haben hohen Besuch. Ich glaube, das wollte Max dir erzählen. Zucker?«, fragte Steven.

Luke nickte. »Hohen Besuch? Naturschutzamt?«

»Besser oder schlechter, wie man’s nimmt. Eine Archäologin aus Oxford, vom Centre für Maritime Archaeology.«

»Die wollen sicher mal wieder nach dem versunkenen Wald sehen. Na dann … Cheers!« Luke hob seine Tasse. Seit er nicht mehr bei der Navy war, trug er die Haare länger, doch seiner Haltung merkte man den Militärdienst noch immer an. So was steckte in den Knochen. Eine gerade Nase und das markante Kinn prägten sein eher längliches Gesicht, dessen schön geschwungener Mund gern, aber zu selten lachte.

Steven legte den Kopf schief. »Die Lady meint es ernst. Eine Frau Doktor mit Ambitionen, wenn du mich fragst. Und hübsch. Das hat sogar Max festgestellt.« Der Ranger grinste.

»Der Junge kommt nicht nach mir«, lachte Luke und dachte an den Blick in grüne Augen, die nicht wussten, dass sie beobachtet wurden.

»Ich habe nur kurz mit ihr gesprochen. Sie war ganz aufgeregt, weil der Sturm mehr von den Baumstämmen freigelegt hat als jemals zuvor. Eventuell holt sie Verstärkung und will alles kartieren und untersuchen.«

»Hoffentlich ohne Presserummel …«, murrte Luke.

»Darauf legt sie sicher keinen Wert, kann ihr nur schaden, wenn lauter Idioten im Watt herumtrampeln, herumstochern und womöglich sogar nach Schätzen buddeln, wo es keine gibt.«

Luke fuhr sich durch die Haare. »Lassen wir uns überraschen.«