Cover

»Grenz dich doch ab!« – das sagt sich so einfach. Doch Grenzen zu setzen ist leichter gesagt als getan. Erfolgsautor Rolf Sellin zeigt, weshalb oft nicht klappt, was wir uns doch schon so oft vorgenommen haben. Denn erfolgreiche Abgrenzung ist keine Willenssache. Abgrenzung will geübt sein und dafür bietet Sellin konkrete Methoden, die funktionieren: auf gedanklicher, kommunikativer, körperlicher und besonders auf energetischer Ebene.

In seinem erfolgreichen Longseller erklärt Rolf Sellin, wie Sie wirksam Grenzen setzen, besser für sich sorgen, rechtzeitig Nein sagen, beizeiten Pause machen und so mehr erreichen.

Rolf Sellin

Bis hierher und nicht weiter

Wie Sie sich zentrieren, Grenzen setzen und gut für sich sorgen

Kösel

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Erweiterte Neuausgabe
Copyright © 2014, 2021 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagmotiv: © Elektrons 08/plainpicture

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-12582-0
V004

www.koesel.de

Inhalt

Geht es Ihnen manchmal auch so?

Vorwort: »Grenz dich doch ab!« – aber wie?!?

»Alles ist machbar!«: Wollen wir uns überhaupt begrenzen?

Die Ideologie der Grenzenlosigkeit

Kraftvoll in meinem Revier: Wo die Grenzen liegen und wie wir Grenzüberschreitungen erkennen

Nicht zu eng, nicht zu weit: Die Lage der Grenzen ist nicht zufällig

Die Grenzüberschreitung erkennen – möglichst rechtzeitig

Nur der Körper weiß, wo unsere Grenzen liegen

Sinnvolle Begrenzung ermöglicht Wachstum und Entwicklung

Eine besondere Herausforderung: Sich begrenzen in der Datenflut

Wer bin ich, wer bist du? Die Grenze als Ort von Begegnung und Konflikt

Ich will etwas, das du nicht willst

Das Leben als Adaptionsprozess

Gute Zäune, gute Nachbarn

Wenn die Grenzen überschritten sind, dann kracht es!

Körperliche Symptome als Grenzwächter erkennen

An den Grenzen wachsen

Was uns stärkt und unsere Grenzen erweitert

Zentrierung: Der erste Schritt zur Abgrenzung

Im Kontakt mit dem Körper – im Kontakt mit sich

Was uns alles daran hindern kann, uns zu zentrieren

Mit mir selbst im Einklang: Kopf, Herz und Bauch in Balance

Hier ist Stopp: Die verschiedenen Ebenen der Abgrenzung

Mentale Abgrenzung

Kommunikative Abgrenzung: Sprache, Haltung, Mimik, Gesten

Energetische Abgrenzung

Das Naheliegende zuerst

Was unsere Abgrenzung unterlaufen kann

Warum es so schwer fällt, Nein zu sagen und sich abzugrenzen

Mangel, Defizite und Bedürftigkeit

Wie Angst und Schuld unsere Abgrenzungsversuche unterlaufen

Der Appell an unsere Schuldgefühle

Macht und Abhängigkeit

Die Gutmännchen: Wie wir selbst die Grenzverletzer herbeilocken

Kindheit und Grenzen

Auftrag der Natur: Wachsen und die Grenzen erweitern

Kindheit in vermintem Gelände

Die Grenzen des Kindes erkennen und respektieren

Kindern Grenzen aufzeigen

Über die Abgrenzung hinaus

Wenn es Ihnen in bestimmten Situationen nicht gelingt, sich abzugrenzen

Die Idee der Durchlässigkeit

So setzen Sie den Problemen eine Grenze und weiten Ihren Blick! – Erste Hilfe in Krisen, Chaos, Katastrophen

Die paradoxe Wirkung der Abgrenzung: Begegnung und Entwicklung

Schritt für Schritt die passende Form für Ihre Abgrenzung in der Begegnung finden

Anhang

Test zur Selbsteinschätzung: Wie gut können Sie sich abgrenzen?

Übersicht der Reflexionen, Experimente und praktischen Methoden

Danksagung

Literaturempfehlungen

Kontakt zum Autor

Geht es Ihnen manchmal auch so?

?

!

dann finden Sie in diesem Buch wichtige Erkenntnisse und zahlreiche konkrete Methoden, um sich im Alltag rechtzeitig abgrenzen zu können. Der Test zur Selbsteinschätzung (siehe Anhang) und die Besinnungsfragen am Ende des ersten Kapitels ermöglichen es Ihnen, die Bereiche, in denen Ihre Abgrenzungsfähigkeiten ausbaufähig sind, klarer zu identifizieren.

Vorwort:
»Grenz dich doch ab!« – aber wie?!?

»Grenz dich doch ab!« – Das sagt sich so einfach. Wie oft bekommt man so etwas zu hören! Und das gerade dann, wenn man es am wenigsten braucht! Früher, als ich mich eben noch nicht abgrenzen konnte, musste ich solche klugen Sprüche öfter über mich ergehen lassen. Sie haben mir nicht gerade geholfen. Im Gegenteil, sie erschwerten mir damals meine Situation sogar noch: Da hatte ich erst einmal mit dem zu kämpfen, gegen das ich mich eben noch nicht abgrenzen konnte, und dann kam auch noch die Enttäuschung darüber hinzu, dass der Mensch, dem ich mich mit meinem Problem anvertraut hatte, mich nicht nur nicht verstand und mir nicht half, sondern – schlimmer noch – einfach mit diesem lapidaren Spruch über meine Situation hinwegging. Vielleicht war es sogar jemand, dem ich bei anderer Gelegenheit mit Verständnis lange zugehört und den ich wieder aufgebaut hatte. Und nun spürte ich, wie er sich gegenüber meinen Schwierigkeiten einfach abgrenzte und für mich nicht erreichbar war. Leider verriet er mir auch nicht, wie ich ganz konkret vorzugehen hätte, damit am Ende so etwas wie Abgrenzung für mich dabei herauskommen könnte. Jetzt musste ich mich nicht nur dem ursprünglichen Anlass gegenüber abgrenzen, sondern eigentlich auch noch gegenüber der Person, die so klug daherredete! Doch wie man das macht, das wusste ich immer noch nicht. Nur der Druck war größer geworden.

Die Erkenntnis der Notwendigkeit, sich abzugrenzen, ist verbreitet. An schlauen Worten, die dazu raten, besteht kein Mangel. Leider fehlt es oft an probaten Methoden, wie das denn ganz konkret zu erreichen wäre. Auch über die Lage der Grenzen besteht Unklarheit. Und selbst wenn man die eine oder andere Methode zur Abgrenzung erlernt hat, kann man sie oft dennoch nicht erfolgreich anwenden, weil man mit den Hindernissen, die unser Bemühen unterlaufen können, nicht gerechnet hatte. – Genau davon handelt dieses Buch: Was Grenzen sind und wo sie tatsächlich liegen, wie Sie sich ganz konkret abgrenzen, gedanklich, körperlich, mit welchen Signalen in der Kommunikation und auch energetisch. Ebenso werden die Hindernisse und der Widerstand, auf die Sie stoßen können, angesprochen. Vorgestellt wird zudem eine Methode, die über die Abgrenzung hinausgeht. Sie hilft in den Situationen, in denen es uns nicht möglich ist, uns abzugrenzen.

Was Abgrenzung nicht ist

Immer wieder bin ich auf Missverständnisse gestoßen, darum spreche ich sie gleich im Vorfeld an: Manche Menschen stellen sich unter Abgrenzung das Errichten von unüberwindlichen Mauern vor, den totalen Rückzug oder den Abbruch von Kontakten. Sie scheinen auch nur zwei Möglichkeiten zu kennen: Entweder sind sie ganz offen anderen gegenüber oder sie verschließen sich komplett. Entweder – oder. Dazwischen gibt es nichts. So war es bei mir früher auch. Entweder war ich in geradezu naiver Weise offen für andere und damit leider auch für mögliche Verletzungen, oder ich zog mich verletzt und misstrauisch zurück und machte dicht, weil ich zuvor viel zu offen gewesen war. Im Extremfall brach ich sogar den Kontakt ganz ab. Alle diese Fehler habe ich selbst gemacht! Manchmal kommt man wohl nicht um Irrtümer herum. Im Nachhinein bin ich sogar dankbar dafür, denn Fehler, Schuld und Schmerz ermöglichen uns, bewusst zu werden und uns zu entwickeln. Erst allmählich erkannte ich, dass es zwischen diesen beiden Extremen unendlich viele differenzierte Möglichkeiten von Nähe und Abstand gibt. Erst das fein abgestimmte Öffnen und Schließen ermöglicht uns Begegnung und Nähe. Es verhindert, dass wir uns selbst verlieren, und beugt zugleich der Möglichkeit vor, verletzt oder ausgenutzt zu werden.

Erst das ist gekonnte Abgrenzung: Das passende Maß an Nähe und Distanz für die jeweilige Situation herzustellen. Dann ist man auch in der Begegnung noch bei sich, man ist im Kontakt mit dem anderen, ohne seine Eigenständigkeit zu verlieren. Den anderen schließen wir nicht aus, auch wenn wir ihm Grenzen setzen. Sich abzugrenzen ist alles andere als Mauern zu bauen oder den Kontakt abzubrechen. Über sichere Grenzen ist Kommunikation und Freundschaft möglich. Grenzen sorgen für stabile soziale Verhältnisse und sogar für Harmonie und Frieden: Gute Zäune – gute Nachbarn!

Grenzen nicht nur gegenüber anderen

Manche Menschen übersehen allzu leicht ihren eigenen Beitrag, den sie selbst geleistet haben, wenn es zu Grenzverletzungen kommt, zum Beispiel ihre unklaren Signale in der Kommunikation. Vielleicht haben wir sogar indirekte Einladungen ausgesprochen, doch noch etwas näher zu kommen. Im Extremfall vergessen wir, dass wir zuvor »Gutscheine« und »Blankoschecks« verteilt haben. Einige von uns übersehen auch ihre eigene Tendenz, über die Grenzen anderer hinwegzugehen, ganz einfach weil sie keinen Sinn für Grenzen entwickeln konnten.

Die meisten Grenzverletzungen jedoch werden wohl sich selbst gegenüber begangen. Wichtig sind nicht nur die Grenzen gegenüber anderen, sondern auch das Einhalten der eigenen Grenzen, etwa in Bezug auf die eigene Leistungsfähigkeit, unsere Ansprüche ans Leben und Ansprüche an uns selbst. Während wir den Druck auf uns selbst bis ins Unendliche erhöhen, erreichen wir oft selbst faktisch immer weniger. Dann leiden wir nicht nur an unserer eigenen Unzufriedenheit, sondern häufig auch an Symptomen, die eigentlich verspätete Grenzwächter sind.

Auch dieses Buch verdankt seine Entstehung der Abgrenzung. Ohne Eingrenzung des Themas, ohne Begrenzung auf den Umfang dieses Buches, ohne die Abgrenzung auf das, was man durch ein Buch vermitteln kann, wäre es wohl kaum in Ihre Hände gelangt. Es wäre viel zu lang geworden, es hätte einen entsprechend höheren Preis gehabt und – ach ja! – wahrscheinlich wäre das Manuskript noch längst nicht fertig … Auch Sie werden sich dem Thema Abgrenzung nur eine begrenzte Zeit widmen wollen, denn es gibt noch andere Themen und andere Tätigkeiten im Leben als das Lesen.

Nicht nur für Menschen mit zu dünner Haut

Mein erstes Buch, Wenn die Haut zu dünn ist: Hochsensibilität – vom Manko zum Plus, habe ich den Hochsensiblen gewidmet, zu denen ich selbst auch gehöre. Hochsensible (HSP – Highly Sensitive Persons) sind Menschen, die mehr Reize aufnehmen als andere. Sie schauen weiter über ihren Tellerrand und tiefer in die Suppe: in ihre eigene und häufig auch in die Suppen der anderen. Entsprechend viele Reize haben sie dann zu verarbeiten. Hochsensible, die versucht haben, sich anzupassen, und die sich bemüht haben, eben nicht so sensibel zu sein, wie sie es von Natur aus sind, haben grundsätzlich ein Problem mit der Abgrenzung. Sie sind dann gewöhnlich nicht zentriert und energetisch nicht bei sich. Zum Beispiel sind sie im Gespräch ganz bei ihrem Gegenüber und verlieren sich häufig im anderen. Wer energetisch gar nicht bei sich ist, der kann sich auch nicht abgrenzen.

Hochsensible, die Wenn die Haut zu dünn ist kennen, können Bis hierher und nicht weiter wie eine Fortsetzung lesen, denn es bietet noch mehr praktische Methoden für den Alltag. Das vorliegende Buch wendet sich bewusst nicht nur an Hochsensible, sondern an alle Leser, die Schwierigkeiten mit der Abgrenzung haben. Dazu gehören auch viele normal sensible Menschen. – Wenn Sie jedoch während der Lektüre dieses Buches wiederholt auf den Gedanken stoßen, dass auch Sie vielleicht hochsensibel sein könnten (immerhin sind 15 bis 20 Prozent der Menschen als Hochsensible geboren), dann empfehle ich Ihnen ebenfalls die Lektüre meines ersten Buches. Es enthält übrigens auch zwei Tests, durch die Sie Aufschluss darüber erhalten, ob Sie (oder Ihr Kind) selbst zu den Hochsensiblen gehören.

Sie entscheiden: Ein Buch zum Schmökern oder ein ganzes Seminar

Schon mein erstes Buch ist für viele Menschen zu einem Begleiter geworden, zu einer Art Brevier, das auf dem Nachttisch oder im privaten Sekretär für lange Zeit einen festen Platz gefunden hat. An manchen Exemplaren ließ sich leicht ablesen, wie stark das Buch gebraucht wurde, so steckten zum Beispiel zwischen den Seiten viele kleine Zettel, die wichtige Stellen markierten. Fast auf jeder Seite waren Zeilen angestrichen oder farblich unterlegt. Man konnte deutlich sehen, mit dem Buch war gelebt worden, und es wurde mit ihm immer noch gearbeitet. Auch dieses Buch ist als Kompendium gedacht. Allein die vielen Methoden ermöglichen, sich längere Zeit aktiv mit ihm zu beschäftigen.

Bis hierher und nicht weiter bietet mehr als nur Informationen über Abgrenzung. Es gibt Ihnen ganz konkrete Anleitungen, wie man sich abgrenzt, und lädt Sie ein, die Methoden auszuprobieren. Es kann Sie über längere Zeit begleiten. Vielleicht werden Sie es zunächst einmal durchlesen, um die Zusammenhänge zu verstehen und zu erkennen, wie sich fehlende Abgrenzung auf Ihr Leben konkret auswirken kann, und dann später die konkreten Methoden und Techniken ausprobieren, die seinen eigentlichen Wert ausmachen. Solch ein Buch bietet Ihnen viel, doch es stellt dann auch die entsprechenden Ansprüche. Sie als Leser, als Leserin bestimmen selbst, wie nah Sie das Wissen an sich herankommen lassen möchten und wo Sie sich abgrenzen.

Begrenzen Sie sich selbst, wenn Sie jetzt lernen, sich abzugrenzen

Selbstbegrenzung und Abgrenzung sind nicht nur ein theoretisches Thema dieses Buches, sondern auch ein ganz praktisches durch die Vorstellung der Methoden. Mehr noch: Sie können auch bei der Anwendung der Methoden zur Selbstbegrenzung sich selbst begrenzen lernen. Und das heißt ganz konkret, dass Sie sich beim Ausprobieren nicht selbst überfordern.

Wenden Sie also lieber weniger an als alles auf einmal. Wenn Sie zu viel auf einmal versuchen, könnten Sie am Ende viel weniger erreichen. Begrenzen Sie sich also selbst, auch wenn Sie wissen, dass es auf den nächsten Seiten noch mehr gibt und dahinter sogar noch viel mehr. Lassen Sie sich Zeit, auch wenn das Problem mit den Grenzen auf den Nägeln brennen sollte. Denn nur so können Sie lernen und Ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern: Schritt für Schritt.

»Alles ist machbar!«: Wollen wir uns überhaupt begrenzen?

Die meisten Menschen hören das Wort Grenze nur ungern. Wer wünscht sich das nicht: eine Welt ohne Grenzen? – Mit Grenzen verbinde auch ich zunächst keine so guten Erinnerungen. Hinter dem Dorf, in dem ich meine ersten Lebensjahre verbrachte, lag gleich die Zonengrenze. Sie war streng bewacht. Die Erwachsenen erzählten sich noch Geschichten von Grenzgängern, von denen nicht alle ihr Ziel erreicht haben, und später war es kaum möglich, unversehrt durch die Selbstschussanlagen zu kommen. Auch das: Die Grenzkontrollen im Interzonenzug, sie waren stets von Herzklopfen begleitet.

Mit Grenzen im übertragenen Sinne, um die es in diesem Buch geht, habe ich ebenfalls zunächst keine guten Erfahrungen gemacht. Wenn ich als kleiner Junge zu weit ging, dann konnte es sein, dass mein sonst so toleranter und gutmütiger Vater plötzlich ganz andere Seiten von sich zeigte, er wurde laut und jähzornig. Er konnte mit Grenzen ebenso wenig umgehen wie meine Mutter. Sie rastete in solchen Situationen nicht aus, sondern wurde still und blass, dann versorgte sie uns Kinder zwar, doch sie war für uns kaum erreichbar. – Diese Grenzen waren immer erst spürbar in Verbindung mit Explosionen oder mit Implosionen: Dann, wenn es zu spät war. Einer fühlte sich immer schuldig dabei. Und manchmal sogar alle Beteiligten.

Auch das hätte ich wahrnehmen können: die angenehmen Wirkungen von klaren Grenzen. Doch sie fielen weniger auf, denn sie waren ganz alltäglich. Der Zaun mit der Buchenhecke fällt mir ein, durch diese Grenze konnten wir Kinder im Garten frei und unbeaufsichtigt spielen, sicher vor der Straße. Zwischen Hecke und Stauden konnten unsere Katzen in Ruhe dösen und sich räkeln, auch wenn die Nachbarshunde sich auf der anderen Seite des Zauns heiser bellten. Wenn ich meine Ruhe haben wollte, konnte ich die Tür zu meinem Zimmer hinter mir schließen, ebenso konnte ich sie offen lassen, wenn ich mich bei meinen Hausaufgaben nicht allein fühlen wollte. Selbst bei offener Tür war deutlich, dass hier mein Reich war. Im Sekretär hatte ich ein Fach entdeckt, das mit einem besonderen Mechanismus zu öffnen war. Dort bewahrte ich zunächst kleine Schätze sicher auf, später mein Tagebuch, dem ich meine Geheimnisse anvertraute. Ein wenig Mehl als Detektivpulver hätte jeden Übergriff auch nachträglich noch verraten. – Alle diese Grenzen boten Schutz und ermöglichten Ruhe, Harmonie und Freiheit.

Die Ideologie der Grenzenlosigkeit

Der Zeitgeist weht aus einer anderen Richtung. »Think big!« lautet ein bekannter Slogan, da schaut man gern über seine eigenen Grenzen hinweg. »Wir machen den Weg frei« heißt es – gezahlt wird später! Die Verlockungen, zu weit über die eigenen Grenzen hinauszugehen, sind groß. Zum Beispiel finanziell, erleichtert durch die Zahlung mit Kreditkarten. Da verliert man schnell den Überblick, wo die Grenzen des eigenen Budgets liegen. Später erfolgt der Rückschlag, der einen weit hinter seine ursprünglichen Grenzen zurückwerfen kann. Am Ende bezahlt man teuer für die scheinbar grenzenlose finanzielle Freiheit. Folge der Vorstellung vom grenzenlosen Wachstum ist nicht nur die Bankenkrise im großen Maßstab, es gibt viele kleine Krisen im individuellen Rahmen – und das nicht nur auf finanziellem Gebiet.

Werbung und Medien verlocken uns ständig, über unsere Grenzen hinweg. Die Illusion der Unbegrenztheit gaukelt uns vor, für alle und jeden sei alles zu jeder Zeit erreichbar. Das gilt auch für andere Bereiche, etwa die Ansprüche an die eigene Leistung und die der anderen. Und wenn wir unsere Ansprüche bisher noch nicht erfüllt haben, dann hat die Ideologie der Grenzenlosigkeit dafür auch gleich eine Erklärung parat: Wir haben es nicht wirklich gewollt! Am klarsten formuliert ist diese Art zu denken in dem Lied »You can get it, if you really want«. Es kommt gut getarnt ganz locker im Reggae-Rhythmus daher.

Diese Ideologie geht von der totalen Unbegrenztheit des Erreichbaren und von einer fiktiven Gleichheit aller aus – der scheinbaren Gleichheit aller Startbedingungen wie Begabungen, Anlagen, körperlichen, gesundheitlichen und sozialen Voraussetzungen, der gleichen Verteilung der Segnungen, Gelegenheiten oder Erschwernisse auf dem Lebensweg. Diese Vorstellung scheinbarer Gleichheit wird dann geschickt genutzt, um sich gegen reale soziale Ungerechtigkeit und die gesellschaftliche Ausgrenzung der nicht so Erfolgreichen abzugrenzen: »Wer es nicht geschafft hat, der will es eben nicht anders!«

Endlos unzufrieden, endlos im Defizit

Jeder würde wohl die siebzehnjährige Nicole für eine hübsche junge Frau halten. Auch bei jungen Männern kommt sie gut an. Doch ihre Mutter weiß, wie sehr Nicole unter ihrem Aussehen leidet: Sie fühlt sich selbst alles andere als attraktiv. Oft steht sie vor dem Spiegel, und danach ist sie ganz verzweifelt, sodass es der Mutter schwerfällt, sie aus ihrem Tief herauszuholen. Dann fangen endlose Gespräche an über Details ihrer Erscheinung, von der Form und Größe ihres Busens über Taille und Hüften bis hin zur Nase, die sie sich vielleicht einmal operieren lassen möchte, wenn sie über eigenes Geld verfügt. Der Blick auf ihre scheinbaren Unzulänglichkeiten und die ständigen Vergleiche verdüstern ihr Leben, das eigentlich unbeschwert sein könnte …

Dass viele junge Mädchen sich mit solchen Problemen plagen, ist bekannt. Doch nicht nur sie belasten sich auf diese Weise. Viele Heranwachsende, die den Medien gegenüber besonders aufgeschlossen sind und die nach Orientierung und Leitfiguren suchen, sind davon betroffen. Von Nicoles Bruder Karsten kann man Ähnliches erzählen. Er findet sich nicht männlich und cool genug, auch wenn er versucht, so aufzutreten. Das übertreibt er manchmal und verletzt damit wiederum seine Eltern. Nicoles Mutter fragt sich übrigens, was sie bei der Erziehung falsch gemacht hat. Sie hat doch alles getan! Im Gespräch wird ihr bewusst, wie viel Druck sie sich selbst macht mit den hohen Ansprüchen an sich, als Frau, als Partnerin, als Mutter und dann auch noch im Beruf … Und auf allen diesen Gebieten erlebt sie sich als nicht gut genug und manchmal als gescheitert, obwohl sie objektiv keinen Grund dazu hat. Sie hat wirklich getan, was sie konnte, und viel erreicht.

All diesen Situationen ist gemeinsam, dass ein begrenzter Ist-Zustand mit einem grenzenlosen Soll-Zustand verglichen wird. Auf diese Weise baut man sich ein Problem, das es ohne die Vorstellung von der grenzenlosen Erreichbarkeit in dem Maße zuvor gar nicht gegeben hätte. Alles Bestehende wird als mangelhaft erlebt, weil es seine Begrenztheit zeigt. Der vorhandene Zustand wird dann nicht mehr in seinen Qualitäten erkannt, das Erreichte wird übersehen. Wer von einem grenzenlosen Sollzustand ausgeht, lebt ständig im Defizit. Die Ideologie der Grenzenlosigkeit ist ein sicheres Rezept, um sich selbst unzufrieden und unglücklich zu machen. Wer hingegen auf das Erreichte schaut, der lebt in einem Zustand des Habens, der Fülle. Und wer das Erreichbare anstrebt, der kann es in begrenztem Maße auch erlangen und Erfolge erleben, nach und nach.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht nicht darum, den weit verbreiteten Pessimismus durch einseitigen Optimismus zu ersetzen oder die Halbwahrheiten des negativen Denkens durch eine bewusst gewählte Ignoranz des positives Denkens. Es geht um die Frage, wie die Vorstellung der Grenzenlosigkeit auf uns wirkt, wie sie uns schwächen und unglücklich machen kann. Wenn wir unsere momentanen Grenzen übersehen, geraten wir gewöhnlich in einen merkwürdigen Kreislauf: Wir strengen uns an, doch fühlen wir uns kraftlos dabei und erreichen nicht allzu viel. Dadurch bleiben wir weiterhin im Defizit. Entweder wir geben auf und verfallen in Resignation oder wir erhöhen den Druck und strengen uns noch mehr an. Doch das schwächt uns auf Dauer noch weiter.

Wer sich nicht abgrenzen kann, ist auch ein idealer Arbeitnehmer, der sich selbst ständig bis zum Ausbrennen Druck macht. Wenn wir uns selbst im Defizit erleben, passen wir uns weitestgehend an und sind leicht zu steuern. Als Konsumenten sehen wir nicht, was wir schon alles haben, wir nehmen nur wahr, was wir noch nicht haben, und jagen dem hinterher. Die Waren entzaubern sich bereits beim Auspacken. Schon lockt das neueste Modell, das noch über das bisherige hinausgeht. Und wenn man sich nicht abgrenzen kann, dann muss man auch das haben, selbst wenn man die Möglichkeiten des gekauften noch gar nicht ausprobiert hat. Denn alle machen es so, und auch ihnen gegenüber kann man sich nicht abgrenzen. Politisch bleiben wir weitgehend unwirksam, da wir offen sind für alle Probleme überall auf der Welt, so übersehen wir die naheliegenden Aufgaben, die sich tatsächlich anpacken ließen. So fehlt die Kraft zu konkretem politischen Handeln. Durch fehlende Selbstbegrenzung erleben wir uns im Mangel und sind dadurch endlos manipulierbar.

Erich Fromm hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Vom Haben zum Sein. Mir scheint, in unserem gegenwärtigen gesellschaftlichen Klima müsste man erst einmal von einem »Haben wollen« zum »Haben« kommen, bevor man sich aufmachen kann auf den Weg zum »Sein«.

Grenzen Sie Ihre »Baustelle« ein

Niemand kann an allen Fronten gleichzeitig seine Dinge vorantreiben. Woran fehlt es am meisten? Und worauf möchten Sie beim Thema Abgrenzung das Hauptgewicht legen und sich konzentrieren? Und auf welchem Gebiet werden Sie zuerst konkrete Ergebnisse erkennen können?

Ich kann mich nicht begrenzen …

  • in meinem Denken und Grübeln
  • in meinen Gefühlen und Emotionen
  • in Bezug auf meine körperlichen Befindlichkeiten
  • bei meiner Arbeit
  • bei meinen Ansprüchen an mich selbst
  • bei meinen Ansprüchen an andere
  • bei Ansprüchen anderer an mich
  • gegenüber Reizen von außen

Ich kann mich schwer abgrenzen gegenüber …

  • meinen Kindern
  • meinem Partner
  • meinen Freunden
  • meinen Bekannten
  • Fremden
  • meinen Kollegen
  • meinen Vorgesetzten
  • meinen Kunden oder Klienten/Patienten

Ich habe Schwierigkeiten, die Grenzen wahrzunehmen und einzuhalten von …

  • meinen Kindern
  • meinem Partner
  • meinen Freunden
  • meinen Bekannten
  • Fremden
  • meinen Kollegen
  • meinen Vorgesetzten
  • meinen Kunden oder Klienten/Patienten

Wenn Sie Ihre »Baustelle« begrenzen, heißt das noch lange nicht, dass Sie sich nicht auch an anderen Stellen entwickeln möchten, können und werden. – Eins nach dem anderen. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die schwächste Stelle Ihres Deiches richten und Ihre Bemühungen auf genau diese Stelle zunächst begrenzen, dann erreichen Sie die größtmögliche Wirkung.

Schauen Sie auch auf die Bereiche, in denen Sie sich gut abgrenzen können. Gehen Sie die Liste noch einmal durch. Dieses Mal mit der umgekehrten Frage: Wo gelingt es Ihnen, Grenzen zu setzen? Vielleicht haben Sie gute Wege dafür gefunden, sodass Sie an diesen Fronten Ruhe haben und sich nunmehr den schwachen Stellen Ihres Deiches zuwenden können.