Einleitung

Welch eine himmlische Empfindung ist es, seinem Herzen zu folgen.

Johann Wolfgang von Goethe

Gefühle sind oft unberechenbar, mitunter erscheinen sie uns geradezu unheimlich. Sie sind in der Lage, das Denken zu überrumpeln und die Logik zu übertrumpfen. Sie sind häufig eigentümlich diffus, manchmal ahnen wir nicht einmal, weshalb sie uns gerade in diesem Moment überwältigen; unter ihrer Ambivalenz können wir maßlos leiden.

Unser Leben vermögen sie auf einen Schlag aus den Fugen geraten zu lassen: Wenn wir vom Tod eines geliebten Menschen erfahren und uns Trauer wie eine gewaltige Welle erfasst. Wenn Jähzorn uns ob einer Ungerechtigkeit übermannt und uns Dinge tun lässt, die wir normalerweise niemals in Erwägung ziehen würden.

Gefühle können Vorurteile hervorrufen und bestärken, Menschen sogar zu schrecklichen Taten aufwiegeln.

Für den griechischen Philosophen Platon glichen sie störrischen Zugpferden, die vom Verstand – dem Lenker des Gespanns – immer wieder gezügelt werden müssten. Nur so lasse sich der »Seelenwagen« auf Kurs halten. Einige Jahrhunderte später formulierte René Descartes seinen Grundsatz »Ich denke, also bin ich« (und nicht etwa »Ich fühle, also bin ich«). Und schrieb in Platon’scher Tradition in seinem Traktat Die Leidenschaften der Seele, dass derjenige stark sei, dessen Wille die Gefühle besiegen könne. Erscheint das nicht höchst erstrebenswert? Ein starker Wille, ein klarer Verstand, der die ungezügelten Begierden an die Kandare nimmt?

Doch das ist nur die eine Seite. Denn bestimmte Gefühle sehnen wir geradezu herbei: Wer möchte nicht dieses Ganzkörper-Wohlbefinden auskosten, wenn das Glück einen überwältigt? Wenn man etwas geschafft hat, was einem niemals zuvor »geglückt« ist, eine gelungene Ansprache vor Kollegen, makellose Parallelschwünge im Tiefschnee, ein perfektes Parfait. Oder das Gefühl der Geborgenheit, das einen an Orten umhüllt, an denen man sich heimisch fühlt oder die mit angenehmen Erinnerungen verbunden sind. Und vor allen anderen das Gefühl der Liebe, wenn wir jemandem gegenüberstehen und alles andere an Bedeutung verliert, weil das Herz wie wild zu schlagen anfängt.

Wie wäre das also, eine Welt ganz ohne Emotionen? Sie wäre letztlich eine wahrhaft unmenschliche Welt. Ohne alle Höhen und Tiefen. Denn nichts könnte uns begeistern, weder beruflicher Erfolg noch ein Lottogewinn; es gäbe keine Sehnsucht, die uns zur Erkundung unbekannten Terrains anstiftet; wir könnten nicht länger staunen darüber, wie ein Kleinkind plötzlich seinen ersten Schritt tut, kein Gefühl der Verbundenheit mit dem Partner oder Freunden würde entstehen. Nichts in der Welt hätte eine Bedeutung für uns. Unser Ich wäre ein kaltes Konstrukt, keine Persönlichkeit. Ohne Gefühle wären wir uns am Ende selbst gleichgültig.

Lange Zeit waren unsere Emotionen der wohl letzte dunkle Kontinent, den es zu entdecken galt. Auf manche Fragen gab es noch bis vor Kurzem keine Antworten: Wann sind Gefühle entstanden? Weshalb gibt es sie überhaupt? Könnten wir nicht besser ohne sie leben? Und: Woher kommt die Liebe?

Zweifellos ist die Liebe eine der ältesten Emotionen, über die Menschen Zeugnis abgelegt haben. Seit Jahrtausenden wird sie besungen, versuchen Poeten und Schriftsteller ihrem Zauber näherzukommen. Als die Sumerer um etwa 3500 vor Christus die Schrift erfanden, war die Liebe eines der ersten Themen. Unter antiken Tontafeln aus jener Epoche fand sich der älteste bekannte Liebesbrief aller Zeiten, einige Zeilen für den König Shu-Sin, eingeritzt von einer seiner Frauen: »Bräutigam, lass mich dich liebkosen. Meine kostbaren Zärtlichkeiten sind wohlschmeckender als Honig.«

Solche und andere innere Zustände eines Menschen sind letztlich kaum allein mit dem Verstand zu erfassen und zu durchdringen. Was auch ein Grund dafür ist, dass Emotionen lange in die Sphäre des Chaotischen, schwer Bezähmbaren verbannt waren. Neben wichtigen Denkern stand auch das Christentum den Gefühlen – ausgenommen natürlich den religiösen – skeptisch gegenüber; waren doch die Verlockungen der Sünde vor allem emotional geprägt. Und selbst der große Psychoanalytiker Sigmund Freud: Er nahm Gefühle zwar ernster als die meisten seiner Zeitgenossen, aber im Grunde sollte seine Behandlungsmethode dazu führen, dem bewussten Ich die Vorherrschaft über das Es zu ermöglichen, über die unbewussten Triebe und Gefühle. Und so ist die wissenschaftliche Erkundung der Gefühlswelten ein Kind der Neuzeit.

Ihren Anfang nahm die moderne Emotionsforschung mit der Erkundung der Angst. Einen wichtigen Impuls gab Ende des 19. Jahrhunderts der britische Philosoph und Psychologe William James in der Fachzeitschrift Mind. Sein Beitrag trug den Titel: »What is an emotion?«

Letztlich ging es ihm um die Frage, was in einem Menschen vorgeht, wenn er plötzlich einem Bären gegenübersteht. Laufen wir weg, weil wir Angst haben – oder fürchten wir uns, weil wir laufen? James behauptete, dass die naheliegende Annahme, wonach die Wahrnehmung »Bär« ein Gefühl der Angst auslöst, falsch sei. Vielmehr verursache die körperliche Erregung, wie das einsetzende Herzrasen und die Reaktion »Laufen« auf den Reiz »Bär«, das Gefühl der Angst überhaupt erst. James zufolge sind Emotionen nichts anderes als die Empfindung körperlicher Veränderungen.

Diese Empfindungstheorie konnte nicht lange unwidersprochen bleiben – schließlich war sie nicht in Einklang zu bringen mit der Erfahrung, dass unser Körperzustand oft gleich bleibt, wir aber trotzdem unterschiedlich fühlen. Etwa wenn wir auf dem Sofa sitzen und an den letzten Stress im Büro denken (und uns ärgern) oder an den kommenden Urlaub (und uns freuen).

Offenbar richten sich Emotionen auch nach unseren Gedankenwelten, unserem Innenleben. Das ist – grob vereinfacht – das Credo der sogenannten kognitiven Emotionstheorie. Daher umfasse, sagen deren Vertreter, das Gefühl der Angst auch eine individuelle Einschätzung von Gefahr. Damit bekommt es eine Qualität, es kann angemessen sein oder aber unberechtigt. Und so werden Emotionen auch zu einer Art »Wissen«, zu einem Gefühlswissen über die Welt.

Vollständig ergründet ist unsere Gefühlswelt durch die Theorien jedoch noch längst nicht – und besonders an der Liebe ist ja das eigentlich Faszinierende, sie zu erleben, nicht Fakten über sie zu sammeln. Aber schon der Versuch, sie wissenschaftlich zu erklären, offenbart Erkenntnisse über den Menschen, die weit über das individuelle Empfinden hinausgehen. Was genau etwa passiert da eigentlich, wenn zwei Einzelwesen sich als Paar betrachten, wenn sich die Grenzen zwischen dem Ich und einem anderen auflösen?

Noch vor vier Jahrzehnten konstatierten Forscher, dass es kaum Möglichkeiten gebe, der romantischen Liebe auf die Spur zu kommen. Doch seither haben Psychologen Dutzende ausgeklügelter Fragebögen entwickelt, um die Liebe zu fassen zu bekommen, sie haben Testpersonen unter Durchleuchtungsapparate gelegt, haben das Paarverhalten von Mann und Frau im »Liebeslabor« beobachtet.

Auch wenn die Liebe ihre letzten Geheimnisse noch bewahrt: Die Erkundung der menschlichen Gefühlswelten hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht, ihr wurden unzählige wissenschaftliche Tagungen, Forschungsarbeiten und Aufsätze gewidmet. Selbst unter Naturwissenschaftlern und Ökonomen ist das Thema Gefühle salonfähig geworden.

Wirtschaftsforscher haben raffinierte Experimente ersonnen, die unsere Emotionen beim Verhandeln mit anderen Menschen offenlegen, die zeigen, was uns beflügelt oder bremst. Primatologen beobachten das Verhalten unserer äffischen Verwandtschaft in freier Wildbahn, um dem evolutionären Erbe in uns auf die Spur zu kommen. Historiker analysieren Lebensverläufe und werten alte Enzyklopädien und Liedtexte aus. Neuroforscher kartieren die Aktivität verschiedenster Hirnareale, die etwa am emotionalen Geschehen der Verliebtheit beteiligt sind.

Jedoch sollte man rein biologischen Erklärungsmustern durchaus mit einer Portion Skepsis begegnen – auch wenn der Zeitgeist glauben macht, vor allem sie könnten uns etwas über die Wirklichkeit verraten: In unserer von Bildern geprägten Welt haben Aufnahmen vom Geschehen im Hirn eine besondere Faszination, enthüllt das Feuern der Neuronen angeblich intimste Erkenntnisse. Tatsächlich sind die Möglichkeiten der Hirnforschung begrenzt. Denn die modernen bildgebenden Verfahren können nicht etwa Gefühlszustände direkt sichtbar machen. Sie beschränken sich darauf, physiologische Vorgänge zu messen: die elektrische Aktivität der Hirnzellen oder deren Sauerstoffverbrauch. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

Ein simples Beispiel: Steigt etwa im Mandelkern (Amygdala), bestehend aus zwei kleinen Bereichen in den Schläfenlappen, die eine wichtige Rolle bei emotionalen Bewertungen spielen, die neuronale Aktivität, so interpretieren Wissenschaftler dies als Angst. Bei einem Menschen mit einer Spinnenphobie lässt sich auf diese Weise nachweisen, dass beim Anblick einer Spinne das Angstzentrum aktiviert wird. Verspürt der Patient nach einer Therapie weniger Angst, zeigt sich das ebenfalls im Hirnscan: Die Amygdala spricht nicht mehr so panisch an, dafür wird ein Bereich aktiver, der für eine vernunftorientierte Analyse zuständig ist.

Doch ist letztlich kaum eine Emotion ohne den höchst individuellen Lebenszusammenhang denkbar. So lässt sich zwar feststellen, ob ein Mensch ängstlich, traurig oder zornig ist, welche Bedeutung diese Gefühle aber für das Leben dieses Menschen haben oder welche unmittelbaren Erfahrungen damit verbunden sind, darüber kann kein noch so detailliertes Gehirnbild Auskunft geben.

Im Folgenden werden die neuen Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen zusammengetragen, eingeordnet und interpretiert. Es wird um sogenannte Basisemotionen wie Angst und Liebe gehen, aber auch um komplexe Gefühle wie Sehnsucht und Einsamkeit.

Und es werden Fragen beantwortet, die wichtig für das Zusammenleben sind: Fühlen alle Menschen ähnlich? Sind wir unseren Emotionen schlichtweg ausgeliefert, oder können wir Trauer, Zorn oder Rache auch ein Stück weit beeinflussen, ja steuern? Könnten wir ohne Emotionen besser entscheiden? Haben wir schon immer so empfunden wie heute? Ist das Schamgefühl angeboren? Verändert es sich unter dem Bombardement der Bilder in Internet und TV?

Selbstverständlich kann das Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. So ist die Auswahl der zehn hier vorgestellten Gefühle letztlich subjektiv, orientiert sich aber daran, zu welchen wichtigen menschlichen Emotionen die modernen Wissenschaften Substanzielles beitragen können. Die Begriffe Emotion und Gefühl (engl. feeling) werden aus praktischen Gründen als Synonyme verwendet, obwohl viele Fachleute diese im Detail unterscheiden. »Gefühl« bezeichnet demnach das innere Erleben, also die subjektive Qualität einer Emotion, während der weiter gefasste Begriff »Emotion« einen körperlichen Zustand beschreibt, der aber das innere Erleben mit einschließt.

Die vorgestellten Erkenntnisse können dabei helfen, sich selbst und das eigene Verhalten besser zu verstehen. Etwa zu erfahren, wie sich Wut, ganz gleich, ob sie sich gegen das eigene Tun, das der Arbeitskollegen oder das Verhalten der Kinder richtet, produktiv nutzen lässt. Zu begreifen, welch wichtige Rolle Vertrauen spielt, wenn man gemeinsam berufliche oder private Ziele erreichen will. Zu erspüren, was es einem sagen will, wenn man des Öfteren sehnsüchtig oder gar neidisch auf das Leben anderer Menschen schaut.

Mitunter werden die Erkenntnisse der Intuition widersprechen. So glauben wir oft, ziemlich genau zu wissen, wie wir gefühlsmäßig auf bestimmte Ereignisse reagieren würden, etwa auf einen Lottogewinn oder auf den Verlust eines Armes. Dabei haben Psychologen schon vor einiger Zeit entdeckt, dass unsere Fähigkeit, uns unser zukünftiges Gefühlsleben auszumalen, nicht sehr stark ausgeprägt ist. Menschen überschätzen meist systematisch die Intensität und Permanenz ihrer Gefühle beim Eintreffen bestimmter Ereignisse: sowohl die Dauer des emotionalen Höhenflugs nach einem Geldgewinn als auch die der tiefen Niedergeschlagenheit nach dem Verlust eines Körperteils.

Bestenfalls lassen sich daraus Folgerungen für das eigene Leben, für den Alltag ziehen. Seine eigenen und die Emotionen anderer zu erkennen ist letztlich unerlässlich, um die Absichten all derer, mit denen wir es zu tun haben, einschätzen zu können. Wer das nicht kann, versteht die Welt um ihn herum nicht. Seinen Gefühlen trauen zu können ist entscheidend für das Glücksempfinden und die Lebenszufriedenheit.

In diesem Buch wird gezeigt, dass Gefühle ganz wesentlich darüber bestimmen, wer wir sind und wie wir handeln – ja, dass sie uns durchs Leben navigieren. Dabei wird sich herausstellen, dass der Graben zwischen Emotion und Kognition weniger tief ist, als lange Zeit vermutet, dass Emotionen in den meisten Fällen alles andere als irrational sind. So ist es auch keineswegs abwegig, von der »Intelligenz der Gefühle« zu sprechen. Sie sind es, die verhindern, dass wir ständig ins Unglück laufen, sie machen uns zu mitfühlenden Wesen, befähigen uns zu einem gelingenden Zusammenleben. Entwickeln wir ein Verständnis für unsere Emotionen, so sind wir beim Kern unseres Selbst angekommen.

Stark sein bedeutet, fühlen zu können.

Fernando Pessoa, Lyriker

Wann sind Gefühle entstanden – und warum überhaupt?

Der evolutionäre Sinn von Emotionen

Der Homo sapiens, der moderne Mensch, hat sich seit gerade 200 000 Jahren auf dem Planeten Erde eingerichtet. Erst in den letzten 10 000 Jahren ist er sesshaft geworden, errichtete Pyramiden und Kirchen, organisierte Kreuzzüge, zettelte Weltkriege an, komponierte Symphonien, landete auf dem Mond, holzte große Teile des Regenwalds ab, erfand das Internet und begann von der Unsterblichkeit zu träumen. All das war und ist verbunden mit der Ausbildung einer komplexen Gefühlswelt, nicht denkbar ohne Emotionen wie Liebe und Hass, Gier und Mitgefühl, Sehnsucht und Einsamkeit, Scham und Rache, Zuversicht und Neugier.

Warum aber können Menschen überhaupt fühlen? Die meisten lebenden Organismen kommen recht gut auch ohne eine Vielfalt an Emotionen zurecht. Für Evolutionsbiologen ist die Antwort naheliegend: Die Fähigkeiten haben sich über lange Zeiträume hinweg ausgebildet, weil sie den Menschen ungemein erfolgreich machen. Weil Gefühle unerlässlich dafür sind, Probleme des alltäglichen Lebens zu bewältigen und schnell und angemessen auf die Umwelt zu reagieren.

Das einfachste Beispiel dafür ist die Emotion Angst: Sie ist eine Art Überlebensprogramm, das andere uralte Verhaltensweisen überstimmen kann, sobald es die Situation erfordert. So vermag das Angstprogramm etwa das Schlafprogramm außer Kraft zu setzen: Normalerweise sollte ein Mensch des Nachts schlafen, um wieder Kräfte zu sammeln. Nicht aber, wenn sich wilde Tiere in der Nähe befinden.

Mit dem Angstprogramm ist eine ganze Kaskade an Verhaltensweisen verbunden: Ist ein Mensch in der Nacht allein, sucht er intuitiv die Umgebung nach möglichen Gefahren ab. Angst schärft die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung für ungewöhnliche Geräusche. Erspürt der Betreffende eine Gefahr, wird der soeben noch empfundene Hunger plötzlich zur Nebensache, der Mensch ist hellwach. Sorgen über das Gestern oder Morgen sind dann unwichtig angesichts der Bewältigung der gefährlichen Gegenwart. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf existenzielle Fragen wie »Wo ist mein Kind?«, »Wo ist jemand, der mir helfen kann?« oder »Fliehe ich, oder erstarre ich und hoffe, dass die Gefahr vorübergeht?« Auch die Körperfunktionen verändern sich, das Herz rast wie wild, der Blutdruck steigt, Adrenalin wird ausgeschüttet. Das Schmerzempfinden geht zurück. Sogar das Blut wird zäher, es gerinnt besser, damit sich im Fall der Fälle Wunden schneller schließen. All das eine Folge des Gefühls Angst.

Zugleich sind Emotionen die wohl wichtigsten Motoren und Motivatoren des Menschen: Liebe, um sich fortzupflanzen; Ärger, um Probleme zu lösen; Ekel, um sich vor verdorbenen Nahrungsmitteln zu schützen; Neid, um etwas zu erreichen, was ein anderer schon hat. Oder auch die Neugier, das Gefühl, die üblichen Grenzen überschreiten zu wollen. Ohne sie wäre die Menschheit nicht weit gekommen – im Guten wie im Schlechten. Neugier ist der Antrieb, die Welt zu erkunden, sich gefährlichen Situationen auszusetzen, Hindernisse jeglicher Art aus dem Weg zu räumen. Diese Emotion lässt uns mutig sein und staunen. Und sie setzt bekanntlich schon mit der Geburt ein – kaum jemand ist so neugierig wie Babys und kleine Kinder.

Was aber wohl waren die ersten Gefühle, die Menschen und ihre evolutionären Vorläufer empfunden haben mögen? Das ist schwer zu sagen, schließlich sind Emotionen flüchtig, man kann sie nicht freilegen wie einen prähistorischen Knochen. Irgendwann müssen sie aber in die Welt gekommen sein.

Wahrscheinlich waren es Angst und Lust, die sich vor Jahrmillionen zuerst als archaische Gefühle gezeigt haben, spekuliert der Psychologe und Emotionsforscher Jaak Panksepp von der Washington State University. Denn beide sind unabdingbar für das Überleben des Menschen: Die Angst, indem sie hilft, Gefahren zu meiden. Die Lust, indem sie dafür sorgt, die eigene Art zu erhalten. Handfeste Beweise freilich lassen sich dafür nicht finden. Der amerikanisch-deutsche Urgeschichtler Nicholas Conard nennt bei der Frage nach den ersten Gefühlen auch Hass, Zufriedenheit, Frustration. Und natürlich die Liebe.

»Erfunden« wurde eine Urform der Liebe, so vermuten manche Anthropologen, schon vor etwa 150 Millionen Jahren. Damals entstand bei den ersten Säugetieren und den Vögeln – die sich aus den Dinosauriern entwickelt hatten – eine persönliche Bindung zwischen den Generationen. Erstmals behüteten Elterntiere (in der Regel Mütter) ihre Brut, was durch ein komplexes hormonelles System ermöglicht wurde. Es waren also biochemische Bande, die Mütter und Kinder zusammenschweißten. Mit der Mutter-Kind-Bindung kam sozusagen der Keim der Liebe in die Welt: die Mutterliebe.

Bei einigen Arten hat sich dann gezeigt, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit der Nachkommen steigt, wenn beide Elternteile sich an der Aufzucht beteiligen. Dazu aber mussten Mutter und Vater ihr Verhalten synchronisieren, sich abstimmen und Konflikte lösen – die Paarbindung kam ins Spiel. Ebenfalls hormonell vermittelt entwickelten sich Verhaltensweisen, die bei beiden Partnern ein Wohlgefühl auslösten und sie als Paar bestärkten.

Auch in der Evolution des Menschen muss es irgendwann vorteilhaft geworden sein, sich gemeinsam um den Nachwuchs zu kümmern. Möglicherweise vor etwa sieben Millionen Jahren, als aufgrund einer Klimaabkühlung der Urwald zugunsten der Savanne schrumpfte und der gemeinsame Vorfahr von Mensch, Schimpanse und Bonobo lernte, auf zwei Beinen zu gehen. Viele Vormenschen verließen den Regenwald, um in der offenen Savanne zu leben. Dort aber hatten aufgrund der zahlreichen Raubtiere Mütter mit Kindern größere Überlebenschancen, wenn es ihnen gelang, Männer dauerhaft an sich zu binden.

Womöglich übertrug die Natur das hormonelle System, das ursprünglich Mutter und Kind aneinanderband, auf die Beziehung zwischen Mann und Frau. Ein Band der Liebe, geknüpft zunächst vor allem durch Chemie. Dafür gibt es Indizien: Das Hormon Oxytocin etwa wird nicht nur beim Stillen freigesetzt, um die Mutter-Kind-Bindung zu stärken, sondern auch beim Sex. Wir haben also offenbar von der Natur die Fähigkeit zur Liebe geschenkt bekommen.

Ein reichhaltiges emotionales Spektrum jenseits der archaischen Gefühle konnte sich, so der Evolutionstheoretiker Charles Darwin, dann auch deshalb herausbilden, weil Menschen nach und nach lernten, die Emotionen anderer wahrzunehmen und zu interpretieren – und die besseren »Gefühlsleser« größere Überlebenschancen hatten.

Sie vermochten die Absichten ihrer Artgenossen vorauszuahnen und entsprechend darauf reagieren. So konnten sie bedrohlichen Begegnungen aus dem Weg gehen. Zudem waren sie in der Lage, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen, Kontakte zu knüpfen, Verbündete zu finden, ja sogar andere für die eigenen Ziele einzuspannen. All das war und ist bis heute eng verknüpft mit dem Erfolg im Leben. Auf diese Weise konnte man es schon zu Urzeiten in der Hierarchie einer Gruppe weit nach oben bringen und viele Nachkommen zeugen. Ein ausgeprägtes Gefühlsleben verschaffte somit einen Selektionsvorteil.

Daher wird auch ein komplexes Gefühl wie Empathie bei der »emotionalen Menschwerdung« eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Sorge um das Wohlergehen anderer, die Fähigkeit, Mitgefühl auszudrücken, der Wunsch, sich um andere zu kümmern – all das hält Gruppen und ganze Gesellschaften zusammen, inspiriert zum gemeinsamen Handeln, zur Kooperation. Im Wechselspiel zwischen Verstand und Emotionen konnte die intellektuelle Entwicklung des Menschen nach und nach voranschreiten. Insofern trugen Gefühle maßgeblich zum evolutionären Erfolg des Menschen bei.

Die frühesten Formen von Empathie datieren die Forscher inzwischen weit zurück in die Vergangenheit – etwa sechs Millionen Jahre. Schon damals habe der gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse anderen Artgenossen geholfen und seine Zuneigung ausgedrückt, womöglich durch Mitleidsgesten oder indem einer dem anderen etwa einen Zweig aus dem Weg räumte.

Zweifelhaft ist allerdings, ob die Ich-Vorstellung schon so weit ausgeprägt war, dass Individuen Gefühle reflektieren und beschreiben konnten. Denn Voraussetzung dafür ist ein Denk- und Sprechvermögen, das sich beim Menschen erst nach und nach entwickelte – und ihn schließlich von den Tieren und deren zweifellos ebenfalls vorhandenen Emotionen unterschied. (Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist, dass allein Menschen Gefühle vortäuschen können – und dies auch intensiv kultivieren, etwa in Schauspiel, Theater und Film.)

Letztlich beruht die frühe Historie der Gefühle vor allem auf Mutmaßungen.

Lässt sich aus archäologischen Funden denn nicht zumindest indirekt erschließen, wie es um die Empfindungen unserer Urahnen bestellt war? Das ist durchaus möglich. Beim Homo erectus etwa, einem Vorläufer des Menschen vor 1,8 Millionen Jahren, hat es wohl so etwas wie eine gemeinsame Evolution von Gefühlszuständen und rationalem Denken gegeben. So zeigen die archäologisch nachweisbaren Bestattungsriten, dass diese Urmenschen durchaus ein Konzept vom Tod hatten und Trauer empfunden haben müssen.

Vor nicht allzu langer Zeit erst hatten Funde in Georgien das Bild vom Homo erectus fundamental verändert. So gibt es Anzeichen dafür, dass der Urmensch schon lange vor dem Neandertaler so etwas wie Empathie entwickelt hatte: Paläoanthropologen entdeckten einen 1,77 Millionen Jahre alten Schädel, dessen Besitzer seine Zähne noch während seiner Lebenszeit verloren haben musste. Dennoch hatte dieser Mann noch einige Jahre überlebt – was vermuten lässt, dass sich Gefährten um ihn gekümmert haben.

Klarer noch wird das Bild beim Neandertaler, der vor 130 000 bis 30 000 Jahren lebte. Er war nicht der tumbe, gefühllose Tor, als der er lange Zeit dargestellt wurde. So sorgten Neandertaler durchaus für Verletzte und Schwache: Überreste eines Kindes mit einem abnormalen Gehirn etwa sind Beleg dafür, dass auch Individuen, die allein nicht lebensfähig gewesen wären, über lange Zeit auf die Unterstützung der Gruppe zählen konnten. Fünf bis sechs Jahre alt war dieses Kind. Eine erstaunliche kulturelle Leistung, wenn man bedenkt, dass es in nomadischen Gesellschaften auch heute noch zum Infantizid – also zur Kindstötung – kommt, wenn es nicht genug Nahrung für alle gibt.

Ein anderes Beispiel sind die Überreste eines etwa 20 Jahre alten Neandertalermannes, der einen verkrüppelten Arm hatte, deformierte Füße und allenfalls mit einem Auge sehen konnte. Dass er zwei Jahrzehnte gelebt hatte, ist nicht denkbar ohne Unterstützung. Hätte man ihn als Kind ausgesetzt, wäre er zweifellos rasch gestorben.

Ob dieses mitfühlende Verhalten allerdings die Regel war oder eher die Ausnahme, ob es nur auf Familienmitglieder beschränkt war oder auch bei größeren Gruppen eine Rolle spielte, darüber lässt sich keine Aussage treffen. Die Knochenfunde zeigen aber, dass der Neandertaler zumindest das Potenzial zu einem mitfühlenden Verhalten hatte. Herausgebildet hatte es sich, so spekulieren Wissenschaftler, vor allem durch eine vergleichsweise lange Kindheit und die gemeinsame Erfahrung auf der Jagd.

Vor rund 40 000 Jahren, in der Steinzeit, hat sich das Gefühlsrepertoire dann weiter ausdifferenziert. Der Homo sapiens habe mit Sicherheit schon gesungen und getanzt, etwa wenn ein Mammut erlegt worden sei, berichtet der Urgeschichtler Conard: »Das war sicher kein Tanz im Sinne des Tanztheaters von Pina Bausch. Aber freie, rhythmische Bewegungen hat es wohl durchaus gegeben.« Das habe einen emotionalen Rausch ausgelöst, vergleichbar vielleicht dem Torjubel in einem Fußballstadion in heutiger Zeit. Die Überreste von künstlerischer und musikalischer Betätigung in den steinzeitlichen Höhlen belegen auch, dass die Menschen spätestens zu jener Zeit die Möglichkeit erlangt hatten, über sich und ihre Gefühle nachzudenken und ihnen bildhaft Ausdruck zu verleihen.

Dass der Homo sapiens der Steinzeit sich gefühlsmäßig nicht sehr von uns heutigen Menschen unterscheidet, legen auch die Erfahrungen des Evolutionsbiologen und Physiologen Jared Diamond nahe. Er berichtete, wie er 1964 zum ersten Mal die Ureinwohner von Papua-Neuguinea aufsuchte, die sich über Tausende Jahre hinweg ihre steinzeitlich anmutende Kultur bewahrt hatten: »Ich hatte absolut keine Ahnung, wie die Menschen dort geistig-mental tickten. Aber schon nach kurzer Zeit ist mir klar geworden, dass sie uns seelisch und emotional sehr nahestehen.« Der Hauptunterschied sei der Umgang mit Ängsten gewesen; die Papua gestanden ihren Kindern viel mehr Eigenverantwortung und Selbsterfahrung zu als der westliche Mensch, der heute jede Gefahr zu vermeiden versucht.

Doch warum haben sich auch negative, leidvolle Gefühle entwickelt, Emotionen, die sicher niemand fühlen möchte? Verlegenheit, Kummer, Trauer und Mutlosigkeit etwa. So eindeutig wie bei der Angst lässt sich bei den anderen unliebsamen Gefühlen nicht sagen, welche Funktion sie haben. Doch gibt es zumindest Vermutungen, wonach auch diese lebenswichtig sind. Trauer beispielsweise festigt die Bande zu einem anderen Menschen, auch wenn dieser längere Zeit abwesend ist. Ohne Traurigkeit würde jede auch nur kurze Abwesenheit eines geliebten Menschen dazu führen, dass man sich umgehend einen neuen Partner sucht oder neue Bezugspersonen. Traurigkeit ist der Preis für die Liebe, könnte man sagen, insbesondere natürlich der Liebeskummer.

Das Gefühl der Niedergeschlagenheit wiederum signalisiert anderen, dass es an der Zeit wäre, sich um den Betreffenden zu kümmern – selbst wenn dieser das mit Worten vielleicht nicht auszudrücken vermag. Auf diese Weise sorgt er dafür, dass er Unterstützung bekommt, was wiederum die Gruppe stärkt und der Vereinzelung entgegenwirkt.

Ist jemand hingegen peinlich berührt und empfindet Scham, etwa wenn er einen Stapel Würstchendosen im Supermarkt zum Einsturz bringt (oder zu Urzeiten versehentlich ein Jagdwild aufscheuchte), so gibt er unweigerlich zu erkennen, dass es ihm leidtut und dies nicht mit Absicht geschehen ist. Studien zeigen, dass sich Menschen tatsächlich schneller beschwichtigen lassen, wenn der andere verlegen ist. Ganz anders, als wenn er so tut, als sei sein Handeln völlig normal, und sich mit einem kühlen »Tschuldigung!« aus der Affäre zu ziehen versucht.

Das Gefühl der Einsamkeit wiederum kann ein inneres Warnsignal sein, dass man die Unterstützung der Gruppe zu verlieren droht. In einer Gesellschaft, in der der Einzelne allein kaum längere Zeit überleben kann, war es enorm wichtig, dass er einen deutlichen Hinweis darauf bekam.

Selbstverständlich haben nicht alle Gefühle dieselbe »Qualität«; es gibt eher archaische wie Angst oder differenziertere wie Sehnsucht. Eine nachvollziehbare Unterscheidung hat Albert Newen getroffen, Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Auf der untersten Stufe spricht er von »Präemotionen«, also Vorformen von Emotionen, die noch unspezifisch sind und die einem Menschen vor allem Wohlbefinden oder Unbehagen signalisieren; sie sind etwa bei Babys vorhanden. Die Präemotionen prägen sich dann in sogenannten Basisemotionen aus: Wie viele es genau gibt, ist umstritten, auf alle Fälle aber zählen Angst, Freude, Traurigkeit und Ärger dazu. Sie zeigen unsere Reaktionen auf grundlegende Herausforderungen des Lebens. Oft überfallen sie uns mehr oder weniger spontan – und lösen dann ein bestimmtes Verhalten aus.

Auf der nächsten Stufe stehen die »primären kognitiven Emotionen«, bei denen es zu einer Bewertung der Basisemotion kommt: So lässt sich Ärger etwa als »Verärgerung« empfinden, aber auch als »Frustration«; Freude kann sich in »Heiterkeit« ausdrücken, aber auch in »Zufriedenheit«. Bei den »sekundären kognitiven Emotionen« spielen schließlich auch soziale Normen und Erwartungen eine wichtige Rolle: Sekundäre kognitive Emotionen von Angst etwa sind Eifersucht (die Angst vor dem drohenden Verlust des Partners), aber auch Scham (die Angst davor, sich öffentlich bloßzustellen) und Neid (die Angst, nicht genauso gut zu sein oder so viel zu haben wie ein anderer).

Und so hat sich die Menschheit schon vor Jahrmillionen auf den Weg gemacht, ein immer feiner ausdifferenziertes Gefühlsleben zu entwickeln – mit sowohl positiv als auch negativ getönten Emotionen.

Fühlen alle Menschen ähnlich?

Von Spiegelneuronen und emotionalen Großwetterlagen

Emotionen haben sich im Zuge der Menschwerdung zweifellos verfeinert. Aber gilt das gleichermaßen in aller Welt, über alle Kulturgrenzen hinweg? Zumindest für die grundlegenden Emotionen? Sind diese Teil eines universellen biologischen Programms?

Oder werden Gefühle individuell von Vater und Mutter und kollektiv von der jeweiligen Gesellschaft an die Nachkommen weitergegeben? Wer auf der Einzigartigkeit seiner Kultur besteht, für den mag es schwer nachzuvollziehen sein: Aber die Forschung spricht gegen kulturell gänzlich unterschiedliche Gefühlswelten.

Nehmen wir das Verlangen nach Lust und Liebe und die damit verbundenen Emotionen: Anthropologen sind sich sicher, dass diese weltweit in der Architektur des menschlichen Geistes angelegt sind. Sie stützen sich dabei auf die Studie von William Jankowiak und Edward Fischer aus den 1990er-Jahren, die Gefühle von Frauen und Männern in 166 Stammesgesellschaften untersucht hatten; Menschen, die zum Teil Jäger waren, zum Teil Sammler oder auch Landwirtschaft betrieben. Nur in einer einzigen Gesellschaft konnten die Forscher keine Anzeichen für das Vorhandensein einer Vorstellung von leidenschaftlicher Liebe finden. In 18 Kulturen konnten sie nicht mit Bestimmtheit sagen, ob eine solche existiert oder nicht. In 147 Gesellschaften aber zeigten Männer und Frauen klare Anzeichen dafür, dass die Pfeile Amors bei ihnen munter hin und her fliegen und sie die damit verbundenen Gefühle sehr wohl kennen.

In all diesen über die Welt verstreuten Kulturen reden die jungen Menschen über leidenschaftliche Liebe, erzählen sich Liebesgeschichten, singen von ihrer Sehnsucht, tauschen sich aus über ihr Verlangen und die Seelenqualen ihrer Verliebtheit. Und ganz gleich, ob sie nun Deutsch, Chinesisch, Armenisch oder Urdu sprechen, Menschen auf der ganzen Welt benutzen ähnliche sprachliche Bilder, dass etwa ihr »Herz gebrochen« wurde oder sie »unsterblich verliebt« sind.

Für die Liebe scheint die Sache also klar. Wie aber sieht es mit anderen Gefühlsregungen aus? Schon Charles Darwin beschäftigte sich mit dieser Frage. Mehr als zehn Jahre nach der Niederschrift seiner Evolutionstheorie in On the Origin of Species (Die Entstehung der Arten, 1859) veröffentlichte der Gelehrte 1872 ein wegweisendes Buch über Gefühle mit dem Titel The Expression of the Emotions in Man and Animals (Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren).

Darwin hatte zuvor zahllose Berichte von Missionaren studiert, mit Freunden aus aller Welt gesprochen und war zu dem Schluss gekommen, dass zumindest der Gesichtsausdruck menschlicher Emotionen universell ist: »Ich versuchte, bis ins Detail aufzuzeigen, dass überall auf der Welt alle wichtigen menschlichen Emotionen auf die fast gleiche Weise zum Ausdruck gebracht werden«, schrieb er. Eine ähnliche Gestik und Mimik war für den Naturforscher ein Zeichen für das gemeinsame emotionale Erbe der Menschheit – und bis heute gilt das Mienenspiel als Königsweg zum Verständnis der Emotionen.

In den späten 1960er-Jahren neigte sich die Waagschale weiter zugunsten der Universalität der Gefühle. Daran hatte der US-Psychologe Paul Ekman entscheidenden Anteil. Er war nach Brasilien, Japan, Borneo und Neuguinea gereist und hatte den Menschen dort Bilder von sechs unterschiedlichen Gesichtsausdrücken gezeigt: Freude, Angst, Ärger, Überraschung, Ekel und Trauer. Die Reaktionen darauf verglich er mit jenen von Menschen in den USA. Das eindeutige Ergebnis: Alle Kulturen konnten diese Basisemotionen eindeutig identifizieren. Selbst Männer und Frauen in archaischen Stammeskulturen. Für sie war Ekman der erste Mensch überhaupt aus einem anderen Kulturkreis, den sie zu Gesicht bekamen. Weitere Forscher bestätigten dieses Ergebnis und wiesen eine Übereinstimmung auch für die komplexen Gefühle Scham und Stolz nach.

Dass tief liegende biologische Mechanismen bei Emotionen eine wichtige Rolle spielen, zeigte schließlich auch eine Studie von David Matsumoto von der San Francisco State University: Der Persönlichkeitsforscher untersuchte die Mimik von sehenden und von Geburt an blinden Sportlern. Die rund 4000 Fotografien, die er analysierte, zeigten eindeutig, dass sich die Gesichtsausdrücke bei einem Sieg oder einer Niederlage nicht unterscheiden, weder zwischen Sportlern verschiedener Nationen noch zwischen Blinden und Sehenden. Und er bestätigte damit auch Darwin, dem schon viele Jahrzehnte zuvor aufgefallen war, dass Blinde über eine ganz ähnliche Mimik verfügen wie Sehende.

Vor einiger Zeit haben Forscher sich auch an eine Frage gewagt, die weder Darwin noch Ekman abschließend beantworten konnten: Haben die Gesichtsausdrücke einen Zweck – und wenn ja, worin genau besteht er? Zumindest für einige Gefühle lässt sich die Frage inzwischen beantworten: Beim klassischen Angstgesicht etwa werden die Augen aufgerissen, das Gesichtsfeld vergrößert sich dadurch, die Pupillen bewegen sich hin und her – eine sinnvolle Reaktion, weil der ängstliche Mensch auf diese Weise Gefahren besser erkennen und darauf reagieren kann. Das angespannte Gesicht beim Ekel verhindert das Eindringen von gefährlichen Stoffen in Mund oder Nase, denn Lippen und Nasenflügel liegen dabei eng an. Der beschämte Gesichtsausdruck wiederum soll Mitleid erregen und so vor Angriffen schützen.

Die Fähigkeit, seine Miene zu verändern, dient auch der Gefühlskommunikation mit anderen Menschen. Ein angsterfüllter Gesichtsausdruck ist ein stummer Warnruf, er signalisiert: Hier stimmt etwas nicht! Durch Gesichtsausdrücke werden also ständig Botschaften übermittelt, zum Teil sind sie ritualisiert: Wer mit einem Lächeln auf einen anderen Menschen zugeht, zeigt ihm im Normalfall, dass keine Gefahr droht. Begegnet uns jemand mit traurigem Gesichtsausdruck, so wird dies in der Regel Mitgefühl und Sympathie hervorrufen. Ein verärgerter Gesichtsausdruck signalisiert dagegen Gefahr und Dominanz. Die stolze Miene wiederum soll dem Gegenüber einen sozial hohen Status anzeigen.

Dass Gefühle der Kommunikation dienen und sie universell verständlich sein müssen, zeigt sich schon zu Beginn des Lebens: bei Babys, während sie ihre typische Entwicklung durchlaufen. Zunächst drücken sie Präemotionen aus, eher vage Empfindungen wie Freude, Interesse oder Unzufriedenheit. Sie dienen dazu, andere Menschen, meist die Mutter, zu bestimmten Verhaltensweisen zu bringen, Nahrung zu geben oder Schutz zu bieten – was meist ziemlich gut funktioniert.

Weint das Baby, ist den Eltern klar, dass es ihm an etwas fehlt, entweder Nahrung oder Wärme, oder es tut ihm etwas weh. Lächelt es, geht es ihm gut. So kann das Kind mit seinen Körperempfindungen nonverbal die Welt um sich herum dirigieren. Würde ein Säugling seine Emotionen für sich behalten, könnte er sich hingegen nicht bemerkbar machen. Diese anfangs diffusen Empfindungen entwickeln sich nach und nach zu differenzierten Gefühlen, die für den Alltag wichtig sind. Hinzu kommen schließlich jene Emotionen wie Stolz und Scham, für die auch der kulturelle Kontext von Bedeutung ist.

Ob bei Kindern oder Erwachsenen: Die Mimik und das so vermittelte Gefühl können sogar regelrecht ansteckend wirken. Schon Darwin erkannte das: Als sein Erstgeborener etwas über sechs Monate alt war, wies er das Kindermädchen an, ein trauriges Gesicht zu machen, so als ob es weinen müsse – und beobachtete bei seinem Kind, dass sich die Mundwinkel ebenfalls nach unten bewegten. Darwin ging davon aus, dass der kleine Mensch instinktiv spürte, dass die Traurigkeit (auch wenn sie nur gespielt war) ein Ausdruck von Kummer ist.

Noch nicht wissen konnte Darwin, dass für solche Verhaltensweisen sogenannte Spiegelneuronen im Gehirn verantwortlich sind. Diese spiegeln gewissermaßen die Gefühlszustände ihres jeweiligen Gegenübers wider. Weswegen wir unwillkürlich ein schmerzverzerrtes Gesicht machen, wenn wir sehen, wie jemand seine Hand auf eine heiße Herdplatte legt (manchmal reicht es schon, darüber zu lesen oder daran zu denken). Eine solche Situation löst Empathie aus, wir können uns dank der Spiegelneuronen in andere Menschen hineinversetzen, die Welt ein Stück weit empfinden wie sie.

Dass Gesichtsausdrücke tatsächlich mit den entsprechenden Gefühlen einhergehen und diese sogar auslösen können, zeigte wiederum der Emotionsforscher Paul Ekman. Er brachte Probanden dazu, ihre Gesichtsmuskeln auf bestimmte Weise zu bewegen, ohne ihnen aber zu verraten, dass es jene Muskeln waren, die auch bei bestimmten Gefühlen aktiv sind. Im Anschluss befragt, gaben die Probanden an, genau diese durch die Mimik aktivierten Gefühlszustände erlebt zu haben.

So erklärt sich auch der Erfolg des – oftmals belächelten – Lachyoga. Dessen Entwickler geht davon aus, dass die ansteckende Kraft des Lachens in einer Gruppe die Beteiligten tatsächlich echte Freude empfinden lässt und ihnen zu besserer Laune verhilft. Bestätigt wird das durch einen Versuch des Psychologen Fritz Strack von der Universität Würzburg: Er hatte Probanden gefragt, für wie humorvoll sie einen bestimmten Comic hielten. Die eine Hälfte der Teilnehmer ließ er während des Betrachtens der Bilder einen Stift mit den Zähnen halten (was den Mund in eine lächelnde Position zwingt), die anderen Teilnehmer sollten den Stift mit den Lippen halten (was zu einem verkniffenen Gesichtsausdruck führt). Das Ergebnis war eindeutig: Die »Lächelnden« schätzten den Comic als sehr viel humorvoller ein.

Und doch: Wäre es nicht seltsam, wenn alle Menschen in so verschiedenen Regionen der Welt gefühlsmäßig gleich gepolt wären? Wenn soziale Normen und Erwartungen (»Ein Indianer weint nicht!«) und individuelle Erfahrungen keine Rolle spielen würden?

Natürlich weiß jeder, dass Menschen individuell durchaus unterschiedlich fühlen, sowohl was die Tiefe der Gefühle angeht als auch die Art der Emotionen in einem bestimmten Moment. Das ist einerseits eine banale Erkenntnis, aber es lässt sich auch wissenschaftlich nachweisen, etwa mittels einer simpel anmutenden Studie: Forscher befragten 100 Fluggäste, die in Genf an einem Gepäckband vergeblich auf ihren Koffer warteten. Niemand von ihnen war einfach nur ärgerlich: Sie alle erlebten unterschiedliche Gefühlszustände in individueller Reihenfolge; die Emotionen überlagerten sich, lösten sich ab und wurden durch die Situation verändert, manche empfanden Stress, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit, andere Indifferenz, einige aber auch Humor.

Auch Frauen und Männer leben oft in sehr unterschiedlichen Gefühlswelten. Ursachen dafür gibt es mehrere: Einflüsse des sozialen Umfelds und der jeweiligen Erziehung, die Ausprägung von Genen, das Walten der Hormone. Ein markanter Unterschied tritt bei der Empathie zutage. In Studien äußerten Männer und Frauen zwar in den gleichen Situationen Mitgefühl, doch schlug sich dies im Gehirn in unterschiedlichen Aktivitätsmustern nieder. Generell waren diese bei Frauen komplexer; Aktivität zeigte sich vor allem im Gyrus cinguli, einem Areal, das emotionale Beiträge aus verschiedenen Gehirnregionen zusammenführt, um Handlungsentscheidungen vorzubereiten. Bei Männern war in diesem Bereich Funkstille. Stattdessen war bei ihnen eine Region im Scheitellappen aktiv, die für die Analyse verschiedener Umweltbeobachtungen zuständig ist. Ist Mitgefühl also für Männer das Ergebnis einer rationalen Analyse? Fast scheint es so.

Allerdings sind diese Unterschiede nicht allein biologisch vorgegeben, sondern zum Teil auch erlernt. Ein »Training« etwa kann das Empathieempfinden auch verändern. Das zeigte sich bei Untersuchungen von männlichen und weiblichen Polizisten in Mexico City, die oft mit enormer Brutalität zu tun haben und eine Ausbildung durchlaufen haben, die einen eher rationalen Umgang mit solchen Situationen fördert. Nach der Ausbildung ähnelten sich die neuronalen Aktivitätsmuster der Frauen und Männer auffällig – beide Geschlechter empfanden Empathie nun auf eine eher männliche Weise.

Dass sich Gefühlsmuster verändern lassen, bestätigte auch der Psychologe Richard Davidson von der University of Wisconsin durch seine Hirnforschungsstudien mit tibetischen Mönchen. Davidson spricht von »emotionalen Großwetterlagen«, nach denen sich Menschen unterscheiden. Es gebe sehr wohl grundsätzlich unterschiedliche Gefühlstypen, die den emotionalen Stil des Einzelnen prägen. Und damit auch, wie derjenige auf die Welt und andere Menschen reagiere – etwa ob er sich rarmacht, wenn Freunde Probleme haben, oder ob er ein offenes Ohr hat. Ob er die Befindlichkeiten und Stimmungen anderer Menschen erkennen kann oder immer wieder Missverständnisse entstehen. Ob er über seine eigene emotionale Verfassung Klarheit gewinnen kann oder sich selbst ein Buch mit sieben Siegeln ist.

Sechs Dimensionen seien, so Davidson, für die Ausprägung des persönlichen emotionalen Stils entscheidend:

Resilienz: Wie schnell oder langsam erhole ich mich von belastenden Ereignissen?

Grundeinstellung: Wie lange kann ich mir positive Emotionen erhalten?

Soziale Intuition: Wie empfänglich bin ich für die von meinen Mitmenschen ausgesandten emotionalen Signale?

Selbstwahrnehmung: Wie präzise erfasse ich körperliche Empfindungen, in denen sich meine emotionale Befindlichkeit äußert?

Kontextsensibilität: Wie gut gelingt es mir, meine emotionalen Reaktionen an den jeweiligen sozialen Zusammenhang anzupassen?

Aufmerksamkeit: Wie präzise und ausdauernd ist meine Fokussierung auf das, was wichtig ist?

Diese sechs Dimensionen seien bei allen Menschen unterschiedlich ausgeprägt und auf individuelle Weise kombiniert. Davidson glaubt sogar, zeigen zu können, dass der jeweilige Stil durch genau identifizierbare neuronale Netzwerke im Gehirn gesteuert wird – und damit auch eine spezielle Signatur aus Aktivitätsmustern aufweist.

Das heiße aber nicht, dass diese Stile genetisch festgelegt und in Stein gemeißelt seien. Dank der Plastizität des Gehirns könne man mental, etwa durch Meditation oder Achtsamkeitstraining, seine neuronalen Netzwerke in gewissen Grenzen umstrukturieren. Viele Studien hätten belegt, dass man sich auf diese Weise schneller von belastenden Erschütterungen erholen kann. Und ebenso, dass sich die Empathiefähigkeit stärken lässt – um sensibler für zwischenmenschliche Beziehungen oder die eigenen Empfindungen zu werden. Letztlich könne man sogar einen anderen emotionalen Stil entwickeln, zu einer positiveren Lebenseinstellung gelangen.

Und dann gibt es noch eine emotionale Großwetterlage, die ein wenig außerhalb des normalen Spektrums liegt. Es geht um jene Menschen, deren Empfinden grundsätzlich eingeschränkt ist. Ein solches Persönlichkeitsmerkmal wird auch als Gefühlsblindheit oder Alexithymie bezeichnet.

»Wenn ich es recht überlege, gibt es auf dieser Welt nichts, was ich wirklich liebe.« – »Wenn ich mal lache, lache ich nur, weil es die Umstände erfordern. Es kommt nicht von innen.« Der unbekannte Mann, der sich »murdo« nennt, schreibt dies über sich in einem Psychologieforum. Er fühle sich innerlich tot, gefühlsmäßig verarmt. Lange Zeit hatte er nur einen einzigen Freund, und irgendwann war ihm auch dieser eine zu viel. Seine Ehe war nach weniger als einem halben Jahr geschieden worden. Dabei konnte er durchaus nachempfinden, wie es seiner Partnerin ergangen sein muss: »Betrachten wir es mal aus einer anderen Perspektive: Wenn der Mann total down nach Hause kommt und die Frau nur sachlich redet, wie würde sich der Mann fühlen? Niemals in den Arm genommen zu werden und getröstet zu werden.« Beruflich hat er sich halbwegs arrangiert, hat Programmiersprachen gelernt, sieht sich Arbeitskollegen gegenüber als guter Schauspieler, der Gefühle simuliert.