Die Kunst, das Glück zu finden
Wieso gelingt manchen Menschen fast alles, während andere vom Pech verfolgt werden? Warum fällt es uns so schwer, unser Leben zu verändern? Was hat es mit unseren Wünschen und Träumen auf sich? Christian Buder, Autor und Philosoph, befragt große Denker der Philosophie und unternimmt eine literarische Reise, die ihn zu der Frage führt, die für jeden von uns von Bedeutung ist. Was macht ein glückliches Leben aus?
Eine amüsante philosophische Reise – ein Buch darüber, wie Philosophie unser Leben verändern kann
Schwimmen, ohne nass zu werden
Wie man mit Philosophie glücklich wird
Für Félicie, Manon und meine Eltern
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
1. Das Prinzip der Bewegung
2. Die unendliche Leichtigkeit
Der Dunkle
Das Loch in der Kaffeetasse
Ich weiß selbst, was gut für mich ist
Die unendliche Leichtigkeit des Seins
Zootiere und Beamte
3. Der Mythos vom Richtigen Zeitpunkt
Es ist immer zu spät oder noch zu früh
Intriganten und Hindernisse
Kinderfragen
Kreativität ist nicht angeboren
Wenn das Ich nicht in den Aufzug passt
Ratgeber, auf die man verzichten kann
Illusionen und Realität
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
4. My fucking life - Ich habe nur dieses
Betreten auf eigene Gefahr
Da kann alles passieren und nichts
Heraklit war gut zu Fuß
Gott, der ewige Wanderer
Ist alles relativ?
Notausgang
Hintertüren
5. Scheitern als Lifestyle
Die Kultur des Scheiterns: Von Beckett zu Kazantzakis
Frustrationslogik
Scheitern mit Godot
Griechisch scheitern mit Sorbas
6. Die Kunst zu schwimmen, ohne nass zu werden
Going with the flow
Kraft durch Denken
Brazilian Jiu-Jitsu
Der Atlas des Ichs
Heraklit
Danksagung
Anmerkungen
Über Christian Buder
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum manchen Menschen alles gelingt, während andere vom Pech verfolgt scheinen? Haben Sie sich noch nie gewundert, warum die Mehrheit der Menschen in einer Gesellschaft sich mit einem Leben zufriedengeben, das ihnen nicht gefällt? Wundern Sie sich manchmal nicht, warum viele Menschen sich nicht einmal vorstellen können, ein anderes Leben zu führen, geschweige denn ihr Leben tatsächlich zu ändern? Glauben Sie daran, dass ein glückliches und zufriedenes Leben genetisch oder gesellschaftlich bestimmt ist? Oder glauben Sie, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, sein Leben zu gestalten, und dass auch Gesellschaften von jedem einzelnen Menschen geformt und verändert werden? Glauben Sie an die Macht der Veränderung, die in jedem von uns steckt?
Nein, Sie glauben, dass ein Unbekannter im Hintergrund oder ein System die Entscheidungen für Sie trifft? Dann hilft Ihnen dieses Buch, ein Denken zu lernen, das Ihre Sicht auf die Welt und auf Ihr eigenes Leben grundlegend verändert.
Dies hat nichts mit Zauberei oder Esoterik zu tun. Es ist ein Prinzip des Denkens. Heraklit erkannte vor zweieinhalbtausend Jahren das Prinzip des ewigen Wandels. Große Denker wie Hegel, Nietzsche oder der Physiker Einstein erkannten die Kraft des Prinzips, das sicherlich noch älter als all unsere Überlieferungen ist.
Jeder kann dieses Prinzip lernen. Sie benötigen kein Studium, um es zu verstehen. Das Prinzip selbst erweitert Ihre geistigen Fähigkeiten. Es ist eine Art Turbotreibstoff für Ihr Gehirn. Mit etwas Übung werden Sie nicht nur Ihre geistigen Fähigkeiten stärken: Ihr Leben ändert sich; Ihre Mitmenschen werden es positiv an Ihnen bemerken, was Ihnen lange für unmöglich galt, wird plötzlich realisierbar.
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Jeder Mensch hat Träume und Wünsche. Die meisten Menschen glauben jedoch, dass diese für sie nicht erreichbar sind. Ihre Sicht auf die Welt ist auch gleichzeitig die Grenze ihrer Wünsche. Sie denken, dass ihre Rolle in der Welt festgeschrieben sei und ihr Leben in fremdbestimmten Grenzen verlaufe. Von sich selbst sagen sie, dass sie Realisten oder bescheidene Menschen seien. Nichts davon ist wahr. Denn es gibt keine Realität, die von allen Menschen gleich erkannt und vor allem auch anerkannt wird. Es gibt eine Vielzahl von Realitäten, die nebeneinander und ineinander existieren. Sie bedingen einander, und sie sind in ständiger Bewegung.
Wenn Sie wissen wollen, wie erfolgreiche Menschen denken und warum diese auch nach großen Niederlagen nicht aufgeben, dann lesen Sie dieses Buch zweimal. Einmal, um das jahrtausendealte Prinzip zu verstehen, und noch einmal, um Ihr eigenes Leben, Denken und Handeln danach auszurichten. Denn es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Erfolg, Zufriedenheit und Glück im Leben sind nichts, wofür es einfache Anleitungen gibt, auch wenn viele Ratgeber dies versprechen.
Glück ist kein Zustand, den man erreicht, sondern eine Art zu denken und letztendlich eine Art zu leben.
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Ein Freund fragte mich, warum ich denn noch ein Buch zu Glück, Erfolg und Lebensverwirklichung schreiben wolle, es gebe doch schon so viele. Möglich, antwortete ich ihm, aber keines der Bücher, die er mir nannte, hatte mich überzeugt, und von denjenigen, die ich gelesen hatte, waren es nur wenige, die in mir eine Spur hinterlassen hatten. Ein anderer Grund ist, dass Bücher nicht auf Anfrage produziert werden. Jedenfalls nicht die Bücher, hinter denen ein überzeugter Autor steht. Jedes Buch hat seine Wurzeln im Leben des Autors. Manche sind sich des Ursprungs ihrer Stoffe bewusst, andere nur zum Teil oder gar nicht. Jeder Leser macht aus dem Buch etwas Besonderes, indem er es liest, neu deutet und mit anderen teilt.
Ich wollte keine philosophische Abhandlung über den Begriff der Bewegung schreiben, und es liegt mir fern, Heraklits Denken anhand der Fragmente, die die Jahrtausende überstanden haben, zu analysieren oder wissenschaftlich darzustellen. Dafür gibt es Fachliteratur und massenweise Dissertationen. Es ist wohl, einfach ausgedrückt, ein Selbstmotivationsführer durch mein eigenes Ich. Es sind Erkenntnisse und Einstellungen, die mich weitergebracht haben. Warum also sollte dies nicht auch für andere Menschen funktionieren?
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Der Ursprung dieses Buches war eine Art Aha-Erlebnis, ohne dass ich mir zu diesem Zeitpunkt schon des Prinzips bewusst war. Genau genommen war es das Erleben einer Grenze, mit der ich mich abzufinden hatte.
Ich wollte unbedingt Philosophie studieren. Doch ohne Abitur war dies unmöglich. Es blieb mir nur der Weg, den Abschluss nachzuholen. Ich war knapp zwanzig Jahre alt und hatte gerade die Fachhochschulreife mit dem Schwerpunkt Wirtschaft abgeschlossen. Ein Zweig, der mir überhaupt nicht lag. Doch meine Schullaufbahn ließ gar nichts anderes mehr zu, als mich irgendwie im Bereich »Wirtschaft« zurechtzufinden. Eine völlige Neuorientierung schien aussichtslos. Doch noch aussichtsloser war die Vorstellung, dass ich für den Rest meines Lebens als Sachbearbeiter einer Firma oder in der Stadtverwaltung tätig sein würde. Ich würde mein Leben lang nur »tätig sein« und andere bewundern, die es irgendwie geschafft haben, ihre Träume zu erfüllen oder ihren eigenen Weg zu gehen.
Nach abgeschlossenem Wirtschaftsstudium an der Fachhochschule hatte ich die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung. Kurz: Ich konnte Philosophie studieren. In den ersten zwei Semestern an der Marburger Fakultät bekam ich ein Buch des französischen Philosophen Jacques Derrida in die Hände. Die unglaubliche Freiheit und Leichtigkeit, wie Derrida dachte und Wissen in seinem Denken verwob, faszinierten mich derart, dass ich bei ihm in Paris studieren wollte. Die Ernüchterung kam bald: Ich sprach weder Französisch, noch hatte ich Grundkenntnisse in der Schule gehabt. Der Traum vom Philosophiestudium in Frankreich zerplatzte an meinen fehlenden Sprachkenntnissen. Eine Professorin für Romanistik gab mir den Rat, erst einmal vier oder fünf Jahre intensiv Französisch zu lernen, und selbst nach einem intensiven Studium wäre es eine Herkulesaufgabe, Philosophie zu studieren. Dort sei die Sprache wichtiger als in naturwissenschaftlichen Fächern und das Niveau eines Muttersprachlers nötig. Mein Vorhaben nannte sie schlichtweg unrealistisch und bei meinen Sprachkenntnissen unmöglich.
Ich erinnere mich nicht mehr genau, was in diesen Tagen in meinem Kopf vorging, ich weiß nur, dass ich drei Wochen später mit meinem 205 Peugeot in Paris war, auf Wohnungssuche. Was hatte mich zu dieser Entscheidung gebracht, wo doch jeder – einschließlich meiner Freunde – mir versicherte, dass ich ein unrealistischer Träumer sei? Warum war das »unmöglich« keine Grenze für mich?
Der Grund war, dass ich an etwas in mir glaubte, das in mir war, von dem ich zu diesem Zeitpunkt noch keinen Begriff hatte. Es war etwas, das in allen von uns steckt. Ein Prinzip, das schon in der Philosophie von Heraklit vor 2500 Jahren auftauchte. Das Prinzip ist der Grundstein, der uns zu bewussten Menschen macht, uns befreit und uns Glück und Hoffnung gibt.
Mein Problem fehlender Sprachkenntnisse löste sich zwar nicht von allein, war aber weitaus weniger entscheidend für mein Studium. Nach gut zwei Jahren hatte ich meinen Magisterabschluss in der Tasche und nach sechs weiteren Jahren meine Promotion. Im Rückblick erscheint die Unmöglichkeit nun selbst unmöglich. Es ist so, als hätte der Erfolg die anfängliche Unmöglichkeit in der Vergangenheit revidiert. Es scheint so, als wäre es eben schon immer möglich gewesen. Im Augenblick der Entscheidung setzte sich etwas in mir in Gang, was ich erst später das Prinzip der Bewegung nennen würde.
Warum dieses Prinzip unser ganzes Denken und Sein bestimmt, habe ich in diesem Buch zusammengefasst.
Doch gehen wir erst ein paar Jahrtausende zurück, als es noch kein elektrisches Licht, kein Fernsehen, kein Internet und keine Autos gab, aber schon Denker, die in der Mittagshitze im Schatten von Olivenbäumen an der Feinmechanik des Menschheitsgedächtnisses arbeiteten.
In zweieinhalbtausend Jahren würden die Menschen ihn den »Dunklen« nennen. Dunkel ist der Sinn seiner Worte, und dunkel ist sein Leben. In der Tat weiß man nicht viel über das Leben des Heraklit aus Ephesos. Was von ihm blieb, ist eine besondere Art, die Welt und sich selbst zu betrachten.
Die Mittagshitze brannte auch damals schon auf die karge Erde. Zwischen den Olivenbäumen war der kühlste Schatten. Heraklit lehnte sich an den Stamm und zeichnete mit dem Finger Kreise in den Staub. Kreise und Ringe, die weder einen Anfang noch ein Ende hatten. Das Zirpen der Grillen war um diese Zeit lauter als das Plätschern eines Flusses. Um ihn war alles in Bewegung. Nichts hatte Bestand. Der Fluss strömte seiner Bestimmung entgegen und löste sich irgendwo im Meer auf. Der Olivenbaum, an dem er lehnte, wuchs und wandelte sich im Innern. Heraklits Atem ging gleichmäßig, und sein Herz schlug rhythmisch.
Nichts war ewig, dachte Heraklit, außer der Wandel selbst. Sein Herz würde eines Tages aufhören zu schlagen, sein Atem würde versiegen. Er würde verschwinden wie der Fluss im Meer.
»Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt anderes und wieder anderes Wasser zu.«1
Wie der Fluss, so sind wir und sind wir nicht. Und sowenig wir zweimal in denselben Fluss steigen können, so wenig sind wir dieselben, nachdem wir diesen Gedanken zu Ende gedacht haben. Jeder Gedanke verändert uns, und wer sich nicht erinnern kann, der fließt im Fluss der Zeit, ohne es zu wissen. Das Prinzip der Bewegung oder der Wandlung hat keinen Beginn und kein Ende. Es sind die Kreise, die Heraklit vor zweieinhalbtausend Jahren in den Sand gezeichnet hat. Was unverändert und fest scheint, ist nur eine Illusion. Dahinter fließt alles. Die Welt ist ständig in Bewegung. Wir sind ständig in Bewegung. Unser Ich ist nur eine Illusion. Seine Wirklichkeit liegt irgendwo in der Vernetzung von Milliarden von Neuronen unseres Gehirns. Doch sowenig wir uns unseres Gehirns bewusst sind, so wenig haben wir eine Vorstellung von dem Wandel, dem wir dauernd unterworfen sind.
Was geschieht aber, wenn wir uns bewusst machen, dass wir durch unser Denken UNS verändern können? Was passiert mit uns, wenn wir begreifen, dass wir selbst an der Form arbeiten, die wir gern haben möchten? Wenn wir in unserem täglichen Leben berücksichtigen, dass alles, was wir tun, denken oder auch nicht tun, unser Selbst bestimmt?
Die Erkenntnis ist einfach: Unser Selbst ist etwas Fließendes. Es setzt sich aus einer Vielzahl von Gedanken, bewusst oder unbewusst Erlebtem zusammen.
Die entscheidende Erkenntnis ist, dass unsere Gedanken und Vorstellungen, unsere Art, die Welt und andere Menschen zu sehen, uns nicht nur prägen und formen, sondern es ist der Mörtel, aus dem unser Selbst besteht. Je mehr wir unsere Vorstellungen und Gedanken kennen, die uns formen, desto mehr Kontrolle haben wir über uns selbst. Und wer sich selbst kennt, der weiß auch, wie er auf seine Mitmenschen wirkt. Er wird nicht passiv von der Welt geprägt, sondern er formt die Welt.
Wer Bewegung und Wandel denkt, wer im Fluss der Dinge denkt, der stößt unvermeidlich auf das, woran man Bewegung oder Wandel misst: das Unveränderliche. Ist nun damit etwas gemeint, das selbst keinem Wandel unterworfen ist? Bei Platon waren es die Ideen, die man sich vorstellen muss wie einen perfekter Plan für die Welt, dem nur eines fehlt: die perfekte Umsetzung. Für Parmenides waren die Dinge der täglichen Wahrnehmung nur Scheinwahrheiten. Die wirkliche Welt war für Parmenides verborgen hinter den wahrgenommenen Dingen. Eine Welt des Unwandelbaren und Göttlichen. Die Scheinwelt ist wie die »Matrix« im Film der Wachowski-Brüder, das heißt, eine Welt, die wir wahrnehmen, und eine dahinterliegende Welt, die in Wahrheit unser Schicksal bestimmt.
Parmenides und Heraklit vertreten zwei Arten des Denkens, wie sie entgegengesetzter nicht sein können. Für Parmenides ist der Grund allen Seins etwas Starres und die Wahrnehmung nur ein bewegter Schleier. In Heraklits Augen unterliegt alles einem ewigen Wandel. Das Sein ist etwas sich stetig Veränderndes wie ein Fluss, in den man nie zweimal steigen kann. Dabei verhalten sich die beiden Denker wie der Rand der Kaffeetasse zu ihrem Innern. Dort, wo das Nichts der Tasse ist, liegt ihr eigentlicher Nutzen. Das Loch in der Tasse kann nur sein, wenn es einen festen Rand gibt. Beides muss miteinander gedacht werden. Weder das eine noch das andere besteht für sich.
So müssen wir uns auch die beiden Denkarten vorstellen. Die Denker der »Bewegung« als erstes Prinzip und die Denker des »Unveränderlichen«. Sie sind nur zwei Seiten derselben Medaille. Wir werden an späterer Stelle noch sehen, dass das Prinzip der Bewegung immer auch ein Denken in Gegensätzen ist: Das Loch der Tasse existiert erst durch den Rand, das fließende Wasser im Fluss durch das feste Ufer.
Das einseitige Denken hat jeweils auch eine eigene Lebenseinstellung zur Folge. Wer sich nur an festgenagelten Wahrheiten durch das Leben hangelt, hat wenig Chancen, sein Leben zu ändern oder kreativer zu gestalten. Äußere Einflüsse und Schicksalsschläge erschüttern solche Menschen stärker. Wer auf der anderen Seite keinen festen Halt hat und im Fluss treibt, ist nicht Herr seines Lebens. Er lässt sich treiben und wird von anderen Menschen und äußeren Dingen bestimmt. Ohne Bewusstsein des Bewegungsprinzips gibt es auch kein eigenverantwortliches Leben, keine Freiheit und keine Selbstbestimmung.
Spätabends nach einem Seminar über das »Prinzip der Bewegung im Alltag« sprach mich eine ältere Dame, die an dem Seminar teilgenommen hatte, an der Bushaltestelle an. Es begann zu regnen, und ein kalter Wind zog auf. Ich war müde und wollte eigentlich keine Unterhaltung. Die Dame war selbst müde, dennoch schien sie mir etwas mitteilen zu wollen, was sie vorhin am Ende des Seminars nicht sagen wollte.
»Als ich noch zwanzig war, da hätte ich mir so etwas wie das Prinzip der Bewegung noch vorstellen können. Damals glaubte ich noch, dass die Welt uns gehört …«
»Wer ist uns?«, fragte ich dazwischen.
»Na, der Jugend eben. Wir, die wir so jung und tatkräftig waren.«
»Und das ist jetzt anders?«
»Natürlich ist es anders. Jetzt bin ich fast siebzig. Mit dem Alter schrumpft auch die Summe aller Möglichkeiten, die man hätte verwirklichen können.«
Sie zitierte mit der Summe aller Möglichkeiten eine Stelle aus meinem Seminar, die sie sich aufgeschrieben hatte.
»Mit dem Alter wird auch die Summe des Versäumten immer größer«, fuhr sie fort, »und das kann man nicht einfach wegdenken. Dafür gibt es kein Prinzip. Man muss da realistisch sein.«
Wir hatten noch über zehn Minuten, bis die Straßenbahn kam. Sie führte ein Beispiel nach dem anderen in ihrem Leben auf, die beweisen sollten, dass ihr Leben eben so war, wie es war, weil es nicht anders sein konnte. Als sie ausgeredet hatte, fragte ich sie, wann sie denn angefangen habe, sich nicht mehr jung zu fühlen.
»Was meinen Sie mit jung?«
»Ich meine, das Alter, das Sie erwähnten, in dem Ihnen alle Möglichkeiten offenstanden?«
Sie starrte eine Weile in den Regen, dann sagte sie: »Als ich mein erstes Kind bekam.«
»Sie wollten das Kind nicht?«
»Doch schon, aber so ein Kind schränkt eben ein.«
»Und von den unzähligen Möglichkeiten, die Ihnen offenstanden – welchen Wunsch hatten Sie in Ihrer Jugend? Wie stellten Sie sich Ihr Leben vor?«
Sie zuckte mit den Schultern und schaute nervös auf die Tafel der Straßenbahn. Sie drückte sich unter das Dach der Haltestelle. Ich dachte schon, sie würde jetzt einfach auf und davon gehen.
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Glauben Sie, dass alle Möglichkeiten, von denen Sie glaubten, dass Sie Ihnen früher offenstanden, auch wirklich etwas waren, was Sie wollten?«
»Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas gewollt zu haben. Da die meisten aller Möglichkeiten irgendwie nicht realistisch waren. So wollte ich, als ich noch ein Kind war, einen Laden haben, in dem ich Stricksachen verkaufe. Aber davon konnte man eben nicht leben. Deshalb ging ich ins Büro …«
»Haben Sie jemals etwas unternommen oder darüber nachgedacht«, fragte ich weiter, »wie Sie einen Wunsch in Lebensrealität umsetzen? Oder waren da immer Grenzen?«
»Nicht jeder hat es einfach im Leben«, sagte sie und fühlte sich offensichtlich angegriffen.
»Niemand hat gesagt, dass es einfach ist, ein selbstkontrolliertes Leben zu führen. Aber eines kann ich Ihnen sagen: Es ist nie zu spät.«
Die Unterhaltung endete an diesem Abend. In der Straßenbahn wechselten wir kein Wort mehr. Die Frau blickte zum Fenster hinaus. Ich habe sie nie mehr wiedergesehen. Einige Monate später lag jedoch eine Postkarte in meinem Postkasten. Der Absender war unbekannt. Auf der Vorderseite war ein Modegeschäft zu sehen: »Handgemachte Strickwaren«. Auf der Rückseite standen nur wenige Worte: »Vielen Dank. Es ist nie zu spät. Sie hatten recht. Mit jeder Bewegung (es war rot unterstrichen) ergeben sich neue Möglichkeiten. Auch solche, die man noch nicht kannte. Gezeichnet: die Frau im Regen.
***
Ich erinnerte mich an die Frau und an meine Müdigkeit an diesem Abend, und es freute mich, dass die wenigen Sätze, die wir gewechselt hatten, in ihr etwas bewirkt hatten, das ihrem Leben einen neuen Antrieb gab. Dies klärte auch die Frage, für wen ich dieses Buch schreibe und wen ich in meinen Seminaren damit anspreche: Es gibt keinen bestimmten Personenkreis und auch keinen Typus von Mensch, der sich von dem Prinzip angesprochen fühlt. Es ist für jeden, der über sich selbst mehr wissen, der über sich selbst bestimmen will und der daran glaubt, dass er noch Fähigkeiten in sich hat, von denen er noch nichts ahnt.
Das klingt zunächst nach Esoterik und Zauberei. Bei genauem Hinsehen sind diese Fähigkeiten schon immer da gewesen. Sie wurden nur nicht abgerufen, weil sie nicht gebraucht wurden. Dies sieht man vor allem bei Unternehmensgründern. Keiner der Gründer von Amazon oder Google hatte vor der Gründung seines Unternehmens Fähigkeiten, wie man einen Weltkonzern leitet. Sie hatten eine vage Grundidee oder einen Traum. Als das Unternehmen erfolgreich war und sie selbst an der Spitze eines Weltunternehmens standen, sah es so aus, als wären sie schon immer die erfolgreichen Macher gewesen. Ihr späterer Erfolg hat ihnen sozusagen retroaktiv Fähigkeiten zugesprochen, die sie vorher nicht hatten. Mit dieser retroaktiven Verkehrung schuf man das geborene »Genie« oder »das Talent«, das schon immer ein wenig anders war. Und plötzlich haben es alle schon immer gewusst. In Wirklichkeit unterscheidet Sie nur eines von dem »Genie«. Das Genie war jemand, der an seine Träume glaubte und auch daran, dass es möglich ist, diese zu realisieren. Der Realist ist also nicht, wie die Frau im Regen zunächst meinte, derjenige, der die verschwundenen Möglichkeiten bedauert, sondern derjenige, der seine Perspektive ändern kann und der immer neue Möglichkeiten sieht.
Man braucht weder eine bestimmte philosophische Vorbildung noch einen Hang zur Sinnsuche im Leben. Es ist an Sie persönlich gerichtet. Es soll Ihnen helfen, Ihre Wünsche und Träume zu entdecken und an sie zu glauben. Es ist das Buch Ihrer Träume und Wünsche. Es ist das Buch, mit dem ich mich direkt an Sie wende, so wie ich mich an einen guten Freund wende, der mich um Rat fragt. Ich will Ihnen nicht mein Leben als Beispiel vorgeben und auch nicht, dass Sie meine Meinungen und Vorstellungen übernehmen. Dies müssen Sie für sich selbst herausfinden, denn jedes Leben ist anders. Wir können uns aber über die Methode unterhalten, wie wir dieses Leben entdecken, wie Sie Ihr Leben entdecken. Was mir und anderen Menschen geholfen hat, kann auch Ihnen helfen. Was Unternehmern, Künstlern, Politikern, Sportlern und Denkern geholfen hat, die Welt und ihr Leben besser zu verstehen, ihre geheimen und intimen Methoden ihrer Lebensgestaltung, fasse ich in diesem Buch zusammen. Jemand mag später sagen, es sei nicht vollständig oder noch unzureichend. Das ist wahrscheinlich. Das gehört zum Prinzip der Bewegung.
Nichts ist jemals vollendet bis zu dem Zeitpunkt, bis man es als vollendet betrachtet.
Dies ist die Bedingung des Glücks, und das ist auch der Beginn des Unglücklichseins.
Über die Frage, wie man ein glückliches Leben führt, ist so viel gedacht worden, dass man damit die Hälfte aller Bibliotheken der Welt füllen könnte. Doch warum ist Glück so wichtig für uns Menschen? Sind wir Menschen die Einzigen, die nach Glück streben? Kennen Ameisen Glück? Ist ein Tiger in freier Wildbahn glücklich? Ist er im Zoo unglücklich? Lässt sich Glück überhaupt definieren? Kann man es erreichen?
Ich erinnere mich an die Weisheit eines chinesischen Philosophen. Der weise Spruch stand auf einem Abrisskalender, den ich zu meiner Studienzeit neben meinen Computer gehängt hatte.
Wer versucht, Glück zu erreichen, hat es schon verloren.
Die Weisheit war so reichhaltig wie Knäckebrot, allerdings waren auch die anderen Texte, die ich über Glück fand, nicht ergiebiger.