cover

Jo Lendle

Was wir

Liebe

nennen

Roman

Deutsche Verlags-Anstalt

Du hast mich verführt,
und ich habe mich verführen lassen.

JEREMIA 20,7

Was wir Liebe nennen, ist anfangs nur ein Zittern. Ein Schauer, den wir kaum bemerken, der uns nicht frieren lässt, aber daran erinnert, beizeiten nach etwas zu suchen, das uns wärmt. Irgendetwas gerät aus der Ruhe, ein winziges Teilchen nur, wie man es vom Schütteln alter Uhren kennt. Zwischen den Schulterblättern löst es sich und treibt, weil es leichter ist als wir, langsam den Nacken hinauf.

Endlich gerät es in ein kleines Organ, das wir Hippocampus nennen, weil es aussieht wie ein Pferd. Oder wie eine Mischung aus Pferd und Monster. Hier entsteht die Erinnerung. Immerfort bilden sich neue Nerven, und auf einmal glauben wir, den anderen längst zu kennen. Schon immer, so vertraut fühlt er sich an. Wir verlieben uns in das, was uns ähnelt.

Dann erst kommt alles andere, der Rausch, die Aufregung, das Glück. Auf einmal ist kein Hunger mehr, kein Schmerz und kein Schlaf. Was wir Liebe nennen, lässt alle auf uns los: Dopamin, Endorphin, Adrenalin. Wir atmen, wir schwitzen. Wir dampfen Lockstoffe aus. Die Alten glaubten an einen Pfeil im Herzen, und man bekommt ihn nicht wieder heraus.

Was wir Liebe nennen, ist zu viel und zu wenig. Es ist Mangel und Fülle, Ungenügen und Überfluss, auch wenn die Sehnsucht beim besten Willen nicht weiß, woran hier Überfluss bestehen soll, außer an der Liebe selbst. Nur was uns fehlt, wissen wir immer.

1

Morgens um drei durch Osnabrück zu laufen war wie ein Spaziergang durchs Universum kurz vor dem Urknall. Alles war ganz eins mit sich, ganz dicht und bewegungslos. Kein Laut ringsherum, kein Wort. Es gab nichts als die Neugier, von welcher Seite Gott die Bühne betreten würde, um das Licht von der Finsternis zu scheiden, den Himmel von der Erde, die Frau vom Mann. Bislang jedoch war, so weit das Auge reichte, von Gott nichts zu sehen.

Lambert nahm die Tasche auf die andere Schulter. Er war nicht in Eile. Die dunklen Häuser, die Bäume am Straßenrand, sogar das Stoppschild an der Kreuzung vor ihm wirkten noch lebloser als am Tage. Es sah nicht aus, als würden sie schlafen. Es sah aus, als wären sie nicht einmal geboren. Noch war alles möglich.

Er lief bis zum Ortsausgang, wo nach einer Viertelstunde der erste Wagen kam und hielt, ein altes Molkereifahrzeug, das auf dem Seitenstreifen ausrollte. Lambert lief hinterher, bekam die Beifahrertür kaum auf und fragte außer Atem, ob er ein Stück mitfahren könne, zum Flughafen. Aber der dicke Fahrer winkte ihn einfach herein, ihm werde die Milch ja sauer bei dem Geschwätz.

Lambert zog sich hoch in die Kabine. Der Fahrer nickte ihm zu und klopfte mit der Hand auf den Beifahrersitz. Ein rundes Gesicht, sein Seitenscheitel legte sich flach über die Stirn wie die kalte Flosse eines Seehunds.

Lambert schnallte sich nicht an. Kurz fielen ihm, als er ins Polster des Sitzes sank, die Lider zu, er hörte das Geräusch des startenden Motors und spürte, wie der Wagen anfuhr. Wenn er ehrlich war, hatte er seit Jahren nicht mehr darüber nachgedacht, woher die Milch kam. Als Junge war er zu Besuch auf einem Bauernhof gewesen, hatte gewartet, bis er allein im Pferdestall war, und dann einer Stute an die Zitzen gefasst. Sein Schreck darüber, dass sie warm waren. Er hatte versucht, Milch herauszubekommen und an den haarigen Zipfeln gezogen, bis das Tier auf einmal den Kopf gedreht und ihn mit seinen nassen Augen so fragend angesehen hatte, dass er von Scham überwältigt aus dem Stall gelaufen war.

Erstaunlich, dass man Milch noch immer im Molkereiwagen durch die Gegend fuhr, dass sie nicht längst eine zeitgemäßere Lösung gefunden hatten, ein Röhrensystem oder irgendetwas Digitales. Lambert schlug die Augen auf und sah hinaus in die Nacht. Ihm konnte nichts geschehen.

Die leere Straße war ein Teil der Felder ringsherum, nicht weniger still, nicht weniger flach. Ein Teil der Natur, im selben Schwarz wie die Wiesen und Sümpfe, durch die sie fuhren. Keine Sterne, der Himmel verhangen wie immer. Das einzig Helle war die Doppelzunge der Scheinwerfer, die vor ihnen über die Fahrbahn strich. Und die Anzeige des Radios. Auf Mittelwelle sang jemand vom Orbit. Dies also war Lambert auf großer Fahrt. Noch immer wusste er nicht, ob die Nadelstreifen seines neuen Anzugs angemessen waren, für gestern, für heute. Hier im Dämmerlicht leuchteten sie nur schwach, ein trügerischer, quecksilbriger Glanz. Am Rückspiegel baumelte ein Duftbaum im Takt der Musik. Wildapfel.

Manchmal brummte der Fahrer auf, es war nicht zu erkennen, ob er das Lied begleitete oder einfach vor sich hin grummelte. Vielleicht schnarchte er auch. Lambert wollte es nicht hoffen. Wie lange würde es dauern, auf diese Weise die Erde zu umkreisen?

Plötzlich legte der Fahrer seine Hand auf Lamberts Oberschenkel. Der Moment, als nur diese Hand zu sehen war, knöchrig und alt auf dem schwarzen Stoff der Hose, und Lambert einfach nicht verstand, was sie auf seinem Bein zu suchen hatte. Dann griff er neben die Sitzbank und zog die Handbremse bis zum Anschlag. Der Wagen schlingerte, sie hielten mitten auf der Fahrbahn.

Beim Hinausspringen stellte Lambert sich vor, den Mann seinen Duftbaum fressen zu lassen, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der der Alte ihn angefasst hatte. Aber er verabscheute Gewalt. Stattdessen zeigte sich, dass der Verschluss des Milchtanks nicht gesichert war. Eine halbe Stunde lang folgte Lambert dem weiß gesprenkelten Streifen auf der Fahrbahn, der in der Dunkelheit strahlte. Dann sprang er über die Leitplanke und lief das letzte Stück zum Flughafen über die Wiesen. Er lag gut in der Zeit.

Er hatte Andrea nicht mehr geweckt, aber er hatte ihr einen Zettel hingelegt. Melde mich, wenn ich dort bin. Ich liebe dich. Lambert. Auf der Herrentoilette hinter der Abfertigung warf er sich etwas Wasser ins Gesicht und betrachtete dann im Spiegel den seltsamen Menschen, der er war. Woran dachte der in seinem Anzug? Schaute er betreten oder verstört? Und was war das für eine Reise, die er hier unternahm? Andrea hatte ihm vorgeschlagen, die Sache angesichts der Umstände einfach abzusagen, aber im Absagen war er nicht gut. Er nahm es als dreitägige Auszeit aus seinem Leben, wofür auch immer.

Beim Betreten des Flugzeugs gab es ein Missverständnis mit der Stewardess, die einen Fächer Zeitungen vor sich hielt wie eine Losverkäuferin. Lambert griff blind hinein und erwischte den Devoir, was sie veranlasste, ihn auf Französisch zu begrüßen. Er winkte ab, hielt dabei aber die Zeitung schon in der Hand. Sie verstand sein Wedeln als Zeichen, dass er sich doch dagegen entschieden habe, und nahm ihm das Blatt wieder ab. Das Ganze aufzuklären war Lambert zu mühsam.

Sah man ihm nicht an, woher er kam, wohin er gehörte? Sein Fensterplatz war in der ersten Reihe Economy, daneben saßen bereits eine Frau und ein Kind, die sich über ihre Bordkarten beugten. Sie erhoben sich gleichzeitig, um ihn zu seinem Sitz zu lassen, wie Zuschauer in einem Theater. Die Stewardess ging durch den Gang, diesmal hatte sie statt Zeitungen für jeden einen Fragebogen dabei, zum Ausfüllen während des Fluges. Lambert konnte sich nicht erinnern, sich jemals so frei gefühlt zu haben, was besser klang, als es sich anfühlte. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete.

Nachdem sie die Passagiere mit den Sicherheitsbestimmungen vertraut gemacht hatte, schälte sich die Stewardess aus ihrer neonfarbenen Schwimmweste und klappte den Personalsitz von der Wand. Ihr Lächeln behielt sie bei, während sie mit den Armen unter die Gurte zu schlüpfen versuchte, und weil sie nun einmal gerade in Lamberts Richtung schaute, galt das Lächeln ihm. Da erst fiel ihm auf, dass er sie die ganze Zeit über angestarrt hatte.

Als Lambert den Blick senkte, entdeckte er einen hellen Fleck auf seiner neuen Anzughose, offenbar eine Spur eingetrockneter Milch von dem Molkereifahrzeug. Er schaute sich um, aber niemand sah zu ihm. Mit etwas Spucke rieb er sich über die Hose, bis der Fleck verschwunden war. Aber sobald der Speichel trocknete, zeigte sich der Umriss von Neuem. Und außer dem Anzug hatte er nichts dabei. Lambert legte das Blatt mit dem Fragebogen darüber. Es war immer gut, einen Trick parat zu haben.

Ist die Rückkehr in Ihr Heimatland gesichert? Dient Ihre Reise einem anderen Zweck als dem Vergnügen? Könnten Sie durch Ihre Einreise die physische oder psychische Gesundheit kanadischer Staatsbürger gefährden? Was machen Sie beruflich? Verfügen Sie über ausreichende Mittel, um alle denkbaren Kosten Ihres Aufenthalts zu decken? Planen Sie die Ausübung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

2

»Ich kann auch nicht zaubern.«

»Sollst du aber. Gibt es wirklich keine Pferde mehr?«

»Tut mir leid, Pferde sind alle.«

»Aber ich wünsche es mir.«

Lambert schaute aus dem Fenster, um nicht lachen zu müssen. In der Scheibe sah er noch immer die Stewardess, als winziges Spiegelbild. Sie erhob sich seufzend und strich ihren Rock glatt, wie nach einem kleinen Abenteuer. Dann stand sie vor dem Kind und schüttelte den Kopf. Die Spiegelung verzerrte ihr Bild, was sie dicklich aussehen ließ. Lambert wünschte ihr, sie würde sich niemals so sehen.

Hinter dem Kabinenfenster war noch immer Nacht, aber der Himmel hatte bereits einen blauen Rand. Unter ihnen die Lichter eines Dorfes, eine Reihe langsam vorwärtsgleitender Scheinwerfer. Am Horizont erste Spuren von Dämmerung. Sie waren eben erst gestartet.

Lambert drehte sich zurück ins elektrische Licht der Maschine. Er zwinkerte der Stewardess zu. Sie zwinkerte zurück. Dann seufzte sie, zog das Halstuch zurecht und hockte sich wieder hin, eine Hand an der Schachtel mit dem Spielzeug, um zu zeigen, dass es nun genug sei. Das Mädchen ließ sich nicht davon beirren. Vornübergebeugt saß die Kleine neben ihm, fixierte mit beiden Ellenbogen die riesige Schachtel auf ihrem Schoß, während sie weiter in den Spielsachen kramte, unentschieden, welches sie wählen sollte. Eines nach dem anderen nahm sie in die Hand, betrachtete es ausführlich und legte es dann zurück.

Lambert stieß sie an und streifte seine Ärmel hoch, aus Gewohnheit. Als das Mädchen aufschaute, zeigte er ihr seine Handflächen. Sie waren leer. Dann begann er sich langsam die Hände zu reiben, von allen Seiten. Das Mädchen sah darauf wie auf zwei kleine fremde Wesen, die miteinander kämpften. Die Unterlippe hatte sie vorgeschoben, offenbar fühlte sie sich gestört. Gerade als sie sich wieder der Spielzeugkiste zuwenden wollte, fuhr Lamberts rechte Hand in die Luft und schnappte zu.

Er hatte tatsächlich etwas gefangen. Weiß blitzte es zwischen seinen Fingern. Das Mädchen schaute verblüfft, dann griff es nach der Hand, um nachzusehen, was darin war, aber Lambert gab seine Beute nicht preis. Einzeln bog das Mädchen ihm die Finger auf, bis er sich geschlagen gab.

Auf seiner Handfläche lag ein kleines weißes Pferd. Aus Plastik, mit einem Kettchen im Maul. Lambert überreichte es ihr. Das Mädchen sah ihn an, als sie das Pferd in die Hand nahm, verblüfft, begeistert und mit einem Funken Furcht.

Er stellte sich vor, und sie reichte ihm die freie linke Hand. Sie heiße Alexandra, aber er dürfe sie Sascha nennen. Lambert nickte. Er hoffte, dass Sascha sich an dem Aufdruck nicht störte, der sich in schwarzer Schrift über die Flanke des Pferdes zog: BESTATTUNGEN SCHIMMEL. Es war ein Schlüsselanhänger, ein Werbegeschenk. Er hatte es am Vortag überreicht bekommen und einfach in die Hosentasche gesteckt, als Erinnerung. Er hatte nicht vor, die Dienste des Instituts so bald wieder in Anspruch zu nehmen.

Der Kapitän kündigte leichte Turbulenzen an. Die eben erst erloschenen Anschnallzeichen leuchteten auf. Nur die Stewardess ließ sich in ihren Vorbereitungen für die Ausgabe des Frühstücks nicht unterbrechen.

Die Frau auf dem Gangplatz neben Sascha schlug ihr Buch zu. Ob sie einmal sehen dürfe. Das Mädchen hielt ihr das Pferd hin.

Über das Tier hinweg schaute die Frau ihn an. Blonde, ein wenig zusammengekniffene Augenbrauen, Hochsteckfrisur.

»Wo haben Sie das denn her?«

»Mein Vater wurde gestern beerdigt.«

»Das tut mir leid.«

Er nickte. Sascha ließ ihr neues Pferd die Gegend erkunden: Quer über ihren Schoß durfte es galoppieren, den einen Oberschenkel herauf, den anderen wieder hinunter. Am Ende machte es kurz Rast, schaute zur Seite und beugte sich dann vor, um ein wenig an Lamberts Knie zu grasen.

Es war das erste Mal, dass er nach Nordamerika flog. Es war, wenn er ehrlich war, sein erster Flug überhaupt. Nicht dass er dem Fliegen aus dem Weg gegangen wäre, es hatte sich einfach nie ergeben. Schon als Kinder waren sie niemals weiter gefahren, als man ohne Rast mit dem Auto bewältigte. Einmal hatte die Autobahn sie an einem Flughafen vorbeigeführt, und ein startendes Flugzeug war langsam über sie hinweggeschwebt. Das Bild seines Vaters, wie er sich am Steuer des Wagens unter dem riesigen Schatten duckte.

Draußen war es inzwischen heller geworden. Lambert wunderte sich, wie ruhig er war. Den Fensterplatz hatte er sich vorsorglich geben lassen, er hielt sich an den Dingen fest, die am Boden zu sehen waren: das Muster der Landschaft, Felder, Äcker, Ortschaften, ein Wald. Alles noch im Dämmer und unbestimmt wie die Flügelzeichnung einer Motte. Wo vom letzten Regen noch Wasser stand, zeigten sich verwaschene Flecken, die aussahen wie Schimmelpilze, sie griffen über die Grenzen der Felder hinaus, als schlummerte unter der Oberfläche eine andere, verborgene Aufteilung der Welt. Hier und da ein See, auch nicht unregelmäßiger geformt als die Dörfer. Dazwischen einzelne Linien, die er für Flüsse hielt, dabei hätten es ebenso gut Straßen sein können.

Von hier oben verstand er, wie es für Andrea gewesen sein musste. Beim Wandern im Sommer hatten sie sich über die Karte gebeugt, jeder von seiner Seite, und Lambert hatte so lange die Landschaft der Zeichnung mit der Landschaft verglichen, in der sie standen, bis er wusste, wo es weiterging. Nur Andrea fand sich nicht zurecht. Sie drehte die Karte in alle Richtungen und stellte absurde Vermutungen über ihren Aufenthaltsort an. Sie nahm das Bild als etwas eigenes, nicht als Stellvertreter, ihr fehlte der Blick für Höhenlinien. Irgendwann hatte er die Karte einfach zusammengefaltet und ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben. Was das denn jetzt solle, hatte Andrea gefragt, und es war zum Streit gekommen, weil sie sich wie ein Kind behandelt fühlte. Sie beruhigte sich erst wieder, als Lambert beteuerte, sie aus einem Überschwang von Zuneigung geküsst zu haben. Dabei hatte sie recht, manchmal benahm sie sich kindisch.

Jetzt, hier, in seinem Sitz unter der noch immer nicht erloschenen Aufforderung, den Sicherheitsgurt anzulegen, versuchte Lambert sich einzureden, er fliege über eine Landkarte. Aus der Luft jedenfalls wirkten die Konturen klar und schön, ganz wie im Atlas, nur durfte man den Blick nicht heben, wo sich im Westen der Horizont zu wölben begann. Kaum Dunst und darüber der offene Himmel, mit letzten Schattenrändern der Nacht. Das war beim besten Willen nicht der Rand einer Karte.

Verblüfft stellte Lambert fest, weniger Angst zu haben als erwartet, er war eher erregt, gespannt darauf, was es zu erleben gab, und womöglich nicht einmal wegen des Fliegens. Die Vorfreude, das Lampenfieber, dazu die Aufregung der vergangenen Tage, die Verwandtschaft mit all den Großonkeln und -tanten, von denen er die meisten niemals zuvor gesehen hatte. Das Hinausschieben der Erschöpfung und wie er sich endlich eingestehen musste, längst heillos am Ende zu sein. Am offenen Grab, als die Schlange der Kondolierenden kein Ende nehmen wollte, hatte ihn der Wunsch übermannt, sich einfach zu seinem Vater zu legen.

Es dauerte eine Weile, bis er merkte, warum es ihn am Knie kitzelte. Noch immer das Pferd.

Hätte das Mädchen nicht gefragt, ob er weine, Lambert hätte es wohl nicht einmal gemerkt. Er wischte sich den Augenwinkel und schüttelte den Kopf. Sie hielt ihm die Hand hin. Lambert zog die Nase hoch und schlug ein. Etwas Festes steckte zwischen ihren Handflächen, es stach ihm in die Haut. Das Pferd. Er ließ es in seiner Faust verschwinden, niemand hatte die Übergabe gesehen.

3

»Lambert?«

Er schreckte auf. Die Stewardess stand neben ihm und strahlte ihn an.

Lambert hatte nichts gegen Menschen, nicht prinzipiell. Aber er wusste gerne, woran er war. »Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Ich kann hellsehen.« Wieder zwinkerte sie ihm zu und tippte auf den Computerausdruck auf ihrem Wägelchen. »Sie sind die Laktoseunverträglichkeit.«

Bevor er antworten konnte, reichte ihm die Stewardess ein Tablett und klappte sein Tischchen herunter. Lambert konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, warum er laktosefreies Essen bestellt haben sollte, aber dann fiel ihm ein, dass er beim Abschicken der Buchung ein komisches Gefühl gehabt hatte, als sei er in etwas hineingeraten, wohin er nicht gehörte.

Nachdem alle drei Tee in ihren Plastikbechern hatten, bestand Sascha darauf, miteinander anzustoßen. Saschas Mutter hieß Viola. Ihr Ziel sei Chicoutimi. Auch beim dritten Versuch gelang es Lambert nicht, den Namen auszusprechen.

»Was ist das? Ein Kaugummi?«

»Eine Stadt. Fünf Stunden nördlich von Montreal. Wir wohnen dort.«

»Sorry. Nicht so gemeint.«

»Schon gut. Es ist ein Indianername: Bis wo das Wasser tief ist. Der Ort liegt am oberen Ende eines Sees.«

»Und was macht man in diesem … Chico?«

»Flugsicherheit. Wir überwachen den gesamten Nordatlantik. Überwachen klingt vielleicht etwas gewaltig, wir koordinieren die Daten.«

»Dann sind wir hier oben ja sicher.«

Sie verzog den Mund. Auch bei ihr stand die Unterlippe ein wenig vor, was seltsam aussah, aber, wie Lambert zugeben musste, einladend wirkte.

Sie seien in Münster gewesen, schaltete Sascha sich ein, um ihrem Großvater zu sagen, dass er noch einmal Großvater werde. Danach hätten sie einen Pferdehof besucht. Sascha erinnerte sich an jedes einzelne Tier und wusste von jedem den Namen. Lambert fragte nicht, warum der Großvater noch einmal Großvater wurde, und verkniff sich auch die Frage, ob sie am Flughafen erwartet wurden. Sie fragten ja auch nicht, ob ihn jemand zum Abflug begleitet hatte.

Und er? Fahre direkt nach Montreal, eine Einladung. Zu einem Auftritt. Ein Auftritt? Ach, Kleinkunst.

Der Druck auf seinen Ohren.

Die Sonne ging hinter ihnen auf, manchmal das Aufleuchten und Verlöschen eines einzelnen Dachfensters in der Ferne, wenn sie durch den Lichtstrahl flogen, den es zurückwarf. Unter ihnen nun einige Inseln, die Kontur ihrer Umrisse tatsächlich nicht weniger scharf gezeichnet als auf einem Messtischblatt. Lambert fiel ein, dass Küstenlinien länger wurden, je näher man sie betrachtete, maßlos, endlos, unentrinnbar, und vielleicht galt das für alles andere auch.

Dann waren sie darüber hinweg, über offener See, und gleich fehlte die Orientierung. Erst noch die Schiffe, aber in welche Richtung waren sie unterwegs? Bald nichts weiter als die unruhige Fläche des Meeres, und nicht einmal Gischt.

Die Stewardess stand in dem schmalen Durchgang, den der Vorhang zur Businessclass ließ, die Arme verschränkt, dass man glauben konnte, sie würde sich langweilen. Wieder war das Tonsignal zu hören, das Lambert eben aus seinen Gedanken aufgeschreckt hatte, ein Dreiklang, der nun unablässig wiederholt wurde. Dann meldete sich der Pilot und fragte, ob womöglich einer der Passagiere eine Sicherheitsnadel dabeihabe oder eine Haarnadel, vielleicht eine der Damen? Gelächter aus den Sitzreihen. Lambert nahm eine Bewegung hinter der Stewardess wahr, doch weil ihr Oberkörper den Blick verstellte, war nicht zu sehen, was vor sich ging. Er meinte zu erkennen, dass jemand Stück für Stück die Kabinenwand abriss, aber konnte das sein? War dies etwas, das während eines Transatlantikfluges geschehen sollte?

Die Stewardess drehte sich zur Seite, um selbst sehen zu können, was in ihrem Rücken geschah, und gab dabei für einen Moment den Blick frei auf einen Kerl im schwarzen T-Shirt, einen Schlüsselbund in der Hand, mit dem er ein Stück der Wandverkleidung aus der Halterung löste, um sie dann herunterzuziehen. Der ganze Boden war bereits mit den cremeweißen Plastikstreifen bedeckt. Stränge bunter Elektrokabel liefen kreuz und quer über die Wände, in allen Farben, in alle Richtungen.

Halt!, Halt!, Halt! Irgendwo aus Lamberts Innerem drangen Warnsignale. Ganz offenbar versuchten sie ihm mitzuteilen, dass er sich in einer heillosen Situation befand – in einer weit heilloseren, bedrohlicheren, verwirrenderen, als unter gewöhnlichen Umständen zu tolerieren war. Lamberts Bewusstsein dagegen beschäftigte noch immer allein der Umstand, dass hinter der Flugzeugwand nicht gleich der Himmel begann.

Er hätte es besser wissen können. Mit doppelten Böden kannte er sich aus. Lambert sah sich um: Weder Sascha oder Viola noch einer der anderen Passagiere nahmen von dem Vorfall Notiz. Die Stewardess hatte sich wieder zurückgedreht. Sie verschränkte die Arme unter ihren Brüsten und schaukelte dabei hin und her, als wiegte sie ein Kind. Vielleicht wollte sie sich selbst beruhigen. Hinter ihr war nun ein Zischen zu hören. Im Schlitz zwischen dem Vorhang und ihrer Uniformjacke erkannte Lambert, dass der Mann mittlerweile einen Feuerlöscher in der Hand hielt. Ganz offensichtlich war er im Begriff, die freigelegten Kabelstränge mit Löschschaum zu überziehen. Immer neue Ströme von Schaum quollen hervor und legten sich Schicht um Schicht auf die Kabel, bis die Wand so weiß war wie zuvor oder sogar noch etwas weißer.

4

Lambert biss sich auf den Zeigefinger, dass es kaum mehr auszuhalten war. Vor dem Fenster noch immer die graue See, die rasch näher kam. Lambert dachte an das Wort Sinkflug, um nicht an Absturz denken zu müssen. Mit dem einen hatte er so wenig Erfahrung wie mit dem anderen. Abgesehen von der eigentlichen Angst störte ihn das Gefühl des Ausgeliefertseins. Er hatte die Dinge gern unter Kontrolle. Lambert begann aufzuzählen, wer ihn vermissen würde. Als er bei Andrea war, legte Sascha ihm die Hand auf den Arm. »Alles klar? Ist was?« Lambert nickte ihr zu.

Wieder räusperte sich der Pilot. Seine Stimme klang noch immer entsetzlich vergnügt, doch Lambert meinte zu hören, dass die Sorge dem Vergnügen schon auf den Fersen war. In der Businessclass habe es einige Rauchwolken gegeben, a few puffs of smoke, womöglich ein Kurzschluss, und auf einmal konnte Lambert es riechen, den Geruch verschmorter Bremsgummis, aber hatten Flugzeuge Bremsen?

Die Unruhe griff rasch um sich, eilig sammelte die Stewardess die Frühstückstabletts ein. Weiter hinten begann ein Baby zu weinen, irgendwo sang jemand mit brüchiger Stimme ein Schlaflied.

Viola hatte den Arm um Sascha gelegt, ihre Hand stieß gegen Lamberts Schulter. Er hätte sie ebenfalls gerne umarmt, beide, aber er wusste nicht, ob es ihnen recht war. Lambert beugte sich zu Sascha hinunter und sagte, wie leid ihm das alles tue, dann brach er ab, weil es für Nachrufe womöglich noch nicht an der Zeit war. Aber wann, wenn nicht jetzt? Sascha schob wieder die Unterlippe vor. Lambert fragte sich, ob Violas nächstes Kind wohl auch diesen Gesichtsausdruck haben würde. Wenn es je auf die Welt kam.

»Und niemand weiß, was mit uns ist«, sagte Sascha.

Erneut meldete sich der Kapitän und kündigte an, eine Notlandung durchzuführen. On Shannon Island. Lambert hatte von einer Insel dieses Namens noch nie gehört. Er stellte sie sich klein vor. Ein paar unwirtliche Felsen im Nordatlantik, eine kurze Landebahn. Regen. Versprengte Schafe.

Vor dem Fenster dagegen war von einer Insel nichts zu erkennen. Direkt unter ihnen das Meer. Das Wasser sah kalt aus, in der gleichen Farblosigkeit wie der Himmel. Lambert versuchte sich die Instruktionen der Stewardess in Erinnerung zu rufen, die Leuchtpfeile am Boden, die Notausgänge, die Rutsche. Er durfte nicht vergessen, die Schwimmweste erst nach Verlassen der Kabine aufzublasen. Schon meinte er die kalte Luft zu spüren, schon sah er sich im Wasser, zwischen den anderen. Vereinzelte orangefarbene Punkte. An den Schwimmwesten befestigt die Notfallpfeifen, in die sie manchmal blasen müssten. Ein schrilles, verhallendes Konzert, wer könnte es hören? Abends würden sie die kleinen Signallämpchen entzünden, jeder für sich. Ein Meer aus Lichtern, das langsam auseinandertrieb.

Die Geschwindigkeit solcher Gedanken, die viel schneller waren als alles andere und nicht zu stoppen. Immerzu sprangen die Vorstellungen hin und her, während das Flugzeug mit erstaunlicher Ruhe weiterflog. Lambert löste den Blick nicht mehr von der riesigen Turbine vor seinem Fenster.

Sascha krallte ihre Hand in seinen Arm.

Endlich erreichten sie eine Küste, überflogen den Strand, Felsen, brach liegende Felder. Warum gingen sie nirgendwo runter, da war doch festes Land, und viel größer als erwartet. So schlimm konnte es nicht um sie stehen. Wie dicht über dem Boden sie flogen. Direkt unter seinem Fenster erkannte Lambert einige Häuser, eine Frau ging mit ihrem Hund und sah zu ihnen herauf. Der Schatten des Flugzeugs zog über sie hinweg. Lambert verlor sie aus den Augen.

Die Wiesen von einem leuchtenden Grün, was war das nur für eine paradiesische Insel? Lambert löste die Hand von der Armlehne, ein nasser Fleck blieb zurück.

Es war jetzt ganz ruhig geworden. Alle sahen aus den Fenstern, und niemand schien mehr zu atmen. Selbst die Kinder waren still. Über die Bordlauts

Niemand durfte, als sie endlich zum Stehen gekommen waren, seinen Sitz verlassen. Die Stewardess befestigte den Vorhang an der Seitenwand, die wenigen Passagiere der Businessclass saßen eng aneinandergedrängt in den ersten Reihen. Um sie herum ein Meer aus Löschschaum, Taschen, Mänteln und den mintgrünen Wolldecken der Fluggesellschaft. Die Kabinentür wurde geöffnet, ein Feuerwehrmann stürmte herein, mit Gasmaske, in voller Montur, hinter ihm kam ein zweiter und immer weitere. Sie verteilten sich im Flugzeug und schauten stumm umher, dann nahm der erste seine Maske ab und strich sich mit einem riesigen Handschuh die Haare aus der Stirn. Als hätte es auf dieses Zeichen gewartet, begann von hinten das Baby wieder zu schreien.

s

sS

SHANNON IRELAND. s