Titel
Zu diesem Buch
Anmerkung der Autorin
Widmung
Playlist
Teil 1
Prolog
Teil 2
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Teil 3
12
13
14
15
16
17
18
19
20
Teil 4
21
22
23
Teil 5
24
25
26
27
28
29
30
31
Teil 6
32
Danksagung
Westons Gedichte, englische Fassung
Die Autorin
Die Romane von Emma Scott bei LYX
Impressum
BRING DOWN THE STARS
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Inka Marter
College-Studentin Autumn ahnt nicht, dass die wunderschönen Gedichte und Zeilen, die ihr der attraktive Connor schickt, in Wirklichkeit von dessen bestem Freund Weston stammen, der sie heimlich liebt. Aber obwohl Autumn sich mehr und mehr zu Connor hingezogen fühlt, spürt sie zu Weston eine tiefe Verbindung, die über alles Körperliche hinausgeht. Ihr Herz ist zerrissen zwischen zwei Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Für Weston und Connor wird die gut gemeinte Täuschung bald zu einer Zerreißprobe. Was als freundschaftliche Dating-Hilfe begann, entwickelt sich zunehmend zu einem Lügengeflecht, dem sie nicht mehr entkommen können, ohne Autumn zutiefst zu verletzen. Für Connor würde Wes durchs Feuer gehen, hat er ihm und seiner Familie doch unendlich viel zu verdanken. Doch mit anzusehen, wie seine eigenen Worte Autumn in Connors Arme treiben, ist für ihn kaum zu ertragen. Und als Connor nach einem dramatischen Streit mit seiner Familie eine folgenschwere Entscheidung trifft, steht plötzlich noch viel mehr als nur ihre Freundschaft auf dem Spiel …
Dieses Buch wurde vorher geschrieben. Bevor mein Leben sich für immer verändert hat. Bevor ich in den dunklen Wald kam und merkte, dass ich den Weg, auf dem ich gekommen war, nicht zurückgehen konnte. Er war für immer versperrt. Diese Dilogie ist eine Geschichte über Veränderung und Überwindung unvorstellbarer Not. Es ist mir während meiner Karriere als Schriftstellerin so oft passiert, dass die Kunst und das Leben auf überwältigende Weise ineinandergreifen. Es gibt keine Zufälle. Ich kann nicht zurückgehen, nur vorwärts; also gebe ich euch dieses Buch aus der Zeit davor mit all meiner Hoffnung, besten Absichten und Liebe, denn die Zeit danach hat mich zuallererst gelehrt, dass nur Liebe wirklich zählt. Jetzt, damals und für immer.
Für Katy,
ein Geschenk des Universums, die Art Mensch, der Izzy, sobald sie sie gesehen hätte, um den Hals gefallen wäre.
Für Bill,
meinen Liebsten, meinen Partner in diesem Leben.
Wir haben uns fest an den Händen gehalten, als der Wald
so furchtbar dunkel wurde, und das tun wir immer noch,
während wir langsam wieder ins Licht treten.
All meine Liebe, Schatz. Immer.
Everclear: Father of Mine
Billie Eilish: Ocean Eyes
Ofenbach: Be Mine
Two Feet: I Feel Like I’m Drowning
Morgan Saint: Just Friends
Mumford and Sons: Little Lion Man
Lord Huron: The Night We Met
Sir Sly: &Run
The 1975: Give Yourself a Try
»Fast leer«
von Weston J. Turner (12)
Ich war sieben Jahre alt, als mein Vater uns verlassen hat. Er hat an dem Morgen geduscht, sich rasiert, einen Anzug angezogen und sich die Krawatte gebunden, genau wie immer. Hat seinen Kaffee an der Küchentheke getrunken, während wir gefrühstückt haben, genau wie immer. Er hat Ma auf die Wange geküsst, meinen Schwestern und mir gesagt, dass wir brav sein sollten, und ist mit seinem Nissan Altima losgefahren. Genau wie immer.
In der Schule, in Mathe bei Mr Fitzsimmons, hatte ich ein komisches Gefühl im Bauch. Mittags war mir übel und heiß. Ich habe es gerade noch zu dem großen grauen Abfalleimer hinter den Tischreihen in der Cafeteria geschafft, bevor ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt habe.
Die Aufsicht hat mich zur Krankenschwester geschickt, und die Krankenschwester rief Dad an, aber er war nicht im Büro. Ma musste mich abholen und hat die ganze Zeit gemeckert, dass sie von der Arbeit den Bus nehmen musste – Dad fuhr unser einziges Auto.
Ma und ich stiegen aus dem Neuner und gingen die Straße entlang nach Hause. Wir wohnten in Woburn, nördlich von Boston, in einem schäbigen kleinen Haus mit blauen Wänden und einem weißen Dach am Ende einer Sackgasse. Vor dem Haus stand mein Vater mit zwei großen Koffern. Einen legte er gerade in den Kofferraum, der andere stand neben ihm auf dem Boden. Als er uns sah, erstarrte er.
Ma ging schneller, dann lief sie und fragte lauter und lauter, was mein Vater da machte. Sie ließ meine Hand los, weil ich nicht mit ihr mithalten konnte, und ließ mich auf dem Bürgersteig stehen, während sie auf ihn zu rannte. Sie redeten, aber ich konnte nicht hören, was sie sagten. Mein Kopf war durch das Fieber wie in Watte gehüllt.
Ma sah ängstlicher aus, als ich sie je gesehen hatte. Sie fing an zu weinen, dann schrie sie. Dad redete mit leiser Stimme, dann hob er genervt die Hände und knallte den Kofferraum zu. In meinem Fieberwahn klang es unglaublich laut. Wie eine Bombe, die explodierte. Ein Meteor, der unser Zuhause zertrümmerte und einen riesigen Krater hinterließ. Ein Loch, das in die Mitte eines jeden von uns gesprengt wurde.
Dad riss sich von meiner Mutter los, die nach ihm griff und schlug, und stieg ins Auto. Ma schrie und schrie, was er für ein Mann sei, und brach dann zusammen. Sie fiel auf die Knie und schluchzte und sagte, er solle abhauen und nie wiederkommen.
Dad fuhr los, durch den Wendekreis der Sackgasse. Als er mich erreichte, wurde er langsamer und winkte kurz hinter dem geschlossenen Fenster. Seine Züge waren vor lauter Schuldbewusstsein so verzerrt, dass ich ihn kaum noch erkannte.
Ich schüttelte den Kopf und trat gegen die Beifahrertür.
Er fuhr weiter. Ich schlug mit der Hand auf den Kofferraum. Nein!
Er hielt nicht an.
Eine Sekunde lang stand ich dort und sah das Auto wegfahren. Das Blut rauschte mir in den Ohren, und mein Gesicht glühte. Dann rannte ich los. Ich rannte ihm, so schnell ich konnte, hinterher. Und ich schrie, so laut ich konnte. Heiße Tränen liefen mir über das brennende Gesicht.
Ob er mich im Rückspiegel gesehen hat? Das muss er. Einen siebenjährigen Jungen, der seinem Dad hinterherschreit, dass er zurückkommen soll, während er so schnell läuft, wie seine Füße ihn tragen. Nicht schnell genug.
Er gab Gas, bog um die Ecke und war weg.
Es war, als hätte er mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich stolperte und fiel auf den Asphalt, schürfte mir Knie und Handflächen auf. Mein Atem ging keuchend und schwer.
Später fanden wir heraus, dass er schon vor Wochen den Job gekündigt und seit drei Monaten die Hypothek nicht mehr bezahlt hatte. Das Geld hatte er für seine Flucht gespart.
Hat er sich gefragt, was wir machen würden, nur mit dem Geld, das Ma mit dem Haareschneiden verdiente? Hat es ihm etwas ausgemacht, dass wir unser kleines Haus in Woburn verlieren würden? Hat er sich in den kommenden Monaten jemals gefragt, ob wir ihn vermissten? Hat er überlegt, ob meine Schwestern und ich uns die Schuld geben würden, was wir natürlich taten? Wären wir gut genug gewesen, wäre er ja geblieben.
Oder er hätte uns mitgenommen.
Stattdessen hat er seine Kleider und seine Sachen aus dem Bad mitgenommen. Er hat den Schrank und die Schubladen komplett geleert und alles mitgenommen … bis auf eine Herrensocke. Schwarz mit Goldfaden am Zeh.
Ich betrachtete die einsame Socke in der Schublade und stellte mir die andere vor, die jetzt in seinem Gepäck mit ihm reiste – wohin auch immer. Er machte sich nicht die Mühe, die zweite auch zu holen.
Genau wie wir war sie es nicht wert, dafür extra umzukehren.
Er ließ seine Kinder zurück wie die Socke in einer fast leeren Schublade, und es war tausendmal schlimmer, als wenn er überhaupt nichts zurückgelassen hätte.
Die Bank bekam das Haus. Ma fing an, abends sehr viel Bier zu trinken, und musste Onkel Phil um Geld bitten, damit wir eine Wohnung in Southie bekamen.
Ich verbrannte die Socke.
Ich war erst sieben, aber die Wut in mir fühlte sich so viel größer an. Heißer. Wie ein Fieber, das nie weggehen würde. Ich musste sehen, wie die Socke zu Asche wurde. Damit ich, wenn Dad doch zurückkäme, um sie zu holen, sagen könnte: »Sie ist weg. Ich habe sie verbrannt. Hier gibt es nichts mehr für dich.«
Er würde sagen, dass es ihm leidtäte, und ich würde sagen, dass es zu spät sei, und ihn wegschicken. Ich hätte die Situation im Griff, und wenn er dann mit dem Auto wegfuhr, würde ich ihm nicht hinterherlaufen.
Aber das ist fünf Jahre her. Er kommt nicht zurück.
»Du hast nur dieses eine Hemd, also mach es nicht dreckig. Hast du gehört?«
Ma zog mir die braun-goldene Krawatte so fest um den Hals zu, dass ich eine Grimasse schnitt. »Wenn du schmutzig nach Hause kommst, kann ich nichts für dich tun. Willst du aussehen wie ein armer Schlucker aus Southie?«
»Ich bin ein armer Schlucker aus Southie«, sagte ich, woraufhin Ma noch energischer an der Krawatte zerrte.
Sie drohte mir mit dem Zeigefinger, und das Bier von gestern Nacht war noch in ihrem Atem zu riechen. »Pass auf, was du von dir gibst, sonst werfen sie dich raus, bevor du überhaupt angefangen hast.«
Heilige Ironie, Batman.
Für das, was ich von mir gab, hatte ich das Stipendium für die teuerste Schule in Boston überhaupt erst bekommen. Mein Aufsatz hatte dreitausend andere Einsendungen geschlagen und mir ein Vollstipendium für die Sinclair Preparatory School für Jungen eingebracht. Leider gab es bloß niemanden, der mich hinfuhr. Also musste ich jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen, um den Bus der Linie 38 in die Innenstadt zu kriegen.
Ich betrachtete mich im Spiegel an der Rückseite der Tür und erkannte mich kaum. In der staatlichen Schule hatte ich jeden Tag Jeans und ein T-Shirt getragen. Wenn Schulfotos gemacht wurden, ein Langarm-Shirt. Im Winter eine Jacke. Jetzt sah ich mich in einem braunen Blazer mit Goldpaspeln, schwarzer Hosen und dem weißen Hemd mit dem Sinclair-Logo. Ich fragte mich, wen der Typ im Spiegel verarschen wollte.
»Hör auf zu zappeln«, sagte Ma und machte sich an meinem Haar zu schaffen.
Sie hatte es kurz geschnitten, nur vorn etwas länger gelassen. Sie war Friseurin unten in Bettys Salon und verstand was von ihrem Job.
»Richtig gut siehst du aus.«
Ich duckte mich unter ihrer Hand weg und zog eine Grimasse. »Ich sehe aus, als hätte man mich für Gryffindor eingeteilt.«
Ma schnaubte. »Was redest du da für einen Quatsch? Du siehst großartig aus. Genau wie einer von denen.«
Einer von denen.
Ich blickte auf meine alten, abgetragenen Chucks hinunter. Sie waren das einzige, was gleich geblieben war, und ein klares Zeichen, dass ich niemals ›einer von denen‹ sein würde. Die anderen Jungen würden geschnürte Halbschuhe tragen, aber Schuhe wurden nicht mit der Uniform geliefert, und Ma konnte sich diesen Monat keine leisten. Vielleicht nächsten Monat. Vielleicht nie. Mir war nie absolut recht. Man kann in Halbschuhen nicht laufen.
Ich lief viel. Wenn ich wütend war, lief ich, so schnell und so lange ich konnte, über die alte, löchrige Bahn, die zu meiner alten Schule gehörte. Ich weiß nicht, warum. Es machte mir nicht besonders viel Spaß zu laufen, aber ich war schnell. Ich träumte noch immer davon, wie ich Dads Auto hinterherlief; also lag es vielleicht daran. Vielleicht versuche ich immer noch, ihn einzuholen. Total dämlich. Auf einer Bahn läuft man immer nur im Kreis. Man kommt immer genau dort an, wo man losläuft.
»Keine Prügeleien, Weston Jacob Turner«, sagte Ma an diesem Morgen, packte mein Kinn und zwang mich, sie anzusehen. Mit einem ihrer langen Acrylnägel berührte sie meinen Nasenrücken, wo ein Bruch nicht glatt geheilt war. »Du kannst in dieser schicken Schule nicht einfach weitermachen wie hier. Eine Prügelei, und du bist draußen.«
Auch das tat ich, wenn ich wütend war. Ich prügelte mich. Ich war ziemlich häufig wütend.
Ich entzog ihr das Kinn mit einem Ruck. »Und wenn mich einer von denen ärgert?«
»Lass dich nicht provozieren. Glaubst du, die Schulleitung hört dich genauso an wie diese reichen Kids? Die Eltern von denen spenden.« Ma zündete sich eine Zigarette an und schüttelte das blondierte Haar. Sie kniff die Augen gegen den Rauch zusammen und zeigte mit der Zigarette auf mich. »Prügel dich mit ihren Kindern, und du verlierst, obwohl du gewinnst. Vor allem, wenn du gewinnst.«
Es war noch dunkel draußen, als Ma mir einen nach Rauch riechenden Kuss auf die Wange drückte und sagte, ich solle endlich losgehen, damit sie sich wieder hinlegen könne. Meine Schwestern im anderen Zimmer schliefen noch. Eigentlich waren sie alt genug, um sich einen Job zu suchen und auszuziehen, aber stattdessen hatten sie das große Zimmer in Beschlag genommen. Ich hatte das kleine Zimmer hinter der Küche. Ma hatte die Couch. Sie schlief jede Nacht inmitten leerer Bierdosen vor dem laufenden Fernseher ein und bewahrte ihre Sachen im Schrank im Flur auf.
Als wir vor der Schule ankamen, hatte der 38er Bus sich geleert, und ich saß auf einem Fensterplatz. Die Schule hatte Säulen und Statuen – es war eines der alten historischen Gebäude aus der Zeit der Revolution, nicht weit von der Trinity Church. Ich war zwanzig Minuten zu früh für die erste Stunde, als ich die Stufen zu der schweren Eingangstür hinaufstieg. Ich ging durch die ruhigen Gänge, wo Lehrer ihre Klassenräume vorbereiteten, und versuchte zu vermeiden, dass meine Chucks auf dem gebohnerten Fußboden quietschten.
Die Bibliothek am Ende des Hauptgangs war ruhig. Kühl. Überall glänzendes braunes Holz – Tische, Stühle, Böden, Bücherregale. Ich konnte nicht glauben, dass das eine Schulbibliothek war. Sicher, es war eine sehr gute Schule, und es gab eine Oberstufe, aber wenn man sich die Bücher ansah, konnte man es trotzdem nicht glauben.
Ich fuhr mit den Fingern über die Buchrücken. Erwachsenenbücher. Bücher, wie sie meine Schwestern in der öffentlichen Bibliothek für mich ausliehen, wenn ich sie lange genug damit nervte. Bücher mit Sex und Schimpfwörtern und Erwachsenenproblemen. Die mochte ich lieber als die für Kinder. Meine Probleme fühlten sich nicht an wie Kinderprobleme. Wenn dein Dad dich wie eine vergessene Socke zurücklässt, endet ein Teil deiner Kindheit – der Teil, in dem du einfach Kind sein kannst, ohne dir Sorgen zu machen.
Ich machte mir ständig Sorgen. Über Ma und dass sie immer so viel Bier trank und sich bei meinen Schwestern beklagte, dass Männer Abschaum waren und den Frauen, die sie angeblich liebten, am Ende sowieso nur wehtaten. Sie wusste nicht, dass ich zuhörte, aber das tat ich.
Ich machte mir Sorgen über die schäbigen Typen, die über die Jahre in unserer Wohnung ein und aus gingen. Abschaum, genau wie Ma sagte. Vielleicht hatte sie recht mit den Männern. Ich machte mir Sorgen, dass auch ich zu Abschaum werden würde, wenn ich erwachsen war, und den Frauen wehtäte, die ich eines Tages lieben würde. Also schwor ich mir, nie jemanden zu lieben.
Ich machte mir Sorgen um Geld. Nicht meinetwegen. Ich kam schon zurecht. Aber Ma hatte ein Magengeschwür, weil sie sich wegen der Rechnungen Sorgen machte, und schluckte fast so viele Magentabletten wie Bier. Erst letzten Monat hatten sie drei Tage lang das Wasser abgestellt, bis Onkel Phil die Rechnung bezahlt hatte.
Dass ich dieses Stipendium gewonnen hatte, würde meiner Familie helfen. Ich würde auf ein gutes College kommen, einen guten Job kriegen, und vielleicht könnten wir die Sorgen für eine Weile vergessen.
In der Bibliothek suchte ich nach einem meiner Lieblingsbücher. Wendekreis des Krebses von Henry Miller. Sie hatten es nicht. Es war sehr deutlich für Erwachsene geschrieben. Ich hatte es zwei Mal gelesen, manche Teile sogar öfter – unter der Decke in meinem Zimmer mit meinem Notizbuch oder einer Handvoll Taschentücher zur Hand. Oder beidem.
Henry Miller schrieb über verlauste Betten in Pariser Wohnungen und darüber, hungrig zu sein. Immer hungrig.
Ich war auch oft hungrig.
Miller schrieb über Frauen und benutzte Schimpfwörter für ihre Körperteile. Was er schrieb, brachte mich dazu, zu Notizbuch und Stift zu greifen und meine eigenen Worte aufzuschreiben. Ich würde keine Frau lieben, aber ich könnte über den Sex schreiben, den ich eines Tages haben würde, oder aus sicherer Entfernung ihre Schönheit bewundern. Ich würde Gedichte schreiben statt Bücher; da wählte man nur die wichtigsten Worte aus und musste nicht sagen, von wem sie handelten. Es waren nur Gedichte, und Gedichte konnten von allen handeln oder von niemandem.
Und schreiben half jedenfalls. Wenn ich schrieb oder mir einen runterholte, hörte ich auf, mir Sorgen zu machen.
Ha! Das hätte ich in meinem Aufsatz schreiben sollen.
Sie entdeckten mich beim Mittagessen in Sinclairs Gourmet-Cafeteria, wo ich Kerouacs Unterwegs las und Spaghetti und grüne Bohnen aß.
Eine warme Mahlzeit am Tag – abgehakt.
»Sieh mal. Der Sozialfall.«
Jason Kingsley. Ich hatte schon alles über ihn gehört, und es war gerade mal Mittag. Er rutschte auf die Bank mir gegenüber, während seine reichen Kumpels sich zu beiden Seiten neben mich setzten.
»Wie hast du mich genannt?«, fragte ich, und mein Herz schlug den schweren, langsamen Beat der Angst.
»Du hast den Wettbewerb gewonnen, oder?«, fragte Jason. »Mit dem Aufsatz über deinen Dad, der deine Familie verlässt?«
Langsam legte ich das Buch weg und staunte, dass meine Hände nicht zitterten, da sich die Scham in mir wie ein Lauffeuer ausbreitete und meine Haut heiß brannte.
»Jepp«, sagte ich. »Das bin ich.«
Wie zum Teufel …?
»Sie haben deinen Aufsatz auf der Webseite der Schule veröffentlicht«, sagte der Rothaarige mit der unreinen Haut, der sich direkt neben mich gedrängt hatte. »Hast du das gewusst?«
»Der hat das so was von nicht gewusst«, sagte Jason und beobachtete mich.
Ein paar der Typen kicherten.
Verdammte, beschissene Scheiße.
Eine der Teilnahmebedingungen des Wettbewerbs war gewesen, dass die Schule den besten Aufsatz veröffentlichen durfte, wo auch immer sie wollte. Als ich das verdammte Ding eingeschickt hatte, hatte ich nicht geglaubt, den Hauch einer Chance zu haben. Es war nicht wichtig gewesen.
Jetzt war es wichtig.
»Dein Dad ist also abgehauen und hat die Socke dagelassen?«, fragte der Rothaarige. »Muss ätzend sein, du zu sein.«
»Total ätzend, Sockenboy«, sagte Jason, schnappte sich eine Bohne von meinem Tablett und kaute sie. »Mann, musst du dich scheiße fühlen.«
»Sockenboy«, kicherte der Rothaarige. »Der ist gut, Jason.«
»Echt jetzt? Sockenboy?«, sagte ich. »Was Besseres fällt dir nicht ein?«
»Ich weiß nicht«, sagte Jason steif und schob das Kinn vor. »Vielleicht bist du nicht mehr wert als Sockenboy.«
Der Rothaarige drückte an einem Pickel an seinem Kinn herum. »Glaubst du, dir fällt etwas Besseres ein?«
»Mir fällt spontan ein Riesenhaufen besserer Beleidigungen ein.«
»Beweis es.«
»Klar. Kein Problem.«
Ich ließ die Knöchel knacken und dachte rasch nach. Aber die Beleidigungen kamen mir nur so zugeflogen. Seit Dad gegangen war, hatte ich mir dieses Messer tausend Mal im Bauch umgedreht.
»Wie wär’s mit … Dein Dad hat die Familie verlassen, und dir bleibt nichts als eine lausige Socke?«
Gekicher.
Jason verschränkte die Arme. »Lahm.«
Ich zuckte beiläufig mit den Schultern, während mein Hirn aufheulte wie der Motor eines Rennwagens an der Startlinie. »Okay. Du hast Glück: An dem Tag, an dem alle ihr Kind zur Arbeit mitbringen, kannst du zu Hause bleiben.«
Der rothaarige Junge lachte grunzend und erntete einen bösen Blick von Jason. Ich machte weiter, und mein Publikum erwärmte sich schnell für mich. Mit jeder Beleidigung, die ich mir selbst an den Kopf warf, gingen die Typen mehr mit, hielten sich die Hände vor den Mund, lachten und grölten wie bei einem Rap-Battle, bei dem ich Angreifer und Opfer zugleich war.
»Scheiße, dass dein Vater keinen Unterhalt zahlt, aber immerhin hat er dir den Sparstrumpf dagelassen … Wenn du ein Gespräch von Mann zu Mann brauchst, gibt deine Mom dann eine Kleinanzeige auf? Bist du jetzt bei den Zeugen Jehovas? Die feiern auch keinen Vatertag.«
Die Typen brüllten inzwischen vor Lachen, aber Jason biss offenbar die Zähne zusammen.
Ich beugte mich über den Tisch. »Klopf, klopf«, sagte ich und starrte ihn an.
»Verpiss dich.«
»Klopf, klopf.«
Er rümpfte die Nase und sah mir nicht in die Augen. »Das ist total bescheuert.«
Ich legte den Kopf schief und betrachtete den Rest des Tisches. »Klopf, klopf.«
»Wer ist da?«, riefen die Typen einstimmig.
»Keine Ahnung«, sagte ich, »aber nicht dein Dad, das ist mal sicher.«
Das Gelächter schien Jason in den Rücken zu treffen. Er beugte sich vor und verzog das Gesicht, als würde ich ihn beschimpfen und nicht mich selbst.
»Du siehst verwirrt aus, Kumpel«, sagte ich. »Soll ich dir den erklären?«
»Du glaubst wohl, dass du verdammt clever bist«, sagte Jason. »Du hast dich gerade zehn Mal selbst beleidigt. Aber weißt du was?« Er lächelte düster. Er hatte die schlichte Wahrheit auf seiner Seite, und er wusste es. »Du kannst dich für noch so schlau halten. Du bist nur Sockenboy, und mehr wirst du nie sein.«
Blitzschnell streckte er die Hand aus und schubste mir das halbvolle Essenstablett auf den Schoß. Die Hose und das weiße Hemd waren voller Spaghettisoße.
»Hoppla!«, sagte Jason und stand auf. »Mein Fehler.«
Ich sprang auf die Füße, ignorierte die warme Spaghettisoße an meinem Bauch und starrte ihn an, Nase an Nase. Meine Fäuste waren so fest geballt, dass sie wehtaten. Jason wich nicht zurück, und die ganze Cafeteria verstummte und sah zu.
»Los«, flüsterte Jason leise und wütend. »Schlag zu. Ich hab sechs Zeugen, die sagen werden, dass es ein Versehen war. Und du wirst dein kostbares Stipendium verlieren. Willst du das riskieren, Sockenboy?«
Ich wollte mich prügeln. Aber wenn ich ihn schlug, würde man mich rauswerfen. Petzen kam nicht infrage. Also würde ich es dabei bewenden lassen müssen wie ein verdammter Trottel.
»Was ist los, Jungs?«, fragte eine freundliche Stimme.
Am Rand meines Gesichtsfelds sah ich einen großen Typen, dunkles Haar, kräftig. Er sah älter aus als wir anderen.
Viele der Kids redeten viel am ersten Schultag, informierten die neu eingetroffenen Siebtklässler über ihren Platz in der Hierarchie der Sinclair. Jefferson Drake, Footballspieler in der Oberstufe, war der beliebteste Schüler von allen. Der König von Sinclair. Sein kleiner Bruder Connor war der Prinz.
Das musste er sein.
Connor hatte lässig die Hände in die Taschen geschoben, fast, als gehörte ihm die Schule, und nicht, als wäre er einfach ein weiterer Zwölfjähriger.
Jason grinste höhnisch und wandte sich ab. »Nichts«, sagte er. »Sockenboy hier hatte einen kleinen Unfall.«
»Schon klar«, sagte Connor und betrachtete stirnrunzelnd die Spaghettisoße auf meiner Schuluniform. »Warum musst du so ein Arschloch sein, Kingsley?«
»Bin ich nicht. Nur irgendwie ungeschickt«, sagte Jason, aber er trat zurück. »Man sieht sich, Sockenboy. Pech mit deinem Hemd.« Er schnalzte mit der Zunge. »Du kannst ja noch einen Aufsatz schreiben. Nenn ihn ›Waschtag‹. Vielleicht bezahlt die Schule dir dann eine neue Uniform.«
»Vielleicht macht das deine Mutter«, sagte Connor grinsend.
Jason lachte, und die beiden stießen die Fäuste aneinander. »Wir sehn uns beim Training, Drake.«
»Ich hoffe es. Du hast es nötig.«
Jason zeigte ihm beide Mittelfinger und ging mit seinen Leuten.
Was für Scheißtypen, dachte ich.
Wütend wischte ich die kalten Spaghetti von meiner Hose. Die war schwarz, und man sah die Flecken nicht, aber mein Hemd sah aus, als hätte ich einen Bauchschuss abgekriegt.
»Mist.«
»Hast du ein Ersatzhemd?«, fragte Connor.
»Verpiss dich.«
Er hob die Hände. »Hey, ich will nur helfen. Ich hätte eins, und ich wohne nicht weit weg. Wenn wir jetzt losgehen, können wir vor der nächsten Stunde zurück sein.«
Ich sah ihn aus schmalen Augen an.
»Entweder das, oder du siehst den Rest des Tages aus wie ein Statist in einem Horrorfilm.«
Das freundliche Grinsen stand ihm anscheinend dauerhaft ins Gesicht geschrieben.
»Warum solltest du mir helfen?«
Er runzelte die Stirn. »Warum sollte ich nicht?« Er hielt mir die Hand hin. »Ich bin übrigens Connor Drake.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
Connor lachte und ließ die Hand sinken. »Komm schon. Du musst dich umziehen, oder?«
Ich biss die Zähne zusammen. »Ich denke schon.«
»Dann komm.«
Er ging los. Ich folgte ihm.
»Du bist neu, oder? Letztes Jahr warst du noch nicht hier.«
»Sag bloß. Ich bin Wes Turner, der Sozialfall.«
Connors dunkle Brauen zogen sich zusammen. »Sozialfall? … Oh, du bist das? Der Aufsatz? Das erklärt den Spitznamen, den Kingsley dir verpasst hat. Hey, nimm ihn nicht zu ernst. Er ist gar nicht so übel. Wir kennen uns seit dem Kindergarten.«
»War er die ganze Zeit ein Arsch?«
Connor lachte. »So ziemlich.« Er hob das Kinn, als wir an dem Sicherheitsmann am Eingang vorbeikamen. »Hey, Norm. Ich geh nur kurz nach Hause, um für meinen Freund hier was zu holen.«
Norm, der Sicherheitsmann, öffnete Connor Drake die Tür wie ein Türsteher in einem schicken Hotel. »Aber sei rechtzeitig zur nächsten Stunde zurück.«
»Klar doch.«
»Wie hast du das gemacht?«, fragte ich, als wir die Schule verließen und in das Licht des Septembernachmittags traten. »Man darf mittags nicht raus.«
»Meine Eltern spenden viel Geld«, sagte Connor mit diesem Megawatt-Grinsen. »Sehr viel Geld.«
Wir gingen um die Ecke und dann die Dartmouth Street hinunter, die in ein Viertel mit alten, eleganten Stadthäusern aus gelbbraunem Sandstein mit schwarzen Eisenbeschlägen führte. Connor und ich gingen über Fußwege aus rotem Backstein an altmodischen Straßenlaternen vorbei. Der ganze Block sah aus wie ein einziges gigantisches Schloss.
»Gratuliere übrigens zum Stipendium«, sagte Connor. »Ich habe gehört, dass es viele versucht haben. Dein Aufsatz war wirklich gut.«
Ich ließ die Schultern sinken. »Du hast ihn auch gelesen?«
»Meine Eltern konnten sich gar nicht wieder einkriegen. Ich musste ihn zwei Mal lesen.«
Verfickte Scheiße.
»Er war ganz gut«, murmelte ich. Ich wartete darauf, dass Connor mich wegen der dämlichen Socke aufzog. Er tat es nicht.
»Er war besser als ganz gut«, sagte Connor. »Du hast Glück. Ich kann beim besten Willen nicht schreiben. Und ich hab Mr Wrightman in Englisch, war ja klar.«
»Ich habe Wrightman auch«, sagte ich vorsichtig. »Ist er streng?«
»Der Strengste«, sagte Connor. »Man muss echt viel schreiben bei ihm. Kurzgeschichten, lange Geschichten … Ich hab gehört, dass er uns sogar Gedichte schreiben lässt. Beschissene Gedichte.«
Ich fühlte mich etwas besser. »Ja, blöd.«
»Du sagst es.« Connor warf mir einen Blick zu. »Aber du kriegst das wahrscheinlich hin. Willst du das werden, wenn du groß wirst? Schriftsteller?«
Gestern hätte ich wahrscheinlich noch Ja gesagt, aber Sockenboy hatte mir gezeigt, dass ich nicht bereit war, die Folgen zu ertragen. Ich hatte heimlich geschrieben, sodass es mir nicht schaden konnte. Ich hatte es satt, verletzt zu werden. Dass mein Dad gegangen war, hatte mir mit brutaler Deutlichkeit gezeigt, welchen Preis es hatte, Gefühle zu haben und etwas zu wichtig zu nehmen. Ich wollte immer noch schreiben, aber ich würde es mir nicht zur Gewohnheit machen, mein Herz auszuschütten, damit man mir hinterher deswegen blöd kam. Garantiert nicht.
»Ich bin mir noch nicht sicher.« Ich sah zu ihm auf. »Und du?«
Er grinste breiter. »Ich will eine Sportsbar aufmachen. Wie das Cheers, kennst du das? Ich will in der Mitte stehen und auf jedem Fernseher ein Spiel sehen. Ich liebe Baseball. Magst du Baseball?«
Bevor ich antworten konnte, fuhr er fort: »Ich könnte den ganzen Tag über Baseball reden. Und Hockey. Ich will diesen Laden aufmachen, wo die Leute abhängen können, über Sport reden oder sich ein Spiel ansehen und einfach Spaß haben.«
Ich nickte. »Scheint dir zu liegen.«
Gott, schon mit zwölf schien Connor Drake auf diese Erde gekommen zu sein, um eine Sportsbar zu eröffnen. Aber sein Grinsen verdüsterte sich.
»Sag das mal meinen Eltern. Sie finden, ich sollte auf ein Ivy-League-College gehen und etwas ›Bedeutendes‹ machen. Hilft nicht gerade, dass mein Bruder Jefferson ganz scharf auf bedeutend ist.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Der Gedanke, etwas »Bedeutendes« zu werden, schien für einen mittellosen Jungen wie mich unmöglich. Es wäre schon ein Wunder, wenn ich auf ein gutes College ginge und einen anständigen Job bekäme, um meine Ma ein bisschen zu unterstützen.
»Du bist aus Southie, oder?«
»Ja«, sagte ich.
»Und wie ist das so?«
Ich sah sofort rot. »Wie ist was? In einer miesen Wohnung zu wohnen und auf Almosen angewiesen zu sein, um eine anständige Schule bezahlen zu können?«
Connor ließ sich durch meinen schroffen Tonfall nicht vor den Kopf stoßen – ein Zug, der über Jahre unserer Freundschaft Bestand haben würde. Der Kleber, der sie viele, viele Male nicht zerbrechen ließ.
Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Hier ist alles oft so kompliziert … obwohl es das gar nicht sein müsste. Ich hab’s lieber einfach, weißt du?«
Ich sah ihn finster an. »Arm zu sein ist verdammt einfach. Du brauchst für jeden Scheiß Geld und hast es nicht. Ende.«
»Ja, muss ätzend sein«, sagte er, und irgendwie wollte ich ihm keine dafür reinhauen, dass er so gleichgültig über das große Problem in meiner Welt sprach.
Connor hatte ein merkwürdiges Charisma. Als wäre es unmöglich, ihn nicht zu mögen. Seine Superkraft. Ich war das Gegenteil. Ich machte es den Leuten wirklich leicht, mich nicht zu mögen. Es war mir lieber so. Und doch war ich mit dem beliebtesten Jungen meiner Stufe unterwegs – und er hatte Norm, dem Wachmann, sogar gesagt, dass ich sein Freund sei.
Meine Verwirrung nahm noch zu, als Connor mit dem Kinn nach vorn deutete. »Da sind wir.«
Ich starrte mit offenem Mund. Ein vierstöckiges viktorianisches Stadthaus in rustikalem Beige mit schwarzen Fensterrahmen. Die Art Haus, die man in Broschüren über das historische Boston sah. Eine Treppe führte vom Backsteingehweg zu einer schwarzen Doppeltür mit Buntglasfenstern hinauf.
»Das ist euer Haus?«, fragte ich.
»Eins davon«, sagte Connor grinsend und klang trotzdem nicht wie ein arrogantes Arschloch.
Ich starrte dieses Haus an, nahm es wortlos in mich auf, weil mein Gehirn einfach nicht begriff, dass Menschen wirklich in Häusern wohnten, die in Broschüren abgebildet waren. Connor war nicht einfach nur reich; seine Familie musste milliardenschwer sein. Ich fragte mich, ob seine Eltern berühmt waren. Er sah ein bisschen berühmt aus – wie einer, den man für einen Film über einen beliebten Baseballspieler casten würde, der einen armen Jungen unter seine Fittiche nimmt. Ein Typ, der zu glücklich ist, um andere zu tyrannisieren oder ein Arschloch zu sein, und der auf der unendlichen Welle des Geldes seiner Eltern durchs Leben surft.
Es stellte sich heraus, dass ich mit allem recht hatte. Und der arme Junge, den Connor Drake unter seine Fittiche nahm, war ich.
Die Putzfrau der Drakes wusch mein Hemd und gab mir eines von Connors alten. Nach der Schule gingen wir wieder zu ihm, saßen auf Sitzsäcken aus schwarzem Leder und spielten mit seiner Xbox, die an sein supermodernes Soundsystem angeschlossen war.
Connor fragte, ob ich zum Essen bleiben wollte, und ich lernte seine Eltern kennen. Victoria und Allen Drake.
Mr Drake besaß hundert verschiedene Unternehmen unter dem Namen Drake, und Mrs Drake war Senatorin. Bostoner Adel oder jedenfalls ziemlich nah dran.
Bei den Drakes bekam ich ein so aufwendiges Dinner, wie ich es bisher nur in Filmen über reiche Leute gesehen hatte. Unter dem schweren Kristalllüster in ihrem riesigen Esszimmer spürte ich etwas von dem Druck, dem Connor ausgesetzt war: Er sollte mehr lernen und bessere Noten bekommen, sollte aufs College gehen, statt eine Sportsbar zu eröffnen, wie er es wollte. Sie begrüßten die Freundschaft zwischen ihrem Sohn und mir, dem rauflustigen Straßenjungen, der Connor zeigen würde, wie weit man kam mit harter Arbeit und Intelligenz. Sie redeten ständig über meinen Aufsatz. Wie beeindruckt sie waren, dass ich eine schlechte Situation in etwas Positives verkehrt hatte.
Ich dachte, Connor würde mich hassen, nachdem seine Eltern mich die ganze Zeit über den grünen Klee gelobt hatten, aber aus irgendeinem verrückten Grund mochte er mich. Unsere Freundschaft war sofort da, als würden wir uns aus einem vergangenen Leben kennen und einfach weitermachen, wo wir aufgehört hatten. Und trotz des Drucks seiner Eltern war er glücklich. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der glücklich war. Die unerträgliche Anspannung, die in meinem Innern herrschte, seit mein Vater weg war, löste sich ein wenig in seiner Gegenwart. Ich machte nicht ständig Luftsprünge vor Freude, aber manchmal hörte ich auf, mir Sorgen zu machen, und das war genug.
Connor bewahrte mich davor, während meiner Zeit an der Sinclair immer nur Prügeleien aus dem Weg zu gehen und Sockenboy genannt zu werden. Seine Kumpel ließen mich in Ruhe, und als die High School anfing, waren sie auch meine Freunde, auch wenn es nur an seinem mühelosen Charme lag.
Die Drakes behandelten mich wie einen Sohn und dehnten ihre Großzügigkeit über die Jahre sogar auf meine Mutter und meine Schwestern aus. Deren lautes Gerede und ihr Southie-Akzent fielen nie mehr auf als im Esszimmer der Drakes, aber die Drakes behandelten meine Familie freundlich und respektvoll. Zu meiner Schmach bezahlten sie die Rechnungen, die nicht begleichen zu können meine Mutter schamlos zugab. Sie machten großzügige Geschenke zu Geburtstagen und Feiertagen und baten nie um eine Gegenleistung.
Trotzdem spürte ich den unausgesprochenen Druck, mich um Connor zu kümmern und dafür zu sorgen, dass er »etwas aus seinem Leben machte«, statt nur eine Sportsbar zu eröffnen. Ich versuchte nie, ihm seinen Traum auszureden, hielt ihn aber auf der Sinclair über Wasser, indem ich ihm mit den Aufsätzen für Wrightmans Stunden half.
Am Ende des ersten Jahres schrieb ich sie für ihn. Connor war nicht dumm, aber er dachte nicht gern zu hart nach, schürfte nicht gern zu tief. Zufriedenheit war sein Standardmodus. Er lebte, um zu lachen und Spaß zu haben, und wenn ich seine Aufsätze schrieb, versuchte ich, sein Glück durch meine vor Schmerz und Zorn rauen, zerfaserten Gedankenbahnen zu leiten.
Ich vergaß nie, ein oder zwei Worte falsch zu schreiben.
Während der High School brach ich jeden Schulrekord im Laufen. Dadurch bekam ich ein Zweijahres-Stipendium von der National Collegiate Athletics Association am Amherst College in West Massachusetts.
Ein geisteswissenschaftliches College war nicht, was die Drakes für Connor im Sinn hatten, aber bis ich in Amherst angenommen wurde, hatte er an überhaupt keinem College Interesse gezeigt. Connor, der dank des Scheckhefts seiner Eltern überall hätte hingehen können, wollte bei mir bleiben, und das berührte mich mehr, als ich jemals sagen kann.
Ich versprach seinen Eltern, für ihn da zu sein und dafür zu sorgen, dass er lernte, aber mir war klar, dass ich auch am College seine Arbeiten schreiben würde.
Die Drakes zahlten die Miete für eine nette Wohnung außerhalb des Campus, was mir erlaubte, das Stipendium auf drei Jahre zu strecken. Sie hätten mir auch das ganze Studium bezahlt, wenn ich sie gelassen hätte, aber mietfrei zu wohnen war schwer genug für meinen hartnäckigen Stolz. Ich war entschlossen, es allein zu schaffen – um meinem miesen Dad zu zeigen, dass ich seine Hilfe nicht brauchte. Und jeder Gefallen, den die Drakes mir erwiesen, war eine Last auf meinen Schultern. Eine wachsende Schuld.
Und wo ich herkam, musste man seine Schulden bezahlen.