JOHN VAILLANT

AM ENDE DER WILDNIS

Umweltaktivist

oder Ökoterrorist?

Die wahre Geschichte

vom Verschwinden

des Grant Hadwin

Aus dem Englischen

von Teja Schwaner

Karl Blessing Verlag

Titel der Originalausgabe: The Golden Spruce –
A True Story of Myth, Madness and Greed

Originalverlag: Vintage Canada, Random House of Canada Limited

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2005 by John Vaillant

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: David Hauptmann, Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, nach einer Originalvorlage von Daniel Rembert; Fotos: © Corbis/Christopher Morris; © Rudy Kelly;
© Getty Image
s/Paul Nicklen

Redaktionelle Mitarbeit: Oliver Salge

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-08234-5

www.blessing-verlag.de

Für Nora

INHALTSVERZEICHNIS

Prolog

Treibholz

EINS

Eine Schwelle zwischen Welten

ZWEI

Der Anfang vom Ende

DREI

Ein Holzsteg zum Mars

VIER

Das Volk

FÜNF

Das Wildeste vom Wilden

SECHS

Der Zahn der Menschheit

SIEBEN

Der fatale Fehler

ACHT

Der Fall

NEUN

Mythos

ZEHN

Hecate Strait

ELF

Die Suche

ZWÖLF

Das Geheimnis

DREIZEHN

Kojote

VIERZEHN

Am Horizont

Epilog

Revival

Anhang

All trees of noblest kind for sight, smell, taste;

And all amid them stood the tree of life,

High eminent, blooming ambrosial fruit

Of vegetable gold; and next to life,

Our death, the tree of knowledge, grew fast by,

Knowledge of good bought dear by knowing ill.

John Milton, Paradise Lost

… Denn es trug

Die edelsten der Bäume dieser Boden,

Entzückend für Geschmack, Geruch und Auge,

Und mitten drunter stand des Lebens Baum,

Hochragend mit ambrosiasüßer Frucht

Wie wachsend Gold, und nah am Lebensbaum

Wuchs der Erkenntniß Baum, der unser Tod,

Indem des Guten Kenntniß theuer nur

Um die des Bösen zu erkaufen war.

John Milton, Das verlorene Paradies

PROLOG

TREIBHOLZ

Kleine Gegenstände sind in Alaska rar, und daher schätzte sich ein Meeresbiologe namens Scott Walker glücklich, als er auf einer unbewohnten Insel fünfzig Kilometer nördlich der kanadischen Grenze auf das Wrack eines Kajaks stieß. Der Grenzbereich an der Küste, wo Alaska und British Columbia aufeinandertreffen und sich überschneiden, gleicht einer Zickzacknaht, die nicht nur zwei enorm große – und enorm verschiedene – Länder verbindet, sondern auch zwei gleichermaßen große und heterogene Wildnisse. Nach Westen erstreckt sich die gähnende Weite des Nordpazifischen Ozeans, und im Osten erheben sich die zahllosen Berge, die das Herz einer Region bilden, die manche Menschen im Nordwesten Cascadia nennen. Der Küstenstrich, an dem sich diese Welten treffen und verschmelzen, ist nur spärlich bewohnt und oft im Nebel verborgen. Niedrig hängende Wolken schneiden den Bergen die Gipfel ab. Auf Meereshöhe besteht er aus einem verschlungenen Netz tiefer Fjorde, schmaler Kanäle und mit Fels bedeckter Inseln. Es ist eine ureigene Welt, abgegrenzt vom restlichen Nordamerika durch die Küstengebirge, deren zerklüftete Gipfel den größten Teil des Jahres von Schnee bedeckt sind. An manchen Stellen fallen ihre Felswände so steil ins Meer, dass sich ein Boot nur fünfzehn Meter vom Ufer befinden und doch hundertfünfzig Meter Wasser unter dem Kiel haben kann. Menschen durchstreifen die Region nur sporadisch, und regiert wird sie von sieben Meter großen Tiden und der Aufeinanderfolge subarktischer Stürme, die sich in Spiralen aus dem Golf von Alaska hinunterwinden, um auf den lang gestreckten und von Baumstoppeln übersäten Rand des Kontinents einzudreschen. Selbst an windstillen Tagen kann es sein, dass die Küste in Nebelschleier gehüllt ist, denn dreitausend ununterbrochene Kilometer Pazifikdünung peitschen sich am störrischen Gestade zu Dunstschwaden.

Das Zusammenspiel starker Winde, häufig auftretenden Nebels und Flutwellen, die über fünfzehn Knoten schnell sein können, macht diese Küste zu einer lebensgefährlichen Region, und wenn Boote, Flugzeuge oder Menschen sich hier verirren, ist es für gewöhnlich um sie geschehen. Werden sie gefunden, dann meistens rein zufällig, viel später und oft an einem abgelegenen Ort wie Edge Point, wo Scott Walker an einem schönen Juninachmittag 1997 seine siebzehn Fuß lange Segeljolle festmachte, um Untersuchungen des lokalen Lachsfischfangs nachzugehen. Edge Point ist eher ein alpines Geröllfeld als ein Strand und befindet sich an diesem Punkt geologischer Zeit auf Meereshöhe. Es liegt an der Südspitze von Mary Island, einem niedrigen Buckel aus Wald und Stein, der die eine Seite eines felsigen, von den Gezeiten geschmirgelten Kanals bildet, der Danger Passage heißt; das nächstgelegene Land ist Danger Island, und sie tragen ihre Namen nicht von ungefähr.

Wie ein großer Teil der Nordwestküste ist Edge Point übersät von Treibholzstämmen und ganzen Bäumen, die durchaus anderthalb Meter Durchmesser haben und in einer Menge von zwanzig gestapelt sein können. Zu Silberglanz poliert häuft sich diese Masse Holz, das sich zum großen Teil aus Floßfeldern oder von Frachtkähnen gelöst hat, so hoch, wie die Polarwinde und die Pazifikwellen sie schleudern können. Sollte es ein von Menschenhand hergestelltes Objekt schaffen, in einem Stück das Ufer zu erreichen, wird es seine Ankunft nicht lange überdauern; innerhalb weniger Gezeitenzyklen wird es zwischen den mahlenden Stämmen und den unverrückbaren Felsbrocken unter ihnen in Stücke zerhämmert. Handelt es sich um ein Fiberglasboot – wie zum Beispiel einen Kajak –, wird es gewöhnlich völlig zerstört und ist kaum wiederzuerkennen, geschweige denn zu finden. Als man einmal eine Fiberglasjacht an einem Edge Point vergleichbaren Ort entdeckte, und zwar drei Jahre nachdem sie, ohne einen Notruf zu senden, verschwunden war, barg man ein einziges heiles Teil von einem halben Meter Länge, und das auch nur deswegen, weil es hinauf ins Gebüsch geweht worden war. Der Rest des Zwanzigmeterschiffs bestand nur noch aus Fragmenten so groß wie Spielkarten. Deswegen schätzte sich Scott Walker glücklich: Er war noch nicht zu spät gekommen, Teile des Kajaks waren möglicherweise noch verwertbar.

Die Strände hier dienen als zusammengewürfeltes Archiv menschlicher Fertigkeiten, in dem die Mahagonitür eines Fischerboots, die Überreste eines Kampfflugzeugs aus dem Zweiten Weltkrieg oder das Bruchstück eines abgestürzten Satelliten gleichermaßen triftige Fundstücke sind. Jedes Artefakt hat seine eigene Geschichte, wenn auch der Kontext nur selten ein Happy End erlaubt; in den meisten Fällen ist es nur der Trödelsammler, der etwas davon hat. Scott Walker sammelt seit mehr als fünfundzwanzig Jahren Dinge, die andere verloren haben, und er hat sich in dieser Zeit ein informelles Fachwissen zur Forensik von Ballast und Treibgut angeeignet. Wenn ein Fundstück eventuell nützlich oder hinreichend interessant ist, und wenn es darüber hinaus klein genug ist, um es aufzuheben, dann findet der Ehrenkodex der Strandgutsammler Anwendung. Walker hielt sich an diesen Kodex, als er auf den kaputten Kajak stieß und ihn auseinandernahm, um an die Teile aus rostfreiem Stahl zu gelangen.

Aber als Walker während der Arbeit den Kopf hob und sich umschaute, bemerkte er einige Dinge, die ihn verharren ließen. Weiter unten an der Flutlinie verstreut lagen persönliche Gegenstände: ein Regenmantel, ein Rucksack, eine Axt – und da ging ihm auf, dass sein Fund womöglich nicht von irgendeinem Strand oder einem Dock weiter unten an der Küste fortgespült worden war. Je mehr Dinge er bemerkte – einen Kocher, Rasierzeug, eine Schwimmweste –, desto schmaler wurde die Kluft zwischen seinem Finderglück und dem Unglück eines anderen Menschen. Das hier würde letztlich kein sauberer Fund werden. Walker schloss aus der Position der schwereren Gegenstände weiter unten im Gezeitenbereich, dass der Kajak an Land gespült worden und bei Ebbe zerbrochen war. Die leichteren Dinge, einschließlich großer Kajakteile, waren anschließend von Fluten und Wind höher auf den Strand getragen worden, und sie waren es, die bei Walker die Alarmglocken schrillen ließen. Obwohl er sich um einen Stamm schlang, war der Schlafsack noch in beinahe perfektem Zustand, ohne Risse oder Flecke und von Salz und Sonne nicht gebleicht; die Schwimmweste sah ebenfalls aus, als sei sie gerade aus der Ablage genommen worden. Sogar der Kocher erschien bergungswert. Eingeklemmt zwischen Steinen am Rand des Wassers, wies er nur geringe Roststellen auf. Die Zeit der Winterstürme, für die schlimmsten Zerstörungen an der Küste verantwortlich, war gerade erst vorüber, und daher musste dieses Wrack frisch sein, vielleicht nur zwei Wochen alt. Er erwog, den Kocher und den Schlafsack in seiner Segeljolle zu verstauen, aber als er mögliche Unfallszenarien bedacht und sich nochmals die unbehagliche Nähe eines Fremden vor Augen geführt hatte, beschloss er, die Dinge dort zu lassen, wo sie lagen. Könnte doch sein, dachte Walker, dass sie noch als Beweismaterial dienen mussten. Die Schrauben aus rostfreiem Stahl würde jedoch niemand vermissen. Also steckte er sie in die Tasche und machte sich auf den Weg über den Strand. Er hielt Ausschau nach einer Leiche.

Walker fand keine, und erst von den Alaska State Troopers in Ketchikan, fünfzig Kilometer weiter nördlich, erfuhr er die Geschichte, die hinter seiner Zufallsentdeckung steckte. Der Kajak und sein Besitzer, ein kanadischer Waldvermesser und Holzexperte namens Grant Hadwin, wurden vermisst – nicht erst seit Wochen, sondern seit Monaten. Dieser Mann war anscheinend auf der Flucht, gesucht wegen eines merkwürdigen und beispiellosen Verbrechens.

KAPITEL EINS

Eine Schwelle zwischen Welten

Da war Schönheit, ja … doch wer würde davon wissen, bevor nicht der Mensch sie dazu erklärte.

Ralph Andrews, Timber

An der Nordküste gibt es keinen sanften Übergang vom Ozean zu den Bäumen. Der Wald übernimmt an der Stelle, wo die Gezeiten enden, und bricht mit seiner ganzen Kraft aus der flachen, felsbedeckten Erde. Die Grenzlinie zwischen beiden ist jedoch flexibel, und das Meer wuchtet bei jeder Gelegenheit Steine, Stämme und manchmal sogar sich selbst in den Wald. Dafür suchen die Wurzeln der Küstenkiefern und Fichten an Felsbrocken Halt, die Napfschnecken und Rankenfüßern besser dienlich wären, und dicht benadelte Zweige werfen ihre Schatten über Kolonien von Seesternen und Seeanemonen. Die Luft ist erfüllt vom Gestank verfaulenden Seetangs, der mit dem lehmigen Geruch verrottenden Holzes wetteifert. Vom Strand aus kann man so weit blicken, wie die Höhe des Standorts und der Horizont erlauben, aber wenn man sich landeinwärts wendet, blinzelt man in einen dunklen Raum, und die Pupillen weiten sich, um das klaustrophobische Nichts zu füllen. Die Spur einer Person oder der Handlungsstrang einer Geschichte sind schnell verloren. Selbst die Bäume, umwickelt von Moos und umhüllt von Farn, wirken verkleidet.

Der Anblick eines Küstenwalds kann Ehrfurcht gebietend sein: riesig, heilig und auf Ewiges verweisend, wie eine Notre Dame aus Zweigen, Ästen und Nadeln. Ein Fremder wird sich hier kaum wohlfühlen. Man kann nur zwanzig Schritte von einer Straße oder einem Strand entfernt und trotzdem völlig orientierungslos sein. Einmal im Wald, gibt es keine Zukunft und keine Vergangenheit, sondern nur das modrig-feuchte und dämmernde Jetzt. Unter den Füßen spürt man ein Gewirr aus Wurzeln und Zweigen, das darauf lauert, Beine zu brechen, und so ungefähr alle fünfzehn Meter versperrt eine moosbedeckte Wand umgestürzter Bäume den Weg, die höher sein kann als man selbst und Dutzende von Metern lang. Dieses Totholz ist der Nährboden diverser junger Bäume, die aus ihm herausgewachsen sind, fünfzig Jahre alt und ordentlich ausgerichtet wie Zaunpfähle. Hier im Inneren verwischen und vereinen sich die Grenzen zwischen Leben und Tod, zwischen der einen Art und der nächsten: Alles dient als Startrampe für etwas anderes, jeder und jedes möchte seinen Anteil am Himmel. Das Unterholz ist dicht, und zusammen mit den Bäumen nimmt es fast die Sicht. Das Geräusch rinnenden Wassers ist allgegenwärtig, und der Boden ist so weich und schwabbelig wie ein Sofa mit ausgeleierten Federn. Man hat das Gefühl, wenn man zu lange an einer Stelle stehen bliebe, werde man ganz einfach überwachsen und von dem trägen und uralten Wildwuchs verschlungen, der rundherum wütet. Er kann Erstickungsanfälle hervorrufen, und das Bedürfnis, die Sonne zu sehen, kann überwältigend werden – und wenn all die Bäume nicht wären, müsste das eigentlich ein Leichtes sein.

Von einem Satelliten aus betrachtet, wirken Nordamerikas gemäßigte Küstenregenwälder wie eine feine grüne Fransenkante, die den westlichen Rand des Kontinents ziert. Vor der Zeit der industriellen Holzfällerei reichte dieses schmale Band, selten mehr als achtzig Kilometer breit, so gut wie ohne Unterbrechung über eine Entfernung von mehr als dreitausend Kilometern von Kodiak Island in Alaska südlich durch British Columbia, Washington und Oregon bis nach Mendocino County in Kalifornien. Entlang der gesamten Länge dieser Wälder formt eine Gebirgskette ein natürliches Bollwerk zwischen dem Pazifischen Ozean und dem Rest des Kontinents, und hier werden die Stürme, die über den Nordpazifik anrollen, abrupt aufgehalten. Regenwolken, die wie schwebende Wasserblasen funktionieren, brechen, wenn sie auf die kühlere Luft der Küstengebirge prallen. Und das kann erstaunliche Wirkungen haben. So schüttete im Winter 1988 eine unerbittliche Parade von Tiefdrucksystemen nahe der Grenze zwischen Washington State und British Columbia achtundzwanzig Meter Schnee über dem Mount Baker aus (ein Weltrekord), in niederen Regionen regnete es ausreichend, um eine Arche schwimmen zu lassen.

Durch die milden Temperaturen innerhalb des langen feuchten Korridors zwischen Pacific Slope und dem Meer ist so etwas wie ein riesengroßes Terrarium entstanden. Es handelt sich um eine Umwelt, die perfekt gestaltet ist, Leben in großem Maßstab zu fördern, einschließlich der größten frei stehenden Geschöpfe der Erde. Sämtliche dominierenden Arten an der West Coast – Redwood, Sequoia, Sugar Pine, Western Hemlock, Douglas-Fichte, Balsam-Tanne, Black Cottonwood, Red Cedar und Sitka-Fichte sind Giganten ihrer Art. Zum großen Teil ist es diesen immensen Bäumen zu verdanken, dass die Wälder des Nordwestens mehr lebendes Gewebe (am Gewicht gemessen) nähren als jedes andere Ökosystem, einschließlich des Äquatorialdschungels.

Die Hauptunterschiede zwischen tropischem und gemäßigtem Regenwald haben mit Temperatur und Lage zu tun. Während die tropischen Regenwälder – Dschungel – entlang des Äquators in den heißen Zentren ihrer Heimatkontinente zu finden sind, gedeihen die gemäßigten Regenwälder in den kühlen und nebligen Randzonen, näher an den Polen unseres Planeten. Diese Wälder bevorzugen ein stabiles Klima, das weder zu heiß noch zu kalt ist, und ihr idealer Standort ist eine westwärts gerichtete Küstenlinie mit Bergen im Rücken, die große Mengen von Schneeschmelze und Regen auffangen und kanalisieren. Diese Bedingungen sind auf beiden Hemisphären zu finden, wenngleich nur zwischen dem vierzigsten und dem sechzigstem Breitengrad. Die Nadelbäume in einem gemäßigten Regenwald wachsen stetig, solange die Temperatur über drei Grad Celsius bleibt – ein Grund dafür, dass sie so ungeheure Größe erreichen. Die Baumarten innerhalb dieser klimatischen Bandbreiten variieren stark, je nachdem, wo auf der Welt sie wachsen, aber mehr noch als die Bäume selbst ist es ihre Beziehung zum Meer, die er den Unterschied zwischen diesen Wäldern und ihren inländischen und äquatorialen Gegenstücken ausmacht.

Das Verbreitungsgebiet des gemäßigten Küstenregenwaldes ist – wie das der meisten wilden Tiere – in relativ kurzer Zeit drastisch kleiner geworden. Bis vor ungefähr tausend Jahren ließen sich gemäßigte Regenwälder auf jedem Kontinent bis auf Afrika und die Antarktis finden. Es gab eine Zeit, da waren die üppigen Küstenwälder in Japan ein transpazifischer Spiegel der amerikanischen; mächtige Koniferen wuchsen dort und erreichten gewaltige Höhen in einem Klima, das dem des amerikanischen Nordwestens vergleichbar war. Bis auf wenige einsame Riesen, die in Parks oder auf Tempelgelände stehen, sind diese Wälder verschwunden. Die schottischen Highlands, Orte, die lange mit unfruchtbarem Heideland in Verbindung gebracht wurden, waren ebenfalls Heimat eines gemäßigten Regenwalds. Das gilt für Irland, für Island und die Ostküste des Schwarzen Meeres. Während an der Nordseeküste von Norwegen noch vereinzelte Spuren ursprünglichen Regenwaldes erhalten sind, bleiben Chile, Tasmanien und das neuseeländische South Island die einzigen Orte, deren Wälder in Flora, Atmosphäre und Charakter noch entfernt denjenigen des pazifischen Nordwestens ähneln, wo weltweit die größten Wälder dieser Art beheimatet sind.

Tolkiens Ents vergleichbar sind die Bäume des Nordwestens seit Äonen die Küste hinauf- und hinuntermarschiert, sind bei jeder Eiszeit nach Süden geflohen und haben verlorenes Gebiet zurückerobert, sobald die Gletscher zurückgewichen waren. Die gegenwärtige Wiederkehr ist noch nicht abgeschlossen, sodass Sitka-Fichten sich mit einer Geschwindigkeit von ungefähr einem Kilometer im Jahrhundert nordwärts nach Alaska verbreiten. Die Western Red Cedar, derjenige Baum, dem die Stämme der Nordwestküste so gut wie alle Baumaterialen verdanken, existiert in seiner gegenwärtigen Verbreitung erst seit vier- oder fünftausend Jahren. Wenn individuelle Arten auch uralt sein mögen und die Bäume als Altbestand gelten dürfen, sind die Wälder, in denen sie stehen, nach geologischen Maßstäben und sogar unseren eigenen gerade mal Kinder. Als der erste dieser Bäume heranreifte, lebten Menschen in Nordamerika schon seit mindestens fünftausend Jahren.

Bis vor Kurzem war Nordamerikas Küstenregenwald so wenig erkundet, dass man ihn sogar in der Holzfällerindustrie als »biologische Wüste« bezeichnete. Während der Prozess der Katalogisierung und Erforschung der Lebewesen, die den Wald mit diesen Bäumen teilen, noch in den Kinderschuhen steckt, weiß man doch bereits, dass es auf dem Waldboden ebenso wie auf dem Kronendach darüber buchstäblich von Leben wimmelt. Man hat geschätzt, dass ein Quadratmeter Boden des gemäßigten Regenwaldes bis zu zwei Millionen Lebewesen enthalten kann, die eintausend Arten repräsentieren. Andy Moldenke, ein Entomologe von der Oregon State University, hat errechnet, was auf der Fläche einer durchschnittlich großen Schuhsohle zu finden wäre; er kam zu dem Ergebnis, dass beim Gang durch einen der Küstenwälder Oregons jeder aufgesetzte Fuß auf den Rücken von sechzehntausend wirbellosen Tieren trifft.

Diese Aktivitäten laufen überwiegend unsichtbar ab, können jedoch auf anderer Ebene spürbar werden. Die Atmosphäre in einem natürlich gewachsenen Küstenregenwald grenzt ans Amniotische; still und eng, der Schall verbreitet sich hier drinnen ganz anders, und die Luft bewegt sich so gut wie gar nicht. Wegen der Nähe des Waldes zur Küste, sind die See und viele ihrer Bewohner auch innerhalb des Waldes stark vertreten. Dank der Instabilität des Ozeanwetters in hohen Breiten und der damit verbundenen Vielfalt an Nährstoffen gedeiht das Ökosystem und bildet eine hydroponische Matrix, in der Verhaltensweisen und Abgrenzungen, die wir für selbstverständlich halten, durchbrochen und, in manchen Fällen, sogar ins Gegenteil verkehrt werden. Abhängig von Tidenhub und Niederschlagsmenge finden sich Lachse und Forellen, die von ihren transozeanischen Odysseen zu den heimatlichen Flüssen zurückkehren, gestrandet in den Zweigen der Bäume wieder, während unter deren Wurzeln Alkenvögel nisten, scheue Seevögel, die unter Wasser »fliegen« können. Zehn Etagen über dem Waldboden starten ihre Verwandten, die Marmelalken, ihre eigenen Unterwasserexpeditionen zur Nahrungssuche von moosbedeckten Nistplattformen, die vielleicht schon Jahrhunderte alt sind. Mit Geschwindigkeiten bis zu hundertsechzig Stundenkilometern sausen sie wie Hummeln auf Speed hin und her – aus dem Wald ins Meer und wieder zurück. Mit einem Hundertstel dieser Geschwindigkeit schwimmen Bären, die sich aus dem Ozean ernähren – manche so weiß wie der Weißkopfseeadler – von Insel zu Insel und streifen an den Flutlinien entlang, wo sich ihre Fußabdrücke mit denen von Hirsch, Otter, Marder und Wolf überkreuzen. Gleichzeitig verfolgen Seehunde Salzwasserfische bis tief in den Wald hinein und verlängern ihren Landurlaub, indem sie sich neben einem Baum ausruhen, der im Winter zuvor vielleicht eine Bärenhöhle gewesen sein mochte. Der geduldige Beobachter wird im Wald erleben können, dass Bäume sich von Lachs ernähren, dass Adler schwimmen können und dass Orcas sich ins steinige Flachwasser wuchten und einem durchdringend in die Augen sehen.

Die indigenen Völker der Nordwestküste entfernten sich während des größten Teils ihrer Geschichte nicht weiter als hundert Meter von dieser Schwelle zwischen den Welten, an der so heftiges Treiben herrschte. Bei einem Leben mit einer solchen Grenzerfahrung ist es kaum verwunderlich, dass sich ihre Kunst, ihre Tänze und ihre Geschichten so sehr an Konvergenz und Transformation orientieren. Nirgendwo sonst an der Küste stellt sich die tief greifende gegenseitige Abhängigkeit von Wald, Meer und den Bewohnern, die sie teilen, dramatischer dar als auf den Queen Charlotte Islands.

Nach dem Schiff eines britischen Händlers benannt, sind die Inseln das historische Territorium des Haida-Volks, das bis heute dort lebt und seine Heimat Haida Gwaii nennt. Auf Landkarten scheint der Archipel, der aus mehr als einhundertfünfzig Inseln und Inselchen besteht, vom Kontinent losgebrochen und weggeschwommen zu sein, nicht ohne ein deutliches Loch in dem so genau passenden Puzzle aus Inseln und Inselchen zu hinterlassen, das die Nordwestküste beschreibt. Das nächstgelegene Land ist Alaskas Prince of Wales Island, eine fünfundsechzig Kilometer lange Seereise nach Norden. British Columbia, dessen abgelegenster Teil die Queen Charlottes sind, liegt achtzig Kilometer östlich. Südlich und westlich erstreckt sich offener Ozean, aber er fällt nicht allmählich ab, sondern stürzt jäh und fast vertikal in die Tiefen des Pazifiks. Der zweihundertachtzig Kilometer lange Archipel thront auf dem Außenrand des Kontinentalsockels, der hier die Form eines zweitausendachthundert Meter hohen Unterwasserkliffs annimmt. Entlang der von Stürmen gezeichneten Westküste der Inseln verursacht die plötzliche Veränderung der Meerestiefe Wellen, die hoch genug sind, um Treibhölzer auf dreißig Meter hohe Klippen zu spülen, und verblüffende Strömungen, die das Wasser nicht in zwei Richtungen fließen lassen, sondern in vier. Den zum Ozean gerichteten Umrissen des Archipels entspricht in vier Kilometern Tiefe der Queen Charlotte Fault, an dem sich die nordwärts gerichtete Pazifische Platte und die südwärts gerichtete Amerikanische Platte mit peinigender Langsamkeit und verheerender Kraft aneinander reiben. Das Epizentrum eines der stärksten Erdbeben, die man je an der Westküste registriert hat (8, 1 auf der Richter-Skala), wurde hier lokalisiert.

Wenn die Hawaii-Inseln fünftausend Kilometer nordöstlich aus dem Meer aufgestiegen wären, würden sie wohl ausgesehen haben wie die Queen Charlottes. Die Inseln sind faktisch ein von Wasser umgebener Regenwald, der sich an die Flanken schneebedeckter Berge schmiegt, und sie sind nur schwer erreichbar: Vitus Bering hatte bereits die Küste von Alaska erforscht, und Captain Cook hatte Australien erreicht, bevor Europäer einen Fuß auf die Charlottes setzten. Noch heute dauert die Reise von Vancouver mit Auto und Fähre drei Tage. Die Menschen haben die mystischen und offenbarenden Eigenschaften dieser Inseln so zu schätzen gelernt, dass selbst Holzfäller und Landnutzungsplaner sie mit dem Adjektiv »magisch« beschreiben. Perry Boyle, ein altgedienter Schlepperführer aus Prince Rupert auf dem angrenzenden Festland, fasste es vielleicht am besten zusammen, als er sagte: »Da drüben ist alles mystisch.« Dieses Land, das »westlich des Westens« liegt, repräsentiert eine Konzentration dessen, was man geografische Quintessenz nennen könnte, als seien Natur und Geist einer viel größeren Region in einen eigentlich zu kleinen Raum gezwängt. Treibhäuser, Bibliotheken und Museen können diesen Effekt simulieren, in Jerusalem ist er ebenso spürbar wie auf den Aran Islands, im Yosemite National Park und in Delphi. Lower Manhattan ist eine moderne urbane Version, und die Kathedrale in Chartres ist eine ekklesiastische. Für viele Menschen aus British Columbia und andere, die mit diesem Teil der Welt vertraut sind, bedeuten die Charlottes – oder Haida Gwaii – eine Art »Seelenheimat«, ein wildes, indigenes Eden, und selbst für Menschen, die noch nie dort waren, sind sie ein Ort, dessen Existenz gleichzeitig anregt wie beruhigt. Die Inseln bilden sowohl eine Verbindung zu der Zeit vor Ankunft der Europäer als auch einen kleinen Ausblick auf eine mögliche Zukunft.

Ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Inseln die Essenz von etwas weitaus Größerem zu sein scheinen, wurde um die Jahrhundertwende von einem amerikanischen Jäger und Naturforscher namens Charles Sheldon geschildert. Sheldon reiste ausgiebig durch den Westen einschließlich der Northwest Territories und Alaskas und schrieb mehrere Bücher über seine Abenteuer, die zu Klassikern des Genres wurden. Im Herbst 1906 lockten ihn Gerüchte auf die Charlottes, in denen eine außergewöhnlich seltene Unterart des Karibu erwähnt wurde, die nur auf den Inseln bekannt war. Auf der Suche nach einem Musterexemplar war er einen erstaunlich regnerischen Monat lang zu Fuß unterwegs und erkundete die Nordspitze von Graham Island, der größten Insel des Archipels. Seine Suche führte ihn durch tiefe Wälder, flussaufwärts und über baumloses, sumpfiges Ödland, wo ihn ein bizarres Phänomen beschäftigte: »Eine auffällige Eigenschaft des atmosphärischen Effekts an diesem Ort war eine optische Täuschung, die genau das Gegenteil dessen vorspiegelte, was auf den westlichen Prärien der Vereinigten Staaten verbreitet zu beobachten ist. Objekte schienen sehr weit entfernt zu sein, obwohl sie sich doch ganz in der Nähe befanden, und man brauchte lange Zeit, um sich daran zu gewöhnen, dass man tatsächlich nur kurze Strecken überwunden hatte, obgleich einem das Auge sehr weite Entfernungen vorgegaukelt hatte.«

Es besteht kein Zweifel, dass diese Inseln intensiven Einfluss auf Menschen haben. Damit hat, wie Sheldons Beobachtungen andeuten, das Licht sehr viel zu tun, und zwar vielleicht deswegen, weil die Natur es anscheinend nur widerwillig spendet. Die Queen Charlotte Islands zählen zu den regenreichsten Orten Nordamerikas. Sie befinden sich in einer Region, die von Ökologen als »sehr feuchte hypermaritime Subzone« bezeichnet wird, wo an mehr als zweihundertfünfzig Tagen des Jahres der Himmel hinter einer geschlossenen Wolkendecke verborgen bleibt. Wenn die Sonne scheint, dann oft durch ein Prisma aus Wasserpartikeln, und aus diesem Grund sind hier häufig Regenbogen zu beobachten. Weitaus seltener, aber durchaus dokumentiert sind lunare Regenbogen. Sie erscheinen als geisterhaft leuchtende Bogen, die von einem aufgehenden oder untergehenden Mond verursacht werden, der unter Regenwolken scheint. Aber da ist mehr als Wasser und Licht; die Lebenskraft hier draußen ist in buchstäblicher, biologischer Hinsicht außergewöhnlich stark. Dreiundzwanzig Walarten leben hier oder passieren die Gewässer der Region, und die Inseln sind die Heimat der größten Population von Weißkopfseeadlern des Kontinents. Burberry Narrows, ein schmaler Priel, der mitten durch den Archipel verläuft, enthält eine der weltweit höchsten Vorkommen von Meereslebewesen pro Quadratmeter. Die Sägezahnküste im Westen beherbergt Muscheln in der Größe von Abendschuhen.

Seit dem Ende der letzten Eiszeit sind die Queen Charlottes auf sich allein gestellt, und dafür verantwortlich ist allein die Hecate Strait. In einem Bereich von nur achtzig Kilometern variiert die Meerestiefe um die Inseln von dreitausend Meter bis auf weniger als sechzig. Dieser relativ rasante Abfall in die Tiefe kann zusammen mit der vollen Wucht heftiger Polarstürme und riesiger pazifischer Brecher dazu führen, dass die Hecate Strait in ein paar Stunden aus flacher Behäbigkeit zu achtzehn Meter hohen Wellen explodiert. Der flache, breite Kanal – an manchen Stellen kaum mehr als dreißig Meter tief – wurde nach der britischen Schaufelrad-Sloop H. M. S. Hecate benannt. Mit schweren Geschützen bewaffnet, wurde das Schiff 1861 zu den Charlottes gebracht, wo es sowohl die umliegenden Gewässer inspizieren als auch sicherstellen sollte, dass die kürzlich eingetroffenen Kupferminenarbeiter nicht von den Haida angegriffen wurden. Geografische Punkte nach dem eigenen Schiff zu benennen war im 18. und 19. Jahrhundert eine verbreitete Gewohnheit, aber nur wenige dieser Namen passten so gut wie Hecate. Es ist nämlich der Name der griechischen Göttin der Zauberei und Hexenkunst und wird oft mit Fischern und dem Land der Toten in Verbindung gebracht. Nach dem Oxford Dictionary of Classical Myth and Religion ist sie »dem Wesen nach gespalten und vielgestaltig. Sie überbrückt Grenzen und entzieht sich der Definition.« Sie ist mit Füßen in Gestalt von Menschen fressenden Hunden dargestellt worden und gilt als die Quelle allen Überflusses, einschließlich der Unzahl an Stürmen. »Sie ist ein niederträchtiges Weibsstück«, sagte ein altgedienter Fischer von der Hecate Strait. »Manchmal glaube ich, dass sie die Charlottes ganz für sich allein haben will.« Noch immer hält schwere See regelmäßig die einhundert Meter lange Passagierfähre auf, die den Kontinent mit den Inseln verbindet. Die siebenstündige Überfahrt kann so stürmisch sein, dass Lastwagen ans Deck gekettet werden müssen wie Container bei Überseetransporten.

Graham Island und Moresby Island bilden das Rückgrat des sich nach Süden verjüngenden Queen-Charlotte-Archipels, und obwohl Moresby an manchen Stellen nur acht Kilometer breit ist, streckt es sich doch als Keil steiler neuer Berge fast zwei Kilometer hoch in den Himmel. Hunderte Wasserfälle und Dutzende von Bächen und Flüssen strömen auf allen größeren Inseln von den Bergen herab, darunter der Yakoun. Er entspringt in den Queen Charlotte Mountains am Südende von Graham Island und sammelt sich im Yakoun Lake, bevor er nordwärts zum Masset Inlet und zum Meer strömt. Als längster Fluss des Archipels und Ursprung von dessen größten Forellen- und Lachswanderungen, ist der Yakoun so etwas wie die Aorta im Gesamtkörper der Inseln. Das niedrige angeschwemmte Tal, durch das er fließt, ist bekannt für seine gewaltigen uralten Wälder und besonders dessen hohe Anzahl astfreier und gerade gemaserter Sitka-Fichten. Eine Talsohle wie diese sollten die kommerziellen Holzfäller – die jedoch auf den Charlottes nicht vor dem 20. Jahrhundert auftauchten – als spruce flat, eine Ansammlung vieler alter Fichten, bezeichnen. Hier ist der Erdboden tiefer und fruchtbarer als an den Berghängen, und das schafft im Zusammenspiel mit dem milden Klima der Queen Charlottes und einer jährlichen Regensintflut, die bis zu fünf Meter erreichen kann, ideale Wachstumsbedingungen nicht nur für die Sitka-Fichte, sondern auch für ihre üblichen Nachbarn, die Westamerikanische Hemlock-Tanne und die Western Red Cedar. Besonders Hemlock-Tanne und Fichte vermehren sich auf absterbendem am Boden liegendem Totholz; diese verrottenden und an Humus reichen Bäume haben für jeden Sämling einen Festschmaus parat, ähnlich wie die Frucht des Apfels dessen Kerne ernährt. Wenn so ein Stamm von dem jungen Wald um ihn herum aufgezehrt wird (ein Prozess, der Hunderte Jahre dauern mag), kann es geschehen, dass die jüngeren Bäume auf stelzenähnlichen Wurzeln ein ganzes Stück über dem Boden stehen. Im Laufe der Zeit füllen sich die-se Lücken dann, eine vierhundertjährige Sitka-Fichte, die unter sich einen Tunnel hat, durch den man kriechen könnte, ist nicht ungewöhnlich.

Von allen Koniferen der Westküste scheint die Sitka-Fichte von Natur aus am besten für eine maritime Umgebung geeignet. Ihre langgezogene und schmale geografische Verbreitungsfläche spiegelt die des Regenwaldes, und die Art zeigt eine Vorliebe dafür, sich so aufzupflanzen, dass sie Stürmen trotzen kann. Sitka-Fichten beweisen hohe Resistenz gegenüber Salznebel und bilden oft die erste Verteidigungslinie zwischen See und Wald. Ihre Größe und Stärke bricht stürmische Winde, denen weniger große Bäume zum Opfer fallen würden. Die Sitka-Fichte ist weltweit die größte und am längsten lebende Fichten-art; sie kann älter als achthundert Jahre und über neunzig Meter hoch werden, was sogar für einen Redwood sehr hoch ist. Gemessen am kolossalen Ergebnis sind die Anfänge beinahe unvorstellbar bescheiden: Ein einzelnes Samenkorn der Sitka-Fichte wiegt nur ein fünfhundertstel Gramm, und doch trägt es sämtliche Informationen in sich, die gebraucht werden, um einen Baum wachsen zu lassen, der mehr als dreihundert Tonnen wiegen kann – ungefähr so viel wie drei Blauwale. Die Sitka-Fichte ist an der gesamten Küste verbreitet, aber diese »Superfichten« wachsen nur an einer Handvoll Stellen, und eine davon ist das Yakoun Valley.

An einem Herbsttag so um 1700 öffnete sich auf dem Westufer des Yakoun River ein Sitka-Fichtenzapfen und ließ ein Samenkorn wie kein anderes zu Boden fallen. Es war eines unter Hunderten Samenkörnern, die in jenem Jahr aus einem unter Zehntausenden Zapfen fielen, die von einer der Zigmillionen Sitka-Fichten produziert worden waren, die an der Nordwestküste wuchsen. Es mag gut sein, dass sein Elternbaum seit der Wikingerzeit Samenkörner verstreut hatte. Wäre da nicht die Tatsache, dass die Überlebenschancen eines individuellen Fichtensamenkorns vergleichbar mit denen eines menschlichen Spermiums sind, wäre jeder Elternbaum ein eigener Wald. Doch obwohl sie bis zu siebenhundertfünfzig Jahre lang fruchtbar ist, produziert eine Sitka-Fichte vielleicht nur ein Dutzend Abkömmlinge, die bis zur Reife überleben. Dass aus dem Samenkorn, von dem wir sprechen, einer davon werden würde, bleibt den Menschen bis zum heutigen Tag ein Rätsel.

Geformt wie eine Träne und ungefähr so groß wie ein Sandkorn, wird der Samen wohl genauso wie all die anderen ausgesehen haben, die seit Jahrtausenden den Waldboden übersät hatten. Von seinen Kollegen, die auf dem satten Moos landeten, das sich wie ein Teppich in einem großen Teil des Waldes ausbreitete, würde nur einer unter hundert tatsächlich keimen. Denjenigen, die das Glück hatten, auf einem Totholzstamm zu landen, erging es natürlich besser, aber auch dann standen die Chancen eins zu drei, dass sie innerhalb des nächsten Monats von Pilzen abgetötet würden. Irgendwie schaffte es dieses anonyme Samenkorn mit seiner seltsamen Botschaft allen widrigen Umständen zum Trotz, Wurzeln zu schlagen. Der winzige Sprössling wäre in der überfüllten Kinderstube des Waldbodens leicht zu übersehen gewesen, denn er war von Tausenden anderer aufstrebender Bäume umgeben – nicht nur Sitka-Fichten, sondern auch von Hemlock-Tannen, Red Cedars und gelegentlich Eiben. In diesem Stadium wäre er von allen überragt worden, selbst von Schattengewächsen wie Lover’s Moss, Little Hands Liverwort, Black Lily, Sword Fern und Devil’s Club, ganz abgesehen von den Dickichten aus Salal, die bis zu vier Meter hoch werden können und ohne Einsatz einer Machete nicht zu durchqueren sind.

Diese Jungpflanze zu betrachten – wenn man sie überhaupt ausmachen kann – und zu unterstellen, dass sie jede Absicht hätte, zu einer jener turmhohen Säulen aufzuwachsen, die einen so großen Teil des nordwestlichen Himmels verdecken, würde bestenfalls als weit hergeholt erscheinen. In seinem ersten Lebensjahr würde der Jungbaum um die fünf Zentimeter hoch werden und so ungefähr ein halbes Dutzend blassgrüner Nadeln tragen. Er würde auf dieselbe abstrakte Weise anziehend wirken wie ein Schnappschildkrötenbaby, und seine fremdartige Erscheinungsform würde überspielt von den universellen Kennzeichen früher Kindheit wild wachsender und wild lebender Pflanzen und Tiere: völlige Hilflosigkeit und primordiale Vorbestimmung zu gleichen Teilen. Trotz seiner gesträubten Halskrause und eines Stängels, so gerade wie ein Sonnenstrahl, war der Pflänzling immer noch empfindlich wie ein Froschei; ein fallender Ast, der Fuß eines Menschen oder eines Tieres – jede erdenkliche Zahl zufälliger Vorkommnisse – hätten ihm an Ort und Stelle den Garaus machen können. Dort unten in der feuchten Dunkelheit des Unterholzes war der wundersame Makel des jungen Baums ein wohlbehütetes Geheimnis. Mit jedem Jahr, das verging, grub er seine Wurzeln tiefer ins Flussufer und klammerte sich stärker an Leben und Land. Allen Widrigkeiten zum Trotz gehörte er zu der Handvoll junger Bäume, die überlebten, um sich im Wettkampf mit Giganten, die drei Meter Umfang hatten und Dutzende von Metern hoch waren, den Weg ins Sonnenlicht zu bahnen. Schließlich sollte es die Sonne sein, die das Geheimnis dieses Baums für jeden sichtbar machen würde, und Mitte des 18. Jahrhunderts würde es mehr als deutlich sein, dass am Ufer des Yakoun etwas Außerordentliches wuchs. Ein Wesen, das eher in einen Mythos oder ein Märchen zu passen schien: eine Fichte mit goldenen Nadeln.

Solange ein Baum nicht ganz besonders hoch ist oder von ungewöhnlicher Form, hebt er sich nicht als Individuum hervor, und solange er nicht von seinen Mitbäumen abgesondert ist, wird er sich nur selten aus der Ferne bemerkbar machen. Doch obwohl er in einen Wald aus ähnlich großen Bäumen eingebettet war, muss man den Baum, der als die »goldene Fichte« bekannt wurde, in beiderlei Hinsicht als Ausnahme bezeichnen. Vom Erdboden aus betrachtet, ließ seine verblüffende Farbe die Menschen vor Staunen innehalten, aus der Luft betrachtet stach er hervor wie ein Leuchtfeuer und war aus meilenweiter Entfernung zu erkennen. Wie die umliegende Landschaft nahmen die Haida auch Bäume in ihren riesigen Bestand von Geschichten auf, aber soweit man weiß, ist er der einzige Baum in einer Unendlichkeit von Bäumen, dem die Haida je einen Namen gegeben haben. Sie nannten ihn K’iid K’iyaas: Stammesältester Fichtenbaum. Der Legende nach war er nämlich ein verwandelter Mensch.

Obwohl sie den Menschen, die im Yakoun Valley lebten, gut bekannt war, wurde die goldene Fichte erst im späten 20. Jahrhundert von der Wissenschaft entdeckt. Da war sie bereits zweihundert Jahre alt und so gut wie unmöglich zu übersehen. Als der schottische Waldvermesser und Baronet Sir Windham Anstruther 1924 auf den Baum stieß, war er entgeistert. »Ich habe ihn nicht mal mit der Axt markiert«, erzählte er einem Reporter, bevor er starb. »Denn ich war wohl überwältigt von seiner Fremdartigkeit in einem Wald aus Grün.« Noch Jahre später wusste niemand so recht, was von Sir Windhams Einhorn in Baumgestalt zu halten sei. Manche vermuteten, es könne sich um eine neue Art handeln, die nur auf dem Archipel beheimatet war; andere nahmen an, in den Baum sei ein Blitz eingeschlagen oder er befände sich einfach in der Phase des Absterbens. Wie sich herausstellte, war der Baum lebendig und erfreute sich bester Gesundheit – er war nur wahnsinnig selten. So selten, dass man es für gerechtfertigt hielt, ihm einen eigenen wissenschaftlichen Namen zu geben: Picea sitchensis ›Aurea‹. Picea sitchensis ist der lateinische Name der Sitka-Fichte, und Aurea ist Lateinisch für »golden« oder »goldglänzend«, aber es kann auch »schön« oder »prachtvoll« bedeuten. Sechzehn Stockwerke hoch und mit einem Umfang von mehr als sechs Metern war die goldene Fichte einzigartig in der botanischen Welt.