Susan Crosby

Ein Boss zum Träumen

IMPRESSUM

BIANCA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

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© 2011 by Susan Bova Crosby
Originaltitel: „Almost a Christmas Bride“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1862 - 2012 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Rainer Nolden

Fotos: Corbis

Veröffentlicht im ePub Format im 12/2012 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-95446-158-5

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY, STURM DER LIEBE

 

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1. KAPITEL

Shana Callahan hoffte schon lange nicht mehr auf das große Los in ihrem Job. An diesem Morgen jedoch flatterten seltsamerweise Schmetterlinge in ihrem Magen. Sie presste sich die Hand auf den Bauch, als sie mit dem Aufzug in dem Bürohaus mitten im Stadtzentrum von Sacramento in den zweiten Stock fuhr.

Der Lift schien sich in Zeitlupe zu bewegen. Unentwegt gingen ihr die Worte ihrer Chefin durch den Kopf. „Es handelt sich um eine längerfristige Anstellung, Shana. Und zwar in Chance City.“

Chance City – der Ort, an dem sie aufgewachsen, aus dem sie mit achtzehn Jahren geflohen und in den sie nach zehn weiteren Jahren zurückgekehrt war. Zurück nach Hause.

Keine langen Fahrten mehr nach Sacramento, bloß um für ein paar Tage oder eine Woche einen Job anzunehmen. Keine Sorgen mehr, dass ihr Auto unterwegs schlappmachen könnte. Keine Angst vor Regen oder Nebel oder Verkehrsunfällen, die sie viel Zeit kosteten.

Wenn man tatsächlich einmal länger als zehn Minuten brauchte, um quer durch Chance City zu kommen, dann nur, weil man unterwegs anhielt, um mit einem Bekannten zu plaudern.

Natürlich gab es in diesem kleinen Ort auch eine Vermittlungsagentur – „Stets zu Diensten“ hieß sie. Wer etwas suchte oder anbot, klebte einen Zettel ans Schwarze Brett in der Kneipe, wo die meisten geschäftlichen Transaktionen geregelt wurden.

Die Aufzugtüren glitten auseinander. Shana folgte den Hinweisschildern zu den Räumen der noblen Vermittlungsagentur, die von den Klienten spöttisch auch „Frauen zur Miete“ genannt wurde. Julia Swanson war die Chefin, eine ebenso elegante wie selbstbewusste Frau.

„Hallo, Shana“, wurde sie von Missy, der Empfangsdame, begrüßt. „Gehen Sie bitte schon in Julias Büro. Sie wird gleich bei Ihnen sein.“

Das Büro strahlte die Noblesse seiner Besitzerin aus: gedeckte Farben, kostbare Möbel. Ihre Auftraggeber schätzten das vornehme Ambiente. Hinter dem Schreibtisch hing das Firmenmotto in Goldbuchstaben an der Wand: Wenn Sie Wert legen auf persönliche Zuwendung …

Shana setzte sich auf einen Stuhl, obwohl sie lieber auf und ab gelaufen wäre. Aus den Schmetterlingen in ihrem Magen war inzwischen ein Eisklumpen geworden. Nervös klopfte sie mit dem Fuß auf den Boden.

„Guten Tag, Shana.“ Julia stand im Türrahmen. „Wie fühlen Sie sich?“

Hoffnungsvoll. Verängstigt. Aufgeregt. „Gut danke. Ich bin schon ganz gespannt.“

Julia lächelte. „Bereit für Ihr Gespräch?“

„Ja.“ Shana erhob sich. „Können Sie mir schon etwas erzählen?“

„Mir ist es lieber, wenn das mein Klient tut.“

Sie verließen das Büro und gingen in den Konferenzraum, der zwei Türen weiter lag. Bisher hatte Shana mit ihren potenziellen Arbeitgebern immer in deren Büros gesprochen. In diesem Raum, in dessen Mitte ein großer Tisch mit vielen Stühlen stand, hatte sie noch keiner interviewt. Vor allem niemand aus Chance City. Das machte sie noch nervöser.

Ihre Hoffnung schwand, als der Mann sich von seinem Stuhl erhob. Er war groß, muskulös, hatte stahlblaue Augen und mittelbraunes Haar – und war ein alter Bekannter. Landon Kincaid. Shana hatte ihn vor einem Jahr zum ersten Mal gesehen und von Anfang an nicht leiden können. Er hatte nämlich versucht, ihre Schwester dem Mann abspenstig zu machen, für den sie seit jeher bestimmt war.

„Hallo, Shana“, begrüßte er sie jetzt, ohne ihr die Hand zu reichen.

„Kincaid.“ Sie klang abweisend.

„Dann lasse ich Sie beide jetzt mal allein.“ Julia schloss die Tür hinter sich.

Eine Weile starrte Shana auf die geschlossene Tür und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Schließlich drehte sie sich zu ihm um. „Damit wäre die Sache ja wohl erledigt.“

„Wieso?“

„Nun ja, jetzt, wo du weißt, dass ich die Kandidatin bin …“

„Ich habe ausdrücklich nach dir gefragt.“ Kincaid deutete auf einen Stuhl.

Sie runzelte die Stirn. „Warum?“

„Weil du genau die Fähigkeiten besitzt, auf die es mir ankommt.“

Verwirrt rieb sie sich die Schläfen. „Wieso hast du mich dann nicht direkt angesprochen? Wir haben uns doch vor vier Tagen bei Aggies Thanksgiving-Party gesehen.“

„Weil du Nein gesagt hättest.“ Er setzte sich. „Jetzt weißt du wenigstens, dass es mir wirklich ernst mit meinem Angebot ist.“

„Warum sollte ich einen anständigen Job ausschlagen? Du kennst meine Situation. Ich suche schon seit Langem eine Arbeit in der Stadt. Du hättest dir die Vermittlungsgebühren sparen und mir mehr zahlen können. Wir hätten beide etwas davon gehabt.“

„Du hättest abgelehnt“, sagte er lächelnd.

„Nur, weil wir uns nicht besonders grün sind? Wohl kaum.“

Er lehnte sich zurück und betrachtete sie aufmerksam. „Offenbar hat Julia dir nicht alles erzählt.“

„Ich weiß nur, dass es in Chance City und für länger ist.“

„Also nicht, dass es eine Arbeitsstelle mit Unterkunft ist?“

Verblüfft starrte sie ihn an. „Nein. Außerdem habe ich eine Wohnung, vielen Dank.“ Warum erwähnte sie das? Ihm gehörte das Haus, in dem sie ein Apartment im ersten Stock gemietet hatte.

„Nicht mehr. Das heißt, bald nicht mehr. Ich brauche nämlich eine Wohnung für Dylan. Dein Apartment wäre genau das Richtige für ihn.“

Mit einem Satz war Shana auf den Füßen. „Du setzt mich vor die Tür? Ich habe eine Tochter, die siebzehn Monate alt ist. Wo sollen Emma und ich denn hin?“

„Zu mir.“

Sie traute ihren Ohren nicht. Das konnte doch nicht wahr sein! Was sollten die Leute von ihr denken, wenn sie in das Haus eines alleinstehenden Mannes zog? Gerade fing man wieder an, sie ernst zu nehmen und zu respektieren, nachdem sie vor ein paar Jahren einfach von zu Hause abgehauen war. Glücklicherweise war der Ärger darüber inzwischen verraucht.

Wenn sie mit Kincaid unter einem Dach lebte, ging das Getuschel sofort wieder von vorn los. Sie wollte gehen. „Das war reine Zeitverschwendung. Für beide von uns.“

Er schaffte es, vor ihr an der Tür zu sein und legte die Hand auf die Klinke, um sie am Hinausgehen zu hindern.

Ihr Herz machte einen Sprung, als sein Oberkörper ihre Schulter streifte. Sie war verletzt, aufgebracht und … noch etwas, über das sie lieber nicht nachdenken wollte. „Sei nicht kindisch, Kincaid.“

„Bitte hör mich an.“

Shana kämpfte gegen die Tränen der Enttäuschung und Wut an. Auf keinen Fall wollte sie vor ihm Schwäche zeigen.

„Bitte, Shana.“

„Na gut“, murmelte sie nach einer Weile. „Aber nur wegen Julia. Ich möchte ihr nicht erzählen, dass ich den Job abgelehnt habe, ohne zu wissen, um was es geht.“

Kincaid trat zur Seite, ohne Shana aus den Augen zu lassen. Befürchtete er vielleicht, dass sie doch noch weglief?

Mit hocherhobenem Kopf ging sie zu ihrem Stuhl zurück, setzte sich und verschränkte die Arme. Herausfordernd sah sie ihn mit ihren grünen Augen an.

Kincaid verkniff sich ein Grinsen. Ihr Zorn passte nicht so recht zu ihrem geschäftsmäßigen Äußeren – Rock, Jacke und hohe Absätze. Normalerweise trug sie Stiefel, Jeans und T-Shirts, die die Rundungen ihrer schlanken Figur betonten. Und der Pferdeschwanz, zu dem sie ihr blondes Haar gebunden hatte, war auch neu.

Am liebsten hätte er sich neben sie gesetzt. Doch etwas Distanz war ihr vermutlich lieber. Deshalb nahm er auf der anderen Seite des Tisches Platz. „Ich sage dir am besten gleich, was ich will. Zurzeit brummt mein Laden. Ich kann mich kaum noch persönlich um all meine Kunden kümmern.“

„Deswegen hast du doch Dylan eingestellt.“

„Vor allem, weil er das Gefühl haben sollte, seinen Platz gefunden zu haben. Er ist gerade mal achtzehn. Ich muss ihm noch eine Menge beibringen. Das kostet Zeit. In der Zwischenzeit kann ich mich um nichts anderes kümmern. Und jetzt kommst du ins Spiel.“

„Inwiefern?“

„Sarah McCoy ist im September aufs College gegangen. Zwei Jahre lang hat sie sich um meinen Haushalt gekümmert. Ich habe noch immer keinen vollwertigen Ersatz für sie gefunden.“

„Um dein Haus zu putzen, muss ich doch nicht bei dir wohnen.“

„Es geht um mehr als bloß Putzen. Es geht auch ums Aufräumen. Ich hasse Unordnung. Die Wäsche stapelt sich. Und zum Kochen habe ich auch keine Zeit …“

„Das sind doch ganz normale Hausarbeiten. Dafür brauche ich höchstens einen Tag pro Woche. Wenn das eine Art Gefälligkeitsjob für mich sein soll …“

„Ich brauche Hilfe“, unterbrach Kincaid sie. Natürlich war sie auf den Job angewiesen, auch wenn sie es niemals zugeben würde.

Ihre Schwester Dixie, mit der er recht gut befreundet war, hatte es ihm erzählt. Dixie lebte zwar derzeit auf der anderen Seite der Erdkugel, aber Aggie McCoy hielt sie auf dem Laufenden, was ihre Schwester anging. Sie hatte ihr berichtet, wie knapp Shana bei Kasse war, dass sie jeden Cent zweimal umdrehen musste und trotzdem auf keinen grünen Zweig kam.

Deshalb hatte Dixie ihn umgehend angerufen und gefragt, ob er Shana irgendwie helfen konnte. Geld würde sie niemals von ihm nehmen, aber wenn er einen Job für sie hätte …?

„Also eine Art Beschäftigungstherapie?“, hatte Kincaid gefragt.

„So darf es auf keinen Fall aussehen. Und sag ihr ja nicht, dass du es ihr zuliebe tust. Dann lehnt sie nämlich sofort ab und klappt zu wie eine Auster. Obwohl sie eigentlich an ihr Kind denken sollte, um das sie sich ja auch noch kümmern muss. Geh also sehr diplomatisch vor. Und versprich mir, ihr niemals zu sagen, dass ich es war, die dich um Hilfe gebeten hat.“

„Das ist die Abmachung, Shana.“ Er sah sie kühl an. „Renovierungen sind mein eigentlicher Job, aber dazu kommen noch zweiunddreißig Häuser, nicht nur in Chance City, sondern auch im Umland, um die ich mich kümmern muss. Dafür habe ich so gut wie keine Zeit. Die Mieter kommen und gehen. Die Häuser müssen auf Vordermann gebracht werden.“ Er holte kurz Luft.

„Außerdem brauche ich jemanden für die Büroarbeit – Buchhaltung und Steuererklärung und der ganze Kram. In einer Kiste sammle ich sämtliche Abrechnungen und Belege für das laufende Jahr. Die müssen geordnet werden. Wärst du dazu imstande?“

„Im Rechnen war ich schon immer gut.“

Das beantwortete seine Frage nicht wirklich. „Deinen Lohn zahlt die Agentur. Darüber hinaus biete ich dir Kost und Logis sowie eine zusätzliche Summe, wenn du dich um mein Haus kümmerst – und konsequenterweise um mein Leben.“ Er unterdrückte einen Seufzer. Dixie hatte ihn gewarnt, dass sie sich sperren würde.

„Ehrlich gesagt wollte ich niemals so viel arbeiten. Dabei habe ich schon mehr Aufträge abgelehnt als angenommen. Aber jetzt, wo Dylan bei mir arbeitet, ist das etwas anderes.“

„Inwiefern?“

„Er muss auf möglichst vielen Gebieten Erfahrungen sammeln, damit er eine vollwertige Arbeitskraft wird – und irgendwann selbstständig arbeitet. Um Nebensächlichkeiten wie Kochen und Saubermachen kann ich mich da nicht auch noch kümmern.“ Kincaid sah ihr in die Augen, die immer noch feindselig blickten.

„Das Beste habe ich dir allerdings noch gar nicht erzählt – das Beste für dich, wie ich meine. Ich weiß, dass du gern als Raumausstatterin arbeiten würdest. Es geht nicht nur darum, nach dem Renovieren die Möbel wieder aufzustellen. Du könntest die Kunden bei der Einrichtung ihrer Häuser beraten, ihnen Vorschläge machen. Du wärst der kreative Teil der Firma, und ich würde deine Ideen umsetzen. Wir wären ein prima Team.“

Endlich sah sie interessiert aus. Die tiefe Falte zwischen ihren Augenbrauen verschwand allmählich. „Inneneinrichtungen für Wohnungen und Büros?“, fragte sie.

Kincaid nickte und hoffte, dass seine nächsten Worte sie endgültig überzeugen würden. „Dieser Teil der Arbeit wäre ausschließlich deine Sache. Und du behältst das Geld, das du dabei verdienst.“ Dieses Angebot konnte sie unmöglich ablehnen. Dessen war er sich bewusst.

„In ein oder zwei Jahren hast du vielleicht genug Geld beisammen, um dir eine eigene Wohnung zu leisten. Ganz zu schweigen davon, dass du dir einen Kundenstamm aufbauen könntest – das hast du ja bis heute nicht getan.“

„Warum tust du das?“

Einer der Gründe, warum er Dixies Bitte erfüllte, lag in seiner Vergangenheit. Er dachte kaum noch darüber nach, und auch jetzt erwähnte er nur das Nötigste.

„Mit sechzehn musste ich zusehen, auf eigenen Beinen zu stehen, um aus einem ziemlichen Schlamassel herauszukommen. Im Gegensatz zu dir hatte ich nicht für ein kleines Kind zu sorgen, aber trotzdem war der Weg zum Erfolg ziemlich steinig. Ich habe es weitgehend allein geschafft, wenn mir auch hier und da jemand geholfen hat, um die ersten Jahre zu überleben. Wenn ich mich jetzt um Dylan kümmere, mache ich einiges damit wieder gut – und wenn ich dir einen Gefallen tun kann.“

Er beugte sich zu ihr. „Du hast deinen Stolz, Shana. Das weiß ich. Aber er sollte dir nicht im Weg stehen, wenn sich eine Gelegenheit bietet.“ Auch er hatte lange Jahre seinen Stolz gehabt.

„Emma ist siebzehn Monate alt“, erwiderte sie zögernd. „Das ist eine ziemlich stressige Zeit – für Mütter, meine ich. In dem Alter machen Kinder viel Krach und viel Unordnung.“

„Das klappt schon“, beruhigte er sie – und sich selbst. „Wie du weißt, ist mein Haus sehr groß.“

„Das weiß ich eben nicht. Ich war nämlich noch nie da. Ich kenne auch niemanden, der jemals dort eingeladen war.“

„Das soll in Zukunft anders werden.“ Mit seinem Einsiedlerleben war er jahrelang zufrieden gewesen, doch in letzter Zeit dachte er immer öfter darüber nach, dass es nach neunzehn Jahren, die er hier bereits lebte, Zeit war, die Stadt und ihre Bewohner näher kennenzulernen und nicht nur die wenigen aus seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Es käme auch Dylan zugute.

„Wenn du mir hilfst, wird sich das ändern“, wiederholte er. „Ich habe noch nicht einmal einen Weihnachtsbaum aufgestellt. Vielleicht könnte das deine erste Aufgabe werden. Emma würde es bestimmt auch gefallen, oder?“

Damit hatte er eine Saite in Shana zum Klingen gebracht. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich, wurde weicher. Sie war nicht länger die verärgerte, stolze Frau, als die sie den Raum betreten hatte. Ihre Tochter würde einen Tannenbaum haben. Es gab ein paar Dinge, die es wert waren, seinen Stolz zu vergessen. „Ja“, sagte sie leise. „Das würde ihr gefallen.“

„Außerdem hätte sie ihr eigenes Zimmer. Im Moment teilt ihr euch doch wohl das Schlafzimmer, stimmt’s? Also, was hältst du davon?“

Ein langes Schweigen entstand. Schließlich sagte sie: „Ich muss darüber nachdenken.“

Verblüfft sah er sie an. Dabei war er sich seiner Sache doch so sicher gewesen …

„Wie lange brauchst du dafür?“, wollte er wissen. Hatte sie überhaupt eine Wahl? Eine preiswerte Wohnung zu finden war fast unmöglich. Warum zögerte sie noch?

Sie stand auf. „Ich komme heute Abend bei dir vorbei – wenn du zu Hause sein solltest.“

„Jederzeit nach sieben Uhr.“ Er folgte ihr zu Tür und öffnete sie.

Ohne ein weiteres Wort stapfte sie aus dem Haus. Nicht einmal von Julia verabschiedete sie sich.

Nachdenklich klopfte Kincaid an Julias Tür.

Sie winkte ihn herein. „Alles klar?“

„Sie denkt darüber nach.“

Julia zog die Augenbrauen hoch. Dann lächelte sie. „Ich habe ihre Tatkraft immer bewundert.“

„Was Sie Tatkraft nennen, nenne ich Dickköpfigkeit.“

„Ich habe schon vermutet, dass da zwei eigenwillige Charaktere aufeinanderprallen.“

„Das kann man wohl sagen. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber bei ihr war es Abneigung auf den ersten Blick.“

„Warum wollten Sie dann ausgerechnet sie haben? Und auch noch in Ihrem Haus?“

Ja, warum eigentlich? Zunächst einmal hatte er Dixie einen Gefallen erweisen wollen. Außerdem sollte Dylan eine eigene Wohnung bekommen. Nicht zuletzt hatte er auch Verständnis für Shanas Situation.

„Ich denke, sie wird bald für sich allein sorgen können, aber fürs Erste braucht sie jemanden, der sie unterstützt. Ich habe die Möglichkeit dazu.“ Zum Abschied schüttelte er Julia die Hand. „Ich rufe Sie an, wenn sie sich entschieden hat.“

„Gern.“

Er nahm die Treppe zur Tiefgarage. Es hatte zu regnen begonnen. Shana würde über rutschige Straßen zu der kleinen Stadt am Fuß einer Hügelkette fahren müssen und sicherlich länger brauchen als die Stunde, die die Fahrt normalerweise dauerte. Ihr Wagen war die reinste Schrottkiste. Hoffentlich überstand er den Trip. Kincaid verdrängte den Gedanken an das, was ihr möglicherweise zustoßen konnte, setzte sich ins Auto und fuhr los. Vielleicht holte er sie auf der Strecke ein.

Tatsächlich kam ihr Wagen nach einer Viertelstunde in Sicht. Kincaid fluchte leise, als er sah, dass sie sich strikt an das Tempolimit hielt. Auf dieser Strecke war das überhaupt nicht nötig. Es war nicht das Einzige, was ihn irritierte.

Von Anfang an waren sie sich nicht grün gewesen. Dennoch bewunderte er sie dafür, wie verbissen sie darum kämpfte, auf eigenen Füßen zu stehen. Und Menschen, die sich aufrichtig bemühten, musste man helfen. Das hatte er sich fest vorgenommen, nachdem er selbst in dieser Situation gewesen war und andere ihm geholfen hatten.

Er war gespannt, wie sich ihre Beziehung entwickeln würde.

Diese rein geschäftliche Beziehung, wie er sich immer wieder einredete.

Eisern hielt Shana sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Alle paar Sekunden schaute sie in den Rückspiegel in der Hoffnung, dass Kincaid sie endlich überholen und in Ruhe lassen würde. Sie musste über viele Dinge nachdenken. Dass er an ihrer Stoßstange klebte, irritierte sie kolossal.

Wenn er sich als Boss ebenso verhielt, würde sie den Job ablehnen. Sie brauchte keinen Aufseher, um ihre Arbeit zu erledigen.

An der Ausfahrt zu Chance City lagen ihre Nerven blank. Kurz entschlossen fuhr sie an den Straßenrand und hielt an.

Kincaid parkte unmittelbar hinter ihr. „Hast du Probleme mit deinem Wagen?“ Er kam zu ihr, als sie ausstieg.

Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. „Warum folgst du mir?“

Überrascht sah er sie an. „Folgen? Ich habe dasselbe Ziel und ich dachte mir, es sei unhöflich, dich zu überholen.“

Stimmte das, oder wollte er sie nur besänftigen?

„Bist du sauer auf mich, Shana?“

Die Art und Weise, wie er seine Stimme senkte, fast vertrauensvoll, hätte sie um ein Haar aus der Fassung gebracht. Sie riss sich zusammen. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass du mich aus meiner Wohnung wirfst.“

„Genau genommen ist es die Wohnung deiner Schwester.“

Sie runzelte die Stirn. „Dafür mache ich in ihrem Schönheitssalon sauber.“

„Aber wer zahlt die Miete?“

„Dixie. Ihr Name steht schließlich auf dem Mietvertrag.“

„Glaubst du, dass du mit den paar Stunden Arbeit die Miete wettmachst?“

„Das hat sie mir gesagt.“ Sie wandte den Blick ab und schien nachzurechnen. „Wahrscheinlich nicht“, murmelte sie schließlich. Ein weiterer Gefallen, für den sie sich eines Tages würde revanchieren müssen.

Er schwieg.

„Würdest du mich wirklich auf die Straße setzen?“, fragte sie.

Er holte tief Luft. „Shana, ich biete dir die Chance für einen Job, den du immer schon haben wolltest. Ich biete dir ein Heim mit einem Garten für deine Tochter und die Gelegenheit, genug Geld zu verdienen, um dir in naher Zukunft ein eigenes Haus leisten zu können.“

Abwehrend hob er die Hand, als sie etwas erwidern wollte. „Nein, ich würde dich nicht auf die Straße setzen, denn dann würde Dixie kein Wort mehr mit mir reden. Aber warum willst du diese Chance nicht wahrnehmen?“

Da war sie also – die Wahrheit. „Du tust das also wegen Dixie?“

Er fuhr sich durchs Haar. Bereits jetzt bedauerte er seine Entscheidung. „Ich tue das, weil ich Hilfe brauche – und weil du dafür genau die Richtige bist.“

„Was werden die Leute sagen, wenn ich in deinem Haus wohne?“

„Ist das wirklich wichtig?“

„Ja. Dir sollte es auch wichtig sein.“

„Ich geb’s auf.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zu seinem Wagen zurück. „Vergiss es.“

Shana sah ihre Zukunft in sich zusammenstürzen wie ein Kartenhaus. „Nein, warte.“ Sie lief hinter ihm her. „Ich nehme den Job an – unter einer Bedingung.“

„Ach ja?“

Fast hätte sie über seinen sarkastischen Tonfall gelacht. „Du musst anfangen, mit einer Frau auszugehen.“

Schockiert starrte er sie an. „Woher weißt du, dass ich das nicht tue?“

Da war etwas dran – zumal er so schnell geantwortet hatte. „Du musst es ganz offensichtlich tun. Zum Beispiel mit deinem Mädchen samstagabends zum Tanzen gehen. Niemand hat dich jemals in Gesellschaft einer Frau gesehen.“

„Weil ich mein Privatleben nicht an die große Glocke hänge.“

Sie verschränkte die Arme. „Wie dem auch sei. Ich möchte nicht, dass die Leute auf die Idee kommen, wir könnten aus einem anderen als geschäftlichen Gründen unter einem Dach leben.“

„Deshalb soll ich also eine Frau kennenlernen und so tun, als würde ich mich für sie interessieren – selbst wenn das gar nicht der Fall ist?“

Seine Logik irritierte sie, zumal sie kein triftiges Gegenargument hatte. Deshalb sah sie Kincaid nur stumm an. Sie brauchte seine Zusicherung, auch wenn sie nicht wusste, ob sie sich darauf verlassen konnte. Immerhin war er ja auch hinter ihrer Schwester her gewesen …

„Na gut, Shana“, sagte er schließlich. „Ich werde mich mit Frauen verabreden. In aller Öffentlichkeit.“

„Eine reicht aus. Wirkt sogar überzeugender. Dein erstes Date ist am Samstag, nachdem ich bei dir eingezogen bin.“

„Okay.“

Er sagte es so leichthin, als habe er tatsächlich ein Verhältnis.

„Und du musst glücklich dabei aussehen.“

Er lachte. „Wie ich mich in Gegenwart einer Frau verhalte, geht dich nichts an. Jedenfalls werde ich am Samstag tanzen gehen. Mehr kann ich nicht versprechen.“

Sie beschloss, ihn nicht weiter zu drängen. Er war ihr schon mehr entgegengekommen, als sie erwartet hatte. Deshalb streckte sie die Hand aus. „Abgemacht.“

Seine große, warme, schwielige Hand umfasste ihre. Sie hatten sich noch nie zuvor berührt. Es war, als führe ein Blitz durch Shana hindurch. Er war ein starker Mann – genau der Richtige, um sich anzulehnen.

Für Shana kam das jedoch nicht infrage. Nicht hier, nicht heute und nicht morgen. Sie würde ihre Arbeit erledigen und dankbar dafür sein. Dank Kincaid war sie auf niemanden mehr angewiesen.

2. KAPITEL

Shana parkte vor Aggie McCoys Haus, schaltete den Motor aus und atmete tief durch. Seit ihrer Rückkehr in die Stadt vor einem Jahr war Aggie der Fels in ihrem stürmischen Leben geworden. Außerdem war sie der Schlüssel zu Shanas Erfolg. Wenn sie Aggie davon überzeugen konnte, dass ihre neue Tätigkeit eine rein geschäftliche Angelegenheit war, würde sich das in Windeseile in der ganzen Stadt verbreiten und jeglichen Tratsch und Klatsch von vornherein verhindern.

Aggie war neunundsechzig, seit mehr als zwölf Jahren Witwe, hatte acht Kinder großgezogen und inzwischen jede Menge Enkel. Sie kümmerte sich um jeden, der ihr über den Weg lief, egal, ob es sich um Verwandtschaft oder entfernte Bekannte handelte. Außerdem schloss sie Shana jedes Mal, wenn sie sich sahen, so liebevoll in die Arme, wie es ihre eigene Mutter niemals getan hatte.

Shana klopfte zweimal, bevor sie die Haustür öffnete. Der Duft von Äpfeln und Zimt stieg ihr in die Nase. „Jemand zu Hause?“, rief sie.

„Mommy! Mommy!“ Emma kam aus der Küche gelaufen.

Shana nahm sie auf den Arm und wirbelte sie durch die Luft. Emmas blonde Locken flogen ihr um die Stirn. Das T-Shirt passte perfekt zu ihren grünen Augen, wie sie alle Callahans hatten. „Da ist ja mein Schatz. Hier riecht es aber sehr gut.“

„Äpfel. Mhm.“

„Du bist früh dran.“ Aggie kam in den Flur und wischte sich die Hände an der Schürze ab. „Wie ist es denn gelaufen?“

Shana knuddelte Emma, die mit ihrem Anhänger spielte. „Ich habe den Job. Eine Vollzeitstelle. Mitten in der Stadt.“

„Und wer ist der Boss?“

„Kincaid.“

Aggie zog die schwarzen Augenbrauen hoch. „Was sollst du denn für ihn tun?“

„Ich bin so eine Art Mädchen für alles. Haushälterin, Putzfrau, Bürohilfe, Innenausstatterin …“

„Klingt nach mehr als einer Vierzigstundenwoche.“ Aggie ging in die Küche. „Ich muss den Kuchen aus dem Ofen nehmen.“

Shana folgte ihr. „Mit den vierzig Stunden bin ich mir nicht so sicher. Aber die Arbeit ist ziemlich abwechslungsreich. Außerdem wohne ich bei ihm.“

Aggie drehte sich um, sagte aber nichts. Das war ziemlich ungewöhnlich für sie.

„Es ist für alle eine Win-win-Situation, Aggie. Er will mein Apartment für Dylan, und er braucht eine Haushälterin. Deshalb ziehen Emma und ich bei ihm ein. Mein kleiner Schatz hat zum ersten Mal ein eigenes Zimmer – und einen Garten.“ Sie rieb ihre Nase gegen Emmas, die ihre Händchen auf Shanas Wangen legte und ihr einen nassen Kuss gab. „Er hat übrigens eine Freundin.“

„Wirklich?“ Aggie zog den Apfelkuchen aus dem Ofen und stellte das Blech auf einen metallenen Untersetzer.

Shana kam näher. „Die Leute sollen wissen, dass das alles rein geschäftlich ist. Kannst du das ein bisschen herumerzählen?“

„Unterstellst du mir etwa, Gerüchte zu verbreiten?“

„Ich betrachte das mehr als Schadensbegrenzung. Ich habe hart daran gearbeitet, in dieser Stadt wieder akzeptiert zu werden. Über Kincaid hat es noch nie Gerede gegeben. Das ist für mich eine große Chance. Jetzt kann ich es mir sogar leisten, dich und die anderen Babysitter zu bezahlen.“

„Darüber reden wir ein anderes Mal. Ich freue mich für dich, Liebes. Klingt wie die Lösung all deiner Probleme. Typisch Kincaid. Er muss hellseherische Fähigkeiten haben. Genau im richtigen Moment hat er sein Angebot auf den Tisch gelegt – als du es am dringendsten gebraucht hast.“

Sie musterte Shana mit einem seltsamen Blick, als ob sie etwas wüsste, von dem Shana keine Ahnung hatte. „Die Dinge geschehen nun mal, wenn es so weit ist. Hast du das nicht immer selbst gesagt?“

„Genau – und dass es auf die Sekunde ankommt.“

„Bitte, Aggie! Erzähl allen Leuten, dass es wirklich rein geschäftlich ist!“

„Ich versuche es, aber du weißt, dass sie sich trotzdem das Maul zerreißen, wenn sie Lust darauf haben. Würde mich nicht wundern, wenn sie sogar Wetten auf euch abschließen. Du weißt doch, wie die Leute sind.“

„Wenn sie erst mal Kincaids Freundin sehen, werden sie still sein.“

„Interessant, dass er sich noch nie mit einer Frau gezeigt hat. Wie kommst du darauf, dass er ein Verhältnis hat?“

„Runter“, quengelte Emma auf Shanas Arm.

Shana nutzte den Moment der Ablenkung, um sich eine Antwort zu überlegen. „Er will mit ihr am Samstag zum Tanzen gehen.“

„Ach ja?“ Aggie lachte glucksend. „Ich war schon seit Jahren nicht mehr im Stompin’ Grounds. Aber warum bietet er dir eine Arbeit als Haushälterin an, wenn er es endlich mal ernst meint mit einem Mädchen und sich in aller Öffentlichkeit mit ihr zeigt? Bist du ihm mit Emma da nicht nur im Weg?“

„Wer weiß schon, was in Kincaids Kopf vor sich geht.“ Shana setzte sich zu Emma auf den Boden und holte Plastikspielzeug aus einer Schublade.

„Wann ziehst du denn bei ihm ein?“

„Am Wochenende. Da die Möbel ohnehin Dixie gehören, lasse ich sie für Dylan stehen. Wenn es ihm nicht gefällt, kann er sich ja anders einrichten. Ich muss nur meine und Emmas Sachen mitnehmen. Die passen in ein paar Kisten.“

„Soll ich dir beim Umzug helfen?“

„Danke. Kincaid hat sich schon angeboten. Emma, leg das Spielzeug zurück. Wir müssen los.“ Shana erhob sich und tätschelte Aggies Schulter. „Tut mir leid, dass ich dir an Thanksgiving die Ohren vollgeheult habe. Es ist mir richtig peinlich. Trotzdem hat es mir gutgetan, mal mit jemandem über alles zu reden. Vielleicht hat Kincaid telepathische Fähigkeiten und es auf diese Weise mitbekommen.“

Aggie nickte ernst. „Damit könntest du sogar recht haben.“

Du hast ihm doch nicht etwa was erzählt?“

Sie hob die Hand. „Nicht ein Wort, das schwöre ich. Sie nahm Shana in die Arme. „Das ist genau das Richtige für dich und die Kleine.“

Shanas Augen brannten verdächtig. „Die Leute sollen vergessen, wie ich früher war. Ich bin jetzt ein anderer Mensch.“

„Wenn sie Gerüchte verbreiten oder Wetten auf dich abschließen, dann tun sie es nur, weil sie sich für dich interessieren und dich mögen. Andernfalls wärst du ihnen nämlich vollkommen egal.“

Shana richtete sich auf. „So habe ich das noch gar nicht gesehen.“

Auf einmal schienen sich die Ereignisse zu überstürzen. Shana konnte kaum begreifen, wie ihr geschah.

Ja, sie war ein Spätzünder, in jeder Beziehung, aber gezündet hatte es jetzt auf jeden Fall. Das alles verdankte sie Landon Kincaid, einem Mann, der sie bisher kaum beachtet hatte. Manchmal taten sich ganz neue Wege auf, mit denen man niemals gerechnet hatte. Und die Leute, die sie einem bahnten, erschienen auf einmal in einem neuen Licht.

Kincaids Handy klingelte in dem Moment, als er vor dem Restaurant parkte, in dem er sich mit Dylan zum Essen verabredet hatte. Er schaute aufs Display und ließ es noch einmal läuten, ehe er das Gespräch entgegennahm. „Hallo, Aggie. Ich habe mit deinem Anruf gerechnet.“

„Ach, wirklich? Wieso?“

„Shana hat dir bestimmt schon von meinem Angebot erzählt.“

„Ja, das hat sie. Dixie muss dich angerufen haben, weil ich ihr erzählt habe, dass ich mir wegen Shana Sorgen mache.“

„Ich habe Dixie versprochen, Shana nicht zu verraten, woher ich von ihrer Situation weiß. Nur von dir könnte sie es erfahren.“

„Ich nehme das Geheimnis mit ins Grab, Kincaid.“

Er entspannte sich. „Danke.“

„Sie macht sich allerdings Sorgen um ihren Ruf.“

„Das habe ich gemerkt.“

„An deiner Stelle würde ich allen sofort reinen Wein einschenken. Je länger du mit der Wahrheit hinterm Berg hältst, desto lauter wird das Gerede werden.“

„Und wer sollte das tun?“

„Du selbst. Fang bei Honey an. Dann wissen bald alle Bescheid.“

Honey war die Besitzerin des Restaurants, vor dem er gerade parkte. „Danke, Aggie. Für alles.“

„Gern geschehen.“ Ehe sie auflegte, meinte sie: „Weißt du, Kincaid, zwischen euch beiden herrscht eine ganz besondere Chemie.“

„Und ob. Aber eine ziemlich giftige.“

Aggie lachte leise. „Schon, aber hinter ihrer rauen Schale verbirgt sich ein sehr weiches Herz. Sie ist oft verletzt worden. Und sie hat sich ziemlich abgestrampelt, um wieder auf die Füße zu kommen. Ihre Unabhängigkeit ist ihr wichtig – wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ja, ich habe verstanden. Ich soll ihr gegenüber ehrlich sein.“

„Genau.“

Kaum hatte er das Gespräch mit Aggie beendet, rief er Shana an. „Aggie rät uns, von Anfang an mit offenen Karten zu spielen“, erklärte er, nachdem sie ans Telefon gegangen war. „Sie schlägt vor, dass ich Honey erzähle, was wir vorhaben. Ich sitze gerade vor ihrer Kneipe; Dylan und ich wollen hier essen. Wenn du möchtest, kannst du zu uns stoßen, und wir erzählen es ihr gemeinsam.“

„Ist schon okay, wenn du das allein machst. Wenn ich da jetzt auch noch aufkreuze, sieht es womöglich so aus, als seien wir ein Paar.“

„Na gut.“ Er war ebenso erleichtert wie besorgt, denn er wollte die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen. Honeys Kneipe war der Umschlagplatz von sämtlichen Neuigkeiten, die sich in der Stadt ereigneten. Wenn er es hier geschickt anstellte, konnte nichts schiefgehen. „Wann kannst du umziehen?“

„Am Freitag.“

„Samstag wäre mir lieber. Da habe ich nicht so viel zu tun.“

„Einverstanden. Hast du schon ein Date für Samstagabend?“

„Ich blättere gerade durch mein Notizbuch, während wir uns unterhalten.“

Sie lachte.

„Brauchst du Umzugskartons?“

„Nein, danke. Ich habe Dixie angerufen, um ihr Bescheid zu sagen, aber ich habe nur ihre Mailbox erreicht. Bis jetzt hat sie sich noch nicht gemeldet. Hast du schon mit ihr gesprochen?“

„Manchmal schicken wir uns E-Mails – wegen des Hauses.“ Er hatte nicht nur geschäftlich häufiger mit Dixie zu tun, sondern renovierte auch ihr und Joes Haus, solange die beiden im Ausland arbeiteten. Die Stelle hatten sie sofort nach ihren Flitterwochen angetreten.

„Ich versuch’s später noch mal. Könntest du Dylan bitten, mich anzurufen? Er soll sich die Wohnung mal anschauen.“

„Klar.“ In dem Moment fuhr Dylan in Kincaids Kleinlaster vor. „Wir bleiben in Verbindung, Shana. Ruf mich an, wenn du irgendetwas brauchst.“

„Ich würde mir dein Haus gern ansehen, bevor ich einziehe, um zu sehen, was ich noch an Möbeln für uns besorgen muss.“

„Wie wär’s mit morgen Abend?“ Sie verständigten sich auf eine Zeit. Dann drückte er die Aus-Taste, stieg aus dem Wagen und ging zu Dylan.

„Hey, Boss!“ Dylan sprang vom Fahrersitz.

„Hast du das mit dem Bad hingekriegt?“, wollte Kincaid wissen.

„Klar.“

Sie betraten das Restaurant. „Und was ist mit der Badewanne?“

„Das Zimmer ist leer geräumt. An einigen Stellen ist Schimmel.“

„Wie hast du die Wanne allein rausgekriegt? Das Ding muss doch eine Tonne wiegen.“

Dylan grinste. „Wahrscheinlich bin ich stärker als du.“ Er versetzte Kincaid einen Hieb gegen den Arm und tanzte wie ein Boxer um ihn herum.

Es war kaum zu glauben, dass der Junge bis vor zwei Monaten noch obdachlos gewesen war. Er hatte bereits an Gewicht zugelegt, sodass er muskulöser wirkte, und er trug sein Haar etwas länger. Die Mädchen warfen ihm begehrliche Blicke zu.

Kincaid winkte Honey zu und setzte sich an den einzigen freien Tisch.

„Bin gleich bei euch, Jungs!“, rief sie, während sie mit einem Teller in jeder Hand auf einen Tisch zusteuerte. Ihr grau melierter Pferdeschwanz wippte auf und ab.

„Eric hat heute angerufen“, berichtete Dylan. „Er und Marcy besuchen Gavin und Becca am Samstag. Sie haben mich zum Essen eingeladen.“ Verstohlen musterte er vier Mädchen, die kichernd an einem Nebentisch saßen und ständig zu ihm hinüberschauten.

Eric und Marcy Sheridan hatten Dylan vor ein paar Monaten von der Straße geholt. Erics Schwester Becca hatte vor Kurzem Shanas Bruder Gavin geheiratet. Irgendwie schienen alle Familien in Chance City miteinander zu tun zu haben.

Dylan schaute Kincaid an. „Ist das okay für dich – oder hast du am Samstag einen Auftrag für mich?“

„Es gibt einiges für dich zu tun.“

„Wirklich?“ Dylan sah enttäuscht aus.

„Du wirst nämlich umziehen“, erklärte Kincaid genau in dem Moment, als Honey an ihren Tisch trat, um ihre Bestellung entgegenzunehmen.

„Umziehen? Wohin? Warum?“

„In die Wohnung über der ‚Oase‘.“

Dylan runzelte die Stirn. „Du meinst den Schönheitssalon in der Innenstadt?“

„Genau den. Da drüber liegt deine neue Wohnung. Ein sehr schönes Apartment.“

„Und wohin zieht Shana?“, wollte Honey wissen.

„In mein Haus.“

Vielsagend zog Honey die Augenbrauen hoch.

„Ich brauche eine Haushälterin“, beeilte er sich zu erklären. „Außerdem soll sie noch ein paar andere Arbeiten für mich erledigen. Sie ist ideal dafür. Ich habe sie übrigens über eine Agentur engagiert.“

„Hört, hört“, kommentierte Honey.

„Es ist rein geschäftlich“, versicherte Kincaid.

„Mhm“, machte Honey.

Erstaunt riss Dylan die Augen auf. Er war bis jetzt noch gar nicht zu Wort gekommen. „Ich kriege wirklich ein Apartment ganz für mich allein?“

„Ja. Das Haus gehört mir. Du wirst mir also Miete zahlen müssen. Ich denke, du hast mir lange genug auf der Tasche gelegen.“

Dylan grinste übers ganze Gesicht.

„Emma wird wohl mitkommen“, mutmaßte Honey.

„Natürlich.“

„Ich habe dich noch nie zusammen mit einem Baby gesehen.“

Vermutlich, weil er noch nie mit einem zu tun hatte. Kinder interessierten ihn nicht besonders. Aber er musste sich ja auch nicht um die Kleine kümmern. „Der Garten wird ihr bestimmt gefallen“, sagte er zu Honey. „Und ich weiß, dass Shana froh ist, nicht mehr jeden Tag nach Sacramento fahren zu müssen. Es ist für alle eine gute Lösung.“

Kincaid war erleichtert. Die erste Hürde war genommen. Immer wieder schaute er zu Honey hinüber, die hinter der Bar stand und sich mit ihren Gästen unterhielt. Machte die Neuigkeit bereits die Runde?

Während des Essens sprachen Kincaid und Dylan über seine neue Wohnung. Eigentlich bezweifelte er, dass Dylan schon reif genug war, um allein zu leben, aber es war die einzige Möglichkeit, um Shana zu unterstützen – jedenfalls die Einzige, die sie akzeptieren würde. Auf jeden Fall wollte er Dylan im Auge behalten und darauf achten, dass er mit seiner neu gewonnenen Unabhängigkeit nicht übermütig wurde.

„Können wir uns die Wohnung mal ansehen?“, fragte Dylan, als Kincaid die Rechnung beglich.

„Heute Abend nicht. Shana hat gesagt, du sollst sie anrufen, um einen Termin zu vereinbaren. Könnte ja sein, dass dir die Einrichtung nicht zusagt. Sie ist sehr … weiblich, glaube ich.“

Die vier Mädchen kamen an ihrem Tisch vorbei. Jedes von ihnen warf Dylan ein Lächeln zu. Kincaid lebte allein, seit er sechzehn war. Nur zu gut wusste er, welche Versuchungen in dem Alter auf einen warteten – vor allem, wenn es ums andere Geschlecht ging. „Wir müssen uns mal über Bienen und Blümchen unterhalten“, grinste er.

Dylan verdrehte die Augen.

„Wenn du so klug bist, wie ich vermute, nimmst du dir zu Herzen, was ich dir zu sagen habe.“

„Jawohl, Sir!“

Kincaid musste lachen.

Auf dem Weg zum Ausgang fragte einer der Gäste: „Shana zieht also zu dir?“

„Um für mich zu arbeiten“, antwortete Kincaid freundlich, ohne stehen zu bleiben. Honey hatte also schon ganze Arbeit geleistet.

„Was ist denn daran so toll, dass Shana als Haushälterin zu dir zieht?“, wollte Dylan wissen, nachdem sie das Restaurant verlassen hatten.

„Sie ist jung, attraktiv, alleinstehend – und diese Stadt liebt den Klatsch.“ Kincaid spielte mit seinen Autoschlüsseln. „Vergiss das nicht. Außerdem haben die Einwohner ein Gedächtnis wie ein Elefant. Sie sind wie eine große Familie – mit all ihren Feindseligkeiten und Vorlieben.“

„Danke. Ich werde es nicht vergessen.“ Dylan schaute sich um. „Als du mir den Job hier angeboten hast, war ich wirklich froh. Ich habe mir allerdings schon Gedanken darüber gemacht, ob ich so weit weg von einer Großstadt wohnen möchte. Inzwischen gefällt es mir. Ich finde es toll, dass die Stadt von Goldgräbern gegründet wurde und dass das Zentrum nur ein paar Häuserblocks groß ist. Und dass alle Leute einen grüßen.“

„Selbst wenn sie alles von dir wissen?“

„Das finde ich cool. Man fühlt sich irgendwie … zu Hause, wenn du verstehst, was ich meine.“

Kincaid verstand ihn nur zu gut. Er hatte sich bisher aus dem gesellschaftlichen Leben weitgehend zurückgehalten und sich darauf beschränkt, gute Arbeit abzuliefern, was seinem Ruf nicht abträglich war.

„Außerdem gefallen mir die Natur und die Berge und die Aussicht auf die Sierras“, fuhr Dylan fort. „Ich könnte mir vorstellen, für immer hierzubleiben.“

Chance City lässt einen nicht mehr los, überlegte Kincaid. Ihm war es genauso ergangen, als er hier gelandet war. „Du hast recht. Es ist eine gute Stadt. Also, dann bis später. Wir treffen uns zu Hause.“

Zu Hause. In Kincaids ruhiges Haus war das Leben eingebrochen, als Dylan zu ihm gezogen war. Und jetzt wurde es möglicherweise noch lebendiger. Andererseits würde auch mehr Ordnung einkehren, wenn Shana sich erst einmal um den Haushalt kümmerte. So viel war schon mal sicher.

Er musste nur zusehen, dass sie niemals den Grund erfuhr, warum er sie eingestellt hatte. Dann würde sie keine Minute länger bei ihm bleiben, und er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass sie erneut sämtliche Brücken hinter sich verbrannte.

Das war ein entsetzlicher Gedanke für jemanden, der so zuverlässig und verantwortungsbewusst war.

Kincaids Haus lag etwa dreißig Meter zurückgesetzt von der Straße.

Shana lenkte ihren Wagen über die von Pinien und Eichen gesäumte Auffahrt, die das Haus vor neugierigen Blicken schützten. „Ziemlich dunkel“, bemerkte sie, als sie um die letzte Kurve bog und vor dem Haus hielt, das mit seiner hell erleuchteten Veranda wie eine riesige Blockhütte aussah.

„Dunkel“, plapperte Emma nach, die in ihrem Kindersitz angeschnallt war.

„Tagsüber ist es bestimmt sehr schön. Meinst du nicht auch, Schätzchen? Schau dir nur all diese Fenster an. Die Aussicht muss großartig sein.“

„Ssön“, wiederholte Emma. Ihr Wortschatz wurde schnell größer.

Shana nahm Emma aus dem Kindersitz und lief die Treppenstufen zum Eingang des beeindruckenden Gebäudes hinauf. Es fügte sich perfekt in seine Umgebung ein. Die ganze Stadt wusste, dass er das Haus vor vier Jahren selbst gebaut hatte. Ursprünglich hatte er es verkaufen wollen, aber dann doch nicht getan. Wozu brauchte ein alleinstehender Mann fünf Schlafzimmer?

Man hatte Wetten über den Zeitpunkt seiner Hochzeit abgeschlossen, doch dazu war es nicht gekommen. Schließlich versiegte der Klatsch. Manch einer fragte sich allerdings, ob eine Frau wohl seinen Antrag zurückgewiesen und ihm damit das Herz gebrochen hatte.

Kincaid öffnete die Tür, ehe sie anklopfen konnte. Er trug Jeans, ein kariertes Flanellhemd und dicke Wollsocken. Die Hemdsärmel hatte er bis zu den Ellbogen aufgekrempelt, sodass seine muskulösen Unterarme zu sehen waren. Stark. Das war immer das erste Wort gewesen, was Shana in den Sinn kam, wenn sie an ihn dachte.

„Hat dir die Katze die Zunge abgebissen?“ Er legte den Kopf schräg und sah Emma an.

„Tatze?“ Emma sah sich um. „Will runter. Tatze.“ Genauso entschlossen klang sie, wenn sie ein „Pätzchen“ verlangte.

„Es gibt keine Katze, Schätzchen“, sagte Shana. „Oder etwa doch?“

„Keine Haustiere“, bestätigte Kincaid. „Hinein mit euch ins Warme. Ich habe Feuer gemacht. Keine Sorge – vor dem Kamin steht ein großer Schirm. Emma wird sich nicht verbrennen.“

Seine Gewissenhaftigkeit verblüffte sie. „Das ist sehr umsichtig.“

„Aber auch egoistisch“, fügte er hinzu. „Ich liebe Kaminfeuer im Winter und möchte um nichts in der Welt darauf verzichten.“ Er wandte sich an Emma. „Wie geht es dir denn, Miss Emma?“

„Erinnerst du dich an Kincaid, Emma?“, fragte Shana. „Kannst du Kincaid sagen?“

Emma schüttelte den Kopf und steckte den Daumen in den Mund.

„Es ist ein neues Wort, nicht wahr? Versuch’s doch mal, Emma. Sag Kincaid.“

Emma sah ihn lange an. Schließlich sagte sie „Tintaid“.

Shana unterdrückte ein Lachen. „Fast“, meinte sie. „Das müssen wir noch ein bisschen üben.“

„Bis dahin ist es eben Tintaid“, meinte Kincaid.

„Wenn es dich tröstet – Dylan hat sie zuerst auch Dilly genannt.“

„Dann bin ich lieber Tintaid als Dilly.“

„Klar.“ Sie lächelte. „Wo ist er überhaupt?“

„Nach Sacramento gefahren, um ein paar Poster zu kaufen. Den Vorschlag hast du ihm doch selbst gemacht.“

„Na ja, ich glaube nicht, dass meine Wildblumenbilder nach seinem Geschmack sind.“

Kincaid führte sie zum Kamin, der den größten Teil einer Wand einnahm und von zwei Fenstern mit Dreifachverglasung flankiert wurde – um Energie zu sparen, wie er erklärte. Die wuchtigen Möbel passten perfekt zum Blockhausstil – eine zwar sehr männliche, aber ausgesprochen gemütliche Einrichtung.

„Will runter“, wiederholte Emma. Shana setzte sie auf den Fußboden, und sie krabbelte zum Kamin. In gebührender Entfernung hielt sie inne. „Ssön.“

Shana zog ihr das Jäckchen aus und ihre eigene Jacke auch.

Kincaid hängte sie an die Garderobe neben der Haustür.

„Du hast ein wunderschönes Haus“, sagte Shana.

„Danke. Willst du auch die anderen Zimmer sehen?“

„Gern. Komm, Emma.“

Emma lief voraus, und sie folgten ihr ins Esszimmer, das sich ans Wohnzimmer anschloss, und von dem man ebenfalls eine fantastische Aussicht hatte.

Dahinter lag die Küche – so perfekt eingerichtet, wie Shana es noch nie gesehen hatte: holzverkleidete Schränke, Edelstahlspüle, Arbeitsplatten aus grüngoldenem Granit. Sie bot mehr Platz, als selbst ein Profikoch jemals benötigen würde, ganz zu schweigen von einem alleinstehenden Mann. Shana überlegte, ob eine solche Küche ihre Talente als Köchin beflügeln würde.

Sie besichtigten zwei weitere Zimmer im Erdgeschoss und gingen in die erste Etage, wo sich ein großes und zwei kleinere Schlafzimmer sowie das Arbeitszimmer befanden. In das große Schlafzimmer hätte ihr gesamtes Apartment locker hineingepasst. Jeder Raum war so perfekt eingerichtet, dass sie kaum etwas würde ändern müssen, was sie als Innenausstatterin fast enttäuschend fand. Sie hatte gehofft, Kincaid ein paar Tipps geben zu können.

„Du kannst mit Emma die beiden Räume im Erdgeschoss oder hier oben beziehen.“

„Danke. Ich werde es mir überlegen.“ Es wäre besser, etwas Distanz zu halten. Außerdem sollte Emma ihn so wenig wie möglich stören. Andererseits gefiel ihr der Gedanke, auf derselben Etage wie er zu leben.

„Du solltest dich bald entscheiden, damit Dylan und ich das entsprechende Zimmer für Emma herrichten können.“

„Klar. Hast du eigentlich einen Raumausstatter gehabt?“

„Ich habe mir Ratschläge geholt, aber im Großen und Ganzen habe ich das alles allein gemacht. Wenn du in der Nähe gewesen wärst, hätte ich dich engagiert.“