Was für eine Karriere! Der in Hildesheim aufgewachsene Tan Caglar ist nacheinander Werber, Profibasketballer, Motivationscoach, Model, Schauspieler und Comedian. Und dann schlägt das Schicksal grausam zu: Er muss auf Dauer in den Rollstuhl.
Würde man Tan Caglars Leben so erzählen, wäre das sicher ergreifend. Aber auch total falsch. Denn der Rollstuhl gehört an den Anfang dieser Karriere. Die Highlights kamen alle nach dem Tag R. Da war Tan 26 – und der seit Langem bekannten Prognose Rollstuhl erstaunlich lange davongelaufen.
Nach einer bewegend geschilderten Phase der Depression hat er sich entschlossen, der für ihn vorgesehenen Rolle Behinderter einfach davonzufahren. Wie er das gemacht hat und macht – davon erzählt Tan Caglar in seinem humorvollen und zugleich anrührenden Lebensbericht. Mit dabei unter anderem: wieso die Kombination behindert und Türke die meisten Deutschen überfordert. Wie man als Raufbold im Kindergarten eine Psychologin reinlegt. Was einen deutschen Türken im Heimaturlaub so alles stört. Und welcher Segen die bedingungslose Liebe von Eltern sein kann.
Wenn Träume laufen lernen
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage August 2019
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
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Titelabbildung: © Angela Wulf
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ISBN 978-3-8437-2080-9
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Eine Sekunde.
Zeit für zwei Silben.
Mehr braucht es nicht, um dir das Leben zu versauen.
»Roll-stuhl«. Das waren meine zwei Silben. Mein Moment der Wahrheit, nach dem nichts mehr so sein sollte wie zuvor. Dabei hatte mich dieses Wort mein Leben lang verfolgt, mir aufgelauert. Seit meiner Geburt und dem festgestellten Rückenmarksleiden Spina bifida umkreiste mich der Begriff wie ein Satellit. Ab und an sah ich ihn in weiter Ferne aufblitzen, wenn das Wort – dieses Ungetüm – in Behandlungsgesprächen fiel, auf Nachfrage von Freunden oder im Small Talk mit barschen Fremden. Aber immer konnte ich verneinen, wie unbeteiligt abwinken. Es ging ohne. Ich hatte eine Gehbehinderung, aber ich konnte laufen!
Und jetzt sitzt mir der Arzt gegenüber, und das zweisilbige Wort ist von seiner zu meiner Seite herübergeschwebt wie ein durch die Luft übertragbarer Virus. Und jetzt soll ich damit umgehen? (Oder heißt das ab jetzt »umsitzen«? Oder »umfahren«?)
Aber mir ist nicht nach Blödeln zumute. Ich fühle mich nur noch elend. Die Kehle zugeschnürt, starre ich vor mich hin, regungslos. So als könnte ich das Unausweichliche noch einmal abwenden, solange ich nur keinen Mucks von mir gebe. Aber die Ergebnisse sind so eindeutig wie der Blick des Arztes mild. Ich muss in absehbarer Zeit in den Rollstuhl. Für immer. Diese drei Silben sind noch schlimmer als die ersten beiden: Für im-mer. Puh!
In meinem Schädel zucken die Gedanken. Was wird aus dem Sport? Da bin ich sehr ambitioniert dabei. Ich war sogar einmal zum Probetraining bei der Jugend eines Fußball-Erstligisten eingeladen. Auf dem Papier stachen meine Werte als Torhüter heraus; und meine Gehbehinderung wurde daraus irgendwie nicht ersichtlich. Was haben die Scouts Augen gemacht, als ich um die Ecke gehumpelt kam! Solche Auftritte liebe ich. Die Komik aus meiner Situation ziehen und mich daran aufrichten.
Ich habe dann doch lieber Basketball gespielt – und es bis in die Bezirksliga geschafft. Das kann ich mir ab jetzt schenken.
Ein Leben lang im Rollstuhl also? Wie Stephen Hawkins, nur ohne Genialität? Wer will das denn? Niemand natürlich. Kein Rollstuhlfahrer auf diesem Planeten – ganz egal, wie selbstverständlich er seinen Alltag zu meistern scheint – hat sich dieses Schicksal ausgesucht; jeder musste sich damit arrangieren. Rollstuhl statt Gehen ist niemals etwas, um das man gebeten hätte. Klingt trivial, wird aber trotzdem oft übersehen.
Ganz anders ist das ja beim Liegefahrrad. Auf die Kameraden dürfen Sie getrost mit dem Finger zeigen, wenn Sie einen erblicken. Diese erwachsenen Menschen, die krampfig über ihre Plauze blicken und viel zu dicht an uns vorbeisausen, diese wandelnden Nackenschmerzen haben ihren traurigen Seinszustand im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und freiwillig gewählt! Die sind selbst schuld. Was läuft im Kopf dieser Leute ab? Ich möchte mich körperlich betätigen, aber dabei bitte liegen bleiben! Ein Liegefahrrad? Ganz ehrlich: Dann lieber Rollstuhl. Ich kann im Sommer wenigstens problemlos weite Shorts tragen, ohne dass mir dabei alle paar Meter einfach alles unbemerkt aus der Hose rutscht!
Ich wünschte, der Humor wäre damals, beim Arzt, zur Stelle gewesen, um mich aufzufangen. Doch zum Scherzen war mir kaum zumute. Dazu kauerte ich viel zu benommen in meiner Ecke und fühlte mich wie erschlagen.
Ein Rolli? Das war doch nicht ich!
Das Niederschmetternde am Rollstuhl steckt ja schon im Begriff selbst. Es ist ein Stuhl, und es rollt – hä? Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Kein richtiges Möbelstück und auch kein echtes Fahrzeug. Haben Sie mal versucht, mit Ihrem Fernsehsessel Bahn zu fahren? Nicht viel anders fühlt es sich mit Rollstuhl an. Du sollst den ganzen Tag drinsitzen, aber genauso damit deine Oma besuchen. Der Rolli ist wie der sprichwörtliche schwere Rucksack – aber diesen schleppst du den ganzen Tag unterm Hintern mit dir herum.
Warum ich? Die typische pathetische Frage vom Schicksal überrollter Menschen. Immer ohne Antwort.
So zerfloss ich in meiner Ecke. Ich registrierte rohe Furcht, gepaart mit Einsamkeit. Es gab kein Außen mehr. Ich vernahm nur noch bebendes Innen.
Ja – doch: Das war ich. Damals.
2.500 Menschen machen Krach. Das tun sie automatisch, wenn man ihnen ordentlich einheizt. Da muss nur jeder ein kurzes Jubeln in die Runde schicken, ein »Ja!« hier, ein lang gezogenes »Juhu!« da, dazu das frenetische Klatschen von 5.000 Händen, und schon summiert sich das Ganze urplötzlich zu einem akustischen Hexenkessel. So als hätte man sich zu Hause nachts um drei versehentlich auf die Fernbedienung gesetzt und den Volume-Balken auf 100 getrieben.
Der Grund für das Getöse: bin ich. Zwölf Jahre sind seit dem Arztgespräch vergangen. Und jetzt warte ich in der ausverkauften Berliner Tempodrom-Arena hinter der Bühne auf meinen Auftritt als Deutschlands erster Comedian im Rollstuhl – und vor der Bühne wartet nichts weniger als eine aufgepeitschte, monströse Masse! Einziger Schönheitsfehler: Sie warten nicht direkt auf mich. Sie warten auf denjenigen, den sie auf meiner Position hinter dem Vorhang vermuten, sie rasten aus wegen Bülent Ceylan, dem türkisch-mannheimerischen Comedy-Titan. Und ich fühle mich wie ein Schüler, dem im letzten Moment eröffnet wurde, er müsse das Referat für einen erkrankten Mitschüler übernehmen. Wie bin ich da bloß reingeraten?
Egal, was gleich kommt, es ist zweifelsfrei der Höhepunkt meiner jungen Karriere als Komiker. Der Termin in Berlin, der große Tag, stand seit geraumer Zeit im Kalender. Es fühlte sich an wie ein zusätzlicher Feiertag, etwas Besonderes. Als alle Formalitäten vertraglich fix gemacht waren, hatte ich mich gefreut wie ein kleiner Junge. Tempodrom, Hauptstadt – das war schon eine Hausnummer. Aber es war noch lange hin, bis ich die berühmte Berliner Location am Anhalter Bahnhof betreten sollte. Mein Soloprogramm war für diesen Abend im Winter 2017 angesetzt – im kleinen Saal.
Doch dann kam alles ganz anders.
Da mein Gig mit dem von Bülent, der in der großen Halle performen würde, auf denselben Tag fiel, hat er spontan vorgeschlagen, dass wir für die ersten zehn Minuten die Bühne tauschen. Eine Idee, die vor allem der Spaßgigant selbst für eine willkommene und vollkommen naheliegende Aktion hält, um für noch mehr Wirbel im bereits tosenden Orkan zu sorgen. Mit leuchtenden Augen und federnden Schritts ist er von dannen gezogen, um mein wesentlich kleineres Publikum zu überraschen – wer hätte da gewagt, ihn aufzuhalten?
Ich warte also hinter dem Vorhang. Der nicht abreißende Strom des menschlichen Gebrodels auf der anderen Seite erfüllt allmählich meinen gesamten Körper. Ich spüre, wie mir die Radlager weich werden – meine Knie sind es ja ohnehin immer. Ich kriege ein Zeichen, noch wenige Sekunden. Mir zittern die Hände – und das, obwohl ich in einer Zwangsjacke stecke. Die ist zum einen nötig, damit ich mich auf die Bühne vor das fremde Publikum traue, anstatt einfach wegzufahren – zum anderen handelt es sich um das originale Bühnenoutfit, welches der Rock-n-Roll-Berserker Bülent zu Beginn seiner Liveshows zu tragen pflegt.
Der Vorhang hebt sich. Endlos lange dauert das. Schließlich verschwindet er aus meinem Blickfeld, ins Nichts. So wie mein Blutdruck auch gerade. Perfekt getimt schiebt mich ein Mitarbeiter auf die große, breite Fläche. Normalerweise befördert er in diesem Augenblick Bülent in einer rollbaren Hannibal-Lecter-Vorrichtung hinaus. In diesem Fall bleibt das Bülent-Vehikel im Backstagebereich, denn ich habe ja meine eigene Sackkarre mitgebracht. Ich kann gar nicht sehen, wo die Bühne endet. Eine Sekunde lang denke ich, ich werde ohnmächtig. Was bei mir ja etwas später auffiele als bei Bülent.
Was dann passiert, ist purer Rausch. Meine Stimme klingt fest und kiekst nicht. Ich höre mich Text sprechen, der erstaunlich nach den Sätzen klingt, die ich mir nur Minuten vorher eingetrichtert habe. Und die Leute lachen. Sie. Lachen. Da sind 2.500 Menschen, sie haben nicht mit mir gerechnet, viele wissen gar nicht, wer ich bin, aber ich kriege sie gepackt! Was für ein Gefühl! Die Energie ist wie mit Händen zu greifen. Fast überwältigt es mich, so nah fühle ich mich allen, obwohl ich die hinteren Sitzreihen nur erahnen kann. Ich spiele mein Set, als hätte ich nie etwas anderes getan, als wäre es das Normalste der Welt, vor so vielen Menschen »all in« zu gehen – gewinnen oder verlieren. Heute gewinne ich wohl. Der Hammer!
Die Bühne verlasse ich nicht als Rollstuhlfahrer – ich schwebe von ihr herab. Ich glaube, ich grinse wie damals, als ich … obwohl, nein, so wie jetzt habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gegrinst. Mir tun die Wangen weh vom ganzen Gegrinse. »Ne gün!«, wie man auf Türkisch sagt – was für ein Tag! Es ist wie ein Trip. Ein drogenfreies High!
Ich sage 2.500 Mal Danke.
Später, nach jeweils 100 Minuten Auftritt vor dem ursprünglich vorgesehenen Publikum, treffe ich auf Bülent und seinen Veranstalter. Wir beglückwünschen uns gegenseitig wie kleine Jungs. Mit einem Schmunzeln berichte ich meinem berühmten Kollegen, mein Publikum habe den »Warm-Upper« ganz okay gefunden, den ich geschickt habe. Der Veranstalter erwähnt zwei Frauen in der ersten Reihe des großen Saals, die spontan ihre Hände vor dem Gesicht zusammengeschlagen hätten, als ich auf die Bühne geschoben wurde. Jetzt fällt mir die Szene wieder ein – eine Momentaufnahme, für deren Verarbeitung im Adrenalinstrudel bisher keine Zeit war.
»Die sahen aus«, setze ich an, »als hätten sie gesagt: Oh nein, Bülent sitzt im Rollstuhl!« Doch ich werde korrigiert: »Nein, die haben gesagt: Oh nein, Bülent hat sich die Haare geschnitten!«
Bülent klopft mir auf die Schulter. Die imposante Mähne hat er jetzt zum Pferdeschwanz gebunden. Er habe sich ja ganz schön ins Zeug legen müssen, um sich sein Publikum nach meinen zehn Minuten zurückzuholen – wenn er das mal vorher geahnt hätte! Er zwinkert mir zu, und ich nehme das Kompliment hocherfreut an.
Tja, denke ich insgeheim und grinse immer noch: Wieder einer weniger, der gerne mal mit einem Rollifahrer tauschen würde.