Vorwort

Es ist eine der schlimmsten Krankheiten überhaupt. Die Betroffenen bauen in kurzer Zeit rapide ab – körperlich, aber vor allem auch seelisch. Die Krankheit macht aus jungen Patienten innerhalb kurzer Zeit Wracks. Wie Zombies gehen sie durchs Leben und starren mit leerem Blick und Augen voller Hoffnungslosigkeit in die Zukunft. Gefühle wie Freude, Glück, Zufriedenheit haben keinen Platz mehr in ihrer Welt. Einmal herzlich lachen? Längst verlernt. Voller Selbstverachtung schauen sie stattdessen in den Spiegel. Sie hassen den eigenen Körper und quälen ihn. Folgeschäden? Werden irgendwann nebensächlich. Todessehnsucht breitet sich stattdessen aus. Sterben wollen. Aus einem Leben, das nur noch von der Krankheit bestimmt wird, erlöst werden. Der Krankheit alles, schließlich auch das eigene Leben gegeben haben. Ist das das Ziel?

 

Machen Ihnen diese Beschreibungen Angst? Um welche furchtbare Krankheit geht es hier? Krebs, Aids, eine ansteckende Seuche? Die Rede ist von Essstörungen, in erster Linie von Magersucht und Bulimie. Essstörrungen werden durch Unkenntnis oft verharmlost. Doch sind sie alles andere als eine Bagatelle. Essstörungen können tödlich enden und die Genesung – falls es denn eine vollständige Ausheilung gerade bei langer Krankheitsdauer geben kann – ist ein unendlich harter Weg.

Bei allen Formen von Essstörungen ändert sich das Verhalten und bei langer Krankheitsdauer ändern sich auch die Charakterzüge der Betroffenen. Essstörungen nehmen Freiheit, Lebensfreude und soziale Fähigkeiten. Alles dreht sich nur noch ums Essen. Alles außer Essen, Gewicht und Figur wird unwichtig. Wenn die Zahl auf der Waage nicht stimmt, wird der Tag schlecht. Jeder Tag besteht aus Zwang, Selbstkontrolle und Selbstkasteiung. Gönnen können sich die Betroffenen nichts mehr – das sind sie sich längst nicht mehr wert. Jeder auch noch so kleine Bissen Essen muss hart verdient werden und selbst dann treten Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen auf. Freunde verlieren an Bedeutung. Die Welt wird immer kleiner. Alles dreht sich nur noch ums Essen, nicht Essen, Erbrechen, Kalorien verbrennen.

Für Nicht-Betroffene und Angehörige sind es völlig unverständliche, da dem Leben widersinnliche Gedankengänge, von denen die Patienten besessen sind. Auch das Verhalten der Betroffenen führt zu Kopfschütteln. Aus Verständnislosigkeit kann Wut entstehen auf den Menschen, der sich nicht helfen lassen will, und schließlich führt die eigene Hilfs- und Machtlosigkeit zur Resignation. Der Kampf gegen Essstörungen zermürbt – Betroffene genauso wie Angehörige.

 

Der Kampf gegen eine Essstörung ist mit Sicherheit einer der härtesten, der dieses Leben zu bieten hat. Wer im Folgeschluss eine Essstörung überwinden konnte, der braucht vor keiner anderen Herausforderung mehr zurückzuschrecken. Vielleicht kann dieses Buch einen kleinen Beitrag dazu leisten, den Prozess, eine Essstörung zu überwinden, weiter voranzutreiben. Auch wenn es Betroffenen manchmal vielleicht nur eine Stütze sein kann, mit der Essstörung zu leben, wenn sie es ohne (noch) nicht können, hat dieses Buch schon einen Zweck erfüllt.

 

Im Folgenden wird anhand kurzer Geschichten aufgezeigt, was Essstörungen aus Menschen und deren Gedanken und Gefühle machen. Als nicht-betroffene Leser erfahren Sie einiges über die Hintergründe von Essstörungen und lernen verschiedene Ausprägungsformen von krankhaften Verhaltensweisen kennen. Selbstbetroffene erzählen aus ihrem Leben. Die „Kleinen Schritte auf dem Weg hinaus aus der Essstörung“ sollen Betroffenen Impulse geben, am eigenen Verhalten etwas zu ändern. Schrittchen für Schrittchen. Aber nicht erst morgen. Wirkliche Veränderungen fangen heute an. Jetzt. Gleich. Sofort. Mehr Anfang als in dieser Minute kann es nicht geben.

 

Ganz viel Mut und Kraft auf dem Weg wünscht Ihnen Nicole Schuster

Einleitung – Hunger nach Leben

Essstörungen äußern sich durch ein gestörtes Verhältnis zum Essen und zum eigenen Körper. Es gibt verschiedene Formen von Essstörungen, wobei Mischformen häufig sind.

Im Folgenden sollen die drei bekanntesten Essstörungen kurz beschrieben werden:

Steckbrief Magersucht

„Anorexia nervosa“ bedeutet übersetzt so viel wie „nervlich bedingte Appetitlosigkeit“. Es handelt sich dabei um weit mehr als um ein Zeitgeist-Phänomen. Magersucht ist schon aus früheren Jahrhunderten bekannt und wurde bereits im 17. Jahrhundert beschrieben. Als erste prominente Betroffene wird häufig Sisi, die Kaiserin von Österreich, genannt, die in einem Teufelskreis aus Fasten und exzessiver körperlicher Betätigung gesteckt haben soll. Die erste wissenschaftliche Beschreibung der Magersucht wird William Gull zugeschrieben, der 1868 drei Fallberichte der damals als „Anorexia hysterica“ bezeichneten Krankheit aufschrieb.

Magersucht ist die vermutlich bekannteste und äußerlich auffälligste Essstörung. Sie tritt am häufigsten bei jungen Mädchen auf (sogar schon im Grundschulalter), wobei die Zahl männlicher Patienten mittlerweile zunimmt. Die Krankheitsdauer kann völlig unterschiedlich sein. Es gibt Betroffene, die schon nach wenigen Monaten wieder geheilt werden können aber auch zahlreiche Fälle, bei denen die Magersucht chronisch wird und weit ins Erwachsenenalter hineinreicht. Bei bis zu 15 % der Betroffenen führt die Magersucht zum Tod.

Patienten mit Magersucht fallen in ihrem Essverhalten dadurch auf, dass sie ungern in Gesellschaft anderer essen, Essen häufig als Ritual zelebrieren und nur sehr langsam essen. Viele Betroffene kochen gerne für andere, essen aber selbst nichts von den zubereiteten Speisen. Sie wählen ihre Lebensmittel streng nach Fett- oder Kaloriengehalt aus und kennen den Kaloriengehalt der meisten Lebensmittel auswendig.

Magersucht und das gestörte Körperschema

Selbstbild:

Außenwirkung:

Gegenmaßnahme:

Steckbrief Bulimie

Betroffene verzichten im Alltag auf viele geliebte Lebensmittel, die sie bei einem anfallsartigen Kontrollverlust in großen Mengen in sich hineinstopfen. Um nicht zuzunehmen, erbrechen sie sich anschließend.

Monatlich werden nicht selten bis zu 1000 Euro oder noch mehr auf diese Weise die Toilette runtergespült.

Der Begriff „Bulimie“ kommt vom griechischen „bulimos“, was „Ochsenhunger“ bedeutet. Erste Berichte, die diese Krankheit beschreiben, könnten sogar schon aus der Antike stammen. Eine wichtige Veröffentlichung zu dem Krankheitsbild stammt von Professor Gerald Russel (1979), der erstmals die Bezeichnung „Bulimia nervosa“ für die Krankheit verwendet hat und diese wissenschaftlich beschrieb.

Etwa 95 % aller an Bulimie erkrankten Menschen sind weiblich. Angaben zur Häufigkeit sind jedoch wegen der hohen Dunkelziffer schwierig. Schätzungen gehen von zwei bis vier Prozent in der Risikogruppe der 18- bis 35-jährigen Frauen aus. Das Alter bei Erkrankungsbeginn ist in der Regel etwas höher als bei der Magersucht.

Kennzeichnend für das Essverhalten sind zwei Bedürfnisse, die sich nicht vereinen lassen. Bulimiker lieben einerseits das Essen und haben das Verlangen, hemmungslos zu essen, wollen dabei aber unbedingt dünn bleiben. Wiederholte Attacken von Heißhunger („Ess-“ oder „Fressattacken“) treten auf, gefolgt von selbst herbeigeführtem Erbrechen. Für die Fressattacken werden vor allem die hochkalorischen und normalerweise „verbotenen“ Nahrungsmittel gewählt, also fett- und kohlenhydratreiche Esswaren. Mehrere Tausend Kalorien können pro Attacke verschlungen werden. Die Häufigkeit der Fress- und Brechanfälle schwankt zwischen ein bis zwei Mal pro Woche bis mehrmals pro Tag. Dazwischen gibt es oft Phasen des absoluten Fastens und Diäthaltens, häufig getrieben vom schlechten Gewissen, „über die Stränge geschlagen zu haben“.

Typisch ist, dass die Patienten alles daran setzen, die Attacken vor dem Partner, Familienangehörigen und Freunden zu verheimlichen. Dies ist meist in ihrem hohen Schamgefühl begründet. Die Betroffenen beschäftigen sich zwanghaft und fast permanent mit allem, was mit Essen, Kalorien, Körpergewicht, Diät, Figur etc. zu tun hat. Rasche Gefühlsschwankungen treten auf, immer wieder kommen Versagensgefühle hervor. Nicht selten haben die Betroffenen finanzielle Probleme. Manche Patienten nehmen gar hohe Schulden auf sich, um die Lebensmittelmengen weiterhin finanzieren zu können. Selbst „Mundraub“ aus den Lebensmittelvorräten von Freunden, der Familie oder gar im Supermarkt kommt vor.

Äußerlich geben die Betroffenen ein recht souveränes Bild ab: Sie sind oftmals sehr kontrolliert und haben ihr Leben scheinbar gut im Griff. Meist sind sie recht erfolgreich in ihren Bereichen, funktionieren gut im Beruf und im Alltag. Sie sind für Freunde beliebte „Kummerkästen“ und Ratgeber. Innerlich jedoch sieht es ganz anders aus.

Die gesamte Gefühlswelt ist durch das bulimische Verhalten stark beeinflusst. Die Patienten leiden unter einem niedrigen Selbstwertgefühl, das mit zunehmender Krankheitsdauer und dem immer wieder aufkehrenden schlechten Gewissen noch tiefer sinkt. Es droht Einsamkeit trotz scheinbarer sozialer Integration. Nicht wenige Patienten entwickeln im Verlauf ihrer Erkrankung weitere Suchterkrankungen wie der Alkohol- oder Arzneimittelabhängigkeit. Es wird häufig von Anfällen von selbstverletzendem Verhalten berichtet. Zudem ist die Krankheit eine immense Belastung für partnerschaftliche Beziehungen.

Steckbrief Binge-Eating-Disorder

Betroffene der Binge-Eating-Disorder haben eher wenige Freunde und fühlen sich einsam. Um gegen die innere Leere anzukämpfen, verschlingen sie anfallartig riesige Mengen Nahrungsmittel. Dies ist auch der auffälligste Unterschied zur „normalen“ Adipositas: Während „nur“ übergewichtige Menschen immer zu viel essen, weisen viele Menschen mit Binge-Eating-Disorder ein eher normales Essverhalten zwischen den Essanfällen auf.

Essen ist für diese Patienten häufig Trost und die einzige Freude, der zu bestimmten Anlässen nachgegeben wird. Nichtsdestoweniger leiden sie unter den unkontrollierten Essanfällen und begegnen der eigenen Figur wegen des Übergewichts mit Hassgefühlen.

„Binge-Eating“ bedeutet übersetzt „Essgelage“. Das Essverhalten der Betroffenen zeichnet sich dadurch aus, dass sie riesige Mengen Nahrungsmittel mit einem Mal in sich hineinstopfen und nicht mehr aufhören können. Während dem Essen fühlen sie sich gut und genießen die Nahrungsmittel.

Die Binge-Eating-Disorder ist noch nicht als eigenständiges Krankheitsbild klassifiziert und wird in den internationalen medizinischen Klassifikationssystemen (ICD, DSM) nur unter den „unspezifischen Essstörungen“ erwähnt. Der Aufklärungs- und Forschungsbedarf bei dieser Störung ist noch hoch.

Zur Prävalenz wird angeben, dass die Binge-Eating-Disorder häufiger als Magersucht und Bulimie vorkommt. Man geht von ca. 0,7–4 Prozent der Bevölkerung aus. Etwa 40 Prozent der Betroffenen sind Männer, was zeigt, dass der Anteil an Männern hier um etliches größer ist als bei anderen Essstörungen. Der Erkrankungsbeginn liegt zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr, ein weiterer Altersgipfel liegt zwischen dem 45. und 55. Lebensjahr. Die durchschnittliche Krankheitsdauer beträgt Untersuchungen zufolge 11 Jahre.

Wichtig ist die Unterscheidung zur Adipositas: Adipositas ist eine medizinische Diagnose und bezeichnet nur das Übergewicht an sich. Sie schließt keine psychischen Erkrankungen mit ein. Der Begriff „Binge-Eating-Disorder“ wiederum umfasst auch die große Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Zudem zeichnet sich das Gewicht dieser Patienten häufig durch starke Schwankungen aus. Sie beschäftigen sich intensiv mit Nahrungsmitteln und deren Kaloriengehalt und essen zwischen den Essattacken entweder normal oder aber chaotisch und unregelmäßig. Aus Scham nehmen viele Betroffene fast alle Mahlzeiten, auch jene außerhalb der Fressanfälle, heimlich zu sich. Typische Symptome sind eine sehr schnelle Nahrungsaufnahme während der Essanfälle bis zum unangenehmen Völlegefühl. Die Patienten können dabei größte Mengen essen, auch ohne vorher körperlich hungrig gewesen zu sein. Essen geschieht bei ihnen aus Traurigkeit, Einsamkeit oder auch zur Belohnung und bei Freude. Nach den Essattacken fühlen sie sich abgestoßen vom Essen, deprimiert und leiden unter extremen Schuldgefühlen.

Die Übergänge zwischen den einzelnen Formen von Essstörungen sind gleitend. Aus einer anfänglichen Magersucht kann sich eine Bulimie entwickeln, ebenso kann die Bulimie in eine Magersucht umschlagen. Bei Menschen mit Binge-Eating können bulimische Phasen vor allem in der Vergangenheit aufgetreten sein. Bei den meisten Patienten liegen entsprechend auch keine klar voneinander abzugrenzenden Essstörungen in ihrer Reinform vor. Der Autorin erscheint aus diesem Grund eine Unterteilung des Buches in einzelne Formen von Essstörungen als gezwungen. Aus diesem Grund behandeln die einzelnen Kapitel in diesem Buch Symptome von Essstörungen und typische Verhaltensweisen der Betroffenen.

Weiterhin schlägt die Autorin vor, weitgefasst bei Essstörungen von einer Eating-Spektrum-Disorder zu sprechen, anstelle jeden Einzelfall in eine Krankheitsklassifikation pressen zu wollen. Der Begriff „Spektrum“ ist bei anderen die Psyche und Entwicklung betreffenden Krankheiten wie dem Autismus-Spektrum-Syndrom durchaus gebräuchlich. „Spektrum-Syndrom“ beschreibt eine Krankheit, die in verschiedenen Ausprägungsformen vorkommen kann, bei denen die Übergänge fließend sein können. Bei Essstörungen könnte man sich ein solches Spektrum wie folgt vorstellen:

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1 Wie alles begann: Von Einstiegsdrogen und Selbstbestimmung

1.1 Magersucht

Wenn Diäten zur Sucht wird

Normalerweise nimmt man nach einer Diät irgendwann wieder zu oder hält das Gewicht. Manche Menschen machen jedoch weiter, auch wenn sie die gewünschten Kilos längst abgenommen haben. Sie merken plötzlich, wie leicht es ist, sich durch Nichtessen Erfolgserlebnisse zu verschaffen.

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Jede 100 Gramm, die die Waage weniger anzeigt, lösen in ihnen Belohnungsgefühle aus. Diese Belohnungsgefühle sind alles, was sie noch interessiert. Sie haben sich an der Einstiegsdroge „Diät“ versucht und sind süchtig geworden. Sie nehmen weiter ab. Immer weiter. Für einige wenige gilt sogar das Motto: Ana till the end: Magersucht bis zum Ende.

Erst Leistung, dann Liebe?

Sie weiß nicht mehr, wie oft sie darüber nachgedacht hat, warum sie in die Magersucht geraten ist. Eins weiß sie sicher. Es ist nicht passiert, da sie aussehen wollte wie irgendein Magermodel aus einem Hochglanzmagazin. Wenn sie ehrlich ist, findet sie diese dürren Kleiderständer einfach nur hässlich.

Was aber dann? Tiefe Konflikte mit ihrer Mutter? Fehlanzeige. Okay, es hatte in ihrer Pubertät Reibungspunkte und Konflikte gegeben, aber wo gibt es die nicht?

Und trotzdem. Sie war mit ihrem Leben nicht zufrieden gewesen. Sie hatte sich seit ihrer Kindheit stets eingeengt gefühlt. Si cher, die Eltern hatten alles für sie getan, waren immer da gewesen. Und doch: Für sie war es wie ein goldener Käfig gewesen.

Sie hatte sich immer danach gesehnt, eigene Erfahrungen machen zu dürfen. Auch mal hinfallen zu dürfen, ohne gleich Vorwürfe zu hören zu bekommen nach dem Motto „Das kommt davon. Hättest du es nur genauso gemacht, wie wir es wollten, wäre das nicht passiert. Du bist selber Schuld an deinem Unglück.“ Sie hasste solche Sätze. Sie sehnte sich nach dem Gefühl, aufgefangen zu werden, wenn sie einmal hinfiel. Keine Vorwürfe, sondern einfach nur: „Ich bin für dich da.“ Doch das konnten die Eltern nicht. Sie waren für sie da, solange sie funktionierte. Solange sie sich so verhielt, wie die Eltern es für richtig hielten. Sie sollte Leistungen bringen und die Träume der Eltern leben. Dann wurde sie geliebt, dann bekam sie Aufmerksamkeit. Bei schlechten Noten oder einem anderen „Versagen“ hieß es nur „Mehr lernen, mehr üben, mehr Einsatz zeigen“. Und immer „Du bist doch selbst daran schuld. Hättest du am Tag vor der Arbeit nicht noch abends mit einer Freundin telefoniert, hättest du eine bessere Note geschrieben. Hättest du vor dem verlorenen Tennisspiel mehr trainiert, hättest du gewonnen. Hättest du nur. Hättest du nur. HÄTTEST DU NUR…“ Mit anderen Worten: Du hast uns Schande gebracht. Wir schämen uns wegen dir. Und das nach allem, was wir für dich getan haben (Eine lange Aufzählung von Dingen, die die Eltern getan hatten, würde folgen.) Und dann: „Womit haben wir so eine Tochter verdient?“

Erst als sie viel älter war, stellte sie die Frage andersherum: Womit habe ich solche Eltern verdient? Eltern, die mich nur beachten, wenn ich funktioniere, und die bei Misserfolgen noch betonen müssen, dass sie mich TROTZDEM lieben?

Zurückblickend verstand sie ihre große Verzweiflung als Kind, dass die Liebe ihrer Eltern aufhören könnte, wenn sie zu viele Fehler machte, nicht perfekt genug war. Perfektion war folglich alles für sie. Die meisten Bereiche in ihrem Leben waren auch perfekt gewesen: Immer Klassenbeste, fast nur Einser, Klassensprecherin, fünf Pokale von gewonnenen Tennisturnieren, Landesmeisterin im Kopfrechnen. Aber zur Perfektion gehörte auch ein perfektes Aussehen. Und sie war von Natur aus eher stämmig und leicht pummelig. Wie oft schon hatte die Familie enttäuscht festgestellt, dass sie wohl nach dem Vater schlage und nicht nach der grazilen und elfengleichen Mama.

Ihr war das lange egal gewesen. Doch plötzlich gewann die Figur auch in ihrem Umfeld an Bedeutung. Und dann die immer mahnenden Worte der Mutter, wenn sie in ihren Pfefferminztee mehr als einen Löffel Zucker tun wollte. „Zucker macht dick. Du wirst es bereuen. Sag dann nicht, dass ich dich nicht gewarnt habe!“ In ihr wuchs die Überzeugung heran, nicht mehr geliebt zu werden, wenn sie zu viel wiegen würde. Und tatsächlich: In der Schule erlebte sie, dass in ihrer Kleidergröße 36 bereits als „fette Sau“ beschimpft wurde. Bloß weil sie früh in die Pubertät gekommen war und gleich viel Busen bekommen hatte.

Dann der Schock: Bei der nächsten Klassensprecherwahl wurde sie nur Stellvertreterin. Und ihr Schwarm aus der Nachbarklasse entschied sich nicht für sie, sondern für eine Barbiepuppe mit Topmodel-Figur. Man munkelte, dass diese Barbie Bulimie habe. Doch das machte sie erst recht interessant.

Weinend lag sie abends in ihrem Bett. Warum war sie nicht auch dünner, warum nur musste sie normalgewichtig sein? Normal war doch langweilig, viel zu durchschnittlich.

An diesem Abend fasste sie einen Beschluss: Sie würde abnehmen. Oder besser noch: Magersüchtig werden. Dann würde sie auch etwas Apartes für sich haben.

Sie verringerte langsam und Schritt für Schritt ihre Portionen immer weiter. Irgendwann aß sie nichts mehr in der Schule und ließ sowohl Pausenbrot als auch Müsliriegel in der Mülltonne verschwinden. Anstelle der Trinkpäckchen nahm sie in eine Trinkflasche abgefüllten, ungezuckerten Tee mit. Mittags nahm sie nur kleine Portionen. Die Mutter unterstützte sie noch darin und schien stolz auf ihre Tochter sein. Auf ihre Tochter, die gerade auf dem direkten Weg in die Magersucht war. Als es ein paar Mal mittags nicht das gab, was das Mädchen gerne mochte, ließ es auch diese Mahlzeit ausfallen. Auf diese Weise wurde sie immer weniger. Sie freute sich jedes Mal, wenn sie auf die Waage stieg und diese sie mit einem niedrigeren Gewicht begrüßte. Wieder eine Leistung, wieder tapfer durchgehalten und gehungert und wieder Disziplin gezeigt. Sie freute sich, sich selbst so gut unter Kontrolle zu haben.

Doch irgendwann, ganz schleichend, übernahm eine andere Macht die Kontrolle über ihr ganzes Leben. In ihren Kopf zog die Stimme ein, die Stimme der Magersucht. Von nun sagte ihr diese Stimme, was sie essen durfte und sollte und was nicht. Jede 100 Gramm weniger auf der Waage stellten die Stimme zufrieden. Jede Zunahme führte dazu, dass sie sich verachtete wegen ihrer Disziplinlosigkeit. Ganz tief unten saß in ihr die Angst, jetzt, wo sie über die Stränge geschlagen hatte, nicht genug gehungert und verzichtet hatte, weniger geliebt zu werden. Denn Liebe war etwas, das hatte sie in ihrer Kindheit gelernt, das man nicht einfach hat, sondern sich Tag für Tag erarbeiten muss. Erarbeiten, in dem man Leistung bringt. Erarbeitet, indem man hungert und hart zu sich ist. Das war man den Eltern schuldig: Nach allem, was sie für einen getan hatten, musste man sich dankbar zeigen und funktionieren. Funktionieren – wenn es sein muss bis zum Tod. Sie hatte keine Angst mehr. Denn auf diesem Weg war sie sich zumindest der Liebe der Eltern sicher.

Was Angehörige wissen sollten

Warum ausgerechnet mein Kind? Diese Frage stellen die meisten Eltern, wenn ihr Kind an Magersucht erkrankt. Eine Antwort drauf gibt es nicht. Auch, was die Gründe für die Krankheit sind, ist nicht immer klar festzumachen. Meistens kommen mehrere Bedingungen und Faktoren zusammen, damit sich eine Essstörung entwickelt. Zu diesen Faktoren zählen unter anderem eine ererbte Veranlagung, Selbstzweifel, ein geringes Selbstwertgefühl und Perfektionismus. Unter bestimmten äußeren Umständen bricht die Krankheit dann aus. Diese äußeren Umstände können belastende Lebensereignisse sein wie ein sexueller Missbrauch, die Trennung der Eltern, ein Umzug oder andauernde negative und verletzende Kommentare wegen des äußeren Erscheinungsbildes.

Gemeinsam haben viele Magersüchtige, dass sie hohe Leistungen von sich erwarten bzw. dass ihnen nahestehende Menschen, vor allem die Eltern und Großeltern, eine hohe Leistungserwartung an sie stellen.

Oft kommen die Betroffenen aus Familien, in denen vor allem äußere Erfolgserlebnisse zählen. Gleichzeitig kann ein großes Maß an Opferbereitschaft vorhanden sein. Meist ist es die Mutter, die sich für die Familie oder Bekannte aufopfert, nie an sich selbst, sondern immer nur an andere denkt. Dadurch wird vorgelebt, dass Verzicht und Aufopferungsbereitschaft lobenswerte und wünschenswerte Eigenschaften sind, oft werden diese auch gerade von den Töchtern erwartet. Bemüht wird nach außen eine perfekte Familie dargestellt. Im Inneren sieht es jedoch ganz anders aus. Anstelle unbedingter Liebe lernt der Nachwuchs nur dann Aufmerksamkeit kennen, wenn er etwas erreicht, Erfolge eingefahren hat. Die Magersucht ist eine weitere Möglichkeit für die jungen Menschen, erfolgreich zu sein mit dem Ziel, im Hinblick auf die Figur dem Ideal der Gesellschaft zu entsprechen. Mit jedem verlorenen Gramm erhalten sie Erfolgserlebnisse. Sie bringen Leistung und erfüllen damit Erwartungen. Das gibt einen Moment der Selbstbestätigung und häufig kommen auch von außen – zumindest in der Anfangsphase – Worte der Anerkennung. Nicht zuletzt haben die Magersüchtigen hier einen Bereich entdeckt, in dem ihnen irgendwann niemand mehr so leicht das Wasser reichen kann. Unter vielen Magersüchtigen tobt gar ein erbitterter Wettstreit darum, wer dünner und leichter ist, wer den niedrigsten BMI hat und am diszipliniertesten hungern kann.

Magersucht kann auch eine Art Rebellion sein. Betroffene stammen dann meistens aus überbehüteten Familien, in denen ihnen von Anfang jeder Stein aus dem Weg geräumt wurde. Sie durften sich selten mal selbst an etwas erproben, sondern bekamen den sichersten und scheinbar besten Weg gleich von der Familie vorgeschrieben. Die Betroffenen wuchsen mit dem Gefühl auf, nichts selbst kontrollieren zu können, sondern lediglich ein verlängerter Arm der Eltern zu sein. Häufig sind davon „Püppchen-Kinder“ betroffen, die von ihren liebenden Eltern in Samt und Watte gepackt wurden. Schlechte Erfahrungen, Probleme, Ärger – all das wollten die Eltern ihren Sprösslingen ersparen. Doch es kommt ein Zeitpunkt, an dem die Heranwachsenden ausbrechen wollen aus diesem goldenen Käfig und sich endlich selbst am Leben versuchen, endlich selbst die Kontrolle übernehmen wollen. Dies steht wiederum im Widerspruch zu dem extremen Harmoniebedürfnis in den Familien, in denen es negative Gefühle, Probleme oder Konflikte nicht geben darf. Ein Ausbruch aus diesen Strukturen scheint unmöglich, ohne nicht undankbar zu erscheinen, da die übergroße Liebe der Eltern damit ein Stück weit zurückgewiesen wird. Die Magersucht ist für die Betroffenen die Möglichkeit zu rebellieren und wenigstens in den Bereichen Gewicht und Essen die Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen. Zumindest den eigenen Körper erleben sie durch die Krankheit als etwas, das sie beherrschen und direkt beeinflussen können. Ihr Köper wird für sie zu einer Art Kunstwert, etwas das sie selbst gestalten und verändern können. Mit der Magersucht haben sie etwas, in das ihnen niemand hineinreden kann.

Magersucht kann auch eine Möglichkeit sein, andere Probleme und das reale Leben zu verdrängen. Betroffene fokussieren sich absolut aufs Essen und vernachlässigen die wirkliche Welt und das wirkliche Leben. Sie laufen auf dieser Weise Probleme davon, brauchen sich nicht mehr mit anderen Menschen auseinanderzusetzen, da sie die Beschäftigung mit dem Essen voll auslastet, und unterdrücken zudem durch das Hungern ihre Gefühle. Das alles gibt ein scheinbares Gefühl der Sicherheit und Stärke. Doch nach einiger Zeit in dieser Spirale fristen die Betroffenen nur noch ihr Dasein, haben jede Lebensfreude verloren und leben wie ein der Sucht vollkommen ausgelieferter Zombie.

Durch Magersucht drückt sich in manchen Fällen auch der verborgene Wunsch aus, für immer ein Kind zu bleiben. Die Betroffenen haben Angst davor, erwachsen zu werden, Mädchen wollen keine weiblichen Formen annehmen und verweigern sich der eigenen Sexualität. Mit der Magersucht können sie die eigene körperliche Entwicklung stoppen. Die abgemagerten Körper junger erkrankter Frauen erscheinen knabenhaft und die ausbleibende Regelblutung lässt die Betroffenen sich weiterhin wie ein Kind fühlen. Anziehend auf das andere Geschlecht wirken die jungen Frauen so freilich nicht. Doch genau das hat einen weiteren gefühlten Schutzfaktor für sie und gibt ihnen Sicherheit.

Achtung Warnsignale! So kann es anfangen

Anhand dieser Warnsignale lässt sich die Magersucht (Anorexie) früh erkennen1:

1.2 Bulimie

Verkehrte Welt

Normalerweise isst man, um dem Körper Nährstoffe zuzufügen. Viele Menschen achten darauf, was sie essen, um den Körper gesund und ausgeglichen zu ernähren. Wer jedoch an Bulimie erkrankt, der will genau das nicht: Die aufgenommene Nahrung soll den Körper nicht nähren, die Energie auch nicht aufgenommen werden. Daher wird die Nahrungsaufnahme sofort wieder rückgängig gemacht. Da eh nichts im Magen bleiben soll, brauchen auch keine gesunden oder qualitativ hochwertigen Lebensmittel ausgewählt zu werden, sondern es wird wahllos alles, was süß, fettig oder salzig ist, in sich hineingestopft. Häufig sind das genau jene Lebensmittel, die in fast jeder Diät verboten sind.

Ein Leben zum Kotzen

Sie liebte das Essen. Und sie wollte schlank sein. Da das nicht zusammenpassen wollte, begann sie, sich nach dem Essen zu erbrechen.

Soweit würde sich die Geschichte einfach und vielleicht sogar noch ein bisschen nachvollziehbar anhören. Doch das war längst nicht alles. Erbrechen war bald untrennbar verbunden mit extre men Essanfällen. Bis zu 5000 Kalorien verschlang sie innerhalb eines solchen Anfalls und verlor dabei jede Kontrolle über sich selbst. Danach rannte sie auf die Toilette. Manchmal mehrmals am Tag dieselbe Prozedur: Essen, Kotzen.

Sie wollte das nicht und doch passierte es immer wieder. Warum sie damit angefangen hatte, konnte sie gar nicht mehr genau sagen. Sie wusste aber, dass es ein Ereignis in ihrem Leben gab, das alles vollständig veränderte. Damals war sie mit den Eltern bei Bekannten eingeladen gewesen. Sie war sechs Jahre alt und ihre Erinnerungen an den Vorfall mehr als verschwommen. Sie wusste nur noch, dass der Bekannte ihrer Eltern fast jedes Mal mit ihr eine Etage höher ging, wo sie an seinem Computer spielen sollte. Unter dem Vorwand, ihr neue Spiele zeigen zu wollen, blieb er eine ganze Weile mit ihr oben. Doch die „Spiele“, die er mit dem kleinen Mädchen spielte, hatten längst nichts mehr mit dem Computer zu tun. Sie fühlte sich schlecht dabei. Doch der Mann sagte ihr, es sei alles ihre Schuld. Aus Scham sprach sie nie darüber..

Seit diesen Vorfällen weigerte sich etwas in ihr, eine richtige Frau zu werden. Sie konnte kaum einen Mann an sich heranlassen und wenn sie es doch einmal versuchte, dann ließ sie sich zu schnell auf Dinge ein, zu denen sie längst nicht bereit war. Hinterher fühlte sie sich wieder wie vergewaltigt.

Von all dem wusste in ihrem Umfeld aber niemand etwas. Nach außen hin war sie immer die starke, taffe Frau. Sie hatte stets ein offenes Ohr für die Probleme und Sorgen ihrer Freunde. Sie arbeitete in einer schicken Boutique, war stets gut gekleidet und gepflegt. Gepflegt abgesehen von den angeätzten Zähnen, den kaputten, aufgeweichten Fingernägeln und den aufgequollenen Hamsterbäckchen.

Das waren die stillen Spuren ihrer Essstörung. Kleine Details, die kaum jemandem auffielen. Manchmal hätte sie sich gewünscht, dass mal jemand etwas sagen, mal nachfragen würde. Doch um ihre Probleme und Sorgen kümmerten sich die Freunde nie. Stattdessen war es wieder sie, die sich das nächste Beziehungsproblem anhören durfte, der einen Freundin mal schnell 100 Euro leihen sollte und sich bei einer anderen als Babysitter nützlich machen musste. Sie selbst blieb dabei auf der Strecke.

Was Angehörige wissen sollten

Wie kann man süchtig nach kotzen werden? Für viele unvorstellbar. Selbst von Bulimikern wird man darauf kaum eine schlüssige Antwort erhalten können. Zu tief sitzt bei ihnen die Scham wegen des eigenen Verhaltens.

Wie bei der Magersucht werden auch bei der Bulimie bestimmte Faktoren, Konstellationen und spezifische Auslöser diskutiert, die den Krankheitsausbruch begünstigen können. Als besonders gefährdet gelten auch hier Menschen, die alles perfekt machen wollen und hohe Erwartungen an sich selbst haben. Hinter der nach außen perfekten Fassade sitzt jedoch häufig eine zerbrechliche, von Selbstzweifeln geprägte Person.

Oft sind die betroffenen Frauen die typische beste Freundin, die ein offenes Ohr für die Probleme aller anderen hat. Die eigenen Bedürfnisse, Sorgen und Nöten verdrängt sie indes. Sie sieht ihre Rolle darin, in jedem Lebensbereich zu funktionieren. Dazu gehört auch das Äußere. Wie in jedem anderen Lebensbereich will sie auch hier perfekt sein. Dahinter sitzt eine tiefe Unsicherheit und Unzufriedenheit mit der eigenen Figur und dem Aussehen insgesamt. Zunehmen kommt für die Betroffenen nicht infrage. Doch um dauerhaft auf alle Sünden zu verzichten, sind sie nicht stark genug. Der sich anstauende Heißhunger entlädt sich in völlig unkontrollierbaren Essanfällen, die die Betroffenen aus Angst zuzunehmen wieder rückgängig machen wollen.

Weiterhin kommt es vor, dass sich Betroffene als stark abhängig von anderen empfinden. Sie haben Angst, aus der Reihe zu tanzen, ihre Meinung zu sagen oder Konflikte zu initiieren, da sie befürchten, dann jene zu verlieren, von denen sie abhängig sind. Dies führt zu einem Verleugnen der eigenen Person und der eigenen Bedürfnisse und zu einem Leben in absoluter Anpassung. Das starke Abhängigkeitsgefühl, die andauernde Selbstverleugnung, das Zurückstellen eigener Wünsche und die großen Verlustängste verursachen schwere seelische Belastungen. Um sich davon abzulenken und die angestauten Gefühle zu entladen, greifen die Betroffenen in aller Heimlichkeit zu Lebensmitteln.

Weiterhin begünstigend für eine Bulimie kann das heutige Rollenbild sein. Frauen sollen heute alles und in allem perfekt sein: Die perfekte Karrierefrau, die perfekte Hausfrau, die perfekte Ehefrau, die perfekte Mutter, die perfekte Freundin. Um diese Rollen zu erfüllen, müssen sie gleichzeitig durchsetzungsstark und nach Erfolg strebend, fürsorgend und aufopferungsvoll, hingebungsvoll und verständnisvoll sein. Daneben hat die perfekte Frau auch noch körperlich attraktiv zu sein. Schlank, gepflegt, top gestylt und gut gekleidet. Würde man das alles versuchen ernst zu nehmen, dann wäre die Frau von heute Vorstandesvorsitzende, Vierfachmama, Ehefrau des Jahres und Topmodel zugleich. Vier Leben in einem. Das kriegt man auch nicht hin, wenn man die tägliche Mittagspause weglässt und der Tag 25 Stunden hat. Frauen leben in einem ständigen Konflikt zwischen den traditionellen Rollenerwartungen, der Selbstverwirklichung im Beruf, den Hahnenkämpfen in der Männerwelt und den Erwartungen an ihre äußere Erscheinung. Entladen können sich diese inneren Konflikte und Anspannungen im Bereich des Essens. Essattacken zum Spannungsabbau. Das anschließende Erbrechen dient dazu, durch das zügellose Essen nicht die Erwartungen an die körperliche Erscheinung zu enttäuschen und nicht Menschen zu verlieren, von denen die Betroffenen denken, dass sie von ihnen weniger perfekt nicht mehr geliebt würden.

Achtung! So kann es anfangen

Anhand dieser Warnsignale lässt sich die Ess-Brech-Sucht (Bulimie) früh erkennen2:

Wie bei der Magersucht gilt auch hier: Um von der Bulimie betroffen zu sein, muss ein Patient nicht alle Merkmale aufweisen. Je nach Ausprägungsart sind einige Züge besonders deutlich vertreten, in anderen Bereichen kann sich ein Patient jedoch auch völlig unauffällig verhalten.

1.3 Binge-Eating-Disorder

Von Essgelagen und Einsamkeit der Seele

Die meisten Menschen essen gerne, kennen aber auch das Gefühl, im Eifer des Gefechts einmal mehr gegessen zu haben als der unbedingte Hunger verlangt hätte. Bei Patienten mit Binge-Eating-Disorder kommt das nicht nur manchmal in netter Runde, sondern regelmäßig vor. Sie leiden an wiederkehrenden Essattacken, in deren Verlauf sie große Mengen an kalorienreicher Nahrung verschlingen. Mit ihrem Essverhalten und ihrer oft übergewichtigen Figur sind die Patienten sehr unglücklich. Außerhalb der Essattacken sind viele von ihnen auf Dauer-Diät.

Gefühle wegessen

Sie wiegt zu viel. Sie isst ja auch gerne. So weit so gut. Dieses Schicksal teilt die 33-jährige Frau mit vielen Menschen. Doch sie leidet unter ihrem Gewicht extrem. Sie schämt sich wegen ihrer Kilos und würde daher auch nie in Gesellschaft von anderen essen. Denn dann kann es schnell heißen: „Wenn du so isst, dann ist es kein Wunder, dass du fett bist.“ Da isst sie lieber nichts, wenn sie mit anderen zusammen ist. Sie sagt dann, sie sei auf Diät. Das bringt ihr stets Respekt und Anerkennung von Seiten anderer ein. Doch kaum zu Hause, gibt es kein Halten mehr.

Sie hatte angefangen, ihre Gefühle mit Essen zu betäuben, als sie ein Kind war. Ihre Eltern waren beide arbeitslos und hatten trotzdem wenig Zeit für das Kind. Das einzige, was sie trösten konnte, wenn sie traurig war, war Essen. Anstelle eines Küsschens, wenn sie hingefallen war, warf ihr die Mutter eine Tafel billiger Schokolade hin. Sie hatte von ihrer Mutter gelernt, dass man bei Niederlagen eine fettige Pizza isst und hinterher noch eine Tüte Chips. Heute verschlingt sie Unmassen von Essen in einem ihrer Anfälle. In der Zeit dazwischen isst sie kontrolliert und eher wenig, achtet dann auch auf die Qualität von dem, was sie isst.

Wahrscheinlich hätte sie längst kein Übergewicht mehr, wenn sie nicht alle zwei bis drei Tage ihre Gefühle betäuben müsste. Und das geht nur mit Kalorien – je mehr, desto besser.

Was Angehörige wissen sollten

Was lässt die Betroffene ohne wirklichen Hunger extreme Mengen an Nahrungsmitteln verschlingen? Für Menschen, die in der Regel essen, wenn sie Hunger haben, und aufhören, wenn sie satt sind, ist das unvorstellbar.

Und auch die Wissenschaft hat noch nicht viele Antworten gefunden, warum Menschen an der Binge-Eating-Disorder erkranken und was die Auslöser dafür sind. Allgemein wird angenommen, dass eine psychische Veranlagung eine Rolle spielt. Ferner scheint die Neigung zu Übergewicht begünstigend zu wirken. Als auslösende Faktoren gelten wie bei den anderen Essstörungen auch innere Spannungen und Konflikte. Essanfälle bieten dann die Möglichkeit, angestaute Emotionen zu betäuben.

Oft lernen die Betroffenen dieses Verhalten bereits im Kindesalter. Dass Essen einen Belohnungscharakter hat, merken Kinder spätestens dann, wenn sie von Eltern oder Großeltern zum Trost oder als Zeichen der Anerkennung Süßes bekommen. Wenn die Heranwachsenden niemanden hatten, mit dem sie über ihre Sorgen und ihren Kummer sprechen konnten, war zumindest immer Essen da, das ablenkte und gute Gefühle verschaffte. Wenn dann das Gewicht auf der Waage ständig ansteigt, flüchten viele in Diäten. Damit beginnt der Teufelskreis erst recht: Während der Diät purzeln zwar Pfunde, doch läuft zugleich der Stoffwechsel auf Sparflamme. Kaum isst der Betroffene wieder normal, sind meist nicht nur die verlorenen Kilos wieder da, sondern häufig auch noch mehr. Das ist dann der berüchtigte Jojo-Effekt. Hinzu kommt, dass während einer einseitigen Diät mit Verzicht auf viele geliebte Lebensmittel der Appetit auf diese wächst. Die Gefahr für unkontrollierbare Essanfälle, in denen diese zügellos frei nach dem Motto „Jetzt ist es eh schon egal“ verschlungen werden, steigt an.

Betroffene von Binge-Eating gewöhnen sich mit der Zeit an, dauernd auf Diät zu sein. Diese Diäten scheitern meistens rasch, es folgen Versagensgefühle, die sich wiederum mit Essen bewältigen lassen. Ein Teufelskreis, bei dem das Gewicht immer weiter ansteigt.

Wichtig ist, die Binge-Eating-Disorder von anderen Essstörungen zu trennen. Im Gegensatz zur Bulimie, bei der auch Essanfälle auftreten, ergreifen die Betroffenen hier keine Gegenmaßnahmen. Während Bulimiker sich oft schon während des Essens schlecht fühlen, ist das Essen und Zubereiten der Speisen bei Binge-Eating-Patienten noch mit Genuss verbunden. Der Ekel kommt meist erst später.

Auch wenn die Binge-Eating-Disorder wie die Adipositas häufig von Übergewicht gekennzeichnet ist, gibt es doch entscheidende Unterschiede. Adipositas bedeutet gemäß Defintion eine Erhöhung des Körpergewichtes durch eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfettanteils. Adipositas ist eine medizinische Diagnose, die nur das Übergewicht an sich beschreibt. Dieses Übergewicht kann, muss aber nicht mit einer Essstörung einhergehen. Bei Binge-Eating kommt ausschlaggebend hinzu, dass die Patienten extrem unter ihrem Äußeren leiden, sich chaotisch außerhalb der Essanfälle ernähren und Essen benutzen, um Gefühle zu bewältigen.

Achtung! So kann es anfangen

Menschen, die an Binge-Eating-Disorder leiden, weisen typischerweise in Ihrem Essverhalten folgende Auffälligkeiten auf3:

1.4 Interview mit Sarah (28)

Sarah4 ist eine hochintelligente und sehr selbstreflektierte junge Frau. Und trotzdem (oder deswegen?) geriet sie in eine Essstörung. Im Folgenden erzählt sie, warum sie sich nach all den Jahren immer noch als „essgestörte Frau“ empfindet.

1. Liebe Sarah, du bist Mitglied im MVZ in einer Gruppe namens „Models gegen Magersucht und Bulimie“. Welchen Bezug hast du zu Magersucht und Bulimie?

Vor ca. sieben Jahren erkrankte ich u. a. an Bulimie. Ich bin die Älteste von vier Kindern. Damals zog ich von zu Hause aus, da ich meine Ausbildung zur Erzieherin beendet hatte und eine Arbeitsstelle in einer ca. 10 km entfernten Kleinstadt fand. Ich lebte auf einmal alleine und irgendwie kam ich damit nicht zurecht. Ich hatte damals ca. 40 kg Übergewicht und zudem ein sehr schwach ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Ich fand mich schon immer hässlich und nun hatte ich die Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. Und das war auch der Grund: Abnehmen – möglichst schnell. Ob ich mir damit schade, war mir egal. Ich wollte nur von den Kilos runter.

Denn als ich noch in der Ausbildung war und zu Hause lebte, begann ich die ersten Male damit, mich nach dem Essen zu übergeben. Da aber nun mal sehr viele Menschen in unserem Haushalt lebten, blieb es nicht lange unentdeckt und ich hörte wieder damit auf.

Doch in meiner Wohnung war ich ungestört und ich begann damit, nur noch trockenes Brot und Wasser bzw. Tees zu mir zu nehmen. Schnell nahm ich an Kilos ab und der ersehnte Abnehmerfolg setzte ein.

Doch manchmal hatte ich Fressattacken und während dieser Attacken schling ich alles mögliche in mich hinein – bis mir schlecht wurde und ich mich übergab. Und so ging das ca. ein halbes Jahr. In dieser Zeit nahm ich ca. 30 kg ab und ich fühlte mich mit jedem verlorenen Kilo besser – auch wenn man mir ansah, dass ich zu ungesund abnehmen würde. Auf Anfragen, wie ich so schnell so viel abnehmen würde, sagte ich nur, dass ich Diät machen würde und zudem sehr viel arbeite. Damit gaben sich die Fragenden erstmal zufrieden.

Neben dem Abnehmen stellten sich aber auch andere Folgen ein. Zum Beispiel stundenlanges Sodbrennen, Kreislaufbeschwerden, Stimmungsschwankungen, Schlaflosigkeit, Haarausfall usw. Aber all das nahm ich in Kauf, denn schließlich nahm ich ab. Zudem bekam ich ständig Komplimente für diese “Abnehm-Willenskraft” und auch in Sachen Männer tat sich nach jahrelangen Hemmungen endlich etwas.

Es war einfach toll so.

Da ich aber neben der Bulimie noch Depressionen hatte, wurde ich irgendwann arbeitsunfähig und somit hatte ich noch mehr Zeit, mich um das Abnehmen zu kümmern. Ein paar Wochen später nahm ich nicht mehr ab. Ich hielt mein Gewicht und war sehr frustriert, dass es nicht weniger wurde. Ich ermahnte mich zu mehr Konsequenz in punkto Abnehmen und es wurde gefährlicher. Ich aß fast nichts mehr und baute mehr ab. Da ich aber immer noch Übergewicht hatte, kam nie ein Arzt dahinter, dass ich neben den Depressionen auch essgestört sein könnte.

Es gab sogar Ärzte, die mich auf mein Übergewicht ansprachen (laut BMI vielleicht 10 kg) und mir eine Diät empfahlen. Das war natürlich in dieser Situation das Schlimmste, was passieren konnte und ich