Michael Gerwien

Isarbrodeln

Der zweite Fall für Max Raintaler

Zum Buch

MORD!, MÜNCHEN!, MAFIA? Der Münchener Exkommissar Max Raintaler und seine Teilzeitfreundin Monika sitzen anlässlich ihres Geburtstagsessens im »Da Giovanni«, ihrem Lieblingsitaliener und Stammlokal nicht weit von Thalkirchen auf der anderen Seite der Isar. Beide sind seit Jahren mit Wirt Giovanni befreundet, Max und er spielen darüber hinaus gemeinsam beim FC Kneipenluft, dem besten Hobbykickerverein im Münchner Süden. Doch die Feier wird gestört, als der Italiener an der Bar mit zwei jungen Männern in Streit gerät. Max eilt seinem Freund zu Hilfe und wirft die beiden hinaus. Am nächsten Tag finden er und Monika Giovanni erschlagen auf den nagelneuen Terrakottafliesen seines Kneipenbodens. Die Polizei nimmt unter der Führung von Hauptkommissar Franz Wurmdobler die Ermittlungen auf. Aber auch Max macht sich umgehend auf die Suche nach dem Täter …

Michael Gerwien lebt in München. Er arbeitet dort als Autor von Kriminalromanen, Thrillern, Kurzgeschichten und Romanen. Darüber hinaus ist er auch Musiker und begleitet seine Lesungen selbst mit Musik.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Monacomord (2019)

Wolfs Killer (2018)

Gründerjahr (2018)

Schattenrächer (2017)

Schattenkiller (2016)

Stückerlweis (2016)

Brummschädel (2015)

Krautkiller (2015)

Andechser Tod (2014)

Wer mordet schon am Chiemsee? (2014)

Jack Bänger (E-Book only, 2014)

Alpentod (2014)

Mordswiesn (2013)

Raintaler ermittelt (2013)

Isarhaie (2013)

Isarblues (2012)

Isarbrodeln (2011)

Alpengrollen (2011)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

4. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Fotos aboutpixel.de / Der Eisbach ist gnadenlos, © Andi Streidl

ISBN 978-3-8392-3798-4

Dank

Sakrischen Dank an

Lilli und Patrick

Johan de Blank

und vor allem an Claudia Senghaas, die beste

Lektorin, die ich kenne.

1

»Hey, Giovanni! Bringst du uns noch zwei Grappa?« Der Münchner Exkommissar Max Raintaler und seine hübsche Freundin Monika saßen gemütlich im ›Da Giovanni‹, ihrem Lieblingsrestaurant gleich beim Tierpark. Kerzenlicht, weiße Tischdecken, dunkles Holz, riesige Sonnenblumen in verzierten Tonvasen und stilvolle, italienische Landschaftsbilder verbreiteten romantisches, südliches Ambiente. Monika feierte heute, wie immer am vierten Mai, ihren Geburtstag. Und natürlich hatten sich die beiden dem besonderen Anlass zuliebe in Schale geworfen. Der blonde Max steckte, statt wie gewöhnlich in Jeans und Lederjacke, in seinem neuen, dunkelblauen Cordanzug und die dunkelhaarige Monika machte eine hinreißende Figur in ihrem kleinen Schwarzen. Ihr Menü war wie jedes Mal ein Gedicht gewesen. Erst hatte es verschiedene Antipasti gegeben, anschließend Pasta mit Trüffeln und danach für Monika Brodetto, eine Suppe mit ausgesuchten Meeresfischen, sowie für Max einen Rinderbraten in Barolo. Jetzt wollten sie den bislang mehr als gelungenen Abend noch angemessen mit Giovannis hervorragendem, italienischem Traubenschnaps ausklingen lassen.

»Zwei Grappa. Natürlich. Kommt sofort, Max. Nur einen kleinen Moment. Ich fliege.« Der gut aufgelegte Wirt aus Pesaro lächelte breit zum Tisch seiner Freunde hinüber. Er freute sich, dass Monika ihr Wiegenfest auch dieses Jahr wieder bei ihm beging. Max und sie kamen ansonsten eher sporadisch zum Essen und Trinken vorbei. Je nach Lust und Laune. Ihre ganz persönlichen Events jedoch fanden prinzipiell bei ihm statt. Immer. Es sei denn, einer von ihnen fiel wegen Krankheit aus. Doch selbst für diesen seltenen Ausnahmefall existierte ein Plan B. Die versäumte Feierlichkeit wurde dann einfach zu einem anderen Zeitpunkt nachgeholt.

Das alles hatte natürlich Gründe. Zum einen beschäftigte Giovanni einen begnadeten jungen Koch, Paolo. Dann waren seine Essens- und Getränkepreise für Münchner Verhältnisse schwer in Ordnung. Und die feurige Pizza, nach dem vom Chef eisern gehüteten Geheimrezept seiner Großmutter, war einfach unschlagbar lecker. Wenn er sich eigenhändig an den Teig und die Zutaten vom Sugo machte, durfte sich niemand außer ihm in der Küche aufhalten. Sogar Paolo schickte er so lange auf einen Espresso nach vorne ins Lokal. Ja, und dann kannten sich Max und Giovanni fast seit einer halben Ewigkeit. Sie waren echte Freunde. Und spielten außerdem auch noch seit Jahren gemeinsam beim FC Kneipenluft, einer der besten Hobby­fußballmannschaften des Münchner Südens.

»So, zweimal Grappa, bitte sehr.« Giovanni stand in seine übliche, fast bodenlange weiße Schürze gekleidet, mit einem kleinen Tablett vor ihrem Tisch. »Ich habe mir auch ein Gläschen mitgebracht. Und der Champagner für Monika liegt schon auf Eis. Den bringe ich dann gleich noch. Im Übrigen geht der Abend für meine Freunde heute auf meine Rechnung. Okay?«

»Aber Giovanni. Das geht doch nicht.« Monika lächelte verlegen, aber auch ein kleines bisschen geschmeichelt und dankbar.

»Aber natürlich geht das, liebe Kollegin. Wie oft hast du mich denn schon in deinem Lokal eingeladen? In ›Monikas kleiner Kneipe‹? Eh? Na also. Prost!«

Sie hoben alle drei ihre Gläser und ließen den edlen Tresterbrand genussvoll die Kehlen hinunterrinnen.

»Außerdem darf Geld unter Freunden kein Thema sein«, fuhr Giovanni fort. »So! Und jetzt hole ich euch erst noch ein paar schöne Profiteroles und den Espresso, und dann köpfen wir zusammen ein paar leckere Flaschen. Auf 46 Jahre schöne Monika. Ihr habt doch noch ein bisschen Zeit, oder?«

»Ja, sicher haben wir Zeit, Giovanni«, antwortete Max. »Ich als Frühpensionär sowieso und ›Monikas kleine Kneipe‹ hat, wie du weißt, morgen ihren Ruhetag, wie jeden Montag.«

»Na also. Super. Dann können wir ja die ganze Nacht lang feiern.« Giovanni lachte kurz übermütig auf und ließ sie wieder alleine.

Max dachte daran, wie er ihn kennengelernt hatte. Es war in seinen Anfangsjahren bei der Kripo gewesen. Giovanni hatte damals in einem kleinen Pizzastand in Schwabing gearbeitet und vergessen, Max die Salami auf seine Pizza zu legen. Der hatte sich natürlich darüber beschwert. Aber Giovanni hatte so getan, als hätte Max die Pizza genau so bei ihm bestellt, wie sie zwischen ihnen lag. Ohne Salami. Max hatte daraufhin, obwohl er seit zwei Stunden außer Dienst war, seinen Polizeiausweis gezückt und ihm damit gedroht, die Bude zu schließen, wenn er nicht sofort seine Salami bekäme. Plus eine Entschuldigung. Als Giovanni ihm beides mit dem Hinweis darauf, dass Max selbst schuld wäre, wenn er nicht anständig bestellen könne, trotzig verweigerte, warf der wutentbrannt seine salamilose Pizza an die hintere Wand des kleinen Verkaufsraums. Daraufhin entstand zuerst ein Riesentumult, gespickt mit den fantasie­vollsten Beschimpfungen auf beiden Seiten. Wobei das Italienische dem Bayrischen in nichts nachstand. Und dann geschah es. Während einer kurzen Gefechtspause lief Giovanni zu seinem Ofen, holte fünf unbelegte warme Pizzen heraus, stapelte sie auf dem Verkaufstresen überei­nander, knallte noch eine ganze Salami am Stück daneben hin und forderte Max lautstark auf, sich seine bescheuerte Pizza doch gefälligst selbst zu machen. Der sah den tobenden Pizzabäcker zuerst mit offenstehendem Mund an. Dann konnte er einfach nicht mehr anders. Er musste lachen. Immer lauter. Giovanni stimmte nach einer Weile ein. Dann zauberte er von irgendwo eine Flasche Grappa hervor und sie tranken, bis sie leer war. Seitdem waren Max und sein Kollege Franz damals beinahe täglich bei Giovanni vorbeigekommen, um sich eine Pizza Salami zu holen. Und all ihren anderen Kollegen hatten sie den kleinen Pizzastand auch empfohlen. Das Weitere ergab sich zwingend. Giovannis Umsatz stieg und Max und er wurden dicke Freunde.

Etliches hatten sie seitdem miteinander erlebt. Nicht nur beim FC Kneipenluft und beim gemeinsamen Ausgehen. Auch in zahlreichen gemeinsamen Urlauben oder beim Bergwandern. Und wenn Max irgendwo in und um München seine Auftritte als Country- und Bluessänger hatte, war sein musikvernarrter, fünf Jahre älterer Freund aus dem Süden so oft er konnte dabei. Auch zuhause bei Giovanni und seiner früheren Frau Maria nahe Pesaro waren Max und Monika des Öfteren zu Gast gewesen. Der Wirt besaß dort eine wunderschöne Villa mit riesigem Pool unter Olivenbäumen und Palmen. Ein einziger Traum. Das Haus lag kurz vor Urbino, auf dem Gipfel eines Weinbergs mitten in den weitläufigen Hügeln der Marken. Jedes Mal gab es tolles Essen, tollen Wein und tolles Wetter. Einfach herrlich.

Übermorgen würde Max für ein paar Tage mit Giovanni an den Walchensee zum Angeln fahren. Er freute sich schon auf ihren kleinen Männerurlaub. Normalerweise wurde dabei nur geschwiegen und Bier getrunken. Traumhaft.

Von Maria hatte sich Giovanni vor einigen Jahren getrennt, nachdem sie mit einem jungen Kellner aus Rom fremdgegangen war. Doch seit zwei Jahren gab es eine neue Liebe an seiner Seite. Clara, eine sehr hübsche, temperamentvolle Sizilianerin, die ihn schon nach kurzer Zeit wie eine Gouvernante in seinem eigenen Lokal herumkommandierte. Giovanni hatte sie gleich vom Fleck weg geheiratet. Besser Feuer unterm Hintern als alleine bis ins Grab, hatte er zuvor einmal beim Bier zu Max gesagt. Da könntest du recht haben, hatte der ihm damals geantwortet und dabei leicht resigniert an Monikas standhafte Weigerung, ihn zu heiraten, gedacht. Er hatte sie schon mehrmals gefragt, aber sie wollte ihre Freiheit einfach nicht aufgeben.

»Verschwindet endlich. Idioten!«, hörten Max und Monika jetzt die Stimme ihres Freundes laut vom Tresen her.

»Du bist der Idiot, Giovanni. Nur du!«, erwiderte eine andere Stimme mindestens genauso laut.

Sie drehten sich überrascht um und sahen Giovanni mit zwei jungen Burschen streiten. Der Größere mit den kurz geschorenen, schwarzen Haaren hatte einen Baseball­schläger in der rechten Hand und klopfte damit bedrohlich in die offene Innenfläche seiner linken. Der kleine, langhaarige Lockenkopf neben ihm lehnte provozierend lässig mit den Händen in den Hosentaschen an der Wand.

»Haut schon ab!« Giovanni streckte den Arm aus und wies ihnen ärgerlich die Tür. Doch sie dachten gar nicht daran zu gehen. Ganz im Gegenteil. Der mollige Kleinere blieb stehen, wo er stand, und der schmale Größere trat sogar noch einen Schritt näher an die Theke heran.

Hey, Burschen, das reicht jetzt aber wirklich, dachte Max. »Ich glaube, ich schau da mal hin, Moni. Oder?« Er sah das Geburtstagskind fragend an.

»Tu das, Max«, sagte sie.

»Aber was, wenn es Verwandte sind, die ich noch nicht kenne? Dann störe ich doch nur.«

»Mag sein. Aber du kannst ja auf jeden Fall mal freundlich fragen, was los ist.«

»Da hast du natürlich recht.« Er stand auf, rollte kurz seine Schultern in den Gelenken, drückte sein Kreuz durch und machte sich auf den Weg. »Gibt es irgendein Pro­blem?«, fragte er höflich, aber bestimmt, als er vor den drei Streithanseln am Tresen stand.

»Die beiden hier sind das Problem, Max.« Giovanni zeigte rot vor Zorn im Gesicht auf die fast noch jugend­lichen Unruhestifter.

»Also, meine Herren. Raus damit. Was wollt ihr von meinem Freund?« Max setzte einen strengen Expolizistenblick auf. Seine stahlblauen Augen funkelten dabei gefährlich.

»Verpiss dich, Mann! Was willst du überhaupt? Das hier geht nur uns was an. Kapiert?« Der kurzhaarige Jüngling mit dem Baseballschläger und dem italienischen Akzent in der Stimme zeigte sich nicht sonderlich beeindruckt. Er holte drohend zum Schlag aus.

»Aber, aber«, entgegnete ihm Max kalt lächelnd. »Darf man so mit Erwachsenen reden?« Und noch ehe der vorlaute Bursche bis drei zählen konnte, hatte er ihm seinen Prügel aus der Hand gerissen. Dann drehte er ihm den Arm auf den Rücken und zerrte ihn an Handgelenk und Haaren in Richtung Tür.

»Brauchst du Hilfe, Max?«, rief ihm Monika von ihrem Tisch aus zu und stand vorsichtshalber auf. Immerhin hatte sie den zweiten Dan in Selbstverteidigung und war dem durchtrainierten Exkommissar, wenn es ums Raufen ging, auf jeden Fall ebenbürtig.

»Danke, Moni. Das hier schaffe ich gerade noch alleine.«

Draußen angekommen verpasste Max dem respektlosen Jungspund einen kräftigen Tritt ins Hinterteil, so dass der mit einer missglückten Hechtrolle laut schreiend über die steinernen Stufen vor dem Lokal auf die spärlich beleuchtete Straße hinunterrollte. Dann lief der blonde Exkommissar mit dem erbeuteten Schlagholz in der Hand zurück zur Theke, um sich den zweiten Unruhestifter vorzunehmen. Doch der kleine Lockenkopf hob nur abwehrend die Hände, brüllte laut um Hilfe und rannte, wie vom Leibhaftigen gejagt, davon.

»Lasst euch bloß nie wieder hier blicken!«, rief ihm Giovanni, die Faust schüttelnd, hinterher. »Wie ihr seht, habe ich gute Freunde!«

»Alles okay mit dir?«, erkundigte sich Max, als er schwer atmend wieder neben Giovanni stand. Natürlich waren das viele Essen und der Wein daran schuld. Nicht etwa sein zunehmendes Alter und die damit verbundene nachlassende Kondition. Logisch.

»Alles okay. Danke, Max. Diese Idioten wollten Schutzgeld von mir. Aber ich bezahle nicht.« Giovanni wedelte beim Sprechen wild mit den Händen durch die Luft. Sein Gesicht leuchtete nach wie vor rot vor Aufregung.

»Musst du auch nicht. Schutzgelderpressung ist in Bayern verboten.« Auch wenn er bereits pensioniert war, mit dem Gesetz kannte sich Max nach wie vor bestens aus. Herrschaftszeiten, dachte er. Das Ganze hätte auch saudumm ausgehen können. Mit so einem Baseballschläger kannst du locker jemandem den Schädel einschlagen.

»Was du nicht sagst. Glaubst du denn, das interessiert diese schlechten Vögel …?«

»… schrägen Vögel, Giovanni!«

»Na gut. Schrägen. Egal. Viele italienische Lokale in München müssen bezahlen. Sonst bekommen sie Ärger. Und wenn du zur Polizei gehst, sagen die dort, dass sie Beweise brauchen. Oder einen richtigen Verdacht. Sonst könnten sie nichts tun. So sieht es aus. Man ist diesen Gangstern regelrecht abgeliefert.«

»… ausgeliefert, Giovanni. Außerdem hast du doch mich. Und Franzi Wurmdobler, mein alter Freund und Exkollege bei der Kripo, interessiert sich bestimmt auch für ungesetzliche Mafiamethoden in seinem Revier. Die Burschen haben keine Chance. Glaube mir.« Max sprach im vollsten Brustton der Überzeugung und blickte seinem Freund mit einem zuversichtlichen Lächeln auf den Lippen geradewegs ins Gesicht.

»Na gut. Wenn du das sagst, Max.«

»Was ist los, caro mio?« Clara, die gerade am anderen Ende des Gastraumes die letzten Gäste abkassiert hatte, war bei ihnen angelangt. Sie sah besorgt und ängstlich drein. Natürlich hatte sie den Krawall mitbekommen.

»Ach nichts, Bellissima. Nur wieder diese blöden Idioten mit dem Schutzgeld.« Giovanni winkte genervt ab.

»Was? Schon wieder? Soll ich vielleicht doch mal meinen Vater in Palermo anrufen? Der hilft uns sicher gerne. Du weißt ja, er kennt viele Leute …« Die dunkelhaarige Schönheit aus dem sonnigen Süden blinzelte ihn vielsagend an.

»Nein, Bellissima. Ist schon in Ordnung,« wehrte Giovanni ab, der wusste, dass sie auf die guten Verbin­dungen ihres Vaters zu ein paar wichtigen Herren in den oberen Etagen der Mafia anspielte. »Max hat die Kerle verjagt. Vergessen wir sie am besten einfach. Lasst uns lieber alle zusammen Monikas Geburtstag feiern. Ich sperre die Tür zu und hole den Champagner. Die anderen Gäste sind sowieso schon weg. Was meint ihr?«

»Ich habe ganz sicher nichts dagegen«, antwortete Max. »Und Moni hat, wie gesagt, auch Zeit. Stimmt’s, Moni?«

»Absolut!« Das Geburtstagskind nickte in bester Feier­laune.

»Gut, dann machen wir es jetzt so, wie ich sage, Giovanni. Sperr du zu und setz dich schon mal mit der Flasche zu unseren Freunden«, ordnete Clara an. Sie gab ihrem Angetrauten ein geschwindes Küsschen auf die Wange. »Und ich gehe kurz nach hinten und mache uns noch ein paar feine kleine Häppchen dazu«, fuhr sie dann fort. »Na los! Hopp, hopp!«

»Einer feschen Sizilianerin widerspricht man besser nicht, mein Freund. Also komm lieber mit«, klärte Max Giovanni auf und grinste Clara breit ins Gesicht.

Die grinste mindestens genauso breit zurück und verschwand in der Küche. Hoffentlich kommen diese miesen Kerle nicht zurück, um sich zu rächen, dachte sie, während sie frischen Hummersalat, jungen Pecorino und den edlen Parmaschinken für ganz besondere Gelegenheiten aus dem Kühlschrank nahm. Max kann ja nicht die ganze Zeit auf uns aufpassen.

2

»Na, das war doch mal wieder eine notte italiana vom Feinsten.« Max schaufelte mit einem großen Esslöffel Unmengen von Monikas selbst gemachter Erdbeermarmelade auf seine Semmel. Er war gestern mit zu ihr gegangen und hatte nach längerer Zeit mal wieder hier übernachtet. Schließlich musste ja irgendwer das reichlich angeheiterte Geburtstagskind ins Bett bringen. Und dann waren ihm die restlichen zwei Kilometer bis zu seiner Wohnung wegen seines eigenen Suri einfach zu weit gewesen.

»Stimmt«, erwiderte Monika, die ihm gegenüber an ihrem kleinen, weißen Küchentisch saß. »Und meine Kopfschmerzen sind auch vom Feinsten. Wie viele Flaschen Champagner haben wir eigentlich geleert?« Sie legte stöhnend ihre Stirn in Falten.

»Keine Ahnung. Aber vier oder fünf waren es bestimmt. Wie es sich für einen ordentlichen Geburtstag gehört. Für alle Fälle habe ich heute Morgen schon mal eine halbe Blutdrucktablette mehr genommen. Wer weiß, was sonst noch passiert.« Max blickte wichtig drein und bediente sich immer weiter fleißig aus ihrem Marmeladentopf.

»Alter Paniker. Erst zu viel bechern, und dann soll am nächsten Tag auf einmal das Herz in Gefahr sein.« Sie verdrehte die Augen. Warum musste ich damals eigentlich ausgerechnet an den König der Hypochonder geraten, dachte sie.

Max sah das anders. »Ich bin halt einfach vorsichtig, Moni«, sagte er. »Da ist doch nichts dabei. Unser Heimweg war auf jeden Fall ziemlich lustig. Ich denke da nur an das Eingangsschild vom Tierpark, das du mit deinem Lippenstift beschmiert hast.«

»Was habe ich …?« Sie sah ihn ungläubig an.

»Nichts Schlimmes«, beruhigte er sie. »Du hast bloß ein fröhliches Grinsgesicht drauf gemalt. Und keine Angst. Ich bin ja nicht mehr bei der Polizei.«

»Vor dir hab ich auch keine Angst. Aber hoffentlich hat uns sonst niemand gesehen. Mensch, und Giovanni hat alles spendiert. Wahnsinn! Sollten wir später nicht kurz bei ihm vorbeischauen und uns noch mal bedanken?«

»Logisch, Moni. Wie du meinst.« Er wusste, dass das keine Frage war, sondern eine Feststellung. Die Sache war so oder so beschlossen. Egal, was er geantwortet hätte. Also konzentrierte er sich auf das Nächstliegende und hievte voller kindlicher Vorfreude die Semmelhälfte mit dem riesigen Marmeladenberg darauf mit der rechten Hand von seinem Teller hoch.

»Hoffentlich kann der sein Lokal heute überhaupt pünktlich aufmachen. Er wird doch sicher auch einen dicken Kopf haben, so ausgelassen, wie er gestern drauf war.« Monika stöhnte erneut. Ihr eigener dicker Kopf schien auch nicht gerade von schlechten Eltern zu sein.

»Stimmt«, bestätigte er. »Ich kenne seit letzter Nacht bestimmt sämtliche Arien aus allen italienischen Opern, die jemals geschrieben wurden.«

Die Semmelhälfte stand dabei nahezu freischwebend vor seinem Mund. Wie die Palette auf einer Gabelstaplergabel kurz vor dem Einschub ins Regalfach. Dann knickte sie ab. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Ganz hinten. Genau dort, wo er sie die ganze Zeit über mit Daumen und Mittelfinger gehalten hatte. Er versuchte, die unaufhaltsam heruntertriefende Marmelade eilig von der Seite her mit der Zunge aufzufangen. Zum Teil gelang ihm das auch recht gut. Das meiste der klebrigen, roten Masse jedoch landete allen Rettungsversuchen zum Trotz auf dem Tisch und dem neuen japanischen Seidenmorgenmantel, den er vor einem Monat für den Fall einer Übernachtung hier bei Monika gebunkert hatte. »Herrschaftszeiten, noch mal!«, fluchte er laut. »Verdammter Mist! Schau dir doch bloß diese Sauerei an. Der reinste Erdbeertsunami. Warum muss so was eigentlich immer mir passieren?«

»Weil kein anderer Mensch auf dieser Welt so viel Marmelade auf seine Semmel packen würde«, erwiderte Monika und schüttelte lachend ihre lange, dunkle Lockenpracht.

»Alles klar. Ich gehe duschen. Dann können wir los. Den Morgenmantel lege ich zu deiner Wäsche. Wenn den jemals irgendwer wieder sauber bekommt, dann bist du es. Bis gleich.« Er stürmte eilig aus der Küche, noch ehe ihn Monika zum vierhundertdreiundzwanzigsten Mal genervt auffordern konnte, seine Wäsche gefälligst selbst zu waschen. Hundertprozentig dicht gefolgt von dem vierhundertdreiundzwanzigsten Hinweis darauf, dass er schließlich verdammt noch mal selbst auch eine Waschmaschine habe.

Eine halbe Stunde später standen sie in der Haustür unten in ›Monikas kleiner Kneipe‹, bereit, dem feinen Nieselregen draußen die Stirn zu bieten. Unter Monikas großem Schirm natürlich. Max hatte die Enden seiner neuen, dunkelblauen Anzughose in die hohen, hellgrünen Gummistiefel gestopft, in denen er Monika manchmal bei der Gartenarbeit hinter ihrem Haus half. Und über das fesche neue Jackett hatte er ein altes, durchsichtiges Regencape von Monika gestreift, das ihm genau betrachtet gut zwei Nummern zu klein war. Monika hatte sich längst abgewöhnt, gegen seine beizeiten mehr als unmöglichen Outfits zu protestieren. Es würde sowieso nur Streit geben. Also nahm sie seinen außerordentlich schlechten bis nicht vorhandenen Geschmack mit buddhistischer Gelassenheit hin und dachte sich ihren Teil. Meistens zumindest.

Um die restlichen Katergeister aus ihren Köpfen zu vertreiben, entschlossen sie sich, vor ihrem geplanten Danksagungsbesuch bei Giovanni noch einen kleinen Ausnüchterungsspaziergang zu unternehmen. Und so marschierten sie zunächst durch Matsch und Pfützen isaraufwärts, bis zur Holzbrücke seitlich der Floßlände. Dort überquerten sie den mit braunem Schlamm und Regenwasser angefüllten Fluss, beobachteten eine Weile lang mit staunenden Augen die starke Strömung, in der etliche kahle Äste und sogar ein paar ganze Baumstämme flussabwärts trieben, und liefen dann auf der anderen Seite zurück. Am Tierpark vorbei.

Das erste zarte Grün schmückte schon überall die Büsche und Bäume. Gänseblümchen, Löwenzahn und blühender Bärlauch standen am Wegesrand. Der Winter war endgültig vorbei. Und auch wenn der Himmel im Moment überhaupt nicht danach aussah, der Sommer ließ bestimmt nicht mehr lange auf sich warten. Dann war es endlich wieder so weit. Baden gehen, in den nahe gelegenen Bergen wandern, und die schönen Biergärten in der bayrischen Landeshauptstadt und darum herum besuchen.

Um kurz vor zehn erreichten sie Giovannis Restaurant. Der Eingang war verschlossen.

»Nur noch zwei Stunden bis zum Mittagessen. Sie müssten doch längst da sein«, wunderte sich Monika.

»Wo du recht hast, hast du recht, meine blauäugige Schönheit«, schnurrte Max. »Lass uns zur Rückseite gehen. Da lässt Giovanni meistens auf, wenn er nicht da ist. Damit seine Leute reinkommen.«

»Okay.« Sie grinste erfreut und etwas verlegen zugleich. Wie immer, wenn er ihr seine kleinen Komplimente machte.

Als sie hinter dem Haus bei der weit geöffneten Küchentür ankamen, hörten sie drinnen jemanden leise schluchzen und vor sich hinjammern.

»Hallo, Clara, Giovanni? Seid ihr da?«, rief Max, während er eintrat.

»Hier bin ich. Helft mir doch!«, bekam er jetzt etwas lauter zur Antwort.

Clara, dachte er. Hört sich ganz so an, als wäre sie vorne im Gastraum. Merkwürdig. Was ist nur mit ihr? Ist sie gestürzt und kommt nicht mehr hoch? Aber wo ist Giovanni? Der müsste doch bei ihr sein. Sein Auto ist auf jeden Fall da. Langsam, Raintaler. Hier ist Vorsicht geboten. Das Ganze riecht nach Gefahr. Er bedeutete Monika, leise mit ihm an den sauber geputzten Gasherden, Arbeitsplatten und Vorratsregalen der Küche vorbeizuschleichen. Dann kamen sie hinter dem Tresen an. Und blieben wie angewurzelt stehen. Vor ihnen eröffnete sich ein Bild des totalen Chaos. Etliche Tische und Stühle lagen umgeworfen da. Andere standen noch. Dazwischen waren überall Scherben, Blumen und Kerzenleuchter auf dem Boden verstreut. Mittendrin saß Clara gefesselt auf einem Stuhl. Sie schaute panisch drein und blutete aus einer Wunde am Kopf. Als sie Max erblickte, ging ihr Schluchzen in lautes Geheul über.

»Max, da. Da drüben! Giovanni! Bitte hilf ihm doch. Schnell! Er bewegt sich nicht!« Sie klang heiser. Musste bereits eine Weile lang um Hilfe gerufen haben.

Max, der zuerst gedacht hatte, er sei in einem schl­echten Horrorfilm gelandet, löste sich aus seiner Erstarrung, trat eilig hinter der Theke hervor und sah sich weiter im Raum um. Dann entdeckte er seinen Freund. Er lag lang gestreckt auf den neuen Terrakotta-Fliesen vor der Bar, die sie letztes Jahr noch zusammen im Baumarkt besorgt hatten. Sein Kopf war von einer dunklen Blutlache umgeben. Und er bewegte sich tatsächlich nicht.

»Moni, binde du Clara los,« rief er. »Schnell! Ich kümmere mich um Giovanni!«

Er lief zu dem italienischen Wirt hinüber, kniete sich neben ihn und beugte sich hastig über sein Gesicht, um festzustellen, ob er noch atmete. Fehlanzeige. Dann versuchte er Giovannis Puls zu ertasten. Nichts. Herrschaftszeiten, Raintaler. Das sieht nicht gut aus. Da gibt’s nur eins: deinen alten Freund und Exkollegen Franzi anrufen. Und die Rettung. Und zwar sofort. Mist, verdammter. Was mag hier bloß passiert sein? Mit zitternden Fingern fischte er hektisch sein Handy aus der Hosentasche und wählte.

»Servus, Franzi. Hier ist Max«, meldete er sich leise, damit Clara möglichst nichts mitbekam. »Wir brauchen dringend einen Notarzt ins ›Da Giovanni‹. Giovanni sieht gar nicht gut aus. Und euch brauchen wir auch. Beeilt euch bitte. Das hier könnte Raub mit schwerer Körperverletzung sein. Oder ein Mordversuch. Vielleicht sogar ein Mord oder Totschlag.«

»Wir sind in zehn Minuten da, Max. Und den Notarzt schicke ich dir jetzt sofort.«

Sie legten auf. So musste es sein. Franzi fragte nicht lange, sondern reagierte prompt. Ein Profi eben. Wie ich früher auch einer war. Und eigentlich immer noch bin, dachte Max.

»Was ist mit meinem Giovanni, Max? Lebt er noch?« Clara war völlig aus dem Häuschen. Sie blickte Hilfe suchend aus tränenüberströmtem Gesicht zu Max herüber, ahnte wohl bereits, dass es sehr schlecht um ihren Mann stand.

»Der Arzt muss jeden Moment hier sein, Clara. Dann wissen wir mehr.«

»Oh, nein! Mein Giovanni ist tot! Oh, mein Gott. Nein!« Sie faltete verzweifelt die Hände und hob sie vor ihr Gesicht.

»Geh bitte mit Clara in die Küche und gib ihr einen Schnaps, Moni!«

So unentschlossen Max manchmal wirken mochte, in Extremsituationen wie dieser wusste er genau, was am besten zu tun war. Sein jahrelanger Polizeidienst hatte ihn gründlich darin geschult.

»Klar, Max. Mach ich. Komm, Clara!« Monika akzeptierte seine momentane Führungsrolle, ohne zu widersprechen, was sie ansonsten für gewöhnlich nicht tat.

»Nein! Ich gehe nicht weg von meinem Giovanni. Nicht, solange der Arzt noch nicht bei ihm war. Auf gar keinen Fall!« Claras Stimme klang fest entschlossen. Sie hatte die Arme jetzt vor der Brust verschränkt, ihre Augen geschlossen und die Lippen fest aufeinandergepresst. So wie es aussah, würde sie im Moment keine Armee der Welt von ihrem Stuhl wegbekommen.

»Na gut«, lenkte Max kurz in ihre Richtung blickend ein und begann dann mit schnellen, rhythmischen Stößen auf Giovannis Brust zu drücken. Jetzt war nicht die Zeit für Diskussionen. Jetzt half nur noch handeln. Und zwar sofort. Wenn überhaupt. Als er dreißig Stöße gezählt hatte, hielt er dem italienischen Wirt die Nase zu und blies ihm durch den Mund Luft in die Lungen. Hoffentlich stecke ich mich mit nichts an, schoss es ihm dabei kurz durch den Kopf. Schmarrn. Er blies noch einmal Luft in seinen leblosen Freund. Dann begann er mit fliegenden Fingern erneut seine Herzmassage.

»Ich hole uns schnell einen Grappa«, flüsterte Monika halblaut, die es nicht aushielt, einfach nur tatenlos zuzusehen, und streichelte kurz die Schulter ihrer Freundin.

»Nein! Ich will keinen Grappa! Ich will meinen Giovanni! Oh, mein Gott.« Clara schrie, röhrte und zappelte auf ihrem Stuhl. Dann begann sie wieder lauthals zu schluchzen. Monika nahm sie fest in den Arm und versuchte, sie zu beruhigen.

Max pustete und massierte hektisch weiter, bis ihm vor Anstrengung und panischer Angst um seinen Freund der Schweiß über das Gesicht lief. Fünf Minuten später betrat der Notarzt den Gastraum. Er untersuchte Giovanni nur kurz.

»Da ist nichts mehr zu machen«, raunte er Max mit belegter Stimme zu. »Tut mir leid. Er hat eine Schädelverletzung, die jeden Elefanten sofort getötet hätte. Ich vermute, dass er mit einem stumpfen Gegenstand brutal erschlagen wurde.«

»Mit einem Baseballschläger vielleicht?«, erkundigte sich Max, der schon die ganze Zeit über an die zwei Burschen von gestern Abend denken musste. Obwohl er ihnen ihren Prügel ja eigentlich weggenommen hatte.

»Kann sein. Oder ein dickes Metallrohr oder etwas Ähnliches. Genaueres kann da aber erst die Forensik feststellen«, erwiderte der junge Mann in der orangefarbenen Jacke.

Dann stand er auf, ging zu Clara hinüber, die inzwischen nur noch starr vor sich hinblickte, gab ihr eine Beruhigungsspritze und ließ sie ins Krankenhaus bringen. Monika versprach ihrer Freundin, so bald wie möglich nachzukommen.

Als Franz mit seinen Kollegen eintraf, berichtete ihm Max, wie sie das Gastwirtpaar vorhin aufgefunden hatten. Er habe Clara noch zu keinen Einzelheiten befragen können. Dazu sei sie zu stark traumatisiert gewesen. Und dass am gestrigen Abend zwei sehr verdächtige Burschen hier gewesen wären, teilte er ihm gleich auch noch mit.

»Alles klar, Max. Wir kümmern uns darum«, versicherte Franz seinem Exkollegen und alten Schulfreund. »Verlass dich drauf. Wer auch immer das getan hat, wir kriegen ihn oder sie. Jetzt ist erst mal die Spurensicherung dran. Und dann sehen wir weiter.«

»Okay, Franzi«, meinte Max mit hängenden Schultern und nahm sich insgeheim vor, sich selbst ebenfalls umzuhören. Du warst mein Freund, Giovanni. Und der Mord an einem Freund gehört aufgeklärt. So oder so. Das schwöre ich dir.

Kurz bevor er und Monika gingen, tauchte Giovannis Koch Paolo auf, um wie jeden Tag seinen Job an den Töpfen anzutreten. Als er hörte, was geschehen war, schlich er wortlos hinter den Tresen und schenkte sich einen drei­fachen Grappa ein. Dann setzte er sich an einen der noch aufrecht stehenden Tische im Lokal und stierte düster vor sich hin. Auf Franz’ Frage, wo er denn gerade herkäme, antwortete er, ohne aufzublicken.

»Von zu Hause, wie jeden Tag.«

»Kann das jemand bezeugen?«, wollte Franz wissen.

»Natürlich«, erwiderte der Süditaliener ungeduldig mit rauer Stimme. »Meine Frau und die Kinder können das bezeugen. Und ein Freund von mir, bei dem ich mir noch ein Messer für die Arbeit abgeholt habe, kann es auch bezeugen. Glauben Sie etwa, dass ich meinen Chef umgebracht habe?« Er sah Franz einen Augenblick lang stumm und entsetzt an. »Was für eine total verrückte Idee«, fuhr er dann ärgerlich fort. »Ich habe Giovanni geliebt. Er war wie ein Vater zu mir.«

»Wir glauben erst einmal gar nichts. Aber wir befragen jeden, der mit dem Toten zu tun hatte«, entgegnete ihm der kleine, dicke Hauptkommissar und bestellte ihn für den Nachmittag aufs Revier, um dort seine Aussage zu Protokoll zu geben.

Max hatte den beiden zugehört. Er war absolut überzeugt davon, dass der junge Mann mit den wilden Dreadlocks auf dem Kopf unmöglich etwas mit Giovannis Tod zu tun haben konnte. Dazu kannte er Paolo viel zu lange und viel zu gut. Obwohl. Ganz sicher sein konnte man sich nie. Bei den Menschen genauso wie bei allem anderen. Verdammte Scheiße, dachte er. Dabei habe ich mich so auf morgen gefreut. Auf den Angelausflug zum Walchensee mit Giovanni. Wenn er dabei war, haben die Fische immer besonders gut gebissen. Und die Sonne hat jedes Mal heller geleuchtet als sonst.

3

»Grüß Gott. Wo finde ich bitte Frau Clara Vitali? Sie muss vor Kurzem eingeliefert worden sein. Schock und Kopfverletzung.« Monika stand mit ihrem tropfnassen Schirm in der Hand am Empfang der Notaufnahme der kleinen Privatklinik in den Isarauen, in die Clara von den Sanitätern gebracht worden war. Draußen regnete es inzwischen in Strömen. Sie hatte sich vor einer Viertelstunde vor dem ›Da Giovanni‹ von Max verabschiedet und war mit dem Taxi hergefahren. Immer noch von den Ereignissen aufgewühlt.

»Sind Sie eine Verwandte?« Die mollige Schwester hinter dem weißen Tresen blickte gelangweilt von ihrem gemütlich weichen Schreibtischstuhl aus zu ihr hoch.

»Nein, eine Freundin.«

»Dann darf ich Ihnen keine Auskunft geben.«

»Wieso nicht?«

»Ich darf nur Verwandten Auskunft geben.«

Was soll denn der Blödsinn? Ich will ihr doch nichts tun. Ich will sie nur besuchen, dachte Monika. »Ich dachte immer, das gilt nur für die Intensivstation«, fuhr sie fort.

»Eben.«

»Hören Sie! Claras Verwandte sind alle in Italien. Sie hat niemanden hier. Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Es geht ihr wirklich schlecht. Ihr Mann wurde vorhin ermordet.« Sie sah die Blondine mit den dicken roten Backen eindringlich an.

»Nein. Leider.« Die Schwester blickte kurz unverwandt zurück, schob sich ein großes Stück Konfekt zwischen die gelblichen Zähne und begann irgendetwas in ihren Computer zu tippen.

»Dann möchte ich jetzt auf der Stelle einen Arzt sprechen.« Monikas Ton verschärfte sich.

»Die machen gerade alle Kaffeepause«, kam es unfreundlich zurück.

Das Maß war voll. Monika lief rot an. Vorschriften hin, Vorschriften her. Diese fette, überhebliche Kröte hier schien wohl ein Herz aus Stein zu haben. Aber sie schien gleichzeitig nicht zu wissen, dass man Steine auch weich klopfen kann. Mit aller Kraft drosch sie ihre flache Hand auf den dunkelbraunen, hölzernen Empfangstresen. »Pass mal auf, Schätzchen!«, zischte sie dann wütend. »Du wirst mir jetzt auf der Stelle sagen, wo meine Freundin liegt oder es passiert was. Haben wir uns verstanden?«

Die Klinikbedienstete sah mit weit aufgerissenen Augen erschrocken zu ihr hoch. So etwas hatte sie anscheinend noch nicht erlebt. Ihre schokoladeverschmierten Lippen begannen zu beben.

»Also gut. Den Flur hinter und dann links ist die Intensivstation … Dort müssen Sie noch mal fragen«, presste sie mit ängstlicher Stimme hervor.

»Danke, sehr. Warum nicht gleich so?« Monika drehte sich um und lief los. »Hat man so einen Schwachsinn schon gehört«, murmelte sie dabei vor sich hin. »Nur Verwandte … Jeder kann seine Freunde im Krankenhaus besuchen. So eine dämliche Kuh.«

Als sie bei der Intensivstation ankam, erfuhr sie, dass Clara gleich nach ihrer Einlieferung auf die Station im zweiten Stock verlegt worden war. Auf Zimmer zweiundzwanzig.

»Alles halb so wild. Ihre Freundin wurde wohl versehentlich zu uns hierher gebracht«, meinte die, verglichen mit ihrer Kollegin vom Empfang, wesentlich freundlichere, ältere Schwester zum Abschied.

In der zweiten Etage ging Monika den Flur entlang, bis sie vor dem Zimmer mit der Nummer zweiundzwanzig stand. Sie klopfte und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Monika! Gott sei Dank bist du da.« Clara lag blass wie ihr Kopfkissen auf dem Bett neben dem Fenster. Die ältere Frau, die mit ihr im Zimmer lag, schlief.

»Hallo, Clara. Na, haben sie dich gut versorgt?«

»Ja. Sie sind alle sehr nett hier. Kopfweh habe ich.« Sie klang matt.

Wenigstens zu dir sind sie nett. Na, das wäre auch noch schöner, dachte Monika.

»Oh je. Mein geliebter Giovanni tot. Mein Gott. Ich kann es immer noch nicht fassen.« Die Tränen stiegen Clara in die Augen.

»Ich auch nicht, Clara. Gestern haben wir noch alle zusammen so fröhlich gefeiert und jetzt das.«

Monika setzte sich auf den Bettrand, nahm Claras Hand in ihre Hände und schwieg eine Weile lang mit ihr. Stell dir doch bloß mal vor, Max würde auf einmal sterben, dachte sie. Das wäre doch die reinste Hölle auf Erden. Schlimm, wenn ein geliebter Mensch von uns geht. Und dann auch noch ohne jede Vorwarnung, wie Giovanni. Mein Gott. Das muss doch ein schrecklicher Schock für Clara sein.

»Sie haben mir Beruhigungsmittel gegeben. Aber ich muss trotzdem dauernd an meinen Geliebten denken.« Clara begann zu schluchzen.

»Das glaube ich dir«, erwiderte Monika. »Es muss alles ganz schrecklich für dich sein.«

»Ja. Ist es auch.«

»Aber jetzt mal was ganz anderes, Clara. Max ist auf der Suche nach Giovannis Mörder. Er will den miesen Kerl erwischen. Und da ist natürlich jede noch so kleine Information wichtig. Kannst du dich noch daran erinnern, wie das Ganze passiert ist? Oder hast du den Täter erkannt?«

»Nein. Leider nicht. Ich habe schon die ganze Zeit darüber nachgedacht. Kann mich aber an nichts erinnern. Der Arzt sagt, das sei ganz normal bei einer Gehirnerschütterung.« Sie wischte sich ihre Tränen mit einem Zipfel des Bettlakens aus dem Gesicht. »Ich weiß nur noch so viel«, fuhr sie dann fort. »Giovanni und ich sind kurz vor neun von der Großmarkthalle gekommen. Wir liefen um das Haus herum, um von hinten ins Lokal zu gehen. Wie immer, wenn wir unsere Einkäufe in der Küche verstauen und den Tag vorbereiten wollten. Ich ging vo­raus, weil Giovanni etwas im Auto vergessen hatte. Dann wurde alles schwarz. Ich bin erst auf dem Stuhl im Gastraum wieder aufgewacht. Und dort lag dann Giovanni vor mir. Ohne sich zu bewegen.« Sie schluchzte kurz laut auf. »Dann rief ich um Hilfe. Aber niemand hat mich gehört. Bis ihr endlich gekommen seid.« Völlig erschöpft schloss sie die Augen.

»Du hast also niemanden gesehen oder erkennen können?«

»Nein, Monika. Ich weiß überhaupt nichts. Nur, dass mein Giovanni tot ist.« Clara begann hemmungslos zu weinen.

Monika beugte sich über sie und nahm sie in den Arm. Ihre Freundin schien wirklich nichts gesehen zu haben. Verflixt. Das würde Max und Franz die Arbeit nicht gerade erleichtern.

4

»Was sagst du? Sie waren in der Großmarkthalle Obst und Gemüse einkaufen und sind dann in ihr Restaurant zurückgefahren?« Max stand telefonierend auf der kleinen Kiesstraße neben dem Isarkanal. Nur noch eine knappe Viertelstunde von seiner Wohnung entfernt. Franz war mit seinen Leuten und der Spurensicherung im ›Da Giovanni‹ geblieben und hatte versprochen, ihm sofort Bescheid zu geben, sobald er etwas über den Mord in Erfahrung gebracht hätte.

»Genau!«, antwortete Monika.

»Und Clara hat den oder die Täter nicht erkannt?«, fragte er weiter.

»So ist es. Sie hat einen völligen Blackout wegen ihrer Gehirnerschütterung. Aber vielleicht hat sie den Schlag auf ihren Kopf ja auch von hinten bekommen.«

»Ja, wer weiß? Alles ist möglich. Danke, Moni. Dann schau ich doch gleich mal dort vorbei. In der Großmarkthalle, meine ich.« Gott sei Dank liegt sie nur fünf Minuten von hier. Bin schon gespannt, was ich da herausfinde. Vielleicht ist den beiden von dort aus jemand gefolgt.

»Okay. Kommst du danach zu mir?«

»Nein, ich muss erst mal nach Hause und nachschauen, ob Post da ist. Und umziehen muss ich mich auch unbedingt. Meine Klamotten sind schon ganz feucht. Trotz deines Regencapes. Ich glaube, es ist undicht. Nicht, dass ich mir noch eine gesalzene Erkältung hole. Wir sehen uns dann heute Abend.«

»Alles klar, Max. Viel Glück. Bis dann.« Monika legte auf.

Max legte ebenfalls auf, steckte sein Handy in die Hosentasche zurück und zog schnell die schmale Plastikkapuze von Monikas Cape wieder über, die er zum Telefonieren vom Kopf gestreift hatte. Selbst wenn sie undicht war, würde sie ihn wenigstens einigermaßen vor der größten Nässe und den damit verbundenen Krankheiten schützen. Denn genau betrachtet war es doch so. Der Frühling zeigte sich zurzeit zwar bereits ab und an in vielversprechendem Gewand, aber die Luft war immer noch reichlich kühl. Gerade hier unten in den Isarauen. Und der Regen tat sein Übriges. Ruck zuck hatte man da den schönsten Schnupfen an der Backe.

Giovanni war nicht mehr da. Er konnte es immer noch nicht fassen. Mit wem sollte er jetzt über Kunst und Politik diskutieren? Wer sollte in Zukunft die Tore für den FC Kneipenluft schießen? Giovanni war ein begnadeter Stürmer gewesen. Den Maradonna vom Tierpark hatte ihn jeder nur genannt. Und wer würde Max in Zukunft auf seine kleinen Konzerte begleiten? Klar hatte er auch noch andere Freunde und Bekannte. Keine Frage. Franz zum Beispiel war sein ältester Freund seit Schulzeiten. Und später hatten sie sogar auch noch den gleichen Job bei der Münchner Kripo gehabt. Viele Jahre davon in derselben Abteilung. Bis diese Geschichte passiert war, wegen der Max gehen musste. Diese Sache, über die er mit niemandem reden durfte. Ja, der Franz. Ein Supertyp und ein sehr guter Freund. Auf jeden Fall. Logisch. Aber seine Freundschaft mit Giovanni war trotzdem immer etwas Besonderes gewesen. Und jetzt war sie vorbei. Endgültig. Wut und Trauer stiegen in ihm auf. Na wartet, ihr Mistkerle, schwor er sich. Ich kriege euch und dann Gnade euch Gott. Wer auch immer meinen Kumpel erschlagen hat, wird dafür büßen. Versprochen. Zieht euch schon mal warm an.

Als er bald darauf im Großmarkt ankam, strebte er sogleich auf Halle 1 mit Obst und Gemüse zu. Obwohl das Hauptgeschäft um diese Zeit längst vorbei war, fanden sich dort immer noch die schönsten exotischen Früchte neben einheimischen Kartoffeln, Zwiebeln, Kohlrabi und Bohnen. Bunte Salatköpfe, verschiedenste Tomaten, Äpfel, Kirschen, Erdbeeren, Gurken und feinste Kräuter. Alles, was das Herz eines Kochs oder einer Köchin begehrt, lag fein säuberlich in aufgestapelten Steigen draußen und drinnen die Gänge entlang aufgereiht. Normalerweise konnte er sich für das riesige Angebot immer begeistern. Heute hatte er keine Augen dafür.

Er steuerte direkt den Stand vom alten Rudi an, bei dem Monika immer ihre Salate und Tomaten holte. Erstens kannte er außer Rudi niemanden hier näher und zweitens war der gemütliche Niederbayer das personifizierte Tagblatt der Markthallen. Er wusste über so gut wie alles und jeden hier Bescheid.

»Servus, Max. Was machst du denn noch so spät hier? Und dann auch noch ganz alleine und in so feschen Gummistiefeln. Kommst du vom Angeln? Ist die Monika krank?« Der grauhaarige Obsthändler betrachtete ihn erstaunt und amüsiert zugleich.

»Nein, Rudi. Ich war nicht beim Angeln. Und mit Moni ist alles in Ordnung. Die kommt morgen wieder. Ich bin aus einem traurigen Anlass hier. Du kennst doch Giovanni? Vom ›Da Giovanni‹, gleich beim Tierpark.«

»Logisch kenn ich den Giovanni. Wieso?«

»Er ist tot. Er wurde heute Vormittag in seinem Restaurant erschlagen.« Max machte ein finsteres Gesicht.