Lehren und Lernen

Herausgegeben von

Andreas Gold

Cornelia Rosebrock

Renate Valtin

Rose Vogel

Andreas Gold
Minja Dubowy

Frühe Bildung

Lernförderung im Elementarbereich

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2013

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher

Gesamtherstellung:

W. Kohlhammer GmbH + Co. KG, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022398-1

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-023906-7

epub:  ISBN 978-3-17-025537-1

mobi:  ISBN 978-3-17-025424-4

Geleitwort

Die großen internationalen Vergleichsstudien zu Schul- und Schülerleistungen vom Beginn des Jahrhunderts haben spürbare Innovationen im gesamten Bildungssystem bis hinein in die konkreten unterrichtlichen Praktiken mit sich gebracht. Auch die Forschungslandschaft rund um das Lehren und das Lernen wurde durch diese Impulse nachhaltig beeinflusst und wirkt ihrerseits weiter auf die Entwicklung von Schule und Unterricht ein.

Eine der Lehren aus diesen Studien war die Anerkennung der Notwendigkeit von Interdisziplinarität: Lehren und Lernen, wissenschaftlich betrieben, kann nur durch das Zusammenspiel pädagogischer, psychologischer, fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Theorien und Befunde befriedigend erklärt und gesteuert werden. In der pädagogischen Praxis kann keine Lerntheorie ohne Bezug auf eine konkrete Inhaltsdomäne und keine Lehrmethode ohne Curriculumsbezug und ohne Beachtung der individuellen Lernvoraussetzungen erfolgreich sein. Die je eigenen Perspektiven und Erkenntnisse der Psychologie, der Pädagogik und der beiden schulisch zentralen Fachdidaktiken Mathematik und Deutsch, vertreten in den Disziplinen der Herausgebenden, sollen in den einzelnen Bänden dieser Reihe jeweils zu einem kohärente Gesamtbild zusammengeführt werden. Neben der Interdisziplinarität liegt besonderer Wert auf einer – weit verstandenen – Empirie: Erfahrungswissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse zum Lehren und Lernen stehen jeweils im Mittelpunkt der Darstellung. Schließlich fokussieren alle Bände der Reihe den Anwendungsbezug: Die entfalteten Themen, Diskurse und Fachgebiete sind jeweils unmittelbar bedeutend für Schule und Unterricht. Insgesamt präsentieren die Bände die wichtigsten unterrichtlich relevanten Forschungsthemen und -ergebnisse aus den unterschiedlichen Disziplinen.

Die vorliegende Reihe umfasst thematisch den Vorschul-, Grundschul- und weiterführenden Schulbereich bis etwa zur zehnten Klassenstufe. Konzipiert ist sie für (zukünftige) Lehrende, auch für PädagogInnen und PsychologInnen in weiteren Anwendungsfeldern im Bildungssystem. Mit dem »Lehren und Lernen« werden die oben angesprochenen politisch-praktischen Veränderungen im pädagogischen und fachlichen Feld und in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern aufgegriffen, indem die Ergebnisse der empirischen Forschung in den zentralen Bereichen des Lehrens und Lernens aus interdisziplinärer Perspektive für professionelle Anwenderinnen und Anwender verständlich und kompakt dargestellt werden.

Andreas Gold, Cornelia Rosebrock, Renate Valtin & Rose Vogel

Inhaltsverzeichnis

  1. Geleitwort
  2. Vorwort
  3. 1   Frühe Bildung
  4. 1.1   Der Bildungsbegriff
  5. 1.2   Inhaltliche Schwerpunkte dieses Buches
  6. 1.3   Wie dieses Buch aufgebaut ist
  7. 2   Entwicklung und Lernen in der frühen Kindheit
  8. 2.1   Kognitive Entwicklung
  9. 2.2   Sprachentwicklung
  10. 2.3   Sozial-emotionale Entwicklung
  11. 2.4   Fazit
  12. 3   Die Bildungspläne der Bundesländer
  13. 3.1   Die Rahmenkonzeption der Jugend- und Kultusministerkonferenz
  14. 3.2   Umsetzung der Rahmenkonzeption in den Bundesländern
  15. 3.3   Fazit
  16. 4   Formen und Nutzung früher Bildungsangebote
  17. 4.1   Einrichtungen früher Bildung und Betreuung
  18. 4.2   Nutzung früher Bildungs- und Betreuungsangebote
  19. 5   Pädagogische Konzepte im Elementarbereich
  20. 5.1   Der Situationsansatz
  21. 5.2   Montessori-Pädagogik
  22. 5.3   Waldorf-Pädagogik
  23. 5.4   Reggio-Pädagogik
  24. 5.5   Fazit
  25. 6   Förderung spezifischer Inhaltsbereiche
  26. 6.1   Sprachförderung
  27. 6.2   Vorbereitung des schulischen Schriftspracherwerbs
  28. 6.3   Förderung früher mathematischer Kompetenzen
  29. 6.4   Förderung im Bereich der naturwissenschaftlichen Bildung
  30. 6.5   Kognitive Förderung
  31. 6.6   Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen
  32. 6.7   Förderung lernmethodischer Kompetenzen
  33. 6.8   Fazit
  34. 7   Gestaltung von Übergängen in der frühen Bildung
  35. 7.1   Von der elterlichen zur außerfamilialen Betreuung
  36. 7.2   Von der Kindertagesstätte in die Schule
  37. 8   Effekte vorschulischer Betreuung
  38. 8.1   Allgemeine Vorüberlegungen
  39. 8.2   Ausgewählte Studien
  40. 8.3   Was wir wissen
  41. 8.4   Fazit
  42. Literatur
  43. Stichwortverzeichnis

Vorwort

In der bildungspolitischen Diskussion und für die interessierte Öffentlichkeit spielen Maßnahmen der frühen Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern schon seit längerer Zeit eine gewichtige Rolle. Auf allen Handlungsfeldern stößt man auf Initiativen, Förderprogramme und Forschungsvorhaben zu dieser Thematik, sei es auf der kommunalen Ebene, auf den Ebenen des Bundes und der Länder oder im internationalen Rahmen. Exemplarisch seien hier drei groß angelegte Initiativen der letzten Jahre genannt: Die 2012 abgeschlossene Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit, kurz NUBBEK, das Programm Starting Strong der OECD, das 2006 seinen zweiten Bericht zur Lage der frühen Bildung in den Mitgliedsstaaten veröffentlichte, und das Projekt Frühe Chancen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, für das zwischen 2011 und 2014 insgesamt 400 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus wurden zahllose Gutachten erstellt und Expertengremien gebildet sowie eine Vielzahl von Förderprogrammen zu spezifischen inhaltlichen Bereichen (besonders häufig zum Bereich der frühen sprachlichen Förderung) entwickelt und erprobt.

Auffällig ist, dass sich viele unterschiedliche Interessengruppen und Verbände, aber auch viele wissenschaftliche Disziplinen mit dem Thema der frühen Bildung beschäftigen, teilweise jedoch ohne voneinander Kenntnis zu nehmen. Hier sind vor allem die Elementar- und Frühpädagogik, die Pädagogische Psychologie und die Entwicklungspsychologie, die empirische Bildungsforschung, die Bildungssoziologie und die Bildungsökonomie zu nennen. Der Fokus der verschiedenen Projekte und Initiativen ist je nach den dahinter stehenden Institutionen unterschiedlich: Überwiegend sind sie zwar kindzentriert auf die (vermeintlichen) Bedürfnisse der Kinder ausgerichtet, es gibt aber auch andere, eher erwachsenenzentrierte Argumentationslinien, etwa wenn es um wirtschaftliche oder gesellschaftspolitische Interessen geht. Wichtige Aspekte sind hier z. B. eine Erhöhung des Anteils erwerbstätiger Frauen, finanzielle Kosten-Nutzen-Abwägungen bei Investitionen in das Betreuungssystem oder die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit künftiger Generationen. Zu den bildungspolitischen und den bildungsökonomischen Aspekten sind in Deutschland inzwischen vermehrt demographisch motivierte Überlegungen hinzugekommen: Angesichts seit Jahrzehnten sinkender Geburtenzahlen wird diskutiert, ob eine Verbesserung der Betreuungssituation einen Einfluss auf die Bereitschaft junger Menschen haben könnte, Kinder zu bekommen.

In Deutschland erhielt das Thema der frühen Bildung in der öffentlichen und bildungspolitischen Aufmerksamkeit einen deutlichen Schub durch die Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 (Baumert et al., 2001). Zwar wurden Vorschulkinder in dieser Studie gar nicht untersucht, dennoch wurden aus den deutlich gewordenen Defiziten 15-jähriger Schüler sogleich Rückschlüsse auf die frühe Bildung im Elementarbereich gezogen. In der Folge geriet der Bildungsauftrag des Elementarbereichs in den Brennpunkt der bildungspolitischen Diskussionen, und an die vorschulische Bildung wurden immer neue Forderungen und Aufgaben herangetragen. Möglichst früh und möglichst individuell sollten die Vorschulkinder gefördert werden, um schulische Misserfolge und soziale Disparitäten in der späteren Bildungsbeteiligung und im Bildungserfolg gar nicht erst entstehen zu lassen.

Ehrgeizig hat die deutsche Bundesregierung im Jahr 2010 das Ziel vorgegeben, bis Mitte 2013 Betreuungsplätze für über 30 % der unter Dreijährigen zu gewährleisten, verbunden mit einem Rechtsanspruch der Eltern auf einen Betreuungsplatz ab dem ersten Lebensjahr. Die öffentliche Diskussion über die frühe Bildung hat seither zusätzlich an Dynamik gewonnen.

Anders als in vielen europäischen Nachbarländern gibt es in Deutschland immer noch eine spürbare Trennung der bildungspolitischen, der öffentlichen und der fachwissenschaftlichen Diskussion, je nachdem, ob die Adressaten der frühen Bildungsmaßnahmen jünger oder älter als drei Jahre sind. Während es bei den unter Dreijährigen ganz grundsätzlich um das Pro und Contra früher außerfamilialer Betreuung1 sowie um die Quantität und die Qualität von Betreuungsplätzen geht, werden bei den Drei- bis Sechsjährigen andere Themen diskutiert: Wie wird der Bildungsauftrag in den Kindertagesstätten umgesetzt? Bis zu welchem Maße können frühe Fördermaßnahmen kompensatorisch für Kinder mit besonderen familialen oder individuellen Risiken wirken? Wie gut bereiten die vorschulischen Einrichtungen auf den schulischen Anfangsunterricht vor? Wir werden in diesem Buch auf beide Altersbereiche und die dort gestellten Fragen detailliert eingehen.

Allerdings bleiben die Ausführungen des Buches beschränkt auf die frühe Bildung und Betreuung in außerfamilialen Kontexten, d.h. in Kinderkrippen, Kindergärten und (mit Einschränkungen) in der Kindertagespflege. Die unbestritten wichtigste und einflussreichste Instanz früher Bildung, nämlich die Familie, bleibt aus Gründen der inhaltlichen Schwerpunktsetzung ausgespart. Dieser Einschränkung sollte sich der Leser bewusst sein.

Unser Buch wendet sich an alle, die an früher Bildung interessiert sind. Spezieller Vorkenntnisse bedarf es nicht, wenngleich es zum Verständnis hilfreich ist, wenn zentrale Begrifflichkeiten aus der Pädagogik, der Psychologie und der empirischen Forschung vertraut sind. Insbesondere für Studierende und Berufstätige aus den Bereichen der Elementarpädagogik und der Pädagogischen Psychologie, für Erzieherinnen und Erzieher, für Lehrkräfte im Primarbereich, aber auch für Eltern von Kindern im betreffenden Altersbereich kann dieses Buch interessant sein.

Es ist uns ein Anliegen, auf der Grundlage empirischer Befunde einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion um die Auswirkungen früher Bildung zu leisten. Wenn die Ausführungen Zustimmung erfahren und zum intensiveren Weiterlesen anregen, haben sie ihren Zweck erfüllt. Wenn sie Widerspruch und Kritik hervorrufen, gilt im Grunde das Gleiche, weil sie dann eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Thema angestoßen haben.

1  In der deutschsprachigen Literatur werden die Begriffe familial und familiär zur Beschreibung von auf die Familie bezogenen Merkmalen weitgehend synonym verwendet. Da der Begriff familiär umgangssprachlich auch die Bedeutung von »vertraut, bekannt« hat, die im Kontext der nachfolgenden Ausführungen nicht gemeint ist, verwenden wir in diesem Buch in Anlehnung an Roßbach (2005) den Begriff familial für alle die Familien betreffenden Merkmale.

1         Frühe Bildung

Wer sich intensiver mit der Thematik frühe Bildung beschäftigt, wird bald feststellen, dass jede Recherche zu diesem Thema unweigerlich eine ganze Reihe neuer Fragen aufwirft. Das wird interessierten Eltern genauso gehen wie angehenden oder bereits berufserfahrenen Pädagoginnen und Pädagogen oder Wissenschaftlern. Die erste und zentrale Frage lautet: Was versteht man überhaupt unter früher Bildung?

Schon auf den ersten Blick fallen die unterschiedlichen Begrifflichkeiten auf, die zur Beschreibung von Bildungsprozessen bei jungen Kindern verwendet werden. Ist frühe Bildung eigentlich das gleiche wie Bildung im Elementarbereich? Ist Bildung im Elementarbereich gleichbedeutend mit vorschulischer, frühpädagogischer oder frühkindlicher Bildung? Und schließlich: Was versteht man überhaupt unter Bildung, und in welchem Verhältnis steht die Bildung zu anderen Begrifflichkeiten, die im Elementarbereich ebenfalls eine Rolle spielen – zur Erziehung, Betreuung und Förderung, zum Lernen und zur Entwicklung?

Nicht einfacher wird es, wenn man den Blick über Deutschland hinaus richtet und die Situation in den englischsprachigen Ländern, aus denen ein Großteil der einschlägigen Literatur stammt, betrachtet. Was genau verbirgt sich hinter den Begriffen early education, pre-school education oder elementary education? Welche deutschen Einrichtungen entsprechen dem pre-kindergarten, der nursery school oder der day care im englischen oder amerikanischen Bildungssystem? Nicht immer gibt es einfache Entsprechungen. Also beginnt auch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der frühen Bildung bereits mit einem Bündel immer neuer Fragen.

Wir haben uns in diesem Buch für die vereinfachende Bezeichnung »Frühe Bildung« entschieden, um eine möglichst breite, von Institutionsformen unabhängige Kennzeichnung der von uns betrachteten Altersspanne zu ermöglichen. Breit gefasst zum einen, weil wir die Bildungsprozesse bei jungen Kindern in allen möglichen Institutionsformen betrachten wollen, die sie vor dem Schuleintritt besuchen. Breit gefasst ist zum anderen auch der Altersbereich, der im Folgenden betrachtet wird: die Zeitspanne von der Geburt bis zum Schuleintritt. In der Entwicklungspsychologie wird dieser Zeitabschnitt als »Frühe Kindheit« bezeichnet – es ist eine Altersperiode rasanter Lern- und Entwicklungsprozesse ( Kap. 2). Vereinfachend ist die Bezeichnung »Frühe Bildung« deshalb, weil es bei Kindern im Vorschulalter nicht nur um Bildung, sondern stets auch um Betreuung und Erziehung sowie um Lernen und Entwicklung geht. Oft geht es auch um eine gezielte Förderung in spezifischen Inhaltsbereichen. Im Allgemeinen wird bei den Bildungsmaßnahmen zwischen der »Elementarpädagogik« (vor dem Schuleintritt) und der »Pädagogik im Primarbereich« (in der Grundschule) unterschieden. Diese Unterscheidung entspricht auch den traditionell unterschiedlichen rechtlichen Zuständigkeiten: Der Elementarbereich wird durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) geregelt; für die Pädagogik im Primarbereich sind die Schulgesetze der Länder maßgeblich. Diese unterschiedlichen Zuständigkeiten spiegeln die traditionell strikte Trennung zwischen vorschulischer und schulischer Bildung in Deutschland wider. Für den Elementarbereich sind in der Literatur auch die Begriffe der »frühen« oder »frühkindlichen« Bildung verbreitet, die allerdings nicht einheitlich gebraucht werden: Einige Autoren verwenden diese Begriffe für alle vorschulischen Maßnahmen, andere enger gefasst nur für Bildungsprozesse in der Altersgruppe der unter Dreijährigen (U3). Bei den Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren (Ü3) wird dagegen oft auch allgemein von »vorschulischer« Bildung gesprochen. In der Alltagssprache der pädagogischen Praxis wird damit jedoch häufig nur das letzte Jahr vor der Einschulung bezeichnet.

In diesem Buch geht es um alle Kinder unterhalb des Schulalters, die in irgendeiner Form eine außerfamiliale Bildung und Betreuung erfahren, sei es in Kindertagesstätten oder in der Tagespflege. Da diese Betreuung nach den aktuellen Statistiken zur Inanspruchnahme in Deutschland in der Regel ab der Vollendung des ersten Lebensjahres beginnt, ist also im Wesentlichen die Altersgruppe zwischen einem und sechs Jahren gemeint. In den vergangenen Jahren haben sich die Angebotsstruktur solcher Einrichtungen und das Nutzungsverhalten durch die Familien deutlich verändert ( Kap. 4).

1.1       Der Bildungsbegriff

Im deutschen Kinder- und Jugendhilfegesetz (§ 22) werden die Bereiche Bildung, Betreuung und Erziehung als zentrale Aufgaben der Elementarpädagogik bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen Bildung und Erziehung ist übrigens eine spezifisch deutsche, die in den meisten anderen Sprachen gar nicht vorgenommen wird. Im Englischen reicht der Begriff education aus, um beides zu bezeichnen.

Der deutsche Bildungsbegriff ist seit jeher Gegenstand theologischer und philosophischer, später auch pädagogischer Debatten gewesen, die sowohl die Zielsetzungen und die Inhalte von Bildung als auch die zur Bildung führenden Gestaltungs- und Erwerbsprozesse selbst zum Thema hatten (für einen Überblick: Dörpinghaus, Poenitsch & Wigger, 2009; Schäfer, 2005). Obwohl oder gerade weil es sich beim Bildungsbegriff um einen der Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft handelt, lässt er sich definitorisch nicht leicht fassen. Einfacher wird es, wenn wir die disziplinären Begrenztheiten verlassen. Die Enzyklopädie Brockhaus definiert Bildung als »Prozess der Selbstkonstruktion des Menschen im Lebenslauf […] und das Ergebnis der Aneignung von Welt« (Brockhaus, 2006, Bd. 4, S. 80). Ganz ähnlich wird auch im Klinkhardt Lexikon der Erziehungswissenschaft der Begriff der Bildung als »die Aneignung von Kultur oder die Gestaltung des Selbst« beschrieben (Horn, Kemnitz, Marotzki & Sandfuchs, 2012, S.154).

Bildung hat demnach mit der Aneignung von Kultur, mit der Erlangung von Autonomie und mit der Gestaltung der eigenen Identität, also mit der Selbstwerdung zu tun. Bildung ist sowohl ein (Ziel-)Zustand als auch eine Beschreibung der Gestaltungs- und Konstruktionsprozesse, die zum »Gebildetsein« führen. Bildungsprozesse bedürfen der Eigentätigkeit des Individuums. Die Bildung des Menschen vollzieht sich im Wesentlichen über die Entwicklung seiner geistigen, religiösen, kulturellen, moralischen, persönlichen und sozialen Kompetenzen in der Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Welt. Hier deutet sich bereits die kontextuelle Abhängigkeit der jeweiligen Bildungsinhalte und -ziele von sozio-kulturellen Rahmenbedingungen an. Ursprünglich war mit dem Bildungsbegriff stets ein religiöser Bezug verbunden – dem anzustrebenden Bildungsideal entsprach eine Annäherung an die Erfüllung der göttlichen Gebote. Säkulare Bildungsbegriffe sind ganzheitlicher gefasst: Sie nehmen die gesamte Persönlichkeit und Lebensspanne eines Individuums in den Blick und lehnen sich im deutschen Sprachraum meist an das von Wilhelm von Humboldt vertretene humanistisch-aufgeklärte Bildungsideal an. So verstanden zielt Bildung auf eine nicht zweckgebundene und nicht von außen gesteuerte Vervollkommnung der Persönlichkeit und auf das Erlangen von Individualität.

Entwicklung des Begriffs »Frühe Bildung«

An die frühe Bildung dachte Wilhelm von Humboldt allerdings noch weniger. Hier haben sich die Auffassungen und das Wirken von Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und Friedrich Fröbel (1782–1852) als prägend erwiesen. Pestalozzi und Fröbel wirkten im beginnenden 19. Jahrhundert als Pädagogen in der Schweiz und in Deutschland und haben unsere heutigen Vorstellungen über die frühe Bildung nachhaltig beeinflusst. Beide hoben die Bedeutung der Selbsttätigkeit und der Selbstbildung für die individuelle Entwicklung hervor, aber auch die Bildungsfähigkeit des Menschen. Pestalozzi betonte, dass intellektuelle, emotionale und manuell-praktische Tätigkeiten, Kompetenzen und Zustände gleichermaßen zur Bildung gehören (»mit Kopf und Herz und Hand«). Fröbel verwies auf die Kraft der inneren Selbstbildungskräfte des Kindes und verglich die Aufgaben des Erziehers mit denen eines Gärtners, der zwar für Licht und Nahrung sorgt, den eigentlichen Entfaltungsprozess aber dem Kinde selbst überlässt. Diese Grundgedanken finden sich auch in späteren elementarpädagogischen Bildungskonzeptionen wieder – besonders deutlich wird dies in den Vorstellungen Maria Montessoris ( Kap. 5). Natürlich haben sich die Inhalte und Ziele der frühen Bildung in den vergangenen 200 Jahren immer wieder verändert. Die historische Entwicklung und die theoretischen Debatten um den Bildungsbegriff im Detail wiederzugeben, würde den Umfang und auch die Zielsetzung dieses Buches sprengen. Daher werden wir im Folgenden nur auf aktuelle Vorstellungen von früher Bildung und die diesbezüglichen Kontroversen eingehen.

In Deutschland dominierten in den vorschulischen Einrichtungen traditionell die beiden Begriffe Betreuung und Erziehung, während der Bildungsbegriff eher eine untergeordnete Rolle spielte. Erst seit der Jahrtausendwende fand eine Verlagerung des Gewichts in Richtung der Bildungskomponente statt. Auslöser hierfür waren die Ergebnisse der ersten großen Schulleistungsstudien mit deutscher Beteiligung, PISA und IGLU, die erstmals in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurden. Obgleich gar nicht im Fokus dieser Untersuchungen – in den PISA-Studien (Artelt et al., 2001) wurden die Kompetenzen 15-Jähriger und in den IGLU-Studien (Bos et al., 2003) die von Zehnjährigen gemessen – gerieten die vorschulische Bildung und der Bildungsauftrag des Elementarbereichs insgesamt sogleich in den Brennpunkt der bildungspolitischen Diskussionen. Im Vorschulalter – so das gängige Argumentationsmuster – werde das Fundament gelegt, auf dem die spätere schulische Lern- und Leistungsentwicklung aufbaue. Der »Bildungsauftrag« von Kindertagesstätten ist seitdem in aller Munde und wird aus ganz unterschiedlichen Sichtweisen heraus begründet: Von Seiten der Bildungs- und Sozialpolitik wird die Bedeutung einer frühen Kompensation von sozialen Nachteilen mit dem Ziel einer höheren Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit betont. Es gibt aber auch wirtschaftspolitische Nützlichkeitserwägungen, um ökonomischen Interessen zu genügen. Im Zuge dieser Entwicklung haben alle deutschen Bundesländer in den vergangenen Jahren Bildungspläne für das Vorschulalter entwickelt, in denen der Versuch unternommen wird, den abstrakten Bildungsbegriff mit konkreten Ausgestaltungen zu füllen. Wie diese Bildungspläne im Einzelnen aussehen, wird in Kap. 3 dargestellt.

Die Kontroverse um die Kompetenzorientierung des Bildungsbegriffs

In Folge der geschilderten Umorientierung des Elementarbereichs wird die aktuelle öffentliche und fachliche Diskussion von Bildungskonzeptionen dominiert, die vor allem die Entwicklung von (im weitesten Sinne) leistungsrelevanten kindlichen Kompetenzen fokussieren. Allerdings sind derart eng gefasste kompetenzorientierte Bildungskonzepte in der Elementarpädagogik nicht unumstritten – es gibt durchaus kritische Gegenpositionen, die ein solches Bildungsverständnis als zu utilitaristisch ansehen und befürchten, dass ganzheitliche und persönlichkeitsbildende Aspekte dabei in den Hintergrund rücken. Kontrovers wird aber auch generell über die Angemessenheit eines universellen, dekontextualisierten Bildungsbegriffs in einer von kultureller und sozialer Heterogenität und Komplexität sowie hoher Veränderungsdynamik geprägten Gesellschaft debattiert.

Einer der prominentesten Vertreter eines kompetenzorientierten Bildungsansatzes ist Wassilios Fthenakis. Fthenakis (2002) vertritt eine sozialkonstruktivistische Vorstellung von Lernen und Entwicklung. Dabei geht er prinzipiell von einem aktiven Kind aus, das zwar über selbstbildende Kräfte verfügt, für den Erwerb von Bildung nach seiner Auffassung jedoch auf soziale Vermittlungsprozesse angewiesen ist. Diesen Vorgang bezeichnet er als Ko-Konstruktion von Wissen, d.h. das Kind konstruiert sich sein Wissen selbst, jedoch in Zusammenarbeit mit sozialen Partnern. Die entscheidende Frage lautet demnach: Wie müssen Interaktionsprozesse zwischen Kindern und Erwachsenen beschaffen sein, damit Kompetenzen erworben werden können? Dabei räumt Fthenakis der Vermittlung und dem Erwerb von Schlüsselkompetenzen für das lebenslange Lernen einen besonderen Stellenwert ein. Zusätzlich werden personale und soziale Basiskompetenzen als zentrale zu vermittelnde Kompetenzen angesehen. Das sich daraus ergebende Bildungskonzept kann nach Fthenakis nicht universell sein, sondern muss kontextgebunden sein und den kulturellen, sozialen und ethnischen Hintergrund der Kinder reflektieren (Fthenakis, 2002).

Diese eher eng gefasste kompetenzorientierte Sichtweise von Bildung wird zum Beispiel von Gerd Schäfer, einem der wenigen Frühpädagogen, die sich bereits vor Beginn des öffentlichen Interesses am Elementarbereich intensiv mit frühen Bildungsprozessen beschäftigten, scharf kritisiert. Ein kompetenzorientiertes Bildungsverständnis – so Schäfer (2005) – ordne die Bedürfnisse des Kindes denen der Erwachsenen unter. Inhaltlicher Kern von Schäfers eigenem Ansatz, der sich eng an psychoanalytischen Theorien orientiert, ist der Begriff der Selbstbildung. Damit ist gemeint, dass sich Kinder im Wesentlichen »aus sich selbst heraus« bilden, ohne dass es einer gezielten Wissensvermittlung durch Erwachsene bedarf. Schäfer zufolge ist die Bildung eines Kindes ein höchst individueller Prozess. Eine Optimierung von Lernprozessen nach rational-utilitaristischen Kriterien und eine Fokussierung auf kognitive Kompetenzaspekte, insbesondere auf so genannte Schlüsselkompetenzen, lehnt Schäfer strikt ab und sieht darin eine Verzwecklichung der kindlichen Entwicklung. Ebenso argumentiert er gegen die Festsetzung standardisierter Lernziele und gegen eine isolierte Förderung spezifischer Entwicklungsbereiche, denn eine »Optimierung in einzelnen Bereichen kann demnach dysfunktional und destruktiv für das Ganze werden« (Schäfer, 2005, S.27). Im Gegensatz zu Fthenakis betrachtet Schäfer Bildung als einen dekontextualisierten Begriff, der unabhängig vom sozialen und kulturellen Kontext definiert ist, in dem das Kind aufwächst.

Die fachliche Kontroverse zwischen eher kognitiv ausgerichteten kompetenzorientierten und eher ganzheitlich ausgerichteten Bildungskonzepten wird vor allem seit der Jahrtausendwende vehement geführt und ist zugleich äußerst fruchtbar für den frühpädagogischen Diskurs. Die diesbezügliche Auseinandersetzung dauert noch immer an, vor allem im Hinblick auf die Bildungspläne der Bundesländer. Fthenakis (2010) mahnt hierzu eine »überfällige Debatte« an, die sich der Frage nach dem Kompetenzbegriff in der Elementarpädagogik offen zu stellen habe.

Bildung und verwandte Begriffe

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz nennt als die zentralen Aufgaben des Elementarbereichs die drei Aspekte Bildung, Erziehung und Betreuung. Nachdem wir den Bildungsbegriff nunmehr präzisiert haben, wollen wir ihn im Folgenden von den anderen beiden Komponenten abgrenzen. Eine Definition der ebenfalls verwandten, eher entwicklungs- und allgemeinpsychologisch geprägten Begriffe Lernen und Entwicklung erfolgt in Kap. 2.

Anders als der Bildungsbegriff, dem bei all seinen unterschiedlichen Auslegungen stets eine Komponente der Selbsttätigkeit innewohnt, beschreibt Erziehung das Handeln einer erwachsenen Erziehungsperson, die von außen auf die kindliche Entwicklung einwirkt. Man könnte auch sagen, der Bildungsbegriff ist eher kindzentriert und reflexiv konnotiert (man bildet sich), während der Begriff der Erziehung eher erwachsenenzentriert und außengesteuert konnotiert ist (man wird erzogen). Erziehung muss dabei nicht unbedingt intentional erfolgen; viele Erziehungsprozesse verlaufen eher beiläufig oder in indirekter Weise. Nicht selten werden auch erzieherische Wirkungen erzielt, die gar nicht beabsichtigt waren, während andere Erziehungsziele zwar angestrebt, aber nicht erreicht werden. Im Vergleich zur Bildung zielt die Erziehung stärker auf die Anpassung eines Individuums an Einstellungen, Werte, Normen und sittliche Grundsätze einer Gesellschaft (die in Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur durchaus unterschiedlich sein können). Erziehung adressiert also eher als Bildung das Verhalten eines Menschen in sozialen Kontexten und weniger die Entwicklung von Individualität und Persönlichkeit. Diesen grundlegenden Unterschieden zum Trotz gibt es aber auch zahlreiche Überschneidungen zwischen den Begriffen Bildung und Erziehung.

Der Begriff der Betreuung von Kindern (englisch care) rückt die Komponente des »sich Kümmerns« in den Mittelpunkt, verbunden mit den Aspekten der Pflege, des Schutzes und der Fürsorge (vgl. Textor, 1999). Im 19. Jahrhundert waren Formen der reinen Betreuung ohne Bildungsanspruch und mit geringer pädagogischer Qualität die Regel, erwachsen aus der Notwendigkeit, mütterliche Erwerbstätigkeit in Familien der sozialen Unterschicht mit der Versorgung der Kinder zu vereinbaren. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat dieser Aspekt immer mehr an Bedeutung verloren, als pädagogische Konzepte Einzug in die Kindergärten hielten, die die Förderung der kindlichen Entwicklung in den Vordergrund stellten ( Kap. 3). Insbesondere in Folge der verstärkten Kompetenzorientierung seit der PISA-Debatte verschob sich das Gewicht innerhalb des Dreiklangs Bildung – Betreuung – Erziehung, wie bereits erwähnt, noch einmal deutlich in Richtung der Bildung. Im Zuge des Ausbaus der Betreuung von Kleinkindern unter drei Jahren gewinnt der Betreuungsaspekt allerdings wieder stärker an Gewicht – diesmal jedoch mit höherem Anspruch an die pädagogische Qualität und in Kombination mit dem Bildungsauftrag. Bei der Arbeit mit Ein- bis Dreijährigen stellt die Befriedigung von Grundbedürfnissen, wie das Füttern und Wickeln und das Vermitteln eines Gefühls von Sicherheit, naturgemäß einen der Schwerpunkte dar.

In diesem Buch werden in erster Linie die beiden erstgenannten Bereiche, also Bildung und Erziehung thematisiert. Wir haben uns im Titel für den verkürzten Terminus der frühen Bildung entschieden, weil er unsere kindzentrierte Sicht unterstreicht, weiter gefasst ist als der Begriff Erziehung und einen aktuellen Schwerpunkt der modernen Früh- und Elementarpädagogik bildet. Nichtsdestotrotz werden gerade in Kap. 6 zur Förderung kindlicher Kompetenzen auch Aspekte der Erziehung behandelt.

1.2       Inhaltliche Schwerpunkte dieses Buches

Wenn wir von früher Bildung sprechen, meinen wir damit alle institutionalisierten Bildungsprozesse, die dem Schulalter vorangehen. Mit der Einschränkung auf institutionalisierte Prozesse bleibt zugleich der wichtigste und entscheidendste Ort kindlicher Bildung außen vor: die Familie. Die Ergebnisse aller großen Studien zur außerfamilialen Betreuung belegen übereinstimmend, dass Merkmale der Familie den größten Erklärungsgehalt für die kindliche Entwicklung besitzen und dass die familialen Einflüsse die Effekte früher institutioneller Bildungsmaßnahmen weit übersteigen. Die wichtigsten und intensivsten Prozesse frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung finden – auch bei früh außerhalb der Familie betreuten Kindern – in den Familien selbst statt. Obgleich also die zentrale Bedeutung familialer und häuslicher Variablen für die kindliche Entwicklung unbestritten ist, werden sie im Folgenden bewusst ausgespart. Diese Schwerpunktsetzung scheint notwendig, da die familialen Lebensumwelten der Kinder zu heterogen und die Forschungsergebnisse zur familialen Sozialisation zu vielfältig und zu vielschichtig sind, um sie in diesem Buch quasi »nebenbei« abzuhandeln. Dennoch sollten wir uns der Tatsache bewusst sein, dass die spezifische Wirksamkeit außerfamilialer Angebote stets mit den Merkmalen des Elternhauses der Kinder interagiert und dass ihre Einflussmöglichkeiten jene der elterlichen Anregungen in keiner Weise erreichen oder deren Fehlen vollständig kompensieren können.

Einschränkend ist des Weiteren darauf hinzuweisen, dass der Bereich der Kindertagespflege, der vor allem bei den unter Dreijährigen eine Rolle spielt, zwar in Kap. 4 beschreibend dargestellt, in den darauf folgenden Kap. 5 bis 8 zum konkreten pädagogischen Vorgehen sowie zu den empirischen Befunden zur Wirksamkeit früher Bildung aber kaum mehr aufgegriffen wird. Dies liegt vor allem daran, dass bisher kaum empirische Forschung zu dieser Betreuungsform vorliegt, so dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch viel zu wenig über die pädagogische Arbeit in der Tagespflege und über deren Auswirkungen wissen. Auch zeichnet sich die Angebotsform der nicht-institutionellen Kindertagespflege durch eine ausgeprägte Heterogenität aus. Das erschwert eine angemessene Darstellung der dort geleisteten pädagogischen Arbeit und beeinträchtigt die Realisierung von Forschungsvorhaben zu den Effekten dieser Arbeit. Die wenigen hierzu vorliegenden Erkenntnisse werden an den entsprechenden Stellen berichtet. Im Großen und Ganzen bleiben die Ausführungen in den Kap. 5 bis 8 jedoch auf die frühe Bildung, Betreuung und Erziehung in den institutionellen Einrichtungen der Kindergärten, -krippen und -tagesstätten beschränkt.

Traditionell ist im Hinblick auf das Vorschulalter eine Untergliederung in zwei Altersbereiche weit verbreitet, nämlich in den Bereich der unter- und der über Dreijährigen. Die Unterscheidung dieser zwei Altersgruppen ist übrigens ein typisch deutsches Phänomen, das in anderen Ländern nicht in derselben Art besteht. Kinder ab dem vollendeten dritten Lebensjahr (Ü3) haben in Deutschland bis zum Schuleintritt einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, den sie in aller Regel auch wahrnehmen ( Kap. 4.2). Kinder unter drei Jahren (U3) werden entweder ausschließlich in ihren Familien oder aber in Kinderkrippen oder in der nicht-institutionellen Kindertagespflege betreut. Seit dem 01.08.2013 haben auch sie einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr. Auch wenn der Differenzierung der beiden Altersbereiche im pädagogischen Alltag vieler Einrichtungen inzwischen durch fließende Übergänge, altersgemischte Gruppen und durch ein generelles Absenken des Aufnahmealters weniger Bedeutung zukommen mag als früher, ergibt die getrennte Betrachtung der beiden Altersgruppen doch einen Sinn. Die bildungs- und familienpolitischen und die fachwissenschaftlichen Diskussionen sind nämlich für die beiden Altersgruppen von sehr unterschiedlichen Schwerpunkten und Argumenten geprägt.

Schwerpunkte der Diskussion im U3-Bereich

In Deutschland erfährt die Betreuung junger Kinder unter drei Jahren in der Öffentlichkeit und in den Medien derzeit eine hohe Aufmerksamkeit. Dies liegt zu einem großen Teil daran, dass die Thematik sehr stark ideologisch behaftet ist und dass hier gegensätzliche Grundeinstellungen und Ansichten über die Rolle der Familie, spezifischer der Mutter, und die Aufgaben des Staates aufeinander prallen. Während Vertreter eines traditionellen Familienbildes in der Familie die natürliche und einzige adäquate Instanz zur Bildung, Betreuung und Erziehung sehr junger Kinder sehen und bei einer frühen Trennung des Kindes von seiner Mutter negative Auswirkungen im Hinblick auf seine sozial-emotionale Entwicklung fürchten, sehen die Befürworter früher außerfamilialer Betreuung den Staat in der Pflicht, für alle Kleinkinder qualitativ hochwertige Bildungs- und Betreuungsangebote vorzuhalten. Damit soll einerseits den Müttern die gleichberechtigte Verwirklichung ihrer beruflichen Ambitionen ermöglicht werden, andererseits sollen die (unterstellt positiven) Effekte früher Bildung auf die Entwicklung von Kindern zu mehr Chancengleichheit innerhalb des Bildungssystems beitragen, insbesondere im Hinblick auf Kinder aus so genannten Risikofamilien. Dabei wird die Diskussion zum Teil sehr polarisiert und emotional geführt: Befürworter des Krippenausbaus werfen ihren Gegnern oft pauschal eine Diskriminierung und Bevormundung der Frauen und ein überholtes Gesellschafts- und Familienbild vor, diese prangern ihrerseits die frühe außerfamiliale Betreuung als unethisch und die Rechte und Bedürfnisse der Kinder ignorierend an. Zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Polen versuchen die politisch Verantwortlichen den Spagat, beide Gruppen zufrieden zu stellen: die einen mit einem Ausbau der Betreuungsplätze, die anderen mit einem Betreuungsgeld für Eltern, die ihre jungen Kinder zu Hause erziehen. Damit wird – so die Argumentation – das Ziel verfolgt, den Eltern Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Familienmodellen zu bieten.

Eine Versachlichung dieser Debatte wäre hilfreich. Statt sich in gegenseitigen ideologischen Vorwürfen zu erschöpfen, sollte die Diskussion sich stärker an den empirischen Befunden und an Erkenntnissen der Lern- und Entwicklungspsychologie orientieren. Positive Anzeichen dafür gibt es bereits. Hoffnungsvoll stimmt beispielsweise, dass dem Faktor der Betreuungsqualität, dessen herausragende Bedeutung in wissenschaftlichen Studien schon seit Längerem erwiesen ist, zunehmend auch in der öffentlichen Diskussion Beachtung geschenkt wird.

Die aktuelle Debatte um frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung von Kleinkindern ist weder neu, noch ist sie auf Deutschland beschränkt. Bereits Ende der 1980er Jahre wurde in den USA eine erbitterte Kontroverse über den Nutzen und die Notwendigkeit früher außerfamilialer Betreuung ausgetragen, in der die teilweise widersprüchlichen Forschungsergebnisse einmal auf die eine, ein anderes Mal auf die andere Weise interpretiert wurden. Damals zogen Richters und Zahn-Waxler (1988) das ernüchternde Fazit: » … it becomes clear that precious little is known at this point; infant day care research is itself still in infancy.« (S. 319). Seither ist in den USA und andernorts viel geforscht worden, und nicht nur in Deutschland hat die empirische Bildungsforschung einen Boom erlebt und sich verstärkt dem vorschulischen Altersbereich zugewandt. In neuerer Zeit wurden mehrere groß angelegte Längsschnittstudien initiiert, die die methodischen Schwächen früherer Untersuchungen umgehen sollen. Dennoch hat die oben zitierte Aussage nicht an Aktualität verloren. Die wissenschaftliche Kontroverse über die frühe Bildung und Betreuung von Kleinkindern dauert an und sie wird weiterhin intensiv und emotional geführt. Noch immer gibt es eine Vielzahl inkonsistenter und einander scheinbar widersprechender Forschungsergebnisse, auf die in Kap. 8 detailliert eingegangen wird. Eine kohärente Gesamteinschätzung zur Wirksamkeit und zu den Folgen außerfamilialer Betreuung fällt deshalb schwer. Andererseits lassen komplexe Fragen auch keine einfachen Antworten erwarten. Dies ist allerdings kein Grund zur Resignation, sondern eher ein Anlass, zusätzliche Anstrengungen zu unternehmen.

Schwerpunkte der Diskussion im Ü3-Bereich

Im Bereich der Drei- bis Sechsjährigen geht es angesichts von Besuchsquoten von über 90% ( Kap. 4.2) und einer insgesamt sehr hohen gesellschaftlichen Akzeptanz außerfamilialer Betreuung weniger um das Ob als um das Wie der Betreuung. Stärker als bei den unter Dreijährigen steht dabei der Bildungsanspruch im Vordergrund. In Kap. 3 wird dargestellt, welche inhaltlichen Schwerpunkte dabei gesetzt werden und wie der Bildungsauftrag im Elementarbereich in den Bildungsplänen der Länder präzisiert wurde. Die Zielsetzung einer entwicklungsangemessenen kompensatorischen Förderung von Kindern aus bildungsfernen Bevölkerungsgruppen und aus zugewanderten Familien spielt dabei eine große Rolle. Zur Verwirklichung dieser Ziele bedarf es einer Sicherung und Verbesserung der pädagogischen Qualität in den Einrichtungen. Diese wird zunehmend als Schlüsselvariable für die Wirksamkeit früher Bildungsmaßnahmen erkannt ( Kap. 8.3).

Ein weiteres den Kindergarten betreffendes Thema ist der Aspekt der Schulvorbereitung. Auch dieser Bereich wird in Deutschland traditionell kontrovers diskutiert. Wie bei der U3-Betreuung stehen sich auch hier unterschiedliche ideologische Grundeinstellungen gegenüber: Während die eine Seite im Kindergarten einen von jeglichen Leistungsanforderungen unberührten »Schonraum« zum zweckfreien Spielen, für die soziale Entwicklung und zur freien Entfaltung der Persönlichkeit sieht, erwartet die Gegenseite von der Elementarpädagogik vornehmlich eine systematische Förderung, um die Kinder »fit für die Schule zu machen«. In der deutschen Elementarpädagogik war die erste Sichtweise lange Zeit vorherrschend und hat den pädagogischen Alltag in vielen Einrichtungen über Jahrzehnte geprägt. Im letzten Jahrzehnt haben sich die öffentliche Meinung und die politischen Zielvorgaben jedoch klar in Richtung des Aspekts der Bildung und Förderung verschoben, und auch in der praktischen Arbeit hat ein allmähliches Umdenken stattgefunden. Inzwischen besteht breiter Konsens darüber, dass die Möglichkeiten des Elementarbereichs verstärkt zur Unterstützung früher Bildungsprozesse genutzt werden sollten (Fthenakis, 2002). In die gleiche Richtung gehen die Schlussfolgerungen der OECD-Initiative Starting Strong, in denen gefordert wird, den Elementarbereich expliziter als bislang in den Bildungssystemen der Länder zu verankern (OECD, 2006).

1.3       Wie dieses Buch aufgebaut ist

Mit diesem Buch möchten wir einen ersten Einstieg in den Bereich der frühen Bildung bieten. Dazu gehört ein Überblick über die Strukturen, Inhaltsbereiche und pädagogischen Konzepte des frühen Bildungs- und Betreuungswesens in Deutschland. Ein zweites Anliegen besteht darin, den oftmals emotional und unsachlich geführten Debatten über den Nutzen und die Folgen früher Bildungs- und Betreuungsangebote empirische Befunde zu den tatsächlichen Effekten früher Bildung und Betreuung entgegenzusetzen. Dabei sollen möglichst viele Forschungsrichtungen und verschiedene Disziplinen berücksichtigt und die verschiedensten kindlichen Entwicklungsbereiche einbezogen werden. Insbesondere wird neben der sprachlich-kognitiven Entwicklung die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder mit im Zentrum der Betrachtungen stehen. Wichtige Leitfragen dieses Buches sind die folgenden:

•  Was sind die Ziele früher Bildung?

•  Wie sieht frühe Bildung in Deutschland aus? Welche Angebote gibt es? Wie intensiv werden sie genutzt?

•  Wie wird frühe Bildung konkret umgesetzt? Welche übergreifenden Konzepte werden im Elementarbereich verfolgt, und welche spezifischen Fördermaßnahmen gibt es, um frühe Bildungsprozesse zu befördern?

•  Was wissen wir über die Übergänge von der Familie in außerfamiliale Betreuungsformen und von dort in die Schule?

•  Wie wirkt sich frühe Bildung auf die kindliche Entwicklung aus?

Das Buch umfasst acht Kapitel. Kap. 1 haben Sie bereits gelesen. In Kap. 2 werden wir zum besseren Verständnis der darauf folgenden Kapitel einen kleinen Exkurs in die Entwicklungspsychologie unternehmen und eine kurze Einführung in den Entwicklungsstand von Kindern, die vorschulische Bildungseinrichtungen besuchen, und in die typischerweise im betrachteten Altersbereich ablaufenden Entwicklungsprozesse geben. Dabei beschränken wir uns auf die Entwicklungsbereiche, die im Zusammenhang mit der frühen Bildung relevant sind. In Kap. 3 werden die Bildungspläne der Bundesländer vorgestellt. In Kap. 4 wird beschrieben, welche Betreuungsformen es in Deutschland gibt und wie intensiv sie genutzt werden, und in Kap. 5 werden die wichtigsten elementarpädagogischen Konzepte dargestellt, anhand derer die Zielsetzungen und Inhalte der Bildungspläne in konkretes pädagogisches Handeln umgesetzt werden. In Kap. 6 werden spezifische Förderprogramme für umschriebene Entwicklungsbereiche exemplarisch beschrieben. Im Einzelnen wird hier auf Programme zur Sprachförderung, zur Förderung früher mathematischer und naturwissenschaftlicher Kompetenzen und zur Förderung der sozial-emotionalen Entwicklung eingegangen. Kap. 7 geht auf die Bedeutung der Übergänge von der Familie in die Bildungseinrichtungen, zwischen den verschiedenen Stufen des frühen Bildungssystems und von dort in die Schule ein. In Kap. 8 wird dargestellt, was wir aus der empirischen Forschung über die Wirksamkeit vorschulischer Bildungsmaßnahmen wissen.

Zusammenfassung

In diesem Buch geht es um Kinder im Altersbereich vom ersten Lebensjahr bis zur Einschulung in allen Formen außerfamilialer Betreuung. Diese Stufe des Bildungssystems wird auch als Elementarbereich bezeichnet.

Bildung, Erziehung und Betreuung sind die drei zentralen Aufgaben des Elementarbereichs. In den letzten Jahren hat sich die Gewichtung der Aufgaben in Richtung des Bildungsauftrags verschoben. Traditionell beinhalten ganzheitliche Bildungsbegriffe das Streben nach Vervollkommnung der Persönlichkeit. In allen seinen Ausprägungen enthält der Begriff der Bildung stets eine Komponente der Selbstbildung. Derzeit dominiert in den Erziehungs- und Bildungswissenschaften ein kompetenzorientierter Bildungsbegriff. Dieser Ansatz hat wegen seiner vermeintlich utilitaristischen Ausrichtung jedoch auch Widerspruch ausgelöst.

In Deutschland ist eine Untergliederung des Elementarbereichs in die beiden Altersbereiche U3 und Ü3 üblich. Die Diskussion über frühe Bildung ist in den beiden Bereichen von unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten geprägt.

Dieses Buch soll eine sachliche Bestandsaufnahme zu den vorhandenen Angeboten im Elementarbereich, den Konzepten und Förderansätzen und zu den empirischen Befunden zu den Auswirkungen früher Bildung auf die kindliche Entwicklung leisten.

Literaturempfehlungen für dieses Kapitel

Ahnert, L. (1998). Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren. Theorien und Tatsachen. Bern: Huber.

Fried, L. & Roux, S. (Hrsg.). (2006). Pädagogik der frühen Kindheit: Handbuch und Nachschlagewerk. Weinheim: Beltz.

Stamm, M. (2010). Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Bern: Haupt.

Wittmann, S., Rauschenbach, T. & Leu, H.R. (Hrsg.). (2011). Kinder in Deutschland. Eine Bilanz empirischer Studien. Weinheim: Juventa.

2          Entwicklung und Lernen in der frühen Kindheit

In diesem Buch geht es um Bildungsprozesse und um deren Förderung im Kleinkind- und im frühen Kindesalter, also bei Kindern bis zum Alter von etwa sechs Jahren. Um die Ausführungen zu Zielen und Inhalten früher Bildung und zu den konkreten Fördermaßnahmen besser verstehen und einordnen zu können, sind Kenntnisse über die typischerweise in diesem Altersbereich ablaufenden Entwicklungsprozesse in den zentralen Bereichen der kindlichen Entwicklung hilfreich, wenn nicht sogar notwendig. Nicht ohne Grund wird in den letzten Jahren eine stärkere Behandlung entwicklungspsychologischer Themen in der Ausbildung von Erzieherinnen2 gefordert. Der dahinter stehende Gedanke ist einfach: Wer weiß, wie sich das Denken und die Sprache von Kindern, ihre Emotionalität und ihr Sozialverhalten im Normalfall entwickeln und wann Kinder üblicherweise bestimmte Kompetenzen erwerben, der wird eher in der Lage sein, ihnen in der pädagogischen Arbeit kindgerecht zu begegnen und entwicklungsadäquate Lerngelegenheiten anzubieten. Auch das Erkennen von Auffälligkeiten kindlichen Verhaltens fällt leichter, wenn Kenntnisse über die alterstypischen Entwicklungsverläufe und über mögliche Verzögerungen oder Störungen der Entwicklung vorhanden sind.

Im Folgenden werden wir einen kurzen Exkurs in die Entwicklungspsychologie des frühen Kindesalters unternehmen, um die typischen Entwicklungsverläufe sowie die wichtigsten theoretischen Ansätze in den für die frühe Bildung besonders relevanten Funktionsbereichen darzustellen. Für eine ausführlichere Erörterung sei auf die Ausführungen in den einschlägigen Lehrbüchern der Entwicklungspsychologie (z. B. Schneider & Lindenberger, 2012; Hasselhorn & Schneider, 2007) verwiesen. Wir betrachten dabei nur die für die frühe Bildung zentralen Inhaltsbereiche der kognitiven Entwicklung, der Sprachentwicklung und der sozial-emotionalen Entwicklung. Auch in anderen Funktionsbereichen, wie der Motorik oder der Wahrnehmung, kommt es in der frühen Kindheit natürlich zu bedeutsamen Entwicklungsprozessen.

Kinder entwickeln sich in den ersten sechs Lebensjahren auf vielfältige, rasante und tiefgreifende Weise. Manche Veränderungen sind schon auf den ersten Blick sichtbar: Mit sechs Jahren sind die Kinder im Schnitt doppelt so groß und fünfmal so schwer wie mit einem Jahr. Sie haben zwischenzeitlich Laufen, Sprechen, zur Toilette Gehen und vieles mehr gelernt. Einige können schon in Ansätzen lesen, schreiben oder rechnen. Psychische Veränderungen manifestieren sich mehr oder weniger offensichtlich im Verhalten der Kinder. Im Folgenden werden wir zunächst auf die kognitive Entwicklung, dann auf die Sprachentwicklung und anschließend auf die Entwicklung des Sozialverhaltens und der Emotionalität im frühen Kindesalter eingehen.