Einleitung
Dieses Buch soll Menschen, die Schweres erlebt haben und die Unterstützung suchen, helfen, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Es kann keine Therapie ersetzen, dort, wo sie nötig ist, sie aber unterstützen.
Während man sich seit dem Aufkommen der wissenschaftlichen Medizin überwiegend mit dem Kranken, der Pathologie, also der Lehre vom Krankmachenden, beschäftigte, wird zunehmend ein uraltes Wissen wiederentdeckt, nämlich das der Widerstandskräfte. Seelische Widerstandskraft ist das Zauberwort, das erklärt, warum manche Menschen auch mit extremen Belastungen fertigwerden, unter denen andere zu zerbrechen scheinen.
Die gute Nachricht dabei ist, dass man Widerstandskraft erwerben, genauer: einüben kann, denn es handelt sich bei genauer Betrachtung um ganz »normale« Dinge, wie mutig sein, Geduld haben, die richtigen Dinge zur richtigen Zeit tun usw. Oft hat es mit Nichtwissen zu tun, mit dem Festhalten an wenig nützlichen Vorstellungen und Konzepten, wenn diese Kräfte sich nicht entfalten.
Als junge Ärztin habe ich nichts über Resilienz – das ist das Fachwort für Widerstandskraft –gelernt, auch nicht über den Schwesterbegriff Salutogenese, das ist die Lehre von den Bedingungen, die gesund machen oder Gesundheit erhalten. Immer noch erfahre ich, dass vielen meiner Kolleginnen und Kollegen diese Begriffe fremd sind.
Dennoch kennt jede Ärztin und jeder Arzt Patienten, die auch von schwersten Leiden genesen, die mit schweren Schicksalsschlägen fertigwerden. Ist die Frage nicht interessant, welche Bedingungen es sind, die dazu beitragen, dass diesen Menschen das gelingt? Wenn man untersucht, was Menschen hilft, zu genesen und zu heilen, kann man Menschen auch helfen, dieses Wissen anzuwenden.
Es sei aber betont, dass dieses Wissen nicht dazu missbraucht werden sollte, Menschen zur Selbstoptimierung zu zwingen, um damit von Ungerechtigkeit und sozialer Ungleichheit abzulenken.
Aaron Antonowsky war einer der Urväter der Forschung zu Resilienz, und er hat gefordert, dass wir uns in der therapeutischen Arbeit auf die Stärkung der gesunden Anteile eines Menschen konzentrieren und uns vom alleinigen Kampf gegen das Kranke abwenden. Auf ihn beziehe ich mich genauso wie auf die Heilerin Susun Weed, deren Buch »HeilWeise« eine große Bereicherung für mich darstellt. Sie bezieht sich auf die uralte Tradition der Weisen Frauen. Die Weisen Frauen haben ihr Wissen mündlich weitergegeben, deshalb ist vieles davon in Vergessenheit geraten. Dennoch ist es vorhanden und kann wieder zum Leben erweckt werden. Weed geht noch über Antonowsky hinaus, wenn sie empfiehlt, dass wir alles in »Nahrung« für uns verwandeln können, auch das Schmerzliche. Darauf werde ich ebenfalls immer wieder zurückkommen. Schließlich fühle ich mich besonders von einer Sichtweise inspiriert, dass wir eigentlich vollkommen sind und dass es die Momente der Freude und der Inspiration sind, in denen wir unserer Vollkommenheit begegnen können. Diese grundlegende Einstellung wird ebenfalls meine Überlegungen begleiten.
Ich schreibe in diesem Buch auf, was ich in den letzten Jahren durch die Arbeit mit meinen Patientinnen und Patienten erfahren und gelernt habe. Ihnen habe ich am meisten zu danken. Bereitwillig haben sie mir ihr Wissen, ihre Fragen, ihre Zweifel und ihre Erfahrungen zur Verfügung gestellt, und bereitwillig haben sie Dinge erprobt, die ich ihnen vorschlug, so dass daraus immer wieder neue Erfahrungen für sie und mich wurden, über die ich jetzt berichten kann.
Als ich dieses kleine Buch begann, hatte ich kurz zuvor die Leitung einer Klinik beendet und damit auch die Begleitung vieler Patientinnen und Patienten. Das Büchlein war auch als eine Art Abschiedsgeschenk und Dank gedacht. Es ging mir darum, in einfachen Worten Dinge zu erklären, die mir am Herzen lagen: dass man auf sich selbst hören sollte, dass es helfen kann, mit sich selbst geduldig zu sein, dass Innehalten – statt des damals immer mehr in Mode kommenden Begriffs der Achtsamkeit – hilfreich ist, und dass man erst dann, wenn man innehält etwas über sich selbst gründlicher erfahren kann.
»Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt« hat inzwischen mehr Menschen erreicht, als ich erwartet habe. Es scheint eine gute Unterstützung dabei zu sein, sich in kleinen Schritten intensiver mit sich zu beschäftigen. Denn meine Idee war es auch, kleine Anregungen zu geben, so dass diese aufgegriffen werden konnten und nicht sofort ein Gefühl der Überforderung aufkommen musste.
Was ich hier zu Papier gebracht habe, ist nicht als Ratgeber gedacht, sondern als ein freundlicher Begleiter, den man gelegentlich oder regelmäßig bitten kann, hilf mir, etwas über mich herauszufinden. Ich möchte der Leserin bzw. dem Leser Mut machen, einen ureigenen Weg zu finden.
Jeder Mensch ist einmalig. Deshalb kann es nichts geben, was immer für alle gilt. Dennoch kann man auch aus Erfahrungen anderer und auch von der Forschung auf bestimmten Gebieten lernen oder sich etwas abschauen. Prüfen Sie, was Sie für sich verwenden können auf Ihrem Weg zu mehr seelischer Widerstandskraft. Lesen Sie das Buch ganz so, wie Sie möchten. Vom Anfang bis zum Schluss oder nach Stichworten. Oder Sie schlagen irgendeine Seite auf und schauen, ob Sie dort etwas für Sie Brauchbares entdecken.
Wichtig ist, dass Sie das eine oder andere ausprobieren.
Ich nenne es Innehalten, wenn ich Ihnen vorschlage, etwas auszuprobieren. Meist geht es darum, Dinge genauer wahrzunehmen, genau hinzusehen. Dazu braucht es die Bereitschaft, innezuhalten.
Wenn Sie alles in diesem Buch erproben wollen, was ich Ihnen vorschlage, wird das einige Zeit beanspruchen. Haben Sie also bitte Geduld. Wählen Sie das aus, was Ihnen spontan zusagt.
Ich empfehle Ihnen, konzentrieren Sie sich eher auf die Dinge, die Ihnen leicht fallen, und kümmern Sie sich nicht andauernd um Ihre Schwächen. Die werden dann oft wie von selbst milder. Ähnliches steht auch bereits im Weisheitsbuch des I Ging, das vor tausenden von Jahren entstand: Wie überwindet man das »Böse«? Durch beharrliches Tun des »Guten«. (Die Anführungszeichen stammen von mir. Prüfen Sie für sich, was für Sie das »Böse« bzw. das »Gute« ist.)
Sowohl die Forschungsergebnisse der »Positiven Psychologie« wie die der Resilienz- und Salutogeneseforschung, die sich alle mit dem beschäftigen, was Menschen hilft, gesünder und stärker zu werden, untermauern vieles, was ich im Lauf der Jahre in der praktischen Arbeit mit meinen Patientinnen und Patienten gefunden habe.
Das Buch ist in drei große Abschnitte gegliedert. Im ersten geht es darum, das, was ist, liebevoll anzunehmen, im zweiten eher um grundlegende Möglichkeiten, innere Kräfte zu entwickeln und zu stärken. Im dritten sollen einzelne Themen, die Patientinnen und Patienten von mir immer wieder für wesentlich gehalten haben, angesprochen werden, darunter auch einiges Grundlegende zu den Begriffen Resilienz, Flow und Salutogenese.
Wahrscheinlich ist alles, was uns heute helfen könnte, schon einmal gedacht, gesagt, aufgeschrieben und getan worden. Mir erscheint es ermutigend, mir vorzustellen, dass und wie viele andere vor mir sich ähnliche Fragen gestellt haben, von ähnlichen Nöten geplagt waren und ihre Antworten gefunden haben. Daher schreibe ich Ihnen auch Texte auf, die für mich inspirierend sind. Vielleicht sind sie es auch für Sie.
Weil schon so vieles, wenn nicht alles, gesagt wurde, gebe ich Ihnen am Ende des Buches Empfehlungen zum Weiterlesen und Vertiefen.
Bitte bedenken Sie auch: Leben lernt man nicht aus Büchern, Leben lernt man dadurch, dass man lebt. Und das tun Sie so oder so. Wenn Sie es bewusster und leichter tun wollen, finden Sie hier einige Anregungen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute!