Die Angst geht um. In einer amerikanischen Kleinstadt brechen Menschen auf offener Straße zusammen. Innerhalb von Minuten sterben sie an einem tödlichen Virus. Dann häufen sich die Schreckensmeldungen aus aller Welt: Hunde zerfleischen ihre Besitzer. An den Bäumen wächst giftiges Obst. Springfluten, Wirbelstürme und Erdbeben verwüsten den Globus. Eine gigantische Umweltkatastrophe oder ein heimtückischer Schlag mit biologischen Waffen? Die US-Regierung und alle Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel. Nur zwei Menschen wissen, was wirklich passiert ...
Ein Roman des Untergangs und des Neubeginns. Eine Parabel über die Koexistenz von Mensch und Erde. Und eine Warnung.
Mit seinem ersten Roman »Der Zorn« katapultierte sich der bis dahin unbekannte junge Philosophieprofessor Denis Marquet aus Lyon an die Spitze der französischen Bestsellerliste. Sein Szenario des von Menschen verursachten Untergangs der Erde ist aktueller denn je und nicht nur für Fans von Öko-Thrillern empfehlenswert.
Der Zorn
Aus dem Französischen von Helga Migura
beTHRILLED
Digitale Erstausgabe
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2001 by Editions Albin Michel S.A., Paris
Titel der Originalausgabe: »Colère«
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © shutterstock: adike | Daimond Shutter | elegeyda
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Ochsenfurt
ISBN 978-3-7325-5133-0
www.be-ebooks.de
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Der alte Cliff drückte seinen Zigarettenstummel im Staub aus und blinzelte. Die Sonne stand noch nicht hoch am Horizont, doch ihre Strahlen waren schon sengend heiß. Alles schien normal. Die Leute gingen zur Arbeit, die Läden öffneten. Es war viel los auf der Hauptstraße. Nur die Luft war für einen klaren Junimorgen etwas drückend.
Doch abgesehen davon schien alles normal.
Alles schien normal, doch da war etwas, das Cliff störte. Aber er wusste nicht, was. Und das machte ihn langsam nervös.
Er zündete sich eine weitere Zigarette an.
Der alte Cliff, so nannte man ihn hier, verbrachte seit fünfzehn Jahren seine Tage damit, rauchend auf einem Holzstuhl zu sitzen, den er jeden Morgen um neun von sich zu Hause mitbrachte und hier aufstellte, vor der gekalkten Mauer der kleinen Schule, in der er fast vierzig Jahre lang gearbeitet hatte. Als Grundschullehrer. Er stellte seinen Stuhl auf, setzte sich hin und schaute. Die Leute gingen vorbei. Und es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn nicht binnen fünf Minuten einer seiner ehemaligen Schüler auftauchen, ihn begrüßen und einen kleinen Schwatz mit ihm halten würde ... Ungefähr drei Vierteln der Stadtbevölkerung hatte er als Kindern den Hintern versohlt; da war es klar, dass er nie lange alleine saß ...
Und natürlich kannte er die Straße wie seine Westentasche ...
Doch heute ... Alles war da, wo es hingehörte: die völlig gleich gebauten Holzhäuser, oder jedenfalls fast gleich; der kleine Supermarkt, wo ganz Hurston sich mit nahezu allem eindeckte; die Leute, die unterwegs waren und es ein wenig eilig hatten ...
Alles schien normal ...
Und dennoch ...
Da war etwas ...
Aber was?
Das irritiert mich, sagte sich Cliff. Gerade hatte ihm jemand von der anderen Straßenseite aus freundlich zugewunken, er jedoch kaum darauf reagiert. Etwas war anders als sonst.
Cliff hob den Kopf und sah zum Himmel, als könnte er in den Wolken, die sich träge über der kleinen Stadt ausbreiteten, eine Antwort lesen.
Dann begriff er.
Es war die Stunde der Spatzen. Die Stunde, in der sich zu dieser Jahreszeit die Spatzen wie zum Appell auf den Ästen des großen Baums aufreihten, der die Straße beherrschte, ehe sie sich auf Insektenjagd machten ...
Es war die Stunde der Spatzen.
Doch da waren keine Spatzen. Nicht ein einziger. Der Himmel war völlig leer. Man sah nur die Spur eines Linienflugzeugs, ganz weiß, ganz hoch oben. Aber keinen Vogel.
Und auch kein Insekt.
Das war merkwürdig.
Merkwürdig, wie man gar nicht mehr wahrnahm, was die kleinsten Grundkonstituenten des Alltags ausmachte. Die Insekten waren wie Flecken auf der Netzhaut, die vor dem Blick herumtanzen, so nah und vertraut, dass man gar nicht mehr darauf achtet, weil sie nicht wirklich zur Außenwelt gehören ... Die Fluginsekten – Fliegen, Mücken, Moskitos, Wespen, Bienen und Hornissen –, die die Morgenluft mit ihrer Spur aus schierer Geschwindigkeit durchschnitten, waren etwas so Alltägliches, dass man sie gar nicht mehr wahrnahm. Doch an diesem Morgen ... An diesem Morgen war die Luft leer, und die Stille, die kein Summen und kein Vogelgezwitscher durchbrach, die Stille, gegen die sich nur noch die Stimmen der Menschen abhoben, wurde plötzlich bedrückend ... beklemmend ...
Und die Hunde?, fragte sich Cliff.
Wo war der Hund vom alten Bart? Der alte Bart wohnte im Haus gegenüber, und sein Hund beobachtete den ganzen Tag die Leute, die vorbeigingen – ein bisschen so wie Cliff; es war ein sehr alter Hund, dessen Zeit abgelaufen war wie die Cliffs und der das auch wusste ... Gestern Morgen war er dagewesen, dachte der alte Mann bei sich, der sich sehr gut daran erinnerte; er hatte seine Sinne noch alle beisammen, die Bilder in seinem Gedächtnis waren klar ... Er sah das alte Tier mit seiner sabbernden Schnauze genau vor sich, das zu müde gewesen war, um noch nach Streicheleinheiten zu betteln ...
Und die Katze von Miss Brondby?
Und ...
Cliff hatte begriffen. Irgendetwas war wirklich anders als sonst. Und das lag nicht an seiner erschöpften Phantasie, die ihm da vielleicht einen Streich spielte.
Man sah kein einziges Tier mehr auf der Straße.
Da waren keine eigenbrötlerischen Hunde mehr, die mit wichtigtuerischer Miene dahertrabten, als gingen sie Beschäftigungen nach, die nur ihnen allein bekannt waren ... Auch keine scheuen, stolzen Katzen mehr, die an den Mauern entlangschlichen, stets auf der Lauer nach etwas Essbarem ...
Da waren nur noch Menschen.
Und Cliff wurde bewusst, wie wertvoll die Anwesenheit der Tiere war. Denn wenn sie fehlten, überkam ihn ein Gefühl der Einsamkeit. Der Einsamkeit des Menschen ...
Cliff fragte sich nun ernsthaft, was da eigentlich vor sich ging.
Er war beunruhigt.
Er hätte gerne mit jemandem gesprochen. Doch er fürchtete, für verrückt gehalten zu werden ... Und dennoch, das alles war wirklich nicht normal. Wenn er nur mit jemandem sprechen könnte ...
Plötzlich brach ein Mann auf der Straße zusammen. Kaum hatte sich ein Menschenauflauf um ihn gebildet, da stürzten zwei weitere Personen, eine junge Frau und ihr kleiner Sohn, zu Boden.
Cliff erhob sich von seinem Stuhl. Er war müde.
Schreie waren zu hören.
Eine noch junge Frau kam dem alten Mann entgegen. Sie war blass, ihre Augen waren schwarz umrandet, wie mit Kohle akzentuiert. Da erkannte er die kleine Kate. Die beste Schülerin seines letzten Jahrgangs. Sie arbeitete jetzt als Ingenieurin in Bangor und verbrachte ein paar freie Tage hier ...
Die junge Frau war vor Cliff stehen geblieben. Ihr Mund stand offen, und aus ihren vor Entsetzen starren Augen tropfte etwas Blut.
Dann brach sie zusammen.
Cliff stürzte zu ihr.
In einer letzten Zuckung ergoss sich eine Mischung aus Schleim und Blut aus ihren Nasenlöchern, dann starb sie.
Der alte Mann blickte um sich.
Überall lagen Tote. Menschen rannten, Frauen standen reglos da und schrien. Leblose Körper wurden über den Boden geschleift.
Cliff spürte ein Brennen in der Brust, das immer stärker wurde. Eine Schwäche lähmte seine Glieder. Er fiel auf die Knie.
Da begriff er, dass er nun sterben würde.
Die drei Idioten hatten sich dem Ufer genähert, und der Lärm wurde nun wirklich unerträglich. Amy ertappte sich dabei, wie sie heftig kleine Hautstückchen um den Nagel ihres Zeigefingers abzupfte, was ihre Gereiztheit noch verstärkte. Das seien keine Finger mehr, das seien nur noch Stümpfe, pflegte Tom mit einem Ausdruck von Abscheu zu sagen und drohte, ihr nicht mehr die Hand zu halten. Dann entschuldigte sie sich, oder sie war beleidigt, je nach ihrer momentanen Stimmungslage, doch er hatte gar nicht so Unrecht. Er war nur etwas grob; er traf irgendwie nicht den richtigen Ton, und möglicherweise war ihm der richtige Ton im Grunde auch egal; jedenfalls hatte er nicht Unrecht. Sie mochte sich selbst nicht, wenn sie so war. Zu nervös. Vielleicht war sie eben nicht fürs Studieren geschaffen. Ganz einfach. Wenn man überhaupt keinen Spaß an einer Sache hat, ist man vielleicht einfach nicht dafür geschaffen, sagte sie sich und hätte am liebsten laut gelacht. Doch sie beherrschte sich. Außerdem hatte sie keine Lust, für verrückt gehalten zu werden. Der Strand war schwarz von Menschen, und die brauchte sie nicht unbedingt auf sich aufmerksam zu machen. Nicht fürs Studieren geschaffen. Vielleicht wurde es langsam Zeit, das zu erkennen! Drei Tage vor dem Abschlussexamen ... Drei Tage bis zum Abschlussexamen, und sie hatte nichts Besseres zu tun, als sich im feinen Sand von der Sonne bräunen zu lassen! Ich habe einfach die Nase voll, ich muss mich entspannen, hatte sie gedacht und den Band mit dem armen Milton in die Ecke geworfen, Das verlorene Paradies, das sie eigentlich kommenden Freitag ab acht Uhr morgens in- und auswendig kennen sollte. Ich muss mich entspannen! Sie war nun zwanzig Jahre alt und durchforschte ihre Erinnerungen vergebens nach einem Moment, in dem sie sich wirklich entspannt gefühlt hatte. Wenn sie wenigstens hätte schwimmen, sich im frischen, salzigen Wasser aalen, Salz und Frische auf ihrer Haut spüren, ein wenig vergessen können ... Doch da waren plötzlich die drei Idioten aufgetaucht, mit ihren Jet-Skiern für dreißigtausend Dollar, ihren Ray-Ban-Sonnenbrillen und ihrer billigen Protzerei, und hatten Panik unter den Schwimmenden verbreitet; noch dazu konnten sie leicht jemanden umbringen, wenn er in ihre Antriebsschraube geriet, sie konnten ein Kind töten oder ihm ein Bein abhacken ... und sie machten nicht den Eindruck, als wollten sie mit ihrem Radau aufhören! Dabei war sie kaum zwei Minuten, nachdem sie ins Wasser gegangen war, schon fast dabei gewesen, alles zu vergessen und sich treiben zu lassen, die Ohren in den bauschigen Wogen ... Einer von ihnen hatte sich sogar an sie herangemacht, der Affigste von den dreien, mit einem Augenzwinkern über den Rand der Brille hinweg, wie wär’s mit einer kleinen Runde, meine Süße? Ganz bestimmt! Danach vögelst du mich dann hinten in der Bucht, bringst mich anschließend wieder zurück, und wenn ich schön lieb gewesen bin, schenkst du mir einen großen grünen Schein! Idiot! Idiot ... Sie hatte fluchtartig das Wasser verlassen wie die meisten Badenden. Und jetzt musste sie sich das Heulkonzert ihrer Motoren anhören ...
Amy warf den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Wenn man doch nur die Ohren schließen könnte, wie man die Augen schließt ... und, wenn man wollte, nichts mehr hören müsste, von der grenzenlosen, dröhnenden Idiotie der Leute nicht mehr belästigt werden würde. Von der Dummheit der Leute ... Der Dummheit der Kerle ... Wenigstens war Tom durchaus nicht dumm. Ein bisschen unbeholfen zwar, aber nicht dumm ... Er war zumindest rührend ... Doch Tom, der keinerlei existentielle Probleme hatte, war gerade dabei, Mathe zu wiederholen, und würde sein Examen lässig bestehen, er schon. Amy war müde. Ob die drei Idioten wohl irgendwann abhauten? Dann würde sich der Lärm immer weiter entfernen und schließlich ganz aufhören, und sie könnte sanft eindösen ... Oder das Gedröhne der Motoren würde unvermittelt abbrechen, und es würde Stille eintreten, tiefe, friedliche Stille ... Es bedürfte nur eines starken Strudels, einer gut gezielten kleinen Flutwelle, die sie auf einen Schlag verschlingen würde, mit einem satten Blubb wie im Waschbecken ... Der Ozean wäre ein großes Waschbecken, und sie würde den Stöpsel herausziehen, schwupp! Die Idioten würden ein wenig herumwirbeln und dann im Siphon verschwinden ...
Als Amy sich der Stille bewusst wurde, schreckte sie auf. Die Motoren waren verstummt. Dann hörte man Schreie, immer zahlreicher. Amy blickte aufs Meer. Sie konnte gerade noch das Gesicht des Jungen erkennen, der sich vorhin an sie herangemacht hatte. Er trieb im Wasser, seine Brille hatte er nicht mehr, sein Gefährt auch nicht; das Meer wirkte ganz sonderbar. Er machte Bewegungen, als kämpfte er gegen etwas an. Dann verschwand er. Das Meer war ruhig. Und leer.
Amy packte ihr Handtuch, ihre kleine rote Ledertasche und rannte in Richtung Straße. Sie lief an Männern in Badehosen vorbei, die zum Wasser rannten, an Müttern, die ihre Kinder zurückhielten, an verstörten Gesichtern. Amy lief. Sie sind ertrunken.
Ich war es nicht. Nur weg von diesem Strand. Ich habe den Stöpsel nicht herausgezogen, es war ein Unfall. Das Meer ist kein Waschbecken. Das Meer ist kein Waschbecken.
Der dicke Bobby verkaufte sein Eis aus gegebenem Anlass mit Katastrophenmiene. Um ihn herum drängten sich die Schaulustigen. Zwölf Jahre. Zwölf Jahre verkaufte er nun sein Eis von seinem Wohnwagen aus, immer an derselben Stelle, an dieser kleinen Straße, die bis zum Strand führte, aber so etwas hatte er noch nie gesehen ... Es war, als wären sie eingesaugt worden ... Jugendliche, nicht von hier, nein, Kinder reicher Leute, mit ihren komischen Wassermotorrädern, einfach eingesaugt ... Wahrscheinlich eine Strömung ... Nein, kein Hai; alle waren fast gleichzeitig untergegangen, zusammen mit ihren Maschinen, also kein Hai, allenfalls einer, der Anabolika geschluckt hatte! Bobby holte tief Luft, als wollte er seinen dicken Körper vor Lachen ausschütten, doch niemand schien seine geistreiche Bemerkung zu würdigen, also setzte er wieder die ernste, betroffene Miene auf, die dem Augenblick angemessen war. Was für ein schreckliches Unglück! Die armen Kinder ... Und ihre Eltern, die noch gar nichts davon wussten ... Noch nie hatte er so etwas gesehen ... Förmlich eingesaugt!
Ein paar Schritte entfernt schöpfte Amy, den Rücken an einen Elektromast gelehnt, wieder Atem. Über den Strand glitt das kreisende Blaulicht eines Feuerwehrwagens, der bis ans Meer vorgefahren war. Ein Menschenauflauf, den man in einiger Entfernung zurückhielt, verbarg die nutzlosen Rettungsmaßnahmen, die man den drei Jungen zukommen ließ, vor Amys Augen. Es hatte über eine Viertelstunde gedauert, sie ans Ufer zu bringen. Keinerlei Hoffnung. Sie sind tot, Amy ... Wie du es dir gewünscht hast, nicht wahr? Ein starker, gut gezielter Strudel und dann wohltuende Stille ... Das ist es doch, was du wolltest, oder? Schau nur, Amy, welche Macht du hast! Du brauchtest nur einmal daran zu denken! Die Macht des negativen Denkens, Amy ... Bravo!
Sie machte sich auf den Heimweg.
Wenn doch nur diese Stimme endlich schwiege! Heimgehen. Schlafen, aufwachen, und nichts von alledem wäre geschehen. Ein Alptraum wie damals, als sie ein Kind war und geträumt hatte, dass ihr kleiner Bruder gestorben sei und sie ihn getötet habe. Es war so realistisch gewesen: Sie hatte es nicht absichtlich getan, es war ein Unfall, sie hielt ihn in ihren Armen, er war so klein, so niedlich, und dann hatte sie ihn aus Unachtsamkeit, in einem Augenblick von Unaufmerksamkeit fallen lassen, und sein zartes Köpfchen mit dem feinen blonden Flaum schlug auf dem Fliesenboden in der Küche auf, und sie weinte und schrie, sie liebte es doch so sehr, dieses Baby! Sie war aufgewacht und ins Zimmer ihres kleinen Bruders gelaufen, der selig schlief ... Sie hatte keinen Schlaf mehr gefunden.
Es kann nicht sein. Es ist ein Zufall. Nicht ich habe das gemacht. Ich wollte es nicht wirklich. Es war lachhaft, sie hatte sich nur abreagiert, jeder hat solche Gedanken, es waren solche Idioten ... Es waren solche Idioten, und sie sind tot, Amy! Bravo, Tod den Idioten, wie du oft sagst, der Satz stammt doch von dir, Amy, oder?
Sie blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihr erhob sich die große Tanne am Straßenrand, die man vom Fenster ihres Zimmers und auch vom Strand aus sehen konnte, die große hundertjährige Tanne, die ihre dunkelgrünen Äste gen Himmel reckte. Amy schloss die Augen. Sie überließ sich ihrer Phantasie und stellte sich den Baum in allen Einzelheiten vor: wie er im Licht des Tages aufrecht stand, dann gleichsam unter der Wirkung einer übernatürlichen Kraft ins Wanken geriet, sich in der Mitte spaltete und auseinanderbrach und seine grüne Spitze in einem Gesplitter aus Holz und Nadeln niederstürzte ...
Die Vorstellung war täuschend echt ...
Von Entsetzen gepackt, hielt Amy die Augen geschlossen, ballte die Fäuste in den Taschen ihrer Hose. Ein Auto fuhr vorbei. Jenseits des Hügels erklang das Rauschen des Meeres, und die Vögel sangen ihr Abendlied. Ein weiteres Auto, dessen Motorgeräusch sich langsam entfernte. Amy öffnete die Augen. Zu ihren Füßen stand ein kleiner Junge und betrachtete sie erstaunt und ungeniert mit aufgerissenen Kinderaugen. Amy lächelte ihn etwas verlegen an. Du drehst durch, meine Liebe. Der Baum stand nach wie vor da, kein Zweifel, bog sich im Abendwind, wodurch der Eindruck entstand, er würde gleich umkippen. Doch er kippte nicht um, er stand ganz fest, tief verwurzelt, würdevoll. Die besorgte Stimme einer Mutter rief nach dem Kind, und schon lief es weg. Ich drehe durch, dachte sie und lachte los. Nicht fürs Studieren geschaffen, definitiv! Jetzt nach Hause, ein kleines Glas Rotwein vor dem Fernseher, um zehn ins Bett ... Morgen wird gebüffelt!
Auf dem Bildschirm bewegte sich stumm ein Sänger, ein Teenagerschwarm, der bestimmt schwul war und so wirkte, als würde er fürchterlich leiden. Man sollte ihm den Gnadenstoß geben, dachte Amy, die den Ton des Fernsehers ausgeschaltet hatte, und spülte einen Mund voll Popcorn mit dem letzten Schluck aus ihrem Weinglas hinunter. Dann packte sie die Angst. Nein, das nehme ich zurück. Den Finger auf der Fernbedienung, stellte sie den Ton laut. Der geschniegelte Sänger mit seinen schmachtenden blauen Augen und seiner trostlosen Fönwelle starb beinahe vor Liebeskummer. Doch er war quicklebendig, wie seine einstudiert hohe, brüchige Stimme bezeugte. Hör auf damit, dachte sie. Lächerlich. Es ist ein Zufall, du darfst dir das nicht zu Herzen gehen lassen! Die Tanne steht, der Sänger singt, und deine Gedanken haben genauso wenig Kraft wie Tom nach drei Gläsern Wein! Dabei musste sie laut losprusten ... Tom ... Und wenn ich ihn jetzt anriefe? Nein, er lernt.
Ja, aber die Sendung ist vielleicht nicht live ...
Amy stand auf, um diesen Gedanken zu verscheuchen. Ach, ich bin ja bekloppt! Schluss jetzt, ich gehe ins Bett; morgen sieht alles anders aus! Sie stieg die Treppe hinauf.
– Aber die Tanne, die liebst du doch ...
– Was hat denn das damit zu tun?
– Du siehst sie gern an, wenn du morgens die Fensterläden aufmachst: wie sie sich über der Landschaft erhebt, wie ihre Spitze über den kleinen Hügel ragt ... – Ja und? – Ja, und eben deswegen ist sie nicht umgestürzt ... – Du hasst sie nicht ... – Aber die »drei Idioten‹ ...
Amy stand mitten auf der Treppe, reglos, und barg den Kopf in ihren Händen. Ich verliere die Nerven. Ich denke wie eine Verrückte, wie eine total Übergeschnappte! So etwas gibt es nicht! Ich war das nicht, ich habe überhaupt nichts damit zu tun, ich bin schließlich nicht der Herrgott! Wenn ich bloß irgendwelche Leute hassen müsste, um auf sie ein Unglück herabzubeschwören, dann würde angesichts der vielen Menschen, die mir auf den Geist gehen, hier in der Gegend Bevölkerungsmangel herrschen, und als Erste wäre meine gute alte Freundin Linda dran, die Tom Briefe schreibt. Sie war schon immer eifersüchtig auf mich; jedes Mal, wenn ich irgendwie Erfolg habe, was sowieso nicht so oft vorkommt, dann will sie es auch, diese Schlange ... Amy begann zu zittern. Erst heute Morgen hatte sie Tom am Telefon deswegen eine Szene gemacht, obwohl der Arme gar nichts dafür konnte; zumal Linda nicht gerade sein Typ sein dürfte, was Amy jedoch nicht daran gehindert hatte, Linda als alles Mögliche zu beschimpfen und ihr wahrlich nichts Gutes zu wünschen ... Eine eisige Hand schnürte ihr das Herz zu. Dass sie der Schlag treffen sollte ... Das hatte sie zu Tom am Telefon gesagt, aber das war nicht ihr Ernst gewesen, nur so dahingesagt ... – Wie sie auch den Tod der drei Idioten nicht wirklich gewollt hatte, es war nur so dahingesagt, Amy, nur so dahingesagt ...
Sie musste wissen, was los war. Amy stieg die Stufen wieder hinunter, öffnete die Wohnzimmertür und nahm den Telefonhörer ab. Lindas Nummer wusste sie auswendig. Sie hatten so viel miteinander telefoniert, manchmal bis drei Uhr morgens, hatten die Welt neu erschaffen und waren über alle Leute hergezogen; darin waren sie ganz groß: Da gab es das Linda-Special, heimtückische Finesse à la ›unschuldige Giftnudel‹, oder den Amy-Standard, etwas mehr die direkte Art, ätzend wie Napalm, wie Linda immer sagte ... Der dritte Klingelton ... Nimm ab, Linda ... Nimm ab! Amy spürte, wie ihr ein Tropfen Schweiß gleich einem Insekt über die Schläfe kroch, dann über die Wange ... Der fünfte Klingelton ... Der sechste ...
»Linda Evans ...«
»Linda, bist du’s?«
»Amy? Was ist los? Du hörst dich an, als wärst du in Panik ...«
»...«
»Amy?«
»... Alles in Ordnung, Linda, ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht ... Geht’s dir gut?«
»Aber ja, mir geht’s gut ... Du klingst komisch ... Na ja, mir geht’s halt so, wie es einem zwei Tage vor dem Examen geht ... Ich habe von nichts eine Ahnung ...«
Amy trat aus dem Haus und machte ein paar Schritte im Garten. Die feuchte, frische Nachtluft roch angenehm nach Frühsommer. Es war eine gute Idee gewesen, die zehn Tage vor dem Examen im zweiten Wohnsitz ihrer Eltern zu verbringen, am Meer, in einem Haus, das für sie viele schöne Erinnerungen barg, an die Ferien, an ihre Cousins, die hereingeschneit kamen, an Spiele, Lachen und allerlei Unfug ... Amy ging langsam unter den Bäumen weiter und lauschte auf die Stille, vor der sich das Schnarren der Heuschrecken abhob ... Momentan war das Haus völlig verwaist ... Jess, der große deutsche Schäferhund, der das Grundstück bewachte oder zumindest so tat (dazu war er zu gutmütig und zu einfältig, wie Amy immer sagte ...), kam ihr freudig entgegengelaufen. Das liebe, grobschlächtige Tier ... Sie hatte ein einstündiges Gespräch mit Linda über sich ergehen lassen müssen, in dem es um Milton und die Unsicherheitsfaktoren beim Examen ging, doch nun war sie beruhigt. Sie ärgerte sich auch über sich selbst. Dass ihre Phantasie so mit ihr durchgegangen war ... Amy kraulte Jess am Hals; der Hund schloss die Augen vor lauter Glück, und plötzlich hatte sie keine Lust mehr, die Nacht allein zu sein. Es war eine Woche her, seit ihre Eltern mit Joe in den Süden zu den Großeltern gefahren waren. Joe hatte sich sehr darauf gefreut; er liebte seinen Großvater sehr, doch als er Amy zum Abschied umarmt hatte, hatte er geweint ... Letztlich hatte sie ihn dieses Jahr wenig gesehen; an der Universität verbrachte sie ihre Zeit auf dem Campus – man musste dazusagen, dass dies das erste Jahr war, das sie nicht mehr bei ihren Eltern verbrachte, und sie hatte sich in ihrem kleinen Studentenzimmer gleich so viel freier gefühlt als in der großen Familienwohnung mit dem unverbauten Blick auf den Washington Square ... Doch ihr kleiner Bruder fehlte ihr wirklich, und auch die Eltern, die üblichen Wutanfälle ihrer Mutter und das Zeitungsrascheln ihres Vaters ...
»Komm, Jess! Einmal ist keinmal ...«
Sie öffnete die Haustür und bedeutete dem Hund, hereinzukommen. Jess zögerte erst einen Moment und stürzte dann durch die Türöffnung, überglücklich über diese einmalige Gelegenheit.
Ich bräuchte eine Schlafkur, sagte sich Amy, während sie sich vor ihrem Spiegel auszog. Meine Güte ... Man darf doch wohl einen Schock bekommen, wenn man miterlebt, wie drei Personen ertrinken, oder? Hab doch ein bisschen Nachsicht mit dir, meine Liebe! Wenn du dich selbst nicht magst, wie sollen dich dann die anderen mögen, sagte Tom bisweilen zu ihr. Und er hatte nicht Unrecht ... Letztendlich hatte Tom selten Unrecht, und es wäre schön, wenn er jetzt hier wäre. Amy fühlte sich irgendwie verwundbar. Sie warf ihrem Hund über die Schulter einen Blick zu.
Jess saß ganz aufrecht da und blickte sie an. Mit einem merkwürdigen Blick, den sie noch nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte. Das waren nicht mehr die großen, sanften Augen, liebesfeucht und hingebungsvoll; es lag etwas Starres in diesem Blick, etwas Totes. Und so etwas wie kühles Interesse.
Amy schauderte es. Dann schlug sie sich selbst ins Gesicht. Hör auf damit! Hör auf mit dem Blödsinn! Du bist ja vollkommen verrückt ... Vor Jess Angst zu haben! Das arme Tier ... Vielleicht hatte Linda Recht, und ich sollte zu einem Psychiater gehen. Sie würde mit Tom darüber sprechen; er hatte ihr eine gute Adresse gegeben.
Wirklich, alle wollen, dass ich wieder richtig im Kopf werde! Doch ihr war nicht zum Lachen. Sie neigte tatsächlich dazu, ihre Wahnvorstellungen für real zu halten, und es sah nicht so aus, als würde sich das legen ... Das ist der Schock, meine Liebe, das ist ganz normal ... Und das mitten in der Prüfungsphase! Jetzt aber ins Bett, morgen geht’s mir besser! Eine ganze Nacht Schlaf ... Eigentlich ging es ihr jetzt schon besser. Amy war etwas beruhigter und steuerte auf ihr Bett zu.
Doch zuerst ließ sie den Hund hinaus.
UNGEWÖHNLICHE ERDBEBENAKTIVITÄT IN VIRGINIA
Eine Reihe schwacher Erdbeben hat den Süden Virginias zwischen Martinsville und Norfolk heimgesucht. Die Erschütterungen erreichten nur die Stärke 4,2 auf der Richter-Skala und verursachten lediglich Sachschäden.
Dennoch wirft diese Erdbebenaktivität in einer Gegend, die nicht als »Gefahrengebiet« gilt, Fragen auf. Ist mit einer Verschärfung des Phänomens zu rechnen? Professor Berkamp, Leiter des Labors für Geophysik an der Virginia-Commonwealth-Universität in Richmond, sagt zwar offen, er sei nicht in der Lage, die Vorkommnisse zu erklären, gibt sich jedoch zuversichtlich: »Es besteht keinerlei Grund zu glauben, es könne sich hier um den Beginn einer Serie oder um den Auftakt zu einem schwereren Erdbeben handeln.«
Trotzdem ist eine größere Katastrophe nie auszuschließen, auch nicht in einem Gebiet, das als stabil gilt. So hatte im August 1886 ein Beben von sehr starker Magnitude, das bis heute in unguter Erinnerung geblieben ist, in Charleston, South Carolina, mehrere Dutzend Menschenleben gefordert ...
Wissenschaftler geben zu, dass die Ursachen des Erdbebens von Charleston sowie weiterer kleinerer Beben, die seitdem in South und North Carolina auftraten, nach wie vor nicht bekannt sind.
Deswegen besteht in naher Zukunft jedoch noch lange kein Grund zur Beunruhigung, da man weiß, dass geologische Zeiträume sich nach Jahrtausenden bemessen oder gar nach mehreren Zehntausenden von Jahren!
The Virginian Pilot, S. 5, Dienstag, 3. Juni
Kommentar: Keiner.
»Moment mal, Peter, du tust ja so geheimnisvoll! Geht es bei der Sache um ein Verteidigungsgeheimnis?«
»Du weißt gar nicht, wie gut du es triffst. Ich kann dir am Telefon nicht viel dazu sagen. Ich bin etwas in Eile, und außerdem ...«
Greg machte einen Rückzieher.
»Okay, okay! Dann also wie abgemacht: Wir sehen uns am Dienstag, und du erklärst mir alles. Und wie geht es dir sonst?«
»Es geht so, es geht. Und dir? Mary ist abgereist, oder?«
»Gestern. Für zwei Monate.«
»Dann ist Greg jetzt ein freier Mann! Das wirst du ausnützen, oder? Du hast doch bestimmt verliebte Groupies im Hörsaal sitzen ...«
»Das denkst du ... Zugeknöpft, bebrillt, verklemmt ...«
»Du bist ganz schön gemein! Und ein Lügner noch dazu! In dem Alter haben sie Pickel, da gebe ich dir ja Recht, aber es sind doch sicher auch gut aussehende Mädchen darunter, oder? Mit leuchtenden Augen, rosigen Wangen und noch etwas tapsiger Sinnlichkeit, aber zu allem bereit ...«
Greg brach in Lachen aus.
»Jetzt sprichst du von dir! So vernaschst du also deine Studentinnen! Stell dir vor, ich könnte dich damit erpressen ... Nur schade, dass du dauernd pleite bist! Peter Basler, der große Verführer, der junge Herzen bricht ...«
»Du bist ja nur eifersüchtig! Weil ich nämlich frei bin und keine Mary habe, die jeden Abend in der Küche steht und aufpasst, wann ich heimkomme ...«
»Ach, das ist nicht ihre Art! Sie kommt oft später heim als ich ...«
»Auf jeden Fall hast du zwei Monate, um die verlorene Zeit wieder wettzumachen ...«
»Hör zu, das ist wiederum nicht meine Art, dazu habe ich einfach keine Lust. Im Moment fühle ich mich sonderbar ... Nervös ... Außerdem habe ich das Gefühl, dass die Leute auch irgendwie komisch sind ... Als wäre die Luft elektrisch geladen ... Ich muss wohl etwas überarbeitet sein ...«
»Ja ... Mir geht es auch so ähnlich wie dir ... Und nicht nur die Menschen benehmen sich komisch, mein Lieber! Übrigens hat das auch etwas damit zu tun, wovon ich dir berichten möchte ...«
»Ach?«
»Mehr sage ich nicht! Ich muss jetzt weg. Ich verabschiede mich herzlich, ich weiß, dass du das auch tust, wir haben einander lieb, und jetzt lege ich auf.«
Er legte auf.
Greg Thomas war nachdenklich geworden. Er kannte Peter seit fünfzehn Jahren; sie hatten auf den Hörsaalbänken Hunderte von Schreibspielen miteinander gemacht und gemeinsam entdeckt, welche Freuden einem die Frauen schenken konnten, die Wissenschaft und ein guter Joint, während man Jim-Morrison-Songs mitsummte, und Peter war nicht der Typ, der sich mit kleinen Geheimnissen profilieren musste ... Das machte ihn stutzig.
Greg war ein neugieriger Mensch, was in seiner Branche eher als gute Eigenschaft galt. Er lernte gern, er entdeckte gern. Er forschte gern. Also war er Forscher geworden. Schon als er noch ganz klein war ... Greg lächelte. Er sah es wieder vor sich, wie er als Kind den ganzen Tag in der Gegend herumlief und die Pflanzen und Tiere beobachtete, wie er nach Einbruch der Dunkelheit heimkam, völlig verdreckt und glücklich, bisweilen mit kleinen Mitbringseln aus Flora und Fauna ... Seine Mutter, auf einem Stuhl stehend, als er einmal unabsichtlich eine völlig harmlose Schlange losgelassen hatte; er war so stolz darauf gewesen, sie gefangen zu haben ... Im Grunde machten ihn dieselben Eigenschaften, die ihm als Kind Rügen und Strafen eingetragen hatten, heute zu einem angesehenen und bewunderten Mann. Man darf sich nie ändern, sagte er sich.
Er hatte plötzlich Lust auf ein Glas Whisky. Ein harter Tag. Harte Zeiten. Wenn einfach alles schief geht ... Seine Hand tat ihm weh. Er betrachtete die Wunde. Schlimm ... Zwischen Daumen und Zeigefinger war seine Hand übel zugerichtet gewesen und dann genäht worden. Getrocknetes Blut ließ die Punkte der Naht hervortreten fast wie ein Märtyrermal. Der Schmerzensmann ... So hatte Mary diese wirklich äußerst empfindliche Stelle bezeichnet und ihm dann aber ganz wunderbar die Hand massiert, und nicht nur die Hand; niemand konnte wie Mary einen Menschen so mit den Händen in den Schlaf massieren, mit ihren seltsamen Techniken, taoistisch oder irgend so etwas, doch höllisch wirksam, oder himmlisch (das hätte sie bestimmt lieber gehört ...), und sie »besuchte den Schmerzensmann«, wie sie ihn nannte, nie, ohne als Zeichen des Respekts sanft den Kopf zu neigen, so wunderbar versponnen war sie ... Und genau dort hatte dieser dämliche Hund zugebissen ... Greg liebte Hunde, aber jener Hund, ein schöner Husky mit verschiedenfarbigen Augen, schien das nicht zu wissen. Er hatte ihn angesprungen; glücklicherweise hatte Greg reflexartig reagiert und sich mit der rechten Hand geschützt, sonst wäre er ihm an die Kehle gegangen – dieser Hätschelhund wurde plötzlich von einem Heißhunger auf Halsschlagadern erfasst, und als er begriffen hatte, dass Gregs Halsschlagader nicht auf der Speisekarte stand, war er auf sein Frauchen losgegangen ... Die Ärmste ... Er hatte ihr ein Stück Wade herausgerissen ... Greg hatte sie ins Krankenhaus gefahren, und jetzt konnte er seine Sitze neu beziehen lassen; Blut bekommt man am schlechtesten heraus, sagte seine Mutter immer, Gott hab sie selig ... Und die arme Frau, die seine Mutter hätte sein können, heulte wie ein Schlosshund, nicht so sehr wegen der Schmerzen, sondern weil sie es einfach nicht fassen konnte ... Ein so braves Tier ... So lieb, und er spielt so gern ... Ja, mit den Halsschlagadern von Passanten, hatte Greg gedacht und seine Beifahrerin getröstet: Das kommt vor, wissen Sie, ich befasse mich mit dem Verhalten von Tieren, ja, beruflich; nun, es gibt tatsächlich Fälle, in denen ganz zahme Haustiere plötzlich wild werden, ja, selbst äußerst liebe, sanfte Tiere, aber ja ...
Greg schenkte sich ein zweites Glas ein. Er hatte es nötig. Kann man ein solches Gift ›nötig‹ haben, fragte eine Stimme in seinem Kopf, und er erkannte die Stimme von Mary. Halt den Mund. Der Whisky ist gut, und du hättest ja nicht wegzufahren brauchen. Ich trinke, um zu vergessen. Du hättest mich nicht allein lassen dürfen. Und wenn ich jetzt Lust habe, mich volllaufen zu lassen, dann lasse ich mich eben volllaufen, und jemandem, der nicht da ist, gestehe ich nicht das Recht zu, mein Verhalten vom Flugzeug aus zu überwachen! Wenn dir deine Indianer wichtiger sind als der Mann, der dich liebt, dann kannst du in deinem Urwald bleiben!
Greg merkte, dass seine Gedanken ein wenig von ihrer legendären Klarheit verloren. Er hielt seine Nase ins Glas und ließ sich von der golden schimmernden Flüssigkeit hypnotisieren, deren Geruch sein Gehirn angenehm lähmte. Mary. Im Grunde mochte er es, wenn sie einen strengen Ton anschlug und die Stirn runzelte; er spürte sehr wohl, dass sie es nicht wirklich so meinte, sie meinte es nie wirklich so, Mary, die immer dieses Funkeln in den Augen hatte, außer vielleicht, wenn er sie nicht mehr sah, sondern nur noch erahnte; sie liebten sich immer im Halbdunkel, damit sie sich mit der Haut sehen konnten, wie Mary es ausdrückte, und es stimmte, ihre Haut verriet ihm in solchen Momenten wirklich, dass sie sich hingab ... Wenn ihre Augen ganz anders funkelten, dann meinte sie es vielleicht doch so ... Mary war nie ernst, außer wenn sie sich liebten, und das war vielleicht das Einzige, was es verdiente, ernst genommen zu werden: Mary zu lieben ...
Mist, sie fehlt mir ... Jetzt ist sie noch keine acht Stunden weg, und schon fehlt sie mir, das kann ja heiter werden ... Zwei Monate! Greg spürte, wie in seiner Brust ein Hauch jener alten, grenzenlosen, tiefen Traurigkeit hochstieg, dieser nur allzu vertrauten Gefährtin, die ihn schon als Kind heimgesucht hatte, ohne dass es einen Grund dafür gab, und dieses Tier nährte sich vom Leid und vom Kummer des Tages, doch sein Reich war die Nacht, und in der Nacht packte es ihn und führte ihn in maßlos tiefe Brunnen, in innere Abgründe voll düsterer, schwankender Schatten. Dann wartete er mit offenen Augen auf die Morgendämmerung, das Herz so bedrückt, dass er fast zu sterben meinte; es war die Stunde, zu der man in den Armen der Mutter Zuflucht suchen durfte, doch seine Mutter hatte selten Zeit, ihn lange an sich zu drücken, gleichwohl zehrte er von diesen kurzen Umarmungen, bis es wieder hell wurde ...
Wie spät war es gewesen, als Mary, die vor ihm aufgestanden war, heute Morgen nochmals ins Bett gekommen und sich an ihn gekuschelt hatte? Vielleicht Viertel vor acht; sie hatte ihn sanft geweckt, und so hatte der Tag gut angefangen. Schon komisch, sagte sich Greg, wie schnell alles kaputtgehen kann ... Gut, es war der Tag ihrer Abreise, aber sie hatten sich beide darauf vorbereitet, auf Marys Abreise. Seit ihrer Heirat waren sie noch nie so lange getrennt gewesen, aber hier handelte es sich um eine Gelegenheit, die sie am Schopf ergreifen musste, eine Expedition, die vom Forschungszentrum für Kulturanthropologie der Universität von Pennsylvania, wo Mary arbeitete, finanziert wurde, und man hatte sie mit der wissenschaftlichen Leitung des Unternehmens betraut, eines Projekts, das ihr so sehr am Herzen lag ... Er wusste bereits seit vier Monaten, dass sie fahren würde, und freute sich aufrichtig für sie; es war ihm bewusst, dass sie wichtig war, ihre Arbeit, eine Leidenschaft, die sie, nebenbei bemerkt, zu etwas Faszinierendem machte, wenn sie darüber sprach. Sie musste eine unvergleichliche Dozentin sein, und witzig noch dazu; ihre Studenten waren bestimmt ganz verrückt nach ihr. Er hatte sich oft gesagt, dass er liebend gern an einem ihrer Kurse teilnehmen würde, irgendwann ...
Greg kippte den letzten Schluck aus seinem Glas hinunter und füllte es erneut. Also, warum hatte er sich so schlecht gelaunt geben müssen? Unfreundlich. Denn er war es, der unfreundlich gewesen war, auch wenn er lieber gestorben wäre, als dies auch nur einen Moment lang zuzugeben, und vor allem sollte sie nicht sehen, dass ich traurig bin, weil sie wegfährt ... Ich bin kindisch, sagte sich Greg. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Er hatte sich kühl gegeben, und sie waren kühl auseinandergegangen, und jetzt hätte er alles darum gegeben, sie an sich zu drücken, ihren Atem zu spüren und die sanfte Berührung ihres Haars. Und ihr zu sagen, dass er sie liebte. Wie einfach das doch ist. Warum muss man sich das Leben so schwer machen? Sie war jetzt sicher traurig, in ihrem Flugzeug ... Um welche Uhrzeit landete sie? Wenn sie mich anrufen würde ... Aber das wird mitten in der Nacht sein, da wird sie sich nicht trauen ... Was bin ich nur für ein Idiot!
Danach war eins zum anderen gekommen ... Der Hund, der ihn gebissen hatte, der Vormittag, den er im Krankenhaus vertan hatte ... Resonanz, sagte Mary immer. Nichts geschieht zufällig, meinte sie das? Was in unserem Leben geschieht und wem wir begegnen, entspricht dem, was wir sind: einem mehr oder weniger tiefgründigen Zustand unseres Wesens. Mary sagte, man könne immer eine Lehre aus dem ziehen, was einem zustößt, etwas daraus lernen ... Greg war eher geneigt, das als Frauengerede zu betrachten, als schwach ausgeprägten analytischen Geist, als Neigung, alles durcheinanderzubringen ... das hatte er ihr natürlich nie so gesagt ... Doch jetzt war er sich über nichts mehr sicher. Was wollte dieser dämliche Hund mir beibringen? Dieser dämliche Hund ...
Als Greg die Augen wieder öffnete, saß er immer noch auf der Wohnzimmercouch, mit einem leeren Glas Whisky auf den Knien und Whiskydunst um sich herum, von dem ihm leicht übel wurde. Es war ein Uhr morgens. Greg verspürte keine große Lust, sich in das viel zu leere Bett zu begeben, doch seine Lider waren bleischwer, und der Gedanke, auf der Wohnzimmercouch vom Licht der Morgendämmerung zu erwachen, war ihm unerträglich. Er stand auf und ging ins Bett.
»Ba-nal!«, entfuhr es Tom, und er begann hektisch, ein leeres Blatt mit mathematischen Zeichen zu füllen, wobei er jeden Abschnitt seiner Beweisführung mit kleinen Juchzern der Genugtuung begleitete. Dann zog er wütend einen Strich und stand so schnell von seinem Stuhl auf, dass dieser umkippte. Er warf die Arme nach oben und drehte eine Ehrenrunde an den Wänden seines Zimmers entlang, am Wandschrank vorbei, quer über das Bett; er warf einen weiteren Stuhl um und blieb schließlich vor dem Spiegel stehen. Er sah sich bewundernd an. Ein Genie. Tom ist ein Genie. Euklid, Newton, Einstein ... Tom Altman! »Bereits seit frühester Kindheit zeichnete sich Tom Altman durch außergewöhnliche Begabung in den naturwissenschaftlichen Fächern aus, speziell in der Mathematik. Im Alter von zehn Jahren verblüffte er seinen Lehrer mit seinem kühnen Denkvermögen und seinen fulminanten Eingebungen. Im Laufe seines erfüllten Lebens machte er zahlreiche Entdeckungen, doch insbesondere wird ihn die Nachwelt als einen der größten Mathematiker aller Zeiten ehren. Dies verdankt er dem berühmten Altman-Theorem, das er mit achtundzwanzig formulierte«, äh, nein, sagte sich Tom, mit siebenundzwanzig, »und das, wie hinreichend bekannt ist, die Naturwissenschaften revolutionierte und in außergewöhnlichem Maße bereicherte. Er verstarb als reicher und geehrter Mann in seinem achz...«, neunzigsten, beschloss Tom, »Lebensjahr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte.«
Tom war erschöpft von den vier Vormittagsstunden, in denen er sich mit seinen Übungsaufgaben beschäftigt hatte, und von seiner erfüllten Biographie ... Er verspürte Hunger. Im Übrigen war es dreizehn Uhr, er hatte sich wirklich eine Pause verdient. In seinem Minikühlschrank befand sich noch ein Croque-Monsieur, ein Käse-Schinken-Sandwich, möglicherweise schon etwas hart geworden, doch Tom liebte Croque-Monsieurs und kaufte sie immer im Zwölferpack. Wenn man sie kurz in die Mikrowelle legte, wurden sie etwas mürber, aber ihre Konsistenz war ihm eigentlich egal; er liebte einfach den Geschmack, und außerdem war die Mikrowelle wirklich praktisch: Während seiner ersten sechs Monate auf dem Campus hatte er lediglich eine Kochplatte gehabt, und da er mit Restaurantbesuchen sparen wollte, hatte das zur Folge, dass er sich mit im Wasserbad erhitzten Konservendosen durchgebracht und die Hälfte des Jahres immer wieder die gleichen Gerichte gegessen hatte, ein halbes Dutzend insgesamt – nicht sehr abwechslungsreich und diätetisch ziemlich wertlos, wie Amy immer sagte! Allerdings, seit er die Mikrowelle hatte, aß er vor allem Croque-Monsieurs ... Amy wäre nicht gerade entzückt, wenn sie das erfahren würde, zumal sie ihm bei der Finanzierung seiner Mikrowelle kräftig unter die Arme gegriffen hatte.
Das tat Toms Begeisterung jedoch keinen Abbruch, und er verschlang das erste Viertel seines Croque-Monsieur. Er bekam Studienbeihilfe, musste jedoch halbtags arbeiten, um wohnen und essen und sich ab und zu einen Kinobesuch mit Amy leisten zu können. Zwar bot sie ihm immer an, ihn einzuladen, doch Tom wollte nicht, dass Amy für ihn aufkam. Hin und wieder war das in Ordnung, da hatte er keinen falschen Stolz, aber nicht auf Dauer! Außerdem machte er ihr gern kleine Geschenke, nicht sehr oft, das verstand sie durchaus, aber zumindest zu besonderen Anlässen: Geburtstag, Weihnachten oder Thanksgiving ... So hatte er ihr zu ihrem Geburtstag im vergangenen April, am fünften April, das wusste er auswendig, ein wunderschönes kleines Halstuch geschenkt, nichts Luxuriöses, doch mit Bedacht ausgewählt; er war einen ganzen Tag lang durch die Geschäfte der Stadt gezogen und in Chinatown dann endlich fündig geworden. Es war aus hübschem hellblauem Stoff und hatte ihr sehr gut gefallen. Sie trug es oft, wenn sie durch den Fairmount-Park schlenderten oder wenn sie sich bei Smoky Joe’s ein Chili gönnten ... Das war »ihr« Lokal, das Smoky Joe’s, dort hatten sie sich Anfang Oktober kennen gelernt ... am siebten Oktober, sagte sich Tom stolz vor ... Sie saß auf der Terrasse, mit einer Freundin, Linda, und sie unterhielten sich. Diese Linda war offensichtlich ein ganz schön heißer Ofen ... Aufgefallen war ihm jedoch Amy ... Nicht, dass Linda nicht gut gebaut wäre; ganz im Gegenteil! Aber das war etwas anderes ... Amy ... Erstens war sie auch gut gebaut, vom Typ her weniger ... »gepolstert« als Linda, okay, aber feingliedrig, schlank und mit den richtigen Rundungen an den richtigen Stellen ... Doch darum ging es eigentlich gar nicht. Jedes Mal, wenn Tom sich seine Begegnung mit Amy wieder ins Gedächtnis rief, bemühte er sich, in Worte zu fassen, was er empfunden hatte, aber das war schwer. Nicht nur, weil seine Begabung mehr auf mathematischem als auf sprachlichem Gebiet lag, sondern vor allem, weil er es nicht wirklich verstand ... Sie hatte ein hübsches Gesicht und einen hübschen Mund mit reizend geformten Mundwinkeln; Tom küsste sie mit Vorliebe auf die Mundwinkel. Und dann hatte sie unglaublich blaue Augen, so blau wie der Himmel; ihre Augen waren wirklich zum Sterben schön, aber es war nicht nur das ... Sie hatte etwas an sich ... das ihn sofort schwach werden ließ ... etwas Unnahbares, total Respektloses und gleichzeitig völlig Hilfloses ...
Das ist es!, sagte sich Tom, den Mund noch voll vom letzten Bissen Croque-Monsieur. Irgendwo ist sie ein hinreißendes kleines Biest, aber in Wirklichkeit, wenn man genau hinsieht, ist sie völlig hilflos!
Als er an dem bewussten Tag an der Terrasse von Smoky Joe’s vorbeigegangen war, hatte er einen langen, etwas düsteren Blick über die beiden Mädchen schweifen lassen, so nach Art von Humphrey Bogart in Casablanca; er hatte den Film vier- oder fünfmal gesehen und beherrschte das jetzt ganz gut, und die beiden hatten nicht die Augen niedergeschlagen, vielleicht, er wusste es nicht so recht, hatte Linda ihm sogar kurz zugezwinkert, auf jeden Fall aber seinen Blick wohlgefällig erwidert, doch er hatte nur Amy gesehen, Amy, die den Blick bereits in dem Moment abgewandt hatte, als er an ihnen vorbei war und sie nicht länger beäugen konnte, ohne dass es so ausgesehen hätte, als würde er eine Schau abziehen, oder ohne dass er in jemanden hineingerannt und wie ein Idiot dagestanden hätte ... Also war er um das Lokal herumgegangen, war unauffällig wieder zu seinem Ausgangspunkt vor der Terrasse zurückgekehrt und hatte gewartet, bis die beiden Freundinnen Anstalten trafen zu gehen, und dabei Amy beobachtet. Das Ganze hatte vielleicht eine Stunde oder länger gedauert, dann waren sie aufgestanden, und er war ihnen gefolgt (es war das erste Mal, dass er etwas Derartiges tat ...); glücklicherweise hatten sie sich bald darauf getrennt. Amy war in Richtung Campus gegangen, und er hatte sie angesprochen. Normalerweise spreche ich keine Frauen an, hatte er angefangen. Das sagen alle Aufreißer, hatte sie erwidert, und sie sah so aus, als würde sie sich damit auskennen ... Es hatte sich also eher schlecht angelassen ... Doch dann hatte er diese großartige Eingebung gehabt, die Worte waren ihm ganz natürlich über die Lippen gekommen, und er hatte protestiert: Und wenn jetzt ein Typ total hingerissen von einer Frau ist, soll er sie dann einfach ziehen lassen, um ihr zu beweisen, dass er kein Aufreißer ist, oder wie? Er musste ungeheuer aufrichtig und ungeheuer motiviert gewirkt haben, denn Amy begann zu lachen, ein kleines kehliges Lachen, einfach süß, so wie eine Frau lacht, die durchblicken lässt, dass sie nicht gänzlich abgeneigt ist, dass das Eis gebrochen, dass alles möglich ist, und Tom hatte gespürt, wie in seiner Brust die Sonne aufging. Sie waren etwas trinken gegangen; es blieb nicht bei einem Glas ... Als sie sich kurz vor Mitternacht verabschiedeten, hatte sie ihn ganz leicht auf die Lippen geküsst, dann war sie in der Dunkelheit verschwunden ... In jener Nacht hatte er nicht allzu viel geschlafen ...
Schäm dich!, sagte sich Tom, als er auf seine Uhr sah, Viertel nach zwei! Er sollte jetzt vielleicht langsam wieder zu büffeln anfangen ... Doch seine Lider waren schwer und das Zimmer von einer Art Trägheit durchdrungen, von Siesta-Atmosphäre. Er blickte auf sein ungemachtes Bett, das die Arme nach ihm auszustrecken schien; es würde ihm schon reichen, sich in die Decke zu rollen, nur ein Viertelstündchen, um danach wieder fit zu sein ... Nein, das geht nicht, du kannst Siesta halten, wenn du dein Examen in der Tasche hast, und zwar mit Prädikat! Im Waschbecken türmten sich mehrere ziemlich schmutzige Tassen; er nahm eine davon heraus, ließ das warme Wasser laufen, spülte sie mehr symbolisch unter dem Wasserhahn ab, gab Pulverkaffee hinein und goss ihn auf. Dann stellte er die Tasse in die Mikrowelle und die Zeitschaltuhr auf dreißßöü