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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 2. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-96412-8

© 2011, 2013 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: Huhn/TU Dortmund

Illustrationen: Sven Binner

Grafiken: Florian Feldhaus

Datenkonvertierung: readbox, Dortmund

»Das Herz einer Frau ist ein tiefer Ozean voller Geheimnisse.«

(Rose erzählt im Film Titanic als hundertjährige Dame ihre tragische Liebesgeschichte an Bord der »Titanic«)

VORSPANN

Was hat die »Titanic« mit Physik zu tun?

Als die »Titanic« in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 sank und über 1 500 Menschen in den Tod riss, ist mit ihr auch das blinde Vertrauen in das Funktionieren von Technik untergegangen. Zum ersten Mal wurde der Menschheit bewusst, dass Technik im großen Stil versagen kann. Dies war bis dahin so noch nie passiert. Zwar gab es kleinere Unglücke, und natürlich funktionierte nicht immer jede Maschine, aber seit Sir Isaac Newton im Jahr 1687 in seinem Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica die drei Grundgesetze der Mechanik entdeckt hatte1, war es stetig bergauf gegangen: Die industrielle und technologische Revolution begann und veränderte das tägliche Leben mit atemberaubender Geschwindigkeit. Im 18. Jahrhundert hat die Erfindung der Dampfmaschine zunächst dem Menschen bei seiner Arbeit geholfen und später seine Fortbewegung revolutioniert. Im 19. Jahrhundert wurde in der Physik das fundamentale Prinzip von der Erhaltung der Energie entdeckt, auf dem alle weiteren Fortschritte basierten. 1864 konnte James Clerk Maxwell mit nur vier Formeln alle elektromagnetischen Phänomene erklären und somit das Zeitalter der Telekommunikation einläuten. Anfang des 20. Jahrhunderts war man daher der Meinung, dass im Prinzip alle Naturgesetze entdeckt worden seien und man auf dieser Basis nur noch immer größere Maschinen konstruieren müsse. Ein großflächiges Versagen von Technik war in dieser Welt, in der sich der Mensch offenbar die Erde wirklich untertan gemacht und endgültig Oberhand über die Gesetze der Natur gewonnen hatte, nicht mehr vorgesehen.

Der Glaube, dass Technik in großem Maßstab niemals versagen kann, war vor hundert Jahren natürlich genauso grundfalsch wie die Vorstellung, dass bereits alle Naturgesetze entdeckt worden seien.2 In dieser Zeit der Sorglosigkeit sank also das größte Schiff seiner Zeit und mit ihm der unbeirrbare Fortschrittsglaube.

Doch was hat der Untergang der »Titanic« mit Physik zu tun? Wir werden sehen, dass so ziemlich alles an Bord der »Titanic« eine Erklärung mit den Mitteln der Physik erfahren kann und der Titel des Buchs den Leser nicht etwa an die dunkelsten Kapitel seiner zurückliegenden Schulzeit erinnern soll. Es beginnt schon mit der Frage, warum ein Schiff überhaupt schwimmt. Ist es nicht aus Eisen und sollte deswegen ohnehin auch ohne Kollision mit einem Eisberg untergehen? Wie funktioniert eigentlich der Antrieb eines solch riesigen Schiffs? Warum hatte die »Titanic« Kohle geladen, deren Energieinhalt für fünf Atlantiküberquerungen gereicht hätte, obwohl man doch nur einmal hin und zurück wollte? Wieso brauchte man überhaupt Kohle als Brennstoff? Hätte man nicht die Energie des Meerwassers zum Antrieb nutzen können? Wo kommen eigentlich die Eisberge im Atlantik her, und wieso ist ein Eisberg in der Regel weiß, aber manchmal auch blau? Wieso konnte man dem Eisberg nicht ausweichen? Warum galt die »Titanic« als unsinkbar, und wie hätte man sie retten können? Wie groß war das Leck in der Wand des Schiffs? Woher wusste die Besatzung, dass man ungefähr zwei Stunden Zeit zur Evakuierung hatte? Warum erfriert im Titanic-Film am Ende nur Jack und nicht auch Rose, obwohl sich beide in einer null Grad Celsius kalten Umgebung befinden?

Fragen über Fragen, und alle werden in diesem Buch beantwortet. Ja, wir beantworten sogar die Frage, warum Sonnenuntergänge wie derjenige, der bei der legendären Filmszene mit Jack und Rose am Bug der »Titanic« zu sehen ist, immer so romantisch sind. Auch dies hat einen triftigen physikalischen Grund! Wir werden aber auch sehen, dass sich viele Mythen um den Untergang der »Titanic« ranken, die so nicht stimmen können. Vorher gilt es aber noch ein Rätsel zu lösen …

Ein erstaunliches Rätsel

Im Jahr 1994 hat ein großer Verlag in der Jubiläumsausgabe eines Deutsch-Englisch-Wörterbuchs verschiedene sehr schwer zu lösende Aufgaben des bekannten Münchner Rätselexperten CUS versteckt. CUS hatte sich vorher bereits einen Namen als Autor des »Großen Rätselrennens« der Süddeutschen Zeitung gemacht und konnte in dieser Jubiläumsausgabe endlich seine allerschwersten Rätsel auffahren. Auf Seite 779 des Wörterbuchs war zu lesen:

Das Schiff mit dem »titanischen« Namen, das größte seiner Zeit, galt als praktisch unsinkbar.

Die Länge war, wenn ich mich recht erinnere, mindestens 800, höchstens 900 Fuß.

Die Zahl der Rettungsboote genügte zwar den gesetzlichen Vorschriften, doch boten sie Platz nur für einen Teil der über 2 000 Menschen an Bord.

900 Meilen entfernt von New York kam es, wie es kommen musste:

»Ice, ice ahead. Iceberg. Right under the bows« – diese Warnung kam zu spät. Das Schiff kollidierte mit dem Eisberg und sank. In dieser Aprilnacht fanden viele den Tod.

In welcher Stadt lief dieses Schiff zu seiner letzten Reise aus?

Hmm, ist das eine schwere Aufgabe? CUS hatte bereits im »Großen Rätselrennen« häufiger Aufgaben zum Thema »Titanic« gestellt. 1 Fuß sind 30,48 Zentimeter, also sind 800 bis 900 Fuß ziemlich genau 244 bis 274 Meter. Die »Titanic« war 269 Meter lang. Das passt also ziemlich gut. Sie war das größte Schiff ihrer Zeit3 – keine Frage –, und der Mythos der Unsinkbarkeit eilte ihr voraus. Es waren auch über 2 000 Menschen an Bord, sie sank 900 Seemeilen vor New York, und all das passierte am 14. April 1912 um 23.40 Uhr. Offenbar konnte nur die »Titanic« mit dem Rätsel gemeint sein, und es war wohl unklar, in welchem Hafen dieses historische Schiff auslief. Aber wer CUS kennt, der weiß, dass es so einfach nicht sein konnte. Wo ist dann die Falle? Der Text der Aufgabe passt doch vollständig zum legendären Schiffsunglück. Hier musste CUS also geschwächelt haben, oder?

Wir werden das Rätsel erst am Ende des Buchs lösen. Vorher werden dieses Schiffsunglück und viele andere Fragen, die sich um die Tragödie und den 1997 in die Kinos gekommenen Film Titanic drehen, ganz genau mit den unbestechlichen Methoden der Physik durchleuchtet.

Ein erstaunlicher Film

Als James Cameron Anfang 1997 ankündigte, einen Film über das »Titanic«-Unglück in die Kinos bringen zu wollen, wurde dies allgemein eher mit einer gewissen Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen. Natürlich ist diese Tragödie wie geschaffen für einen Kinofilm, aber der Stoff war bis dahin schon neunmal verfilmt worden. Gerade ein Jahr zuvor war ein sehr aufwendiger kanadisch-amerikanischer Zweiteiler mit dem Titel The Titanic für das Fernsehen produziert worden. Dieser Film basiert auf dem Buch Titanic: An Illustrated History und versucht genauso wie Camerons Meisterwerk, das historische Drama so authentisch wie möglich wiederzugeben und dabei eine fiktionale Geschichte zu erzählen. Der Regisseur Robert Lieberman ließ ebenfalls Teile der Decks nachbauen, jedoch nicht annähernd so detailgetreu wie Cameron. Auch verwendete Lieberman Computeranimationen für die Schiffstotalen, was Cameron in der Regel vermied. Für eine Fernsehproduktion war der Aufwand aber durchaus bemerkenswert, und es war deswegen noch bemerkenswerter, dass sich nur ein Jahr nach dieser sehr erfolgreichen Verfilmung des Stoffs ein Starregisseur wie James Cameron erneut diesem Thema verschrieb.

Cameron sollte dann aber einen Film produzieren, der für die folgenden 13 Jahre Maßstäbe setzte und dessen Einspielergebnis erst im Jahr 2010 durch seinen Film Avatar – Aufbruch nach Pandora übertroffen wurde. Wenn man die weltweiten Einspielergebnisse aller Filme nimmt und diese unter Berücksichtigung der jeweiligen Inflationsraten auf das Jahr 2010 hochrechnet, dann gehört Titanic zu den fünf Filmen, die bisher die Zwei-Milliarden-Dollar-Grenze übersprungen haben. Neben Avatar, dem erfolgreichsten Film aller Zeiten, sind die anderen drei Filme dieser Kategorie der Walt-Disney-Kultstreifen Schneewittchen und die sieben Zwerge aus dem Jahr 1937, das legendäre Südstaatenepos Vom Winde verweht aus dem Jahr 1939 und das Science-Fiction-Meisterwerk von George Lucas Krieg der Sterne aus dem Jahr 1978. An dieser Aufzählung kann bereits die Ausnahmestellung von Camerons Titanic abgelesen werden. Für Deutschland gilt, dass Titanic der Film mit den zweitmeisten Zuschauerzahlen überhaupt ist. Über 18 Millionen Kinokarten wurden 1997/98 abgesetzt. Unangefochtener Spitzenreiter in dieser Liste ist allerdings immer noch der Film Das Dschungelbuch aus dem Jahr 1968, der mehr als 23 Millionen Zuschauer vor die Leinwand zog.

Titanic kann aber auch noch mit vielen anderen Superlativen aufwarten: Mit einem Budget von ca. 200 Millionen US-Dollar war er der bis dahin teuerste Film aller Zeiten. Das Werbebudget von 40 Millionen US-Dollar war so groß wie niemals zuvor in der Filmgeschichte. Titanic bekam elf Oscars, darunter die besonders prestigeträchtigen für den besten Film, die beste Regie, die besten Spezialeffekte, die beste Filmmusik und den besten Filmsong. »My Heart Will Go On« von Céline Dion stand 16 Wochen auf Platz 1 der amerikanischen und 39 Wochen an der Spitze der deutschen Single-Charts. Es ist aber trotzdem bemerkenswert, dass die Darsteller bei dieser »Oscar-Orgie« leer ausgingen. Weder hat die nominierte Kate Winslet, die die unglückliche Rose DeWitt Bukater spielt, den Oscar als beste Hauptdarstellerin bekommen, noch wurde die ebenfalls als beste Nebendarstellerin nominierte Gloria Stuart in ihrer Rolle als gealterte Rose, die in Rückblicken das Drama schildert, berücksichtigt. Leonardo DiCaprio in der Rolle des mittellosen Draufgängers Jack Dawson, der beim Pokern das Ticket für die Atlantiküberquerung gewonnen und sich dann an Bord der »Titanic« unsterblich in Rose verliebt hat, wurde noch nicht einmal für einen Oscar nominiert.4

Während die »Titanic« selbst und auch der Untergang des Schiffs weitgehend authentisch und anhand der historischen Fakten von James Cameron dargestellt wurde, sind Jack und Rose vollständig fiktionale Gestalten, die benötigt werden, um neben dem tragischen Unglück eine rührende menschliche Geschichte zu erzählen. Auf einer Liste der hundert besten amerikanischen Liebesfilme, die im Jahr 2002 vom American Film Institute veröffentlicht wurde, landete der Titanic-Film aber trotzdem nur auf Platz 37. Der 21. Rang wird von Pretty Woman eingenommen, Platz 2 von Vom Winde verweht, und der Spitzenreiter dieser sehr subjektiven Aufstellung ist Casablanca.

Auch technisch hat Titanic neue Maßstäbe gesetzt. Cameron drehte den Film mit dem Studio 20th Century Fox und organisierte als Erstes zahlreiche Tauchfahrten zu dem 1985 gefundenen Wrack der »Titanic«. Von dem russischen Forschungsschiff »Akademik Mstislaw Keldysch« ließ er das gesunkene Schiff mit den beiden Mini-U-Booten »Mir I« und »Mir II« zunächst direkt mit Kameras erkunden. Ein eigens für den Film konstruiertes Mini-U-Boot drang dabei sogar in die Innenräume des Schiffs vor. Das war seit dem Untergang der »Titanic« niemandem gelungen. Dies zeigt bereits die Akribie, mit der Cameron den Film geplant und weder Kosten noch Mühen gescheut hat, um ein wirkliches Meisterwerk abzuliefern. Am 1. September 1995 begann dann offiziell die Produktion des Films, die zunächst auf 138 Drehtage angesetzt war, später aber auf 160 Tage verlängert werden musste. Selbst Harland & Wolff, die Schiffswerft, in der die »Titanic« erbaut wurde, öffnete ihre Pforten und Archive, sodass das Filmteam Zugang zu exklusiven Unterlagen über den Bau der »Titanic« erhielt. Interessant ist, dass eine Werft in Danzig anbot, die »Titanic« für 25 Millionen US-Dollar für den Film seetüchtig nachzubauen. James Cameron zog es aber vor, realistischere Spezialeffekte einzusetzen, die letztlich sogar die doppelte Summe verschlangen.

Spektakulär: So sinkt die »Titanic« im Film. [1]

Gedreht wurde der Film vornehmlich in einem eigens eingerichteten, sehr aufwendigen und beinahe schon einer Kleinstadt gleichenden Filmstudio an der mexikanischen Pazifikküste. Hier wurden zwei große Tanks installiert: Einer hatte ein Fassungsvermögen von 64 Millionen Litern für die originalgetreue Nachbildung der »Titanic«, während der zweite, mit 22 Millionen Litern deutlich kleinere Tank für die luxuriösen Inneneinrichtungen der »Titanic«, insbesondere für die prunkvolle erste Klasse, gedacht war. Die Nachbildungen der »Titanic« und der Inneneinrichtungen in den Tanks waren komplette und funktionstüchtige Filmsets. Alles andere wurde durch eine Stahlkonstruktion realisiert, in der sich eine drehbare Plattform befand, die man neigen konnte. Auf diese Weise gelang es, die Untergangsszenen möglichst realistisch darzustellen. Der kleinere Tank war hierfür beispielsweise mit einem aufwendigen Hydrauliksystem ausgestattet, damit die Kulissen mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 Zentimetern pro Minute untergehen konnten. Auch der 223 Meter lange »Titanic«-Nachbau konnte in den großen Tank gesenkt werden, was sehr schwierig war und ebenfalls eine recht komplizierte und entsprechend große Mechanik erforderte. Die Szenen mit den im kalten Wasser des Atlantiks ertrinkenden und erfrierenden Menschen nach dem Untergang des Luxusliners wurden in einem relativ kleinen Tank mit 1,3 Millionen Liter Fassungsvermögen gedreht. Die leblos im Wasser treibenden Körper sind mit einem Pulver präpariert worden, das bei Kontakt mit dem Wasser kristallisiert und so ein Erfrieren täuschend echt simuliert. Unterstützt wurde dieser Effekt auch noch durch den Einsatz von Wachs auf den Haaren und der Kleidung der Schauspieler.

James Cameron wollte bei diesem Film natürlich auch die Möglichkeiten der 1996/97 schon recht weit entwickelten Computeranimation zur Darstellung künstlicher Realitäten ausnutzen. Besondere Schwierigkeiten macht hierbei immer die realistische Darstellung von Wasser, da es wegen der vielen Lichteffekte und Spiegelungen nur schwer am Computer nachzubilden ist. Bis zum Film Titanic wurde Wasser in der Regel verkleinert gefilmt, um dann mit Zeitlupenaufnahmen größere Wassermassen darzustellen. Dies wirkte meist nicht sehr echt. Hier nun wurde ein 13 Meter langes Schiffsmodell mit Motion-Capturing-Technik gefilmt und später dann Wasser und auch Rauch digital hinzugespielt, was mit den damaligen Computern gerade noch möglich war. Auch ein 20 Meter langes »Titanic«-Modell, das wiederholt in zwei Teile brechen konnte, wurde als einzige Miniatur neben einigen weniger wichtigen Aufbauten der ersten Klasse verwendet, um die Untergangsszenen möglichst realistisch aussehen zu lassen. Zum Rendern5 der mit dem Computer bearbeiteten Szenen wurden insgesamt 60 Elektronenhirne verwendet, die das damals unter Wissenschaftlern besonders populäre Linux-Betriebssystem verwendeten.

Insgesamt sieht man, welch großer Aufwand von Cameron und seinem Team betrieben wurde, um einen möglichst realistischen und auch außergewöhnlichen Film abzuliefern – irgendwo müssen die 200 Millionen Dollar Produktionskosten schließlich geblieben sein.

Wir werden uns in diesem Buch über die Physik des Untergangs der »Titanic« nicht nur auf die historischen Fakten, sondern auch immer wieder auf den Film beziehen. Optimal wäre es also, sich vor dem Weiterlesen diesen Schmachtfetzen noch einmal in aller Ruhe anzusehen. Abgesehen von der fiktionalen Liebesgeschichte zwischen Jack und Rose sind ja die historischen Fakten weitestgehend richtig wiedergegeben.

Die Nordatlantik-Schifffahrt vor 1912

Ab 1840 konnte man sich regelmäßig mit Dampfschiffen auf eine dreizehntägige Reise über den Atlantik begeben. Während diese ersten Schiffe noch recht klein und dementsprechend unkomfortabel waren, wurden sie mit der Zeit immer größer und luxuriöser. Auch 1912 war das Schiff noch das einzige Verkehrsmittel, mit dem man den Atlantik sicher überqueren konnte. Zwar hatten die Gebrüder Wright schon 1903 das Motorflugzeug erfunden, doch sollte es noch 24 Jahre bis zum legendären Transatlantikflug von Charles Lindbergh dauern.6 Auch Luftschiffe gab es zwar, doch waren sie noch nicht so ausgereift, dass man mit ihnen eine so große Strecke von etwa 5 000 Kilometern am Stück hätte zurücklegen können. Da man nach der Erfindung des Nietens großer Stahlplatten im 19. Jahrhundert große geschlossene Stahlkonstruktionen herstellen konnte, war der Größe von Schiffen zu dieser Zeit offenbar keinerlei Grenze mehr gesetzt. Hinzu kam, dass immer mehr Menschen ihr Glück in der Neuen Welt jenseits des Atlantiks suchen wollten, und auch das Interesse der amerikanischen Bevölkerung an Europa wuchs ständig. Das alles bewirkte, dass dies die goldene Zeit der Schifffahrt war: Praktisch ohne Konkurrenz konnte man das Grundbedürfnis der Menschen nach der Überbrückung großer Distanzen befriedigen, und auch technisch schien es keinerlei wesentliche Limits im Schiffbau mehr zu geben.

Das Reisen per Schiff galt zudem auch als überaus sicher. So sind in den 40 Jahren vor dem Untergang der »Titanic« ganze vier Menschen bei Reisen über den Nordatlantik ums Leben gekommen, wobei kein Einziger wirklich ertrunken ist. Diese traumhafte Quote für ein Verkehrsmittel sollte in der Geschichte bis heute einmalig bleiben. Wie immer in solchen Fällen wurde man dadurch aber auch sehr nachlässig. Laut den Bestimmungen des britischen Handelsministeriums aus dem Jahr 1894 musste ein Schiff mit über 10 000 Tonnen lediglich 16 Rettungsboote mit einer Kapazität von 154 Kubikmetern haben sowie Schwimmplattformen und Flöße mit 75 Prozent der Rettungsbootkapazität. Dadurch war also die absolute Zahl der Plätze in den Rettungsboten festgelegt, ohne der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Schiffe mit der Zeit immer größer geworden waren und somit nicht mehr alle Passagiere in einem Notfall von Bord gebracht werden konnten. Wozu braucht man aber auch Rettungsboote, wenn ohnehin nichts passiert? Ja, man war sogar der Auffassung, dass auch beim denkbar schlimmsten Szenario gar nichts passieren könne, wie wir später noch sehen werden. Die über 50 000 Tonnen schwere »Titanic« mit ihren maximal 3 297 Personen an Bord – 897 Besatzungsmitglieder und 2 400 Passagiere –, aber nur knapp 1 000 Plätzen in den Rettungsbooten entsprach damit vollständig den gesetzlichen Vorgaben der damaligen Zeit!

Es war 1912 auch klar, dass die Nordatlantik-Schifffahrt im Winter und Frühling durch Eisberge bedroht ist. Deswegen wählte man zu diesen Jahreszeiten eine südlichere Route von Southampton nach New York, wie Abbildung 1 zeigt.

Abbildung 1 Die Winter- und Frühlingsrouten für Atlantiküberquerungen verliefen wegen Eisbergen im Nordatlantik deutlich südlicher als die Route im Sommer. Eingezeichnet ist auch die Korrektur der Route, die »Titanic«-Kapitän Smith in der Unglücksnacht wegen Eisbergwarnungen vorsichtshalber vorgenommen hatte.

Während die Reise im Sommer ziemlich direkt über den Atlantik führte, fuhr man im Winter zunächst einen deutlich südlicheren Kurs bis zum sogenannten Korrekturpunkt bei 42° Nord und 47° West. Von dort peilte man dann direkt New York an und hatte so alle Eisberge weit umschifft – das glaubte man zumindest, und das war auch bis 1912 ohne Zweifel richtig.