Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de

 

Die finnische Originalausgabe »Tuulihaukka« wurde für die deutsche Ausgabe in zwei Bände geteilt: »Sturmfalke« und »Die Gefährtin des Sturmfalken«.

 

Die Übersetzung wurde von FILI, Finnish Literature Information Centre, Helsinki, gefördert.
Übersetzung aus dem Finnischen von Angela Plöger

 

© Piper Verlag GmBH, München/Berlin 2019
© Oy Amanita Production Ltd. 1992
Titel der finnischen Originalausgabe: »Tuulihaukka«, Kustannusosakeyhtiö Tammi, Helsinki 1995
© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 2002
© der Karte: Amanita Ltd, Finnland

 

© Amanita Oy / Kaari Utrio and Tammi Publishers Ltd
First published by Tammi Publishers Ltd in 1995 with the Finnish title Tuulihaukka.
Published by arrangement with Bonnier Rights Finland, Helsinki.
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic, München

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Die Personen des Romans

Die historischen Personen sind mit Stern* gekennzeichnet. Am Ende des Buches gibt es ein Glossar.

 

Im Hause Launiala

Launia, Richter und Opferpriester von Lieto
Lyy, Sohn des Hauses Launiala
Aure, Tochter des Hauses Launiala

 

Im Hause Paatela

Ihanti, Herr von Paatela
Purha, sein Stiefbruder
Palpa, Sklave
Leko Dreifinger, Krieger

 

Im Hause Arantila

Olaf Sturmfalke, Krieger von König Harald
Glum Missgestalt, Bootsführer des Sturmfalken

 

In Nidaros

Harald der Harte* (auch: der Strenge), König von Norwegen
Hallgerd Schwarzbraue, norwegische Schönheit

 

In Dublin

Stein der Skalde, Dichter aus Grönland

 

In der Normandie

Odo de Meilhan, Olafs Ziehbruder
Innocentia, seine Frau
Adela, Odos Schwester
Corba, Adelas Amme
Ingvar Trinkhorn, Olafs Knappe

 

In Apulien

Robert Guiscard de Hauteville*, Herzog von Apulien
Sikelgaita*, seine Frau

 

In Sinetra

Geoffrey, Graf von Sinetra
Helaine Harzaniteina, seine Frau
Ortulana, Dienerin
Leonas, Erzbischof von Sinetra
Grimoald, neuer Erzbischof von Sinetra

 

In Byzanz

Euphrosyne, griechische Sklavin
Firmos, Lenker des Planwagens
Romanos Diogenes*, Kaiser
Andronikos Dukas*, Feldherr
Maria die Bulgarin*, seine Frau
Theodoros Phokas, Aristokrat aus Ephesos
Philomelia, seine Frau
Michael VII. Dukas*, Kaiser
Maria die Alanin*, Kaiserin
Arete Dukaina*, Schwester des Kaisers

 

In Montecaldo

Fulbert, Cavaliere von Montecaldo
Renald, sein Bruder
Guifred, sein Bruder
Constantia, Fulberts Mutter
Fenicia, Fulberts Kebsfrau
Pater Lampo, Priester von Montecaldo
Felix Nero, Kanonikus im Dom zu Montecaldo

 

In Roccamorte

Jordan, Cavaliere von Roccamorte
Bertilla, seine Frau
Humbert, ihr Sohn
Aimon, ihr Sohn, Bischof von Montecaldo
Pater Matteo, Priester von Roccamorte
Libentius, Gruppenführer
Marinus, Olaf Falcos Ritter
Euphremianus, Bischof von Roccamorte
Odo, ein heiliges Kind

 

In Salerno

Gisulf*, Fürst von Salerno
Johannes Platearius*, Arzt
Trotula*, seine Frau, Ärztin
Lando, Arzt

 

In Foresta Umbra

Proserpina Desolata, Ketzerin
Theodoros, Mönch aus dem Kloster Sinai

 

In Rom

Gregor VII.*, Papst
Georgios, Wandermönch
Heinrich IV.*, deutscher König

Erstes Buch

1066

1. Kapitel

1066

»Der würde einen guten Richter abgeben.«

»Das Wichtigste ist eine laute Stimme.«

»Er ist aber auch nett anzusehen.«

Lyy hörte die Reden; vielleicht sollte er sie auch hören. Viele waren gern mit dem neuen Richter gut Freund.

Die Burg Lieto, ein kahl geschlagener Fluchtberg, ragte hinter den Leuten auf, die zum Gerichtstag erschienen waren. Er bildete einen finsteren Gegensatz zu den freundlichen Uferwiesen und dem schläfrig-trägen Aurafluss. Eine Frühlingsböe trieb bläulich-schwere Wolken über den Himmel. Bald würde sich aus den Wolken der Regen über die frisch ausgesäten Felder ergießen. Ukko, der höchste Gott, war zufrieden mit den Opfern, mit denen, die er bekommen hatte, und mit denen, die er noch bekommen würde.

Die Boote waren dicht bei dicht ans Flussufer gezogen worden. Zum Gerichtstag von Lieto kamen die Leute von weit her. Man traf Bekannte, zeigte sich, hörte Neuigkeiten, schloss Geschäfte ab und lauschte den Gerichtsverhandlungen der Leute aus Lieto. Den Streit anderer zu beobachten erzeugte eine angenehme Schadenfreude. Das milderte ein wenig den Neid, den die Menschen immer aufeinander empfinden, ob sie nun Grund dazu haben oder nicht.

Nun wollte man auch sehen, ob es stimmte, was erzählt wurde: dass nämlich Richter Launia plötzlich über seine Jahre hinaus alt, blind und im Kopf hohl geworden war, so dass er das Gesetz und sogar seinen eigenen Namen vergessen hatte.

Sobald die Leute aus Launiala eintrafen, sah man, dass der alte Launia unter seinem teuren roten Umhang krummgezogen und in sich zusammengesunken war. Er schritt langsam und unsicher, obwohl er sich bemühte, seinen elenden Zustand zu verbergen. Direkt neben ihm ging sein Sohn Lyy von Launiala und führte den Richter am Ellbogen, ein Mann, den man nicht übersehen konnte, selbst wenn man die Augen schloss.

Ganz vorn reckte Purha von Paatela den Hals, ein entfernter Vetter von Lyy und dessen eifrigster Schmeichler. Lyy war an Purha gewöhnt wie an einen Hund. Er bemerkte es nicht, wenn Purha ihm das Trinkhorn reichte oder die Waffen reinigte, er mochte sich das Geplapper des Burschen nicht anhören, er machte sich nicht die Mühe, sich für Purhas Geschenke zu bedanken, geschweige denn ihm ein Gegengeschenk zu machen. Wenn Purhas Fuchsgesicht eine Zeit lang nicht zu sehen war, konnte es geschehen, dass Lyy sich einen Augenblick wunderte, doch dann vergaß er den Tölpel.

Hinter Purha, vorsichtig etwas weiter abseits, stand sein Bruder Ihanti, der Herr von Paatela, in Finnland berühmt wegen seiner Weisheit und seines Geizes. Lyy schüttelte Purha von sich ab und erwiderte Ihantis Gruß.

»Gerichtsfrieden, Verwandter. Auch diesmal hast du keinen Streit vom Zaun gebrochen.«

»Eine sinnlose Beschäftigung, zu Gericht zu sitzen. Entweder du schlichtest den Streit, oder, wenn ein Vergleich zu teuer wird, bringst du deinen Feind um.«

Lyy lächelte so ansteckend, dass Ihanti das Lächeln notgedrungen erwidern musste.

»Die Worte eines Kriegers. Doch nicht jeder hat Kriegshelden, denen er Befehle erteilen kann«, lachte Lyy.

Ihanti zuckte die Achseln. Ein Haus ohne Mann war ein unbedeutendes Haus. Es taugte nur dazu, Mietzins zu zahlen.

Lyy versetzte seinem Vater einen leichten Stoß, so dass der alte Mann auf die Richterbank plumpste. Lyy selbst blieb dicht hinter Launia stehen: ein gehorsamer Sohn, bereit, dem alten Vater zu helfen. Lyys lange, silberblonde Haare waren zu beiden Seiten des Gesichts geflochten und hingen über den Rücken frei herab. Sein kurzer Bart war dunkler als das Haar, die Augen waren blauer als sein mit Färberwaid gefärbtes Wollgewand. Dessen Saum war mit einem grünbunten Band verziert. Lyy trug leinene Beinlinge, die mit einem Lederband gebunden waren, und die Schließe seines grünen Wollumhangs war aus glänzendem Silber. An der Seite hing ihm ein mächtiges Schwert in einer Scheide, deren Spitze über den Boden schleifte, wenn Lyy dahinschritt.

Lyy aus dem Hause Launiala war ein Fürst, der über den anderen stand und unerreichbar war für Neid, Sticheleien und üble Nachrede. Lyy brauchte nicht um sein Ansehen zu kämpfen. Ihm gebührte von Natur aus Respekt ebenso wie Neid; am meisten jedoch wurde er gefürchtet, denn Lyys Schönheit und seine Leutseligkeit vermochten nicht zu bemänteln, dass er von Grund auf kalt war.

»Vater, es ist Zeit zu opfern und das Gesetz zu verkünden.«

Das Gerichtsvolk verstummte gespannt. Der Richter sprach jedes Jahr ein Drittel der Gesetze auswendig dem Volk vor. Auf diese Weise lernten die Menschen allmählich, was das Gesetz besagte und was nicht. Die alten Männer und Frauen konnten das Gesetz auswendig, nachdem sie es in ihrem Leben viele Male gehört hatten. Der Richter durfte nichts verändern und nichts vergessen, denn immer erinnerte sich jemand daran, wie die richtigen Worte lauteten.

Die Frauen standen an den Rändern des Gerichtskreises, zuvorderst die Bäuerinnen mit ihren Töchtern, hinter ihnen die Frauen aus den Hütten und Mietshäusern. Am weitesten entfernt bewegten sich die Sklaven, die man mitgenommen hatte, damit sie ihre Herrschaften während der Gerichtstage bedienten.

Zwischen Wald und Fluss hatte man Zelte und Buden aufgestellt, in denen die Besucher der Gerichtstage wohnten. Jedes Haus hatte seinen angestammten Platz, an dem die anderen ohne Waffenklirren nichts zu suchen hatten. Jedes Jahr versuchte jemand, sich einen besseren Platz zu erkämpfen; deshalb begannen die Gerichtstage meistens mit einer Prügelei.

»Das Opfer! Das Gesetz!«

 

Der alte Launia erhob sich mühsam. Plötzlich wandten sich die Köpfe der Menschen ab und dem Fluss zu.

»Ein Boot!«

»Sie kommen zu spät, die Christen!«

»Sollen sie doch wegbleiben von den richtigen Menschen. Sie stammen nicht einmal aus Lieto.«

Feindseliges Murren empfing das lange Boot, das den Aura flussaufwärts gerudert wurde.

»Alle Menschen haben das Recht, beim Gerichtstag zuzuhören.«

Lyy hörte, wie das Murren verstummte. Wenn er gesagt hätte, dass man die Christen aus dem Hause Arantila umbringen sollte, wäre es geschehen. Lyy gefiel es, dass die Menschen ihm gehorchten, ohne es gewahr zu werden.

Aus dem Boot stieg ein riesenhafter Mann, ein Ausbund an Hässlichkeit, wandte sich um und hob eine magere Frau auf die Wiese, der man sofort ansah, dass sie nicht gesund war. Die Gerichtstagsbesucher starrten die Ankömmlinge mit offenem Mund an: Dies waren Menschen, die man von der Auramündung bis in die Städte Kalliala und Vanaja kannte.

Fast jeder war schon Christen begegnet, allmählich gab es sie in jedem Geiselgau. Sie plapperten eifrig von ihrem einen einzigen Gott, aber jeder vernünftige Mensch erkannte, dass der ein Jammerlappen war: Der arme Kerl hatte sich ans Kreuz schlagen lassen.

Meistens waren die Christen gewöhnliche Menschen, die schwendeten, jagten und Handel trieben wie die anderen. Wenn man sie genügend geärgert hatte, vergaßen sie die kindischen Vorschriften ihres Gottes, griffen zur Streitaxt und spalteten Schädel wie jeder andere ordentliche Finne.

»Aber die hier sind sonderbare Leute. Der Mann ist ein schwedischer Wikinger und die Frau eine griechische Prinzessin, obwohl sie ihrer Herkunft nach die Tochter der Herrschaft von Arantila ist.«

»Die haben in Arantila eine eigene Kirche und einen alten Mann, der in einer fremden Sprache Zaubersprüche hersagt.«

»Die Zauberer der Christen nennt man Priester.«

»Dies hier sind Leute, die ganz zurückgezogen leben, sie reisen nicht viel im Geiselgau umher.«

»In ihrer Kirche schwelgen sie in Reichtümern.«

Den Absonderlichkeiten von Arantila hatte man genug Aufmerksamkeit geschenkt. Lyy bewies, dass er die Bräuche und Regeln kannte, die für alle Gerichtstagsbesucher die gleichen Rechte vorsahen. Nun war genug geglotzt, zumal auch respektvolle Töne zu hören gewesen waren. Beim Gerichtstag sollte nur auf den Richter geschaut werden.

Dennoch suchte Lyys Blick den Schild des Wikingers: Es war ein Dreieck mit langen Spitzen und metallenem Rand, in dessen Mitte sich ein glänzender Knauf befand. Leuchtende rotgelbe Strahlen erstreckten sich vom Knauf bis zu den Rändern. Lyy dachte an seinen eigenen runden Schild aus Holz. Dessen einzigen Schmuck bildete ein roter Kreis. Er hatte jedoch einen Metallknauf, und bisher war Lyy der Meinung gewesen, dass er ein Schild war, wie er einem Richter gebührte.

Es war ungehörig, dass die Fremden inmitten des anständigen Volkes mit ihren prächtigen Waffen und Kleidern protzten. Lyys Herz, das eben noch so leutselig gewesen war, presste sich zu einem kalten Stein zusammen.

»Es ist Zeit für das Opfer.«

Der Richter hätte selbst das Opfer ankündigen müssen. Aus Launias Mund kam aber kein einziges Wort. Lyy gab ein Zeichen, und ein gefesselter Widder wurde auf den Gerichtsstein gelegt. Der Opferdolch steckte in Launias Gürtel. Der Greis zog ihn hervor, aber es war klar, dass er nicht die Kraft haben würde, den Widder zu töten.

Lyy ließ die Stille andauern, so dass alle verstanden. Er nahm Launia den Dolch aus der schlaffen Hand und schnitt dem Widder in einem einzigen Zug die Kehle durch. Das Blut ergoss sich über den Stein. Das Volk warf sich mit dem Gesicht auf die Uferwiese.

»Ukko, oberster Herrscher,

Gott du über den Wolken,

halte Gericht in den Wolken …«

Der Wetterzauber erklang im Flüsterton. Leise gesprochen hinterließ er einen machtvolleren Eindruck, als wenn man ihn hinausschrie. Aus den Augenwinkeln sah Lyy, dass die Christen von Arantila sich nicht vor dem Gerichtsopfer verneigten. Unverwandt hielt er den Blick auf sie gerichtet, so dass die Leute, die sich wieder erhoben, in dieselbe Richtung spähen mussten.

»Vater, das Gesetz muss vorgetragen werden.«

Launia gab einen Laut von sich und begann zu husten. Lyy drückte den Alten auf die Bank nieder. Er öffnete den Mund und fing an, mit volltönender, respektheischender Stimme das Gesetz der Finnen zu verkünden. Die Stellung des Richters und des Opfervollziehers ging vom Vater auf den Sohn über, ohne dass auch nur ein einziger Gerichtstagsbesucher sich einmischte.

»Alle, die es wollen, können dem Gerichtstag beiwohnen, das ist wahr«, sagte Lyy, nachdem er das Gesetz gesprochen hatte. »Doch die Zuhörer müssen den Göttern ihre Verehrung darbringen. Was soll aus den Jahreseinkünften und dem Jagdglück werden, wenn die Opfernden an der Stätte des Gerichts verspottet werden?«

Purha von Paatela rückte eifrig vor, um herauszufinden, was Lyy vorhatte.

»Fort mit den Christen!«

»Egal, was sie sind und wen sie verehren.« Lyy blickte aus den Augenwinkeln zu den Herrschaften von Arantila hinüber. »Sie beleidigen die Götter. Das führt den ganzen Geiselgau ins Verderben.«

Der grobknochige Mann lächelte friedfertig.

»Wir wollen den Gerichtstag nicht stören. Wenn du meinst, wir stören, dann gehen wir.«

Die Gutmütigkeit des Mannes und das Schweigen der Frau ärgerten Lyy. Nachgiebige Leute, deren Vertreibung niemandem zum Ruhm gereichte.

»Bleibt, wo ihr seid, wenn ihr euch nur vor dem Opfer verneigt«, sagte Lyy kalt.

»Das können wir nicht. Unser Gott verbietet es uns, anderen Göttern zu opfern.«

Dummkopf, dachte Lyy. Ein mächtiger Krieger, aber von schwachem Verstand.

Die Leute von Arantila gehörten nicht zu der Menge, die sich zu Füßen der Burg Lieto versammelt hatten. Sie waren allzu reich, allzu zufrieden, allzu anders. Lyy verstand sehr wohl, dass seine Gerichtstagsbesucher die Leute ablehnten, die in auffälliger Weise erfolgreich waren. Das Glück der einen fehlt den anderen. So etwas lässt sich schwer ertragen.

»Kehrt nach Arantila zurück!« schnauzte er, der Sache überdrüssig.

 

Die Gerichtstagshütte von Launiala stand der Burg zunächst. Ihre drei Wände waren aus Steinen aufgeschichtet. Wenn sie benutzt werden sollte, zog man einen Stoff über Stangen. Der Boden der Hütte wurde mit Fichtenreisern belegt. Vorn gab es eine mit Steinen eingefasste Feuerstelle. Über dem Feuer stand ein Dreibein.

Das Gut Launiala benötigte eigentlich keine Gerichtstagshütte. Das Haus lag so nahe, dass die Leute sich bequem unter das eigene Dach hätten begeben können, um dort die Nacht zu verbringen. Doch die Hütte war eine Prestigefrage. Der Richter von Lieto konnte nicht umhergehen und die Besucher begrüßen ohne einen Ort, an den er die Leute zu einem Bier einladen konnte.

Lyy saß am Feuer mit dem Bierkrug in der Hand. An den Gerichtstagen tranken die Menschen gemeinsam, bis sie umsanken, wo sie gingen und standen. Doch anders als alle anderen war Lyy gern allein; schließlich gab es im ganzen Geiselgau niemanden, der ihm ebenbürtig war, und die Gesellschaft Dümmerer ertrug er nicht. Nur die Christen von Arantila waren ebenso vornehm wie Lyy, doch die hatte er selbst vertrieben.

Der alte Launia schlief in der Hütte unter Schaffellen gemeinsam mit seiner Tochter. Purha, der Wachhund, wuselte ungeduldig um das Feuer herum und versuchte, die Aufmerksamkeit des mächtigen Lyy zu erregen.

»Es gibt noch gar keine Mücken.«

Aus den Zelten der Gerichtsstätte klang leises Stimmengewirr herüber, jemand schnarchte laut. Vom Fluss zog schwacher Dunst über die nackten Wiesen. Der Burgberg überschattete die Gerichtsstätte wie eine Gewitterwolke.

»Richter!« In Purhas Stimme lag neben Schmeichelei aufrichtige Bewunderung. Lyy wurde von vielen bewundert, und das berührte ihn nur noch selten. Jetzt war er vielleicht müde, vielleicht hatte er reichlich Bier genossen. Er nickte Purha leutselig zu zum Zeichen, dass er bereit war, den jungen Mann anzuhören.

»Du hast deine Schwester Aure zum Gerichtstag mitgebracht«, stieß Purha hervor.

Es verschlug Lyy die Sprache. Purhas Worte waren nahezu ungehörig: Es schickte sich nicht für einen fremden Mann, eine junge Frau zu erwähnen, schon gar nicht eine aus einer angesehenen Familie, wenn er nicht die ernste Absicht hatte, um sie zu freien. Das Freien wiederum besorgten die älteren Verwandten, Männer und Frauen. Es war Ihantis Aufgabe, sich um eine Braut für Purha zu bemühen. Doch Ihanti würde sich niemals in einer solchen Angelegenheit an Lyy wenden. Aure von Launiala stand unermesslich höher im Rang als Purha von Paatela. Am Hause Paatela gab es an sich nichts auszusetzen, doch Purhas Mutter war eine Sklavin, seinerzeit die Freude eines alten Mannes an seinem Lebensabend.

Lyy wusste nicht recht, ob er zuschlagen oder lachen sollte. Purhas Halbbruder war jedoch ein Freund und Verwandter. So begnügte sich Lyy damit, den Kopf zu schütteln.

»Du benimmst dich schlecht, wenn du meine Schwester beim Namen nennst. Die Tochter des Hauses Launiala ist nicht für einen wie dich bestimmt. Wenn du aber eine Frau brauchst, kann ich mich nach einer passenden erkundigen, natürlich mit Einwilligung deines Bruders.«

»Ich bin ein Sohn des Hauses Paatela«, sagte Purha. Offenbar war er sich seiner Aufdringlichkeit nicht bewusst.

»Du bist der Sohn einer Sklavin. Ein unbedeutender Mann«, knurrte Lyy. »Geh jetzt und störe mich nicht länger.«

Lyy würdigte ihn keines Blickes, als Purha sich trollte. Einen Augenblick lang horchte er auf das gleichmäßige Atmen der Schläfer in der Hütte. Sein Blick wanderte zum breiten Bett des Auraflusses und zu den Feldern am jenseitigen Ufer. Dahinter zeichnete sich der dunkle Wald ab, so wie ein Finne ihn immer vor Augen hat, wo er auch sein mag.

Eine mit Trauer gemischte Mattigkeit überkam Lyy. Er war jetzt der Richter von Lieto. Das war jahrelang sein Ziel gewesen. Doch obwohl es erst ein paar Stunden her war, dass er diese Stellung erlangt hatte, erschien sie ihm schon gleichgültig. Es gab nichts Neues, das er jetzt anstreben konnte. Vor ihm lag nur die unendliche, in ihrer Gleichförmigkeit schreckenerregende Abfolge von Jahren. Das Säen, das Ernten, dem Nachbarn die Ernte zu rauben – das hatte für Lyy keinerlei Reiz. Dazu war jeder in der Lage, der zwei Hände besaß.

Lyy streckte sich auf der frühlingskalten Erde aus. Seine Verzweiflung war so schwer, dass er das Gefühl hatte, im Schoß der Erde zu versinken.

 

»Meine Tochter. Jede Frau hat einen wahren Namen. Den kennen nur die Mutter und die Tochter selbst.«

Aure berührte das unnatürlich weiße Gesicht der Mutter mit der Fingerspitze. Sie wollte nichts von dieser Sache hören.

»Das Mädchen erfährt ihren wirklichen Namen, wenn sie ihr Heimathaus verlässt und ihrem Ehemann folgt«, flüsterte Aalto. »Doch ich werde dir nicht das Geleit geben, wenn du von hier fortgehst. Ich werde ins Reich der Toten eingehen, noch bevor der Tag zu Ende geht. Ich sage dir deinen Namen jetzt.«

»Ich brauche den wahren Namen nicht«, schluchzte Aure.

Etwas von der Klarheit des Frühlingsnachmittags fiel durch den offenen Rauchabzug auf die mit Steinen ausgelegte Feuergrube. Darin brannte ein Feuer, kein großes, loderndes so wie im Winter, sondern eine bescheidene Flamme, der Sterbenden zum Trost. Und sie wurde nur unterhalten, weil die Sterbende die Herrin eines großen Hauses war. Die Truhen auf den Pritschen und der Webstuhl blieben im niedrigen Halbdunkel hinter den Dachpfeilern.

Aalto von Launiala kümmerte sich nicht um die Tränen der Tochter. Sie hatte noch viel zu sagen, und die Zeit war knapp. Durch den Rauchabzug drang das schrille Trompeten ziehender Kraniche herein. Es verklang rasch, während die großen Vögel gen Norden flogen.

»Ich war die einzige Tochter, so wie du, Aure. Du hast keine Tante, die dich verheiraten, und keine große Schwester, die für dich sorgen könnte. Du bist ein beklagenswertes Mädchen, denn dir fehlen weibliche Verwandte. Wer wird dich anleiten? Wer dir raten, dich unterweisen?«

Die einst so tragende Stimme der mächtigen Herrin war vor Monaten gebrochen, als Aalto von Launiala mit Schmerzen in der Brust auf das Lager gesunken war. Aure musste das Ohr nahe an den Mund der Mutter halten. Auch im Halbdunkel sah man den bläulichen Ring um Aaltos Mund, das Zeichen des Todes. Als Lyy es entdeckte, schickte er, der Sohn und Erbe des Hauses Launiala, die Männer einen Scheiterhaufen aufrichten.

»Diesen Namen habe ich im Traum erhalten so wie jede Mutter. Ihn kann man nicht verändern, man kann nicht darauf verzichten, und man kann ihn nicht preisgeben. Er wird dir dein ganzes Leben lang folgen, wohin du auch gehst und was du auch tust. Er ist dein Schicksal.«

Aure spannte Schultern und Nacken an und zog sich unmerklich zurück.

»Eines Tages wird es deine Pflicht sein, das Schicksal für deine eigenen Töchter zu träumen. Und wenn du ihnen auch kein anderes Erbe hinterlässt, hinterlasse ihnen einen wahren Namen, bevor du stirbst. Höre.«

Aure hielt den Atem an. Der wahre Name kam nur wie ein Hauch von den grauen Lippen. Aure sah das Wort sogleich lebendig vor sich, sah, wie es scharf und schnell unter dem geräumigen Dach des großen Hauses von Launiala schwebte. Sie atmete freudig tief auf.

»Ein herrlicher Name. Er gefällt mir. Er wird mir Glück bringen. Du hast gut geträumt, Mutter.«

Die Schädelknochen traten im Antlitz der Aalto von Launiala seltsam hervor, so als schmölze das Fleisch und als klammere sich die Haut am Knochen fest. Das rote Haar, das im Tod vom Schleier befreit war, rahmte das erregte Gesicht.

»Sei kühn. Wenn du Kummer hast, erinnere dich an deinen Namen. Vertraue niemandem außer deinen Verwandten. Rede über niemanden Schlechtes.«

Die Ratschläge kamen hastig.

»Kränke niemals eine Frau. Denk daran: Die Männer wirken mächtig, aber über das Leben der Frau entscheidet eine Frau, sie selbst oder eine andere.«

Das wusste Aure ohnehin. Über das Leben einer Frau bestimmte die Schwiegermutter, bis sie starb, und danach musste man mit den Schwägerinnen auskommen.

»Lenke den Mann, aber lass es ihn nicht merken. Hüte dich vor deiner Macht: Einen Mann kann man zu allem Möglichen anstiften. Gib deinem Mann immer genug zu essen. Verweigere ihm niemals dein Bett.«

Aure hatte diese Regeln viele Male gehört.

»Mutter, ruh dich aus.«

»Bitte niemals mehr als dreimal um eine Sache. Wenn man sie dir beim dritten Mal nicht gibt, dann bekommst du sie nie, es sei denn, du nimmst sie dir ohne zu fragen, aber das sollst du dir dreimal überlegen.«

Aalto von Launiala flüsterte die Lebensweisheiten mit trockener Kehle eilig heraus, um nichts zu vergessen. Aure gab ihr Wasser zu trinken. Der Strom der guten Ratschläge dauerte an. Die Leute, die den ganzen Tag auf Betten und Pritschen gewartet hatten, wurden unruhig. Am Sterbetag der Herrin gab es kein Essen. Weinen konnte man am besten mit leerem Magen, und es stand ja eine üppige Trauerfeier bevor.

Der Ehemann der Sterbenden saß im Hausherrenstuhl, die verkrümmten Finger streichelten die Bärenköpfe der Armlehnen. Die Schnitzereien hatten sich unter den jahrzehntelangen Berührungen zu eisglatten Flächen abgenutzt. Launia schlummerte dann und wann ein, ein nahezu blinder Mann, der alt wirkte, obgleich er nicht alt war. Das Warten auf den Tod seiner Frau löste bei dem Richter von Lieto keinerlei Regung aus; vielleicht wusste er gar nicht, worauf man hier wartete. War es doch gemütlich, auf dem warmen Lammfell zu sitzen, das Feuer in der Grube als schwaches Flackern in den trüben Augen.

Neben dem rot angestrichenen Hausherrenstuhl stand, so als wartete er auf den Augenblick, in dem er selbst darin würde Platz nehmen können, Lyy von Launiala, ein Mann so stolz wie ein Elchbulle. Er war Launias und Aaltos ältester Sohn und der einzige, der überlebt hatte, der wahre Herr des Hauses jetzt, da Launia überraschend ein blinder, seniler Greis geworden war. Der einzige, der das nicht begriff, war Launia selbst.

Das Flüstern der Hausherrin verstummte. Die Tochter eines großen Hauses, die ihrer Herkunft nach außerordentlich vornehm war und in dem Ruf stand, klüger als ihr Mann zu sein, tat ihre letzten Atemzüge. Sie hatte Wiesen und Jagdgebiete, Vieh und bewegliche Güter in die Ehe eingebracht. Ihren Kindern hatte sie einzigartige Schönheit und die Gabe des Gesangs vererbt. Jetzt musste sie alles zurücklassen und sich zu den Unterirdischen begeben, in das nasse Halbdunkel der Toten.

»Kind, singe für mich. Schläfere mich ein. Hilf mir einzuschlafen.«

Aure hatte diese Bitte schon erwartet. Die Mutter war nicht die erste Sterbende, die sie an den Tuonela, den dunklen Strom des Totenreiches, geleitete. Doch bisher hatte die Mutter sie immer dabei unterstützt und ihr vorgesagt, wenn ihr ein Wort oder eine Zeile nicht einfiel. Jetzt musste Aure ihre eigene Lehrmeisterin an das öde Ufer geleiten.

Aure stimmte das Schlaflied an, sie sang zunächst leise und unsicher, dann immer heller, immer klarer. Das Stimmengewirr verstummte. Einige Frauen, die erfahrensten, begannen zu weinen, noch zur Probe, doch schon bald bereit zu starker Klage.

Aure ließ ihre Stimme erklingen, so wie die Mutter es sie gelehrt hatte. Das Lied der Schlafbringerin durfte weder ein Schreien noch ein Krächzen sein. Nicht laut, aber klar. Die Stimme musste sicher sein, damit der Schläfer sich sicher fühlte. Sie musste weich sein, damit die Schläferin nicht zusammenfuhr.

Für das Schlaflied brauchte man eine ganz besondere Stimme, eine sanfte Mischung von Klingen und Summen. Durch Unterweisung wurden aus Menschen, die eine solche Stimme besaßen, große Schlafbringer, die man rief, damit sie Kranken und Sterbenden die Qualen des Lebens und Sterbens linderten.

Aalto hatte ihre Tochter so gut unterrichtet, dass die Leute des großen Hauses, Krieger, Diener und Sklaven, in ruhigen Halbschlaf glitten und mit halbgeschlossenen Augen an der Grenze von Schlafen und Wachen schwebten. Launia schlief schnarchend auf der Hausherrenbank, das Kinn war ihm auf die Brust gefallen.

Nur Lyy beobachtete mit seinen eisblauen Augen die zwischen Licht und Dämmer stehende Schwester. Sie presste die Hände zusammen, so wie man es beim Singen zu tun pflegte. Ihr Hals war gerade und angespannt, ihr schmales Gesicht ernst, ihr Ausdruck konzentriert. Die roten Locken lagen, im Nacken zu einem Zopf geflochten, auf dem Hemd aus Leinen. Das Mädchen war zart, keine derbe angehende Bäuerin.

Die Heftigkeit des Gesangs störte Lyy. Aure hatte erst vierzehn Winter gesehen und brachte schon ein Haus voller Leute zum Einschlafen. Lyy war sich nicht sicher, ob die Kunst der Schwester von Vor- oder von Nachteil war. War das Singen eine Fähigkeit, die Neid erweckte? Vielleicht war sie so wie das Opfern. Besser, man machte nicht zuviel Aufhebens von dem Singen, bevor klar war, welchen Nutzen man daraus ziehen konnte.

Die einschläfernde Melodie brach plötzlich ab.

»Öffnet die Tür, damit die Seele hinaus kann«, befahl Aure.

Das erste Klagen ertönte. Die Klageweiber machten sich an die Arbeit.

 

Das Silber der Fibel funkelte in der Sonne. Aure wog den Schatz in der Hand und bewunderte seine Gravuren. Die Schließe war eine Handelsware gotländischer Herkunft, von der Insel, von der viele schöne Gegenstände nach Lieto gekommen waren.

Die Quelle lag blinkend vor Aure, ruhig und geheimnisvoll. In ihr spiegelten sich die Bäume des Waldes; ein Loch im Boden mit dunklem Wasser, eine Öffnung, die ins Totenreich Mana führte. Sie war Aures eigene Quelle, ihr Geist war Aures eigener Geist, dem sie von klein auf geopfert hatte. An den Rändern der Quelle besiegte das Frühlingsgrün allmählich das braungefrorene Gras.

Aure seufzte traurig. Die Fibel war kostbar. Sie hätte sie gern behalten. Aber sie musste der Quelle von allem einen Teil geben, sonst würde der Geist zürnen. Aure wusste nicht, was geschehen würde, wenn der Geist zürnte; sie begütigte ihn immer reichlich.

Aaltos schönste Schmuckstücke waren zusammen mit dem Leichnam verbrannt worden. Das schwarze, geschmolzene Metall war zusammen mit der Asche und den Knochenstückchen begraben worden. Dennoch waren Aure noch Fibeln, Armreife und Anhänger geblieben. Sie besaß auch selbst welche, Schmuckstücke, wie die Tochter aus mächtigem Hause sie von den Verwandten bekam.

Aure öffnete die Hand und ließ die Fibel fallen. Sie plumpste matt und verschwand sofort.

»Ruhig, Quelle, liebe Quelle,

wirf keinen scheelen Blick auf mich.«

Den Zauberspruch hatte Aure sich selbst ausgedacht. Sie war auch stolz darauf, obwohl sie vermutete, dass die wahren Zauberer darüber lachen würden. Die Quelle beruhigte der Spruch, denn sie spuckte das Opfer nicht aus, so wie manche Opferstellen es angeblich taten.

Aure schaute zu ihrem Heimathaus hinüber. Launiala lag in Sichtweite der Quelle. Sonst hätte Aure auch gar nicht in Begleitung nur einer einzigen Magd opfern gehen können, sie, das vornehme junge Mädchen, ebenso begehrenswert wie eine wandelnde Schatztruhe.

Das Haus Launiala im Geiselgau Lieto ragte auf einem Höhenrücken auf, der von Südosten nach Nordwesten um das Ufer des fischreichen Launiasees einen Bogen schlug. Am Endpunkt des Höhenrückens befand sich eine Bucht, in der der ruhig dahinströmende Launiafluß entsprang. Er schlängelte sich ein kurzes Stück dahin und mündete dann in den Aurafluss.

Einen besseren Platz hätten die Ahnen von Launiala kaum finden können. Der See gab ihnen Fische, die Uferwiese Gras, und im Wald fand sich reichlich Schwendland. Auch ständig bebautes Ackerland gab es an den Ufern des Launiasees. Die Stellung des Hauses oben auf dem Höhenrücken war leicht zu verteidigen, und sie war durch einen Wall aus Steinen und Baumstämmen befestigt. Bei Gefahr konnte man sich einfach den Fluss entlang in den Schutz der Burg von Lieto begeben. Kein Mensch konnte sich daran erinnern, dass Launiala zu seinen Lebzeiten jemals niedergebrannt worden wäre.

Das Haus war nicht nur durch seine hohe Lage, die gutgeplante Verteidigung und die Schwerter der Männer geschützt. Die Familie des Stammesführers griff man nicht ohne Weiteres an, obwohl viele Leute Hass gegen ihn hegten. Die Leute von Launiala waren hochmütig und skrupellos, sie nahmen sich immer, was ihnen zustand, und noch mehr. Die Launias waren seit Menschengedenken Richter, Vollzieher des Opfers und Krieger von Lieto gewesen. Die Männer von Launiala besaßen Schwerter mit silbernem Griff, während die anderen mit der Streitaxt in der Hand daherstapften. Die Frauen von Launiala trugen Ketten aus Silber auf der Brust, während die Bauersfrau sich mit nachdunkelnder Bronze begnügen musste.

Aure war im Schutz des großen Hauses aufgewachsen, die verwöhnte, einzige Tochter. Sie hatte nichts anderes zu tun als Schlaflieder zu lernen, Garne zu färben und prächtige Kleider zu weben. Es hieß, sie sei so schön wie ihre Mutter. Sie wusste, dass das nicht stimmte. Auf der Wasseroberfläche im Zuber sah sie einen breiten Mund, eine große Nase, allzuhohe Wangenknochen und eine rote Kraushaarmähne. Die konnte man sich überhaupt nicht als vornehme goldene Lockenpracht vorstellen. Am schlimmsten war die Haut: Sie war über und über voller Sommersprossen und wurde nicht einmal durch Waschen mit Morgentau rein.

Aure war nicht besonders betrübt über ihre Hässlichkeit. Auf das Aussehen kam es nicht an, wenn die Familie reich und mächtig war. Aure war Herrin von Launiala, bis Lyy eine Schwiegertochter ins Haus bringen würde. Der Bruder hatte es nicht eilig, sich eine Ehefrau zuzulegen: Darüber gab es ständig Streit zwischen Vater und Sohn. Lyy fand niemanden, der ihm ebenbürtig war, und eine schlechtere Frau wollte er nicht.

Aure war es durchaus recht, allein über das Gut zu herrschen. Sie war jung, aber wohlunterrichtet. Eines Tages – in vier bis fünf Wintern – würde sie in das Gut ihres Mannes ziehen, in ein gleichwertiges großes Haus und in eine mächtige Familie. Das Leben war schön und sicher und würde es immer sein.

2. Kapitel

1066

Der Sklave sah Purha von der Seite an.

»Herr. Lyy hat Launiala verlassen.«

Purha gab einen abwehrenden Laut von sich. Aber es gefiel ihm, dass man ihn Herr genannt hatte, und das wusste der Sklave.

Palpa, der Sohn einer von der Schärenküste geraubten Frau und eines Erbsklaven, war sein Leben lang Sklave im Hause Paatela gewesen. Er wusste sehr genau von Purhas schmerzhaftem Minderwertigkeitsgefühl. Manchmal, wenn Palpa zu Boshaftigkeiten aufgelegt war, ärgerte er Purha, indem er ihn wie einen Blutsbruder behandelte: waren sie doch beide Söhne einer Sklavin. Purha verprügelte Palpa, aber er war nicht Manns genug, den Ziehbruder zu töten.

»In Richtung Piikkiö«, fügte der Sklave hinzu. »Lyy ist hier mit den Kriegern von Launiala auf dem Weg zum Hause Lempilä in Piikkiö vorbeigeritten. Zwanzig Mann, Herr. Das ist so weit weg, dass sie dort übernachten müssen. In Lempilä wird irgendetwas geplant. Launiala ist fast leer.«

»Seltsam, dass sie das Gut ohne Schutz zurücklassen.«

»Wer würde schon Launiala angreifen.« Der Sklave zuckte die Achseln. »Alle meiden Launiala, auch wenn dort niemand sonst wäre außer der jungen Tochter.«

»Lyy ist ein schneller Rächer«, knurrte Purha. Er erinnerte sich an einen gehäuteten Mann und an einen anderen, der lange auf glühenden Kohlen hatte sitzen müssen.

»Lyys Rache löscht die ganze Sippe aus. Es ist nicht üblich, auch nur ein einziges Schoßkind am Leben zu lassen.«

»Es sei denn, es ist die eigene Familie«, bemerkte Palpa. »Und wenn der Räuber der eigene Schwager ist.«

»Lyy hat keinen Schwager.«

»Doch, wenn du die Schwester raubst und sie beschläfst«, sagte der Sklave geduldig. »Der Mann der Schwester ist der Schwager, und was kann man gegen den Schwager ausrichten? Die eigene Familie kann man nicht umbringen.«

Purha dachte angestrengt nach. Sie saßen am Ufer der Insel Kuusisto, der elende Sohn des Hauses Paatela und sein Sklave. Sie hatten nichts zu tun, denn Ihanti ließ es nicht zu, dass Purha in Paatela irgendeinen Schaden anrichtete.

Purha hatte einen Winter lang am Tisch des Hauses Launiala gegessen, hatte zu dessen Kriegern gehört und stolz die Streitaxt getragen. Eine wunderbare Zeit. Purha hatte das Gefühl gehabt, ein ebenso stolzer Mann zu sein wie die berühmten Krieger des Gutes. Doch dann behauptete Launia, Purha würde ganz umsonst gefüttert.

»Im Kampf bist du den anderen im Wege, du kümmerst dich nicht um die Waffen und kannst keine Geschichten erzählen. Wenn du es wenigstens lernen wolltest, könnte ich dich vielleicht dulden. Aber du prahlst und spielst dich auf, obwohl du ein Nichts bist.«

»Ich bin ein Verwandter«, sagte Purha gekränkt.

»Nur deshalb schlage ich dich nicht zum Krüppel«, zischte Launia. »Geh nach Hause zu deinem Vater und versuche, ein Mann zu werden.«

In dem großen Hause Launiala konnte man es sich leisten, einen erwachsenen Mann davonzujagen. Jedes Haus lockte Männer an seinen Tisch; je mehr Krieger es hatte, desto stärker war es. Das beste Lockmittel war ein berühmter Hausherr.

Purha kehrte verbittert nach Paatela zurück, wo er seinem Bruder auf die Nerven fiel. Mit der Zeit sammelte er Männer um sich, die er Krieger nannte, obwohl nur wenige von ihnen eine bessere Waffe als eine Keule besaßen. Ihanti akzeptierte die Leute jedoch unter dem Dach von Paatela, denn es herrschte ständig Mangel an Arbeitskräften. Purha bildete sich ein, Lyy würde ihn gern wieder in Launiala aufnehmen, wenn er einige erfahrene Krieger mitbrächte. Doch Lyy hatte sich die Schar der Knechte von Paatela voller Verachtung angesehen.

»Das sind keine Krieger, und sie haben keine andere Erfahrung als die, dass sie Missetaten begehen.«

Die Männer verteilten sich auf die Häuser der Umgebung. Jetzt würde man sie schnell zusammenbekommen und, was das beste war, ohne Ihantis Wissen. Purha wusste, dass Ihanti einen Mädchenraub nicht billigen würde, am allerwenigstens einen aus dem Hause des Oberhauptes der Sippe.

Purha erinnerte sich verbittert daran, wie Lyy seine vorfühlende Brautwerbung abgeschmettert hatte. Ein schneller Schlag, dreist und unerwartet, würde den Richter von Lieto veranlassen, seinem Verwandten mit Respekt zu begegnen. Lyy hatte nicht begriffen, was für einen Krieger sein Vater aus Launiala vertrieben hatte.

»Ein grandioses Unternehmen.« Purha stand plötzlich auf. »Eine Ruhmestat für einen kühnen Mann.«

»Und das Mädchen ist schön, so wie es zu einer solchen Geschichte gehört«, bemerkte der Sklave.

»Häh? Mädchen?«

»Die Tochter des Hauses Launiala.«

»Ja.« Purha konnte sich an keine anderen Einzelheiten als an ihr rotes Haar und die Sommersprossen erinnern. »Die ist nicht viel wert. Aber ich will sie nicht wegen ihres Aussehens rauben.«

»So etwas passiert nur in albernen Liedern«, bestätigte der Sklave.

»Von einem Mädchenraub werden immer Lieder gemacht«, kam es Purha in den Sinn. »Dies wird ein ruhmvoller Raubzug. Die Leute werden lange von uns sprechen. Man kann ja die Frau als schön beschreiben. Die Liederdichter lügen immer.«

 

Die eilig zusammengerufenen Keulenschwinger waren letztlich unnütz und eher hinderlich. Nur Purha hatte ein Pferd. Auf dem Weg über den Höhenrücken nach Launiala musste er sowohl seinen Eifer als auch das Pferd zügeln.

Das Gebäude wirkte bedrohlich, wenn man es vom Fuß des Höhenrückens aus betrachtete. Das Reetdach schien die tief hängenden Wolken zu berühren. Die mächtigen Baumstämme des Schutzwalls warteten nur darauf, auf die Eindringlinge herabzupoltern. Purha wäre umgekehrt, wenn nicht vom Eingangstor her ein Willkommensruf erschallt wäre. Der Wachmann hatte die Verwandten des Hauses am Ende des Pfades erspäht und machte einladende Gebärden. Purha und seine Helden traten ein, ohne zu den Waffen zu greifen.

Blauer Rauch schwebte in schwindelnder Höhe unter dem Dachfirst des Hauses. Die Feuergrube hatte eine Länge von zwei, wenn nicht drei Mann, doch nur an einem Ende brannte ein Feuer. Auf den aufgeschichteten Steinen stand ein schwarzer Kessel, aus dem kräftiger Duft nach Fischsuppe aufstieg. Purha traten die Tränen in die Augen: Der Frühling war eine elende Zeit, nicht einmal in einem Hause von der Größe Paatelas konnte man sich jeden Tag satt essen.

Neben dem Kessel machte sich eine betagte Magd zu schaffen. Abseits stand die Tochter des Hauses, sie, die Purha rauben wollte.

»Willkommen, Vetter«, lächelte das Mädchen, so als wäre sie die Hausfrau. »Ihr kommt gerade recht zum Essen, Männer.«

Purha sah sich das Mädchen genauer an als früher. Eine Schönheit mit Mondscheinhaar so wie in den Liedern war sie wirklich nicht. Es könnte schwierig werden, sich an die Sommersprossen zu gewöhnen. Die hatte sie überall im Gesicht, besonders auf den hohen Wangenknochen. Aber im Bett konnte man die Augen zumachen, und anderswo brauchte er seine Frau ja nicht anzusehen. Auch ihre Haare waren sonderbar: Bei einem so vornehmen Mädchen erwartete man eine schwere, über den Busen herabfallende goldene Flechte. Doch Aure von Launiala hatte einen roten Hexenbesen auf dem Kopf. Daraus stieg nach allen Seiten Kraushaar auf wie wilde Vögel.

Immerhin hatte sie blaue Augen, Lyys Augen, so hell, dass sie einem Angst machten. Das tiefe Blau der Iris war von einem dunklen Ring umgeben. Wimpern und Brauen waren dunkler als bei Lyy und wahrscheinlich von der Mutter ererbt, da der alte Launia wasserhell war.

Es wäre nicht verkehrt, wenn die Männer Essen bekämen, da die Suppe offenbar fertig war. Der Rückweg von Launiala nach Paatela würde bis weit in die Sommernacht hinein dauern. Dann würde es auch allerlei zu tragen geben. Das Mädchen würde hinter Purha im Sattel sitzen, aber die Männer würden all die Sachen schleppen müssen, die Purha aus Launiala mitnehmen wollte.

»Möchten deine Männer am Tisch essen? Die Leute sind auf den Feldern und im Wald bei der Arbeit. Wir haben jetzt so wenige Männer im Hause, dass sie nicht ausreichen, um den Tisch aufzustellen, aber wenn deine Krieger wollen, können sie die Platte selbst auf die Beine setzen.«

Das war eine gute Nachricht für Purha. Er sagte, auf die Tischplatte komme es nicht an.

»Jeder kann auf der Pritsche sitzen und aus dem Napf essen.«

Eine aufgebockte lange Tischplatte füllte ein Haus aus. Dann war es unmöglich, mit voller Kraft zu kämpfen. Allerdings gab es hier keine Krieger, gegen die man hätte kämpfen müssen.

Aure versuchte, den alten Richter zu wecken. Launia schlief in einer prächtigen Bettkammer im hinteren Teil des Hauses. Auf die Tür der Kammer waren zur Abwehr des Bösen rote Muster gemalt. Die Bettwäsche war aus weißem Leinen und labkrautroter Wolle.

Der alte Mann knurrte böse, drehte sich mühsam auf die andere Seite und sank wieder in Schlaf. Aus der Bettkammer strömte der Geruch eines ungewaschenen Körpers. Purha verzog das Gesicht. Der alte Mann ließ sich nicht in der Sauna baden. Das war ein sicheres Zeichen für das Ende.

Aure zuckte die Achseln und lächelte, um Verzeihung bittend. Beim Lächeln zogen sich ihre vollen Lippen auseinander und entblößten eine Reihe von Zähnen, in der es noch keine einzige Lücke gab. Purha saugte an seiner Lücke, er hatte bei einem Handgemenge einen Schneidezahn eingebüßt. Das Mädchen war erträglich, wenn man die Augen zusammenkniff, so dass die Sommersprossen sich verwischten.

»Vater würde euch gern begrüßen …«

Purha verzog den Mund.

»In letzter Zeit ist er immer müde«, erklärte das Mädchen. »Das ist die Erschöpfungskrankheit. Daran wird er sterben, wenn er auch nicht mehr essen kann.«

»Launia wird schon wieder munter werden, wenn er aufwacht und merkt, dass seine Tochter und der Schatz geraubt sind«, sagte Purha bösartig.

Das Mädchen trat einen Schritt zurück.

»Machst du dich über mich lustig, Vetter?«

»Ich werde dich rauben«, erklärte Purha und packte das Mädchen fest am Arm. »Männer, dort hinten, neben der Bettkammer steht eine große Truhe. Darin ist der Schatz von Launiala. Nehmt ihn und was ihr sonst noch haben wollt und tragen könnt. Dann gehen wir.«

Purha wußte, dass der wahre Schatz von Launiala sich nicht in der langen, mit Schnitzereien verzierten Truhe befand – der Schatz eines so mächtigen Hauses war an einer Stelle vergraben, die nur dem Hausherrn, der Hausfrau und einem Sohn bekannt war. Wegen seiner Männer spielte Purha den Zufriedenen. Die Männer schleppten die schwere Truhe zur Tür.

»Sollen wir hineinsehen?«

Purha nickte. Die Truhe wurde geöffnet. Sie enthielt teure Waffen, vier Schwerter und ebenso viele Dolche sowie zwei geschmiedete Helme. Die Männer brüllten vor Begeisterung. Keiner von ihnen würde jemals im Leben solche Waffen erstehen können, selbst wenn er sich selbst als Sklave verkaufte.

»Mein Bruder Lyy«, sagte Aure von Launiala, »wird Räuber, die seine Waffen anrühren, nicht freundlich behandeln.«

Erst jetzt begriff Purha, dass das Mädchen nicht schrie oder sich zur Wehr setzte, so wie es sich für ein geraubtes Mädchen gehörte. Das Mädchen hatte recht. Lyy würde die Ehe seiner Schwester akzeptieren, wenn er dazu gezwungen sein würde. Doch den Raub seiner Luxuswaffen würde Lyy nicht verzeihen.

Purha konnte jedoch nichts mehr tun. Die Männer bewunderten die Waffen, teilten sie untereinander auf und fingen schon an, sich zu streiten, weil nicht für jeden ein Schwert da war. Purha erkannte, dass es rasch aufzubrechen galt, bevor es zu einer Schlägerei kam.

Der eine rollte die Decke mit den leuchtenden Farben von der Bank des Hausherrn zu einem Bündel zusammen, ein anderer schnappte sich einen eisernen Kerzenständer. Diejenigen, die ein Schwert hatten, konnten nichts anderes nehmen. Niemand hatte einen Schwertgürtel, so dass die schwere Waffe mit beiden Händen getragen werden musste. Einer der Männer kam darauf, sich das Schwert über die Schulter zu legen wie eine langschäftige Streitaxt.

Die Beute war gering. Vielleicht würde Lyy nicht böse sein, wenn das Haus nahezu unberührt blieb. Doch den Wachmann mussten sie niederschlagen, und da schrie das Mädchen zornig auf. Purha versetzte ihr einen Schlag ins Gesicht, und sie schwieg still. Es schauderte Purha, eine vornehme Frau zu schlagen. Dann aber dachte er, es wäre nur gut für das Mädchen, wenn sie wüsste, wer von nun an der Herr war.

 

Ihanti von Paatela starrte wortlos die Männer an, die in der hellen Sommernacht auf dem Gut Paatela standen und glotzten. Purha grinste triumphierend. In der Faust hielt er das Ende eines Stricks. An dessen anderem Ende war ein junges Mädchen mit gefesselten Handgelenken. Ihanti erkannte sie sofort, obwohl er sie nur einmal auf dem Gerichtstag von Lieto gesehen hatte. Eine wie sie vergaß man nicht so leicht.

Angst und Wut schnürten Ihanti die Kehle zu. Er musste husten und sich räuspern, bevor er sprechen konnte.

»Hast du die Frau beschlafen?«

»Dazu hatte ich keine Zeit«, verteidigte sich Purha. »Ich mache mich an die Arbeit, sobald du zur Seite trittst.«

Ihanti wischte sich mit dem Handrücken die Stirn. Vielleicht war noch etwas zu machen, da sein verantwortungsloser Bruder das Mädchen noch nicht angerührt hatte.

»Werft alle Sachen aus Launiala zu Boden.«

Die Männer murrten. Ihanti brüllte. Seine Krieger traten träge einen Schritt vor. Die geraubten Waffen und die Helme fielen klirrend zu Boden.

»Sperrt sie in die Speicher.«

»Rühr meine Männer nicht an!«

»Das sind Tote und keine Männer«, lachte Ihanti schrill. »Ich übergebe sie gern Lyy von Launiala, und wenn er sie zu Fuchsködern zerstückelt.«

»Nun sei doch nicht so nervös, Bruder. Von Lyy steht nichts zu befürchten«, prahlte Purha. »Er ist mein Schwager!«

»Dass dich der Sumpfgeist hole! Du hast deine Familie in Tod und Verderben gestürzt. Du Bastard! Du Sklave! Am liebsten würde ich dir den Kopf abschlagen und ihn Lyy bringen.«

»Ich habe dem Hause Paatela eine Schwiegertochter aus großem Hause verschafft, und du beschwerst dich.«

»Glaubst du denn, dass Lyy jemals einwilligen wird, seine Schwester dem Sohn einer Sklavin ins Bett zu legen?«

»Es ist zu spät, sich zu widersetzen«, entgegnete Purha schlau. »Die Frau ist bei mir.«

»Du wirst die Tochter von Launiala nicht anrühren.«

»Verstehst du denn nicht, Mann? Ich beschlafe die Frau, und danach muss Lyy in die Ehe einwilligen.«

»Ich will mir gar nicht vorstellen, was Lyy mit deinem Gekröse macht, wenn du seine Schwester vergewaltigst.«

Purha scherte sich nicht um Ihantis Drohungen.

»Lyy kann zufrieden sein, wenn niemand erfährt, wie er seine einzige Schwester schutzlos den Räubern überlassen hat.«

Ihanti schwieg einen Augenblick. Purha in seiner Dummheit konnte sogar recht haben. Für Lyys Ruf wäre der Vorfall nicht förderlich.

»Ich habe vor, Launiala auch noch eine Mitgift abzupressen.« Purha war durch das Zaudern des Bruders ermutigt.

Ihanti schüttelte den Kopf.

»Lyy ist ein Mann, dem es gleichgültig ist, was die Menschen über ihn sagen. Das macht ihn so gefährlich.«

»Es kann ihm nicht gleichgültig sein. Er ist der Richter von Lieto.«

»Du Dummkopf kennst deinen Vetter überhaupt nicht, obwohl du ihm schmeichelst, dass die Spucke spritzt. Wenn es mir nicht gelingt, diese Sache ins Reine zu bringen – wenn der Besitz von Paatela für die Strafe nicht ausreicht – kommt Lyy mit seinen Männern, steckt uns in Brand und verfüttert die Asche an die Fische.«

»Er kann Paatela nicht vernichten. Seine Schwester ist hier.«

Ihanti sah seinen Stiefbruder mitleidig an. Purhas dreieckiges Gesicht schnitt unter dem Helm Grimassen. Der Mann kaute an seinem dünnen Schnurrbart. Im Nacken standen ihm die braunen Haare ab.

»Lyy von Launiala verbrennt, ohne mit der Wimper zu zucken, sogar seinen eigenen Vater, wenn die Ehre es verlangt. Er ist kalt wie Eis, und man kann ihn nicht besänftigen.«

Purha brach der Schweiß aus. Er ließ den Strick los, der dem Mädchen die Hände band.

»Bruder, gehen wir ins Haus.«

Ihanti nickte. Er wollte nicht, dass die Männer von Paatela die Beratung mit anhörten. Er bestimmte eine Wache für die Nacht, obwohl er nicht glaubte, dass schon Gefahr drohte.

Aure schwankte, als Purha sie in das Hallenhaus Paatela hineinstieß. Ihanti wunderte sich über die Ruhe des Mädchens. Sie jammerte nicht, drohte nicht mit der Rache ihres Bruders. Ihanti kam ein sonderbarer Gedanke. Bei den Frauen wusste man nie.

»Mädchen, möchtest du meinen Bruder Purha heiraten?«

Die Hausleute starrten dem Wuschelkopf erwartungsvoll ins Gesicht: Purha und seine Mutter Liula, eine kleine, brünette Sklavin, die neben der Feuergrube kauerte, die alte Herrin Mehi auf der Bettpritsche und Ihanti selbst.