Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Prolog
  7. Kapitel 1
  8. Kapitel 2
  9. Kapitel 3
  10. Kapitel 4
  11. Kapitel 5
  12. Kapitel 6
  13. Kapitel 7
  14. Kapitel 8
  15. Kapitel 9
  16. Kapitel 10
  17. Kapitel 11
  18. Kapitel 12
  19. Kapitel 13
  20. Kapitel 14
  21. Kapitel 15
  22. Kapitel 16
  23. Kapitel 17
  24. Kapitel 18
  25. Kapitel 19
  26. Kapitel 20
  27. Kapitel 21
  28. Kapitel 22
  29. Kapitel 23
  30. Kapitel 24
  31. Kapitel 25
  32. Kapitel 26
  33. Kapitel 27
  34. Kapitel 28
  35. Kapitel 29
  36. Kapitel 30
  37. Kapitel 31
  38. Kapitel 32
  39. Kapitel 33
  40. Kapitel 34
  41. Kapitel 35
  42. Kapitel 36
  43. Kapitel 37
  44. Kapitel 38
  45. Kapitel 39
  46. Kapitel 40
  47. Kapitel 41
  48. Kapitel 42
  49. Kapitel 43
  50. Kapitel 44
  51. Kapitel 45
  52. Danksagung

Über dieses Buch

Beckomberga, Stockholm: Hier lag einst eine der größten psychiatrischen Anstalten Europas. Inzwischen ist auf dem Gelände eine exklusive Wohngegend entstanden. Hierhin zieht auch Svante Levander mit seiner neuen Liebe. Als er auf dem Heimweg hinterrücks ermordet wird, fällt der Verdacht auf seine Ex-Frau. Sie wird verhaftet. Aber ist sie schuldig? Nur eine Person könnte bezeugen, was wirklich vorgefallen ist: eine Frau, die in unmittelbarer Nähe saß und bettelte. Doch die ist spurlos verschwunden.

Über die Autorin

Tove Alsterdal, 1960 in Malmö geboren, lebt heute in Stockholm. Sie hat als Journalistin sowie als Autorin für Theater und Film gearbeitet. Seit 2009 veröffentlicht sie mit großem Erfolg Kriminalromane. TÖDLICHE HOFFNUNG war ihr Debüt, das Leser und Kritiker gleichermaßen begeisterte. Auch ihr zweiter Krimi, TÖDLICHES SCHWEIGEN, war in Schweden ein Bestseller. All ihre Romane sind Stand-Alones, und sie zeichnen sich durch mitreißende Milieuschilderungen, beeindruckende Schauplätze und spannende Kriminalfälle aus. DIE VERSCHWUNDENEN VON JAKOBSBERG, ihr dritter Kriminalroman, wurde von der Swedish Crime Academy als »Bester schwedischer Krimi des Jahres 2014« ausgezeichnet. Ihre Krimis erscheinen mittlerweile in zwanzig Ländern.

TOVE
ALSTERDAL

Die einzige Zeugin

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von
Hanna Granz

Prolog
BECKOMBERGA
Mitte der 1990er-Jahre

Die Dämmerung folgte ihr ins Haus hinein. Kein Radio war zu hören, keine Schreie. Sie hatte nicht gewusst, dass Stille so groß sein konnte.

Wie in einer Stadt nach einer Atombombenexplosion, dachte sie, wenn nur noch die Häuser übrig sind und von ihrer ehemaligen Existenz zeugen.

Geblieben waren der Uringestank sowie der Geruch nach alten Aschenbechern. So ohne Weiteres ließen sich die Spuren menschlichen Lebens dann doch nicht auslöschen. Sie konnte das Schlurfen der Pantoffeln noch hören, das unruhige Trippeln auf dem pissgelben Linoleum. In den Fluren nahm sie die Schatten derer wahr, die um Gnade gebettelt hatten oder um die nächste Zigarette. Wäre jetzt ein Teller auf sie zugeflogen oder Exkremente, sie hätte sich lediglich geduckt, ohne sich weiter darüber zu wundern, ein Reflex, der auch nach so vielen Jahren noch tief im Nervensystem verwurzelt war. Wedelnde Arme, Köpfe, die gegen Wände schlugen, wild zappelnde Beine, die festgeschnallt werden mussten, Hände, die ins Haar griffen und es mitsamt den Wurzeln ausrissen, das Grundrauschen ängstlichen Wimmerns und zwanghaften Brabbelns, die ganze eingesperrte Wut. Brennen muss es, brennen, Sünder und Teufelsficker, Schwanzrubbler und Hurenböcke, du, der du uns vergiftest, das ist der Tod, der Tod, alles wird brennen und in der Hölle schmoren, die Duschen sind verstrahlt, die Wände sind verstrahlt, die Sozialtherapie ist verstrahlt, Jesus sieht mich, glotzt mich nicht die ganze Zeit so an, verfluchte Kotfresser, Flachwichser und Spione, fick meine Fotze, du Teufelsmörder …

In einem der Räume entdeckte sie einen vergessenen Putzwagen. Kein chronischer Alkoholiker würde je wieder hier hereinschleichen, um Reinigungsmittel zu trinken. Ein Gurt an einem verlassenen Bett. Sie holte ihr Schlüsselbund heraus, obwohl es nun keine Rolle mehr spielte. Das vertraute Gewicht in ihrer Hand, plumpe Metallstifte, um Gurte und Fenster zu öffnen, all die Schlüssel, die den Unterschied zwischen einem gesunden Menschen und einem kranken definierten. Sie fragte sich, ob es ihr gelingen würde, sich an das Neue zu gewöhnen. Vielleicht hatten das Unergründliche und die Verzweiflung an diesem Ort sie geprägt, so als wäre es die Normalität oder zumindest der Platz, an den sie gehörte.

Es kratzte am Fenster. Schabte und schrammte über die Scheibe. Ulla drehte sich um, doch da war nichts. Einbildung, dachte sie, oder vielleicht ein Geräusch aus der Vergangenheit.

Etwas Bleiches huschte draußen vorüber. Sie trat näher, auf alles gefasst, aber ohne Angst. Es gab Gespenstergeschichten, die von alters her überliefert wurden, über die Seelen der Verdammten, die durch die unterirdischen Gänge Beckombergas irrten. Doch sie selbst hatte natürlich noch nie eine getroffen. Wenn jemand sich abends um diese Zeit im Park der ehemaligen Anstalt aufhielt, so war dies selbstverständlich ein Mensch, und mit Menschen konnte sie umgehen, auch mit denjenigen, die von anderen als gefährlich oder unmenschlich betrachtet wurden, denn sie wusste, dass es nur graduelle Unterschiede gab beim Mysterium namens Mensch.

Jetzt konnte sie das Gesicht hinter der bruchsicheren Scheibe klar erkennen. Augen, die sie anstarrten, ein Körper, der niemals stillstand, Hektik und Nervosität, strähniges Haar. Der Mann mochte um die vierzig sein, so etwas ließ sich schwer einschätzen an einem Ort wie diesem, an dem Menschen bereits im Alter von zwanzig Jahren alt sein und ihre Erinnerung verlieren konnten oder auf ewig Kinder blieben. Um seinen Hals leuchtete es weiß, trug er einen Patientenkittel? Oder eine Personaluniform?

Ulla versuchte, beruhigend auf ihn einzureden, was er natürlich nicht hören konnte. Aber so machte sie es, sie redete mit den Menschen, egal in welcher Situation und wer immer sie sein mochten. Der Mann bewegte den Mund. Schrie oder kaute er, oder wollte er ihr tatsächlich etwas Böses? Sie bekam den schwersten Teil des Schlüsselbunds zu fassen, den, der immer Löcher in die Taschen riss, und öffnete das Fenster.

Der Mann machte einen Satz und stolperte. Dann rannte er Richtung Medizinisches Zentrum davon, vornübergebeugt und in langen Sätzen.

»Warten Sie, kann ich Ihnen helfen?«, rief sie ihm hinterher. »Ich bin Schwester Ulla, Ulla Andersson, brauchen Sie irgendetwas?«

Kurz tauchte die dunkle Gestalt noch einmal im Lichtkegel einer Laterne auf, dann war sie fort. Ulla konnte gerade noch ein paar flatternde braune Hosenbeine erkennen. Es war eindeutig Patientenkleidung. Einen Moment blieb sie stehen, während die Dunkelheit sich blau herabsenkte.

Es würde bestimmt noch kälter werden heute Nacht.

Sie nahm ihre letzten persönlichen Dinge aus dem Spind und sah nach, ob auch keine Medikamente oder Wertsachen von Patienten vergessen worden waren. Einige Packungen Decentan und Hibernal. Eine Brille, eine Uhr. Das ist alles, dachte sie, und kurz kam ihr der Gedanke, das Bild mit dem blauen Vogel mitgehen zu lassen, als Andenken. So viele Jahre hatte es hier im Eingangsbereich gehangen, dass sie es nur noch selten richtig wahrgenommen hatte.

Es fühlte sich falsch an, es einfach herunterzunehmen, es gehörte dorthin. Und sie wusste auch nicht genau, ob sie sich an alles erinnern wollte.

Auf dem Weg nach draußen öffnete sie die Tür zur Spülküche. Hier war der Geruch nach Urinbeuteln und Pfannen bereits verschwunden, alles war ein letztes Mal sterilisiert worden. Ulla überprüfte, ob auch hier keines der hochgiftigen Reinigungsmittel mehr herumstand. Mit so etwas hatte eine Hilfsschwester in Malmö in den Siebzigerjahren vierundzwanzig demenzkranke alte Leute vergiftet.

Von der Spülküche aus führte eine weitere Tür in den Hinterhof. Ulla ließ Dunkelheit und Frühlingsluft herein und merkte plötzlich, dass sie fror.

Hier hatten die Pfleger oft auf der Treppe gesessen und geraucht und sich unterhalten. Manchmal hatten sie die Tür auch als Abkürzung benutzt, um schneller mit den Patienten nach draußen zu gelangen, hatten im Sommer Tisch und Stühle hinausgestellt, um hier mit ihnen Kaffee zu trinken. Sie spähte in die Dunkelheit und die versteckten Winkel zwischen den Häusern, um nachzusehen, ob der Mann wieder aufgetaucht war. Er war ihr bekannt vorgekommen. Nicht von einer ihrer eigenen Stationen, aber die Patienten, die schon lange in Beckomberga waren, erkannte sie meist dennoch.

Ein Bild entstand vor ihren Augen, von einem Schiff mit schwarzen Segeln, das aus der Vergangenheit auftaucht, getragen von jahrhundertealten Fluten. Das Schiff der Narren, beladen mit den Wahnsinnigen und Verlorenen, mit den Landstreichern und Unglückseligen, die in den Städten keinen Platz haben, dazu verurteilt sind, in Häfen anzulegen, wo man sie nicht an Land gehen lässt. Eine ewige Reise durch Nacht und Vergessen, begleitet von Schreien aus tiefen Wellentälern: Jesus, Jesus, brennen wird es, brennen …

Sie zog die Hoftür hinter sich zu, allerdings nicht ganz. Einen Spaltbreit ließ sie sie offen.

Dann ging sie zum letzten Mal davon.

Eva Levander-Olofsson war sich gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sich die Grenzen in ihrem Innern verschoben hatten, bis sie eines Abends spät im August von einem der asphaltierten Fußwege in das Wäldchen hinter seinem Haus abbog.

Es brannte Licht, im vierten Reihenhaus.

Im Schutze eines Felsblocks blieb sie stehen. Noch waren die frisch gepflanzten Bäume dicht belaubt, sodass sie sie vollständig verbargen. Der Abend war rasch hereingebrochen, wie so oft im Spätsommer, doch die Wärme hielt sich noch. Sie sah rosa Löwenmäulchen und Stockrosen in den Beeten, die letzten Blüten, ehe der Herbst hereinbrach.

Im Haus war keine Menschenseele zu sehen, doch in einem der Schlafzimmer im oberen Stockwerk brannte Licht, es war das einzige Zimmer, in dem schon Vorhänge angebracht waren. Von der Küche her huschte ein Schatten an der Wohnzimmerwand entlang. Sie waren also zu Hause. Von Bauzeichnungen wusste Eva, wie die Zimmer angeordnet waren. Diese Reihenhäuser gehörten zu den exklusivsten, die in der Gegend errichtet worden waren, aus grauem Ziegel, leicht britischer Stil, mit gebrochenem Dach und großen Fenstern, die mehr preisgaben, als man im Grunde genommen wissen wollte.

Ein weißes Ecksofa sowie ein Tisch aus Marmor und Eiche, eine riesige Deckenlampe, die frei in dem beinahe sieben Meter hohen Raum zu schweben schien. Auf dem Fensterbrett standen weiße Orchideen, aufgestellt in etwas steifer Eleganz, seht her, hier wohnen wir! Ihr erschien das Ganze entweder sehr schick oder sehr gewollt, und ihr wurde ein wenig schwindlig, als sie begriff, dass sie tatsächlich hier stand und es betrachtete.

In den Nachbarhäusern sah sie ähnliche Pflanzen, als gäbe es eine Vereinbarung, ausgerechnet Orchideen ins Fenster zu stellen. Lichtflimmern, Farben und laute Musik strömten über die Wiese, im Nachbarhaus saß ein Junge vor dem Fernseher, in einem anderen trat eine junge Frau ans Fenster. Eva zog sich wieder hinter den Stein zurück. Ob man von drinnen sehen konnte, wer sich in dem Wäldchen verbarg? Eine Gestalt in Sportkleidung, die nicht hierhergehörte, ein Gesicht, ein Albtraum? Vermutlich sah die Frau nur ihr eigenes Spiegelbild in der Scheibe, zumindest schien sie nicht zu reagieren. Es war so hell dort drinnen, so verdammt weiß gestrichen, alles von Spots und Lämpchen erleuchtet, dass keiner merken würde, wenn die Welt draußen unterginge, dort, wo Eva zwischen Baumstämmen und uralten Felsblöcken stand, versteckt in einem Wäldchen aus jungen Pflanzentrieben.

Sie lehnte sich gegen den rauen Stein und roch Moos und Verwesung. Zu ihren Füßen lagen, halb im Boden versunken, Bierdosen und Plastikmüll. Von einer der Terrassen wehte Grillgeruch herüber, dort gab man sich noch immer sommerlichen Vergnügungen hin.

Geh nach Hause, sagte sie zu sich selbst, lass es hinter dir, verarbeite es, tu, was die anderen dir sagen, auch wenn du weißt, dass sie unrecht haben, dass niemand mit Sicherheit sagen kann, was genau in einem anderen Menschen vorgeht. Und vielleicht muss man Liebe ja auch nicht immer verstehen, sondern einfach versuchen, in ihr zu verweilen.

Das war ein Wort, das ständig wiederkehrte, verweilen.

Der Mond verschwand hinter den Wolken. Dann nahm sie auf der Treppe eine Bewegung wahr.

Svante trug seine Zimmermannshose, das war das Erste, was sie sah. Dieselbe, die er immer anhatte, mit Farbflecken aus einer anderen Zeit, Flecken, die beim Waschen niemals herausgegangen waren. Sie hatten die Wände im Schlafzimmer damals zartgrün gestrichen.

Seine Hände auf dem geschwungenen Geländer, die Schultern verspannt. Er müsste Sport machen, dachte Eva, oder zur Massage gehen. Es war eher ein Gefühl als eine Wahrnehmung, etwas, das man sieht, wenn der Körper eines anderen Menschen als physische Erinnerung im eigenen fortlebt.

Sie spürte noch immer, wie sich seine Haut unter ihren Händen anfühlte. Die ein wenig raue, feste Oberfläche und die Muskeln darunter. Die Verspannung in seinen Schultern, wenn sie sie massierte, die Linie, wo sein Hals weicher wurde.

Eva schluckte, als sie sah, wie er das Messer aus der Scheide an seinem Gürtel zog. Ein Lederfutteral, der Schaft aus gemasertem Birkenholz – nichts, was man aus dieser Entfernung hätte erkennen können, doch sie wusste es auch so. Sie selbst hatte es ihm einst zu Weihnachten geschenkt.

An den Wänden entlang stapelten sich flache braune Kartons, ein Zeichen, dass es noch nicht zu spät war. Auch ein paar Umzugskisten standen herum, möglicherweise enthielten sie seine geliebten Schallplatten oder die vielen Bücher über Bunker und die Schlachten des Zweiten Weltkriegs, vielleicht aber auch Sachen von seiner Freundin, die bald die Zimmer füllen würden und bald – dies konnte jeden Tag geschehen – die Illusion von einem Zuhause perfekt machen würden.

Svante schlitzte eines der länglichen Pakete auf und legte es auf den Boden. Ein weiteres Bücherregal. Er las die Anleitung und drehte die Spanplatten hin und her, so etwas hatte er noch nie gut gekonnt, auch wenn er es selbst nicht zugegeben hätte. Einfache handwerkliche Tätigkeiten langweilten ihn, er mochte es nicht, Anweisungen zu befolgen. Lieber entwarf er große Visionen, als zusammenzusetzen, was andere sich ausgedacht hatten. Eva erinnerte sich, wie sie immer wieder verlorene Schrauben hatte suchen müssen. Am Ende hatte Svante Ikea jedes Mal verflucht, weil sie nie die richtigen Sachen schickten, und dann hatte Eva die Schrauben doch noch entdeckt, eingewickelt in Plastikfolie in irgendeiner Ecke.

Sie sah Bruchstücke dessen, was einst ihres gewesen war: ein abstraktes Gemälde über dem Flurtisch, das in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer in Vasastan gehangen hatte, seine Hände. Den Sessel, den sie zusammen in einem Antiquitätenladen am Odenplan gekauft hatten. Inzwischen war er weiß bezogen. Nach der Scheidung hatte sie ihn Svante überlassen, Eva hing nicht an den Dingen, er hatte alles bekommen, was er wollte. Sie war großzügig gewesen, um ihm zu zeigen, dass sie nicht wütend auf ihn war, obwohl sie manchmal am liebsten wild um sich geschlagen hätte, vielleicht auch, um ihre Schuld abzutragen, weil sie es gewesen war, die sich von ihm hatte trennen müssen. Wenn es nach seinem Umzug genauso aussah wie zuvor, würde er den Unterschied vielleicht nicht so sehr spüren, würde er aufhören, ihr die Schuld zu geben, würde seine Verbitterung schneller nachlassen. Behalte, was du brauchst, hatte sie gesagt, Dinge sind für mich nicht wichtig.

Und nun stand dort ihr alter Sessel in seinem neuen Kleid.

Svante erhob sich und ging in die Küche. Sie wusste, dass die beiden sich dort treffen würden und aus zwei Schatten einer werden würde.

Obwohl es noch immer sommerlich warm war und eine beinahe tropische Luftfeuchtigkeit herrschte, wurde ihr kalt, weil sie sich nicht bewegte. Der Rücken tat ihr weh. Wieder dachte sie, dass sie gehen sollte, doch irgendetwas war mit diesem Regal. Vielleicht war es das Letzte, das noch fehlte, das es endgültig machen würde.

Svante kehrte zurück, eine Schüssel in der Hand, in die er alle Schrauben und Dübel hineinschüttete. Eva meinte, Müdigkeit in seinen Bewegungen zu erkennen, zugleich aber auch einen Eifer, als wollte er rasch fertig werden, obwohl ihm die Energie dazu fehlte. Er war ja inzwischen auch nicht mehr der Jüngste. Eva fragte sich, ob ihn das beschäftigte. Ob seine Anspannung vielleicht daher rührte, dass er den Ansprüchen einer wesentlich jüngeren Partnerin genügen musste, die im Übrigen gerade im Durchgang zum Wohnzimmer erschien, in einem grünen, flatternden Kleid, das ihre schlanke Figur betonte. Jannike hieß sie. Der Nachname tat anscheinend nichts zur Sache. Das Haar trug sie betont nachlässig hochgebunden, an den richtigen Stellen hatten sich ein paar Strähnen gelöst.

Natürlich konnte Eva nicht hören, was sie sagten. Sie war Zuschauerin in einem Stummfilm mit verhaltenen Bewegungen, vager Mimik, deren Bedeutung sie nur erahnen konnte. Waren das Lächeln und die Hand, die sachte über Svantes Arm strich, tatsächlich Jannikes Art, ihm ihre Liebe zu bekunden? Oder dienten sie nur dazu, ihn zu manipulieren?

Glaubte er wirklich selbst daran?

Die Seitenwände des Regals standen, ebenso das Oberteil und der Sockel. Svante stand auf und sah auf die Uhr. Er fischte eine Snus-Dose aus seiner Brusttasche. Schüttelte sie und verzog das Gesicht, sagte etwas, das nicht zu hören war, doch Eva verstand es trotzdem. Es war eine einfache Scharade, die möglicherweise alles ändern konnte.

Er steckte das Messer zurück in die Scheide und ging in den Flur, Richtung Haustür. Jannike suchte die Kartons zusammen und drückte ihm eine Papiertüte voll Müll in die Hand, dann küsste sie ihn auf die Wange.

Zum Glück nur auf die Wange.

Doch dann küsste Svante sie richtig, und Eva wandte sich ab.

Es war beinahe still im Park. Von Ferne Verkehrslärm, das Motorengeräusch eines Flugzeuges im Anflug auf Bromma. Musik irgendwo aus einem geöffneten Fenster. Sie würde es hören, wenn Svante den Motor anließ. Er nahm immer den Audi, selbst wenn er nur hundert Meter weit gehen musste, doch es war nichts zu hören. Stattdessen sah sie, wie er an einer der Häuserreihen entlangging. Eva versteckte sich erneut hinter dem Felsen, bis er an ihr vorbeigegangen war.

Dann setzte sie ihre Kapuze auf und folgte ihm in einigem Abstand.

Ein Taxi fuhr vorbei, jemand stand auf seiner Terrasse und rauchte. Weiter weg sah sie ein paar Mädchen, die auf dem Fußweg Skateboard fuhren. Die neuen Häuser hatten sich nach und nach in den Park hineingefressen und verdrängt, was dort einmal gewesen war. Schaukeltiere und ein Sandkasten standen vor einem der alten Gebäude, das jetzt als Kindertagesstätte diente, hier und da erhoben sich ein paar Hochhäuser mit verglasten Balkonen. Lediglich im Herzen von Beckomberga war die Geschichte so monumental, dass sie sich nicht im Handumdrehen verdrängen ließ: vier gewaltige Ziegelbauten, die in den 1930er-Jahren als eine der größten psychiatrischen Anstalten Europas errichtet worden war: ein Flügel für die Männer, einer für die Frauen, die Fassaden einander zugewandt, abweisend und uneinnehmbar. Und auch hier entstanden Wohnungen, die bereits für viele Millionen verkauft worden waren. Vor den Toren standen Baubaracken, und das Haus mit dem Uhrenturm, das Klockhuset, war bereits bewohnt. Abends und nachts jedoch herrschte hier ein unbestimmtes Dunkel.

Eva erinnerte sich an den Schauer, der sie früher immer ergriffen hatte, wenn sie an den Fassaden hinaufsah. Als Jugendliche hatten sie und ihre Clique die Mopeds an der Mauer abgestellt und waren hinübergeklettert. Sie erinnerte sich an alte Männer, denen der Kautabaksaft aus den Mundwinkeln lief, und an eine Frau, die vulgäre Schimpfwörter ausstieß und sich dabei unablässig vor die Brust schlug. Teilweise waren die Patienten hier seit den 30er-Jahren eingesperrt gewesen. In den Vororten ringsum kursierten Geschichten, düstere Märchen von Irren, die ausgebrochen waren, von Königen und Staatsministern, die dort heimlich behandelt wurden, und von unglücklichen Künstlern und Dichtern, die in den Mauern Beckombergas schrieben und starben, denn vielleicht war ja die Kunst ein Teil des Irrsinns, den die Menschen niemals begreifen würden.

Sie wusste nicht, ob es der Wahrheit entsprach. Aber jetzt war ja ohnehin alles fort.

Entlang des Fußwegs, den Svante nahm, waren nur noch die neuen Reihenhäuser zu sehen, die hier gelb gestrichen waren. Eva folgte ihm vorsichtig durch einen Garten mit alten Apfelbäumen, dann verließen sie das Gelände. Dort, wo einst ein hoher Zaun gestanden hatte, war jetzt nur noch ein niedriges Gatter.

Svante blieb bei den Müllcontainern stehen und sie hörte, wie er energisch die Kartons zertrat, anschließend das Splittern von Glas, als er das Leergut entsorgte.

Wenn er sich jetzt umdreht und in meine Richtung geht, bleibe ich einfach stehen, dachte Eva. Dann kann er mir nicht entkommen und ich ihm auch nicht.

Erinnerst du dich noch, was du bei unserer ersten Begegnung gesagt hast, Svante, darüber, was ein Mensch in sich verbirgt? Über das, was andere sehen, und das, was nicht einmal wir selbst von uns wissen?

Weiter vorne sah Eva erneut seinen Rücken, ach ja, er wollte ja Kautabak kaufen.

Der Fußweg schlängelt sich zwischen mehreren Wohnhäusern hindurch. Vor hundert Jahren hatte sie dort einmal geschlafen, in einer Wohnung wie ein Tortenstück, mit wem hatte sie jedoch längst vergessen.

Drüben an der Straße hatte ein Thai-Imbiss gerade zugemacht, der Geruch nach Kokos und Curry hing noch in der Luft. Auf der anderen Seite des Spångavägen, an der Kreuzung zum Bällstavägen, lag ein ICA-Markt, der noch einige Minuten geöffnet hatte. Dorthin schien Svante unterwegs zu sein.

Ich weiß, dass es nicht leicht ist. Vielleicht ist es das Schwierigste überhaupt, das mit der Liebe und dem Selbstbetrug.

Spätsommerliche Wehmut in der Luft, ein Geruch nach kommendem Regen. Sie würden sich wie zufällig begegnen, wenn er aus dem Laden kam.

Eva überquerte die Straße und ging so langsam sie konnte. Am Eingang blieb sie stehen. Dort saß eine Frau und bettelte. Zusammengerollt und eingehüllt in Decken und Röcke, mit einem Becher und einem kleinen Schild in der Hand.

»Grüß Sie, grüß Sie, vielen Dank!«

Man war nicht verpflichtet, Almosen zu geben. Vielleicht machte man damit sogar alles nur noch schlimmer, Eva vermochte gerade nicht darüber nachzudenken.

»Grüß Sie, Kronen, vielen Dank, tschüss, tschüss.«

Die Frau erhob sich und hielt ihr das Foto ihrer Kinder hin. Eva mochte es nicht, wenn sie sich so aufdrängten. Es war eine Sache, wenn sie auf dem Boden saßen, dann konnte man sich entscheiden, ob man zu ihnen herabblickte oder nicht, ob man Geld geben wollte oder nicht. Manchmal tat sie es, manchmal gab sie ihnen lieber ein Butterbrot oder einen alten Regenschirm, warum auch nicht? Doch es gab immer mehr Bettler auf den Straßen.

Eva zeigte demonstrativ ihre leeren Hände.

»Ich habe kein Bargeld«, murmelte sie. »No money.«

Das war gelogen, sie hatte einen Hunderter in der Hosentasche. Aber sollte man nicht aus freien Stücken etwas geben? Drinnen stand Svante bereits an der Kasse, sein Korb war voll. Es war beinahe elf Uhr, die letzten Kunden gingen zu ihren Autos.

»Hej, hej, Mama, grüß Sie, vielen Dank.«

»Was soll das!« Eva hatte nicht darüber nachgedacht, es geschah einfach so. Ihre Hand schnellte vor und traf die Frau beinahe im Gesicht, sie war plötzlich so wütend.

»Mama, Mama, vielen Dank.«

Es schien nicht zu genügen. Unermüdlich zeigte die Frau auf ihren Mund und hielt das Foto ihrer Kinder hoch. Eva hielt nach Svante Ausschau, doch die Bettlerin war im Weg, ihr Schal und ihre Hände waren überall.

»Please, Kronen, vielen Dank.«

»Hören Sie, ich habe kein Geld!«

Eva riss ihr das Foto aus der Hand, auf dem ein Junge und ein Mädchen zu sehen waren. Sie warf es fort. Der Wind griff danach und wehte es in einem weiten Bogen über den Bällstavägen. Im selben Augenblick nahm sie eine Veränderung in der Atmosphäre wahr, ein Laut wie ein Einatmen, als die Tür sich öffnete.

»Eva? Was machst du denn hier?«

Und dann ging einfach alles schief. Vielleicht lag es daran, dass die Bettlerin danebenstand oder dass ihr die Situation entglitt. Plötzlich konnte sie nicht mehr sagen, was sie eigentlich sagen wollte. Nur sinnloses Gestammel kam aus ihrem Mund, Sätze, die sie nicht zu Ende bringen konnte, weil er sie so seltsam ansah. Es war derselbe Blick, der sie einst schwach gemacht und in dem sie sich zugleich unendlich geborgen gefühlt hatte. Ein blasses Graubraun, wie die Rinde eines Baumes.

»Spionierst du mir nach?«, fragte er. »Bist du bescheuert?«

Als ob sie ihm etwas Böses wollte, dabei war das sicher das Letzte, was ihr in den Sinn gekommen wäre.

Er war schon auf dem Weg zum Fußgängerübergang.

»Svante! Warte …«

Dass sie gezwungen war, hinter ihm herzurennen.

»Es muss doch möglich sein, miteinander zu reden. Bitte, Svante, warte …«

Er drehte sich nicht um, schaute nur nach rechts und links, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen war, und redete in den lauen Abend hinein.

»Wir haben nichts zu besprechen. Fahr nach Hause, und zwar jetzt sofort, hau ab, ein für alle Mal.«

Eva fasste ihn am Arm. Sie wusste doch, dass er es nicht so meinte. Irgendetwas stimmte nicht mit seinem Tonfall. Natürlich hörte sie, was er sagte, und spürte die Kälte, mit der er es tat, sie war ja nicht taub, doch es gab da einen Unterton, eine Gefühlsschwingung, die sie direkt ins Herz traf, etwas Zartes, das gerade zerbrach. Er sagte das, weil er es sagen musste, nicht weil er so fühlte. In all den Jahren, in denen sie zusammen gewesen waren, hatte Eva gelernt, ihn zu lesen.

Sie hörte die Bettlerin rufen, jetzt sprach sie Rumänisch oder was für eine Sprache es auch immer sein mochte, ein Hintergrundrauschen giftiger Silben, vielleicht auch Schimpfwörter, die umhertanzten wie Insekten.

»Ich habe so viel nachgedacht«, sagte Eva, »und ich weiß, dass es auch meine Schuld war, es tut mir so leid.«

»Hör auf jetzt«, erwiderte Svante. »Das bringt doch nichts mehr.«

»Ich möchte nur, dass du noch einmal darüber nachdenkst, bevor …«

Er schüttelte ihre Hand ab und ging einfach weiter. Eva spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Das war so typisch! Ihr den Rücken zuzukehren, war so respektlos, nie blieb er lange genug, um zu hören, was sie ihm zu sagen hatte.

Bei den runden Häusern holte sie ihn ein. Dort stand eine Teppichstange, die wahrscheinlich niemand mehr benutzte, und das Licht der Straßenlaternen reichte nicht bis hierhin.

»Wenigstens über Filip müssen wir doch sprechen können«, sagte sie. »Es betrifft schließlich auch ihn.«

»Und deshalb verfolgst du mich, um mit mir über Filip zu reden?«

Wenigstens blieb er endlich stehen. Irgendetwas war mit seinem Gesicht und seinem Blick, aber sie konnte es im Dunkeln nicht richtig erkennen. Er war anders als sonst. Er hatte sich schon immer über Kleinigkeiten aufgeregt, doch das hier war anders. Ein unergründliches Gefühl, das aus seinem tiefsten Innern kam, zu dem sie niemals vorgedrungen war.

»Ich verfolge dich nicht«, sagte sie. »Ich wollte fürs Frühstück einkaufen. Ich konnte doch nicht wissen, dass du …«

»Dann geh doch endlich einkaufen, verdammt noch mal!«

»Es spielt doch keine Rolle, dass ich einkaufen wollte, deswegen bin ich doch nicht …«

Ein Auto fuhr vorbei und beleuchtete ihre Gesichter, und für einen kurzen Moment meinte sie den jungen Svante wiederzuerkennen. Er schaute überall hin, nur nicht auf sie.

»Mensch, Eva … was kapierst du nicht? Ich will dich nie wieder sehen, verstanden? Geh weg, hau einfach ab!«

Die Schatten schlossen sich um sie, dort, wo sie standen, wurde es Nacht. Eva meinte, seine Trauer in ihrem eigenen Körper zu spüren, Trauer darüber, dass sie hier enden mussten. Ein rascher Wind kam auf, von nirgendwo. Und dann ein Schmerz, ein rein physischer. Sie begriff nicht, woher er kam und warum. Etwas traf sie am Kopf, es zuckte wie ein Blitz bis in ihren Nacken hinunter. Die Häuser wankten vor ihren Augen und die Teppichstange drehte sich um hundertachtzig Grad, sie schien plötzlich über ihr zu schweben, etwas Hartes prallte auf den Boden. Die Zeit blieb stehen. Halt mich, dachte sie.

Ein Gesicht umkreiste sie. War es seines? Dann riss der Himmel entzwei.

Nachts ist es wieder stockdunkel, Gott sei Dank und gelobt sei der Herr.

Er muss nicht mehr schneller laufen als die Wärter. Es eilt nicht auf die unheimliche Art. Er kann sich bewegen, wo Menschen sind, muss nur aufpassen, sich verborgen zu halten. Genau weiß er nicht, wer die Wärter sind und wer all die anderen Leute, doch dass sie da sind wie die Wölfe, ist ihm bewusst. Sie lauern auf die unglücklichen Seelen, auf die unschuldigen Kinder und sperren sie ein, und sie werden ihre Steine werfen wie auf Paulus – aber nicht auf ihn. Er ist nur einer, der nachts umhergeht. Sie werden ihn nicht erkennen. Auch sieht er heute keine Wölfe und keine Eule, die durch die Dämmerung fliegt. Lange hat er sich gefragt, ob sie wohl schlafen, doch niemand hat es ihm beantworten können.

Ha, ha, ha, du Idiot, sie überwachen dich, jede verdammte Stunde des Tages, da kannst du sicher sein!

Und dennoch sieht er sie nicht. Er sieht nur Häuser und Laternen und Kleider, die auf der Wäscheleine flattern, und er kennt die Gerüche, ja, das tut er – wie ein Wolf. Den Geruch von Fleisch und Brot und allem, was man gerne essen möchte. Er erkennt auch den Geruch des Regens, kurz bevor er beginnt. Dann will er hinaus, um sich zu duschen.

Äpfel sind auf die Wiese gefallen.

Du musst wachsam sein, wo du auch bist, hatte sie gesagt.

Sie sehen dich überall, hatte ein anderer gesagt.

Du bist einer, der sich ihnen entzieht, darum wollen sie dich brechen. Wenn sie ihre Krallen erst in dich geschlagen haben, entkommst du ihnen nicht mehr. Du weißt, was sie mit Jesus getan haben.

Ja, ja, ja, er weiß, wie es sich anfühlt, wenn sie einem Nägel in die Handflächen schlagen. Vor langer Zeit hat er es selbst einmal probiert, allerdings nur mit einem Stock.

Sicherer kann niemand sein, hatte sie damals für ihn gesungen.

Vielleicht verstecken sich die Wärter vor dem Regen. Sie sehen ihn jedenfalls nicht. Er geht zu weit und er schmeckt Blut in dieser Nacht. Nur ganz wenig, auf einer Fingerspitze.

Und die Toten singen nicht mehr, zumindest kann er sie nicht mehr hören.