Die Idee des Sozialismus hat ihren Glanz verloren, so Axel Honneth in seinem luziden und kontrovers diskutierten politisch-philosophischen Essay, der nun, um zwei Preisreden erweitert, im Taschenbuch vorliegt. Der Grund dafür liege darin, daß in dieser Idee theoretische Hintergrundannahmen am Werk sind, die aus der Zeit des Industrialismus stammen, im 21. Jahrhundert aber keinerlei Überzeugungskraft mehr besitzen. Sie müssen ersetzt werden, und zwar durch Bestimmungen von Geschichte und Gesellschaft, die unserem heutigen Erfahrungsstand angemessen sind. Nur wenn das gelingt, kann das Vertrauen in ein Projekt zurückgewonnen werden, das nach wie vor zeitgemäß ist.

 

Axel Honneth ist Professor of the Humanities an der Columbia University in New York, Senior Professor für Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main sowie geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Sozialforschung. Zuletzt ist im Suhrkamp Verlag erschienen: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie (stw 2127).

 

 

Axel Honneth
Die Idee des Sozialismus

Versuch einer Aktualisierung

Erweiterte Ausgabe

Suhrkamp

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2224.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017 (für den Anhang)

© Axel Honneth

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.

Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Zur Gewährleistung der Zitierfähigkeit zeigen die grau gerahmten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74238-9

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort

Einleitung

I. Die ursprüngliche Idee:
Aufhebung der Revolution in sozialer Freiheit

II. Das antiquierte Denkgehäuse:
Bindung an Geist und Kultur des Industrialismus

III. Wege der Erneuerung (1):
Sozialismus als historischer Experimentalismus

IV. Wege der Erneuerung (2):
Die Idee einer demokratischen Lebensform

Anhang: Zwei Preisreden

Das »Rote Wien«: Vom Geist des sozialistischen Experimentalismus

Hoffnung in hoffnungslosen Zeiten

 

Namenregister






Meinen Söhnen Johannes und Robert,
die von Anfang an alles leichter gemacht haben.






»COURAGE yet, my brother and sister!
Keep on – Liberty is to be subserv'd whatever occurs;
That is nothing that is quell'd by one or two failures, or by any
    ‌number of failures,
Or by the indifference or ingratitude of the people, or by any
    ‌unfaithfulness,
Or the show of the tushes of power, soldiers, cannon, penal statuses.

What we believe in waits latent forever through all the continents,
Invites no one, promises nothing, sits in calmness and light, is
    ‌positive and composed, knows no discouragement,
Waiting patiently, waiting its time.«

Walt Whitman, »To a Foil'd European Revolutionaire« [1856], aus:
Leaves of Grass11

Vorwort

Vor nicht einmal hundert Jahren war der Sozialismus eine so mächtige Bewegung innerhalb der modernen Gesellschaft, daß kaum einer der großen Sozialtheoretiker der Zeit es nicht für nötig erachtete, ihm eine ausführliche, mal eher kritische, mal stärker sympathisierende, stets aber von Achtung getragene Abhandlung zu widmen. Den Anfang hatte noch im 19. Jahrhundert John Stuart Mill gemacht, ihm folgten Emile Durkheim, Max Weber und Joseph Schumpeter, um nur die wichtigsten zu nennen; all diese Denker stimmten trotz erheblicher Differenzen in persönlicher Gesinnung und theoretischer Programmatik darin überein, im Sozialismus eine intellektuelle Herausforderung zu sehen, die den Kapitalismus wohl auf Dauer würde begleiten müssen. Heute hat sich das grundsätzlich gewandelt. Findet der Sozialismus überhaupt noch einmal in sozialtheoretischen Zusammenhängen Erwähnung, so scheint es als ausgemacht zu gelten, daß er seine Zeit inzwischen überlebt hat; weder traut man ihm zu, die Begeisterung der Massen jemals wieder entfachen zu können, noch hält man ihn für tauglich, wegweisende Alternativen zum gegenwärtigen Kapitalismus aufzuzeigen. Wie über Nacht – Max Weber würde sich erstaunt die Augen reiben – haben sich die Rollen zweier großer Widersacher des 19. Jahrhunderts vertauscht: Der Religion scheint als ethische Kraft die Zukunft zu gehören, der Sozialismus hingegen wird als geistiges Geschöpf der Vergangenheit wahrgenommen. Die Überzeugung, daß diese Verkehrung zu schnell erfolgt ist und daher nicht die ganze Wahrheit sein kann, ist eines der beiden Motive, die mich vorliegendes Buch zu schreiben bewogen haben: Im folgenden will ich nachzuweisen versu12chen, daß im Sozialismus durchaus noch ein lebendiger Funke steckt, wenn seine leitende Idee nur entschieden genug aus seinem im frühen Industrialismus wurzelnden Denkgehäuse herausgeschält und in einen neuen gesellschaftstheoretischen Rahmen hineinversetzt wird.

Das zweite Motiv, von dem ich mich bei der Abfassung der folgenden Überlegungen habe leiten lassen, hängt stark mit der Rezeption zusammen, die meine letzte, umfangreiche Studie Das Recht der Freiheit erfahren hat.[1] Nicht selten mußte ich während der zahlreich darüber geführten Diskussionen hören, daß mein methodischer Ausgang vom normativen Horizont der Moderne doch deutlich die Absicht verrate, mich auf die kritische Perspektive einer Transformation der gegebenen Gesellschaftsordnung nicht mehr einlassen zu wollen.[2] Wo es nötig und möglich war, habe ich mich mit diesem Einwand schon schriftlich auseinandergesetzt, um zu zeigen, daß er auf einem Mißverständnis der mir selbst bewußt auferlegten methodischen Beschränkungen beruht.[3] Aber ich hatte weiterhin das Gefühl, erst noch vorführen zu müssen, daß es nur einer kleinen Drehung der in Das Recht der Freiheit eingenommenen Perspektive bedürfte, um diese nach vorne zu einer institutionell gänzlich anders verfaßten Gesellschaftsordnung hin öffnen zu können. Ganz gegen meine ursprüngliche Absicht sah ich mich daher veranlaßt, der größeren Studie eine kleinere hinterherzuschicken, in der deutlich werden soll, auf welche Vision die Fortschrittslinien eigentlich zulaufen müßten, die ich zuvor nur aus einer internen Perspektive rekonstruiert hatte.

Beide Motive zusammengenommen haben mich dazu be13wogen, die an mich ergangene Einladung zu den Hannoveraner Leibniz-Vorlesungen im Jahr 2014 für den ersten Versuch einer Aktualisierung der Grundideen des Sozialismus zu nutzen. Ich bin den Kollegen und Kolleginnen des dortigen Instituts für Philosophie, allen voran Paul Hoyningen-Huene, sehr dankbar, daß sie mir ihre jährliche Vorlesungsreihe zur Behandlung des ihnen sicherlich eher fremden Themas eingeräumt haben; von den Diskussionen, die an den drei aufeinanderfolgenden Abenden jeweils im Anschluß an meine Vorlesungen stattfanden, habe ich in so umfangreichem Maße profitiert, daß ich deutliche Vorstellungen von notwendigen Überarbeitungen und Erweiterungen gewinnen konnte. Diese habe ich anschließend in eine zweite Fassung meiner Vorlesungen eingearbeitet, die vor allem in den Ausblicken auf einen revidierten Sozialismus wesentlich umfangreicher ausgefallen ist. Eine freundliche Einladung von Rüdiger Schmidt-Grépály, in diesem Jahr das Distinguished Fellowship des von ihm geleiteten Kolleg Friedrich Nietzsche in Weimar zu übernehmen, gab mir im Juni schließlich die Chance, die überarbeitete Fassung meines Textes ein weiteres Mal dem kritischen Urteil eines größeren Publikums auszusetzen; parallel dazu fand im Wielandgut Oßmannstedt nahe Weimar ein sich über mehrere Tage erstreckendes Seminar mit Stipendiaten der Studienstiftung des deutschen Volkes statt, aus dem ich dank der äußerst fruchtbaren Diskussionen noch einmal Hinweise für letzte Korrekturen gewinnen konnte. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieses Seminars wie natürlich auch dem Direktor und den Mitarbeitern des Kollegs bin ich für das Interesse, das sie meiner Arbeit entgegengebracht haben, sehr dankbar.

Dank gebührt darüber hinaus all den Freunden, Kolleginnen und Kollegen, die mir durch Ratschläge und Verbesserungsvorschläge bei der Verfassung des Manuskripts geholfen haben. An erster Stelle möchte ich hier Fred Neuhouser 14nennen, zugleich enger Freund und vertrauter Kollege am Department of Philosophy der Columbia University in New York, der mich während der Arbeit am vorliegenden Text von Anfang an stark ermutigt und zudem eine Reihe von wertvollen Hinweisen beigesteuert hat. Vieles gelernt habe ich zudem von den kritischen Kommentaren, mit denen Eva Gilmer, Philipp Hölzing, Christine Pries-Honneth und Titus Stahl die erste Fassung meiner Vorlesungen versehen haben; ihnen allen bin ich, wie nun schon seit Jahren, für die mir entgegengebrachte Hilfsbereitschaft und Aufmerksamkeit sehr dankbar. Schließlich haben mir Hannah Bayer und Frauke Köhler in bewährter Weise bei der Literaturbeschaffung und der Manuskriptabfassung geholfen, auch ihnen gilt mein herzlicher Dank.

 

Axel Honneth, im Juni 201515



[1] Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011.

[2] Vgl. etwa die Beiträge in: Special Issue on Axel Honneth's Freedom's Right, Critical Horizons, 16/2 (2015).

[3] Axel Honneth, »Rejoinder«, ebd., S. 204-226.

Einleitung

Die Gesellschaften, in denen wir leben, sind durch einen höchst irritierenden, schwer zu erklärenden Zwiespalt geprägt. Einerseits ist das Unbehagen über den sozioökonomischen Zustand, über die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Arbeitsbedingungen, in den letzten Jahrzehnten enorm angewachsen; wahrscheinlich haben sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs niemals so viele Menschen gleichzeitig über die sozialen und politischen Folgen empört, die mit der global entfesselten Marktökonomie des Kapitalismus einhergehen. Andererseits aber scheint dieser massenhaften Empörung jeder normative Richtungssinn, jedes geschichtliche Gespür für ein Ziel der vorgebrachten Kritik zu fehlen, so daß sie eigentümlich stumm und nach innen gekehrt bleibt; es ist, als mangele es dem grassierenden Unbehagen an dem Vermögen, über das Bestehende hinauszudenken und einen gesellschaftlichen Zustand jenseits des Kapitalismus zu imaginieren. Die Entkoppelung der Entrüstung von jeglicher Zukunftsorientierung, des Protests von allen Visionen eines Besseren, ist in der Geschichte moderner Gesellschaften tatsächlich etwas Neues; seit der Französischen Revolution waren die großen Bewegungen der Auflehnung gegen die kapitalistischen Verhältnisse stets von Utopien beflügelt, die Bilder davon entwarfen, wie die zukünftige Gesellschaft einmal verfaßt sein sollte – man denke nur an die Maschinenstürmer, an die Kooperativen Robert Owens, an die Rätebewegung oder an die kommunistischen Ideale einer klassenlosen Gesellschaft. Der Zufluß solcher Ströme des utopischen Denkens, wie Ernst Bloch gesagt hätte, scheint heute unterbrochen zu sein; man weiß zwar ziemlich genau, was man nicht will und was an 16den gegenwärtigen Sozialverhältnissen empörend ist, hat jedoch keine auch nur halbwegs klare Vorstellung davon, wohin eine gezielte Veränderung des Bestehenden sollte führen können.

Eine Erklärung für dieses plötzliche Versiegen utopischer Energien zu finden, ist schwerer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime im Jahr 1989, auf den intellektuelle Beobachter gerne verweisen, um daraus ein Zerrinnen aller Hoffnungen auf einen Zustand jenseits des Kapitalismus abzuleiten, kann wohl kaum als Ursache herangezogen werden; denn die empörten Massen, die heute zu Recht die wachsende Kluft zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtum beklagen, ohne indes über eine konkrete Vorstellung einer besseren Gesellschaft zu verfügen, mußten gewiß nicht erst durch den Fall der Mauer davon überzeugt werden, daß der Staatssozialismus sowjetischer Prägung soziale Wohltaten nur um den Preis der Unfreiheit spendete. Zudem hatte die Tatsache, daß bis zur Russischen Revolution eine reale Alternative zum Kapitalismus nicht existierte, die Menschen im 19. Jahrhundert keinesfalls daran gehindert, sich ein gewaltloses Zusammenleben in Solidarität und Gerechtigkeit auszumalen; warum also sollte der Bankrott des kommunistischen Machtblocks mit einem Mal dazu geführt haben, daß diese anscheinend tiefsitzende Fähigkeit zur utopischen Überschreitung des jeweils Bestehenden heute verkümmert ist? Eine andere Ursache, die häufig angeführt wird, um die eigentümliche Zukunfts- und Bilderlosigkeit der gegenwärtigen Empörung zu erklären, wird im jähen Wandel unseres kollektiven Zeitbewußtseins vermutet: Mit dem Eintritt in die »Postmoderne«, wie er sich zunächst in der Kunst und der Architektur, dann aber auch in der Kultur als Ganze vollzogen habe, seien die für die Moderne charakteristischen Vorstellungen eines gerichteten Fortschritts so nachhaltig entwertet worden, daß heute 17statt dessen kollektiv das Bewußtsein einer historischen Wiederkehr des Immergleichen vorherrsche. Auf dem Boden dieser neuen, postmodernen Geschichtsauffassung, so lautet die zweite Erklärung, könnten Visionen eines besseren Lebens schon deswegen nicht mehr gedeihen, weil jede Idee davon abhanden gekommen sei, daß die Gegenwart durch die ihr innewohnenden Potentiale stets schon über sich hinaustreibe und in eine offene Zukunft ständiger Vervollkommnungen weise; viel eher werde inzwischen die kommende Zeit nur noch als etwas vorgestellt, das nichts anderes mehr zu bieten habe als ein bloßes Durchspielen von aus der Vergangenheit bereits vertrauten Lebensformen oder Sozialmodellen. Allein jedoch schon der Umstand, daß wir in anderen Funktionszusammenhängen durchaus noch mit begrüßenswerten Fortschritten rechnen, nämlich zum Beispiel in der Medizin oder bei der Durchsetzung der Menschenrechte, läßt Zweifel aufkommen, ob eine derartige Erklärung wirklich überzeugend ist: Warum sollte nur in diesem einen Bereich, dem der Refomierbarkeit der Gesellschaft, ein Mangel an transzendierendem Vorstellungsvermögen vorliegen, wenn dieses doch auf anderen Feldern noch weitgehend intakt zu sein scheint? Die These von einem grundsätzlich gewandelten Geschichtsbewußtsein unterstellt, daß jegliche Antizipation eines gesellschaftlich Neuen heute verlorengegangen sei, ohne dabei zu berücksichtigen, welche starken, gewiß übertriebenen Hoffnungen sich gegenwärtig etwa an eine weltweite Implementierung der Menschenrechte heften.[1] Eine weitere, dritte Erklärung könnte sich daher auf den Unterschied beziehen, der zwischen den beiden genannten Feldern besteht, also zwischen einer strukturneutralen Überstülpung international sanktionierter Rechte und einem Umbau in den gesellschaftlichen Basisinstitutionen, um daraus den Schluß zu ziehen, 18daß nur mit Bezug auf den zweiten Bereich die utopischen Kräfte mittlerweile erlahmt sind. Nach meinem Eindruck kommt diese These der Wahrheit am nächsten, bedarf aber natürlich einer Ergänzung; denn es muß ja zusätzlich erläutert werden, warum es die gesellschaftspolitische Materie sein soll, die heute nicht mehr mit utopischen Erwartungen aufgeladen werden kann.

Es mag hier der Hinweis darauf weiterhelfen, daß sich die wirtschaftlich-sozialen Vorgänge dem öffentlichen Bewußtsein heute als viel zu komplex und daher undurchschaubar darstellen, um noch als gezielten Eingriffen zugänglich gelten zu können; vor allem durch die Prozesse der ökonomischen Globalisierung mit ihren in ihrer Schnelligkeit kaum mehr überblickbaren Transaktionen scheint sich eine Art von Pathologie zweiter Ordnung herausgebildet zu haben, die darin besteht, daß die Bevölkerung die institutionellen Bedingungen des Zusammenlebens nur noch als »dingliche« Verhältnisse, als jedem menschlichen Eingriff entzogene Gegebenheiten ansieht.[2] Erst heute käme dann die berühmte Fetischismusanalyse, die Marx im ersten Band von Das Kapital entwickelt hat, zu ihrem historischen Recht; nicht schon in der Vergangenheit des Kapitalismus, als die Arbeiterbewegung in ihren Träumen und Visionen die existierenden Zustände noch für veränderbar gehalten hat,[3] sondern erst in der Gegenwart hätte sich die allgemeine Überzeugung breitgemacht, daß die sozialen Beziehungen in eigentümlicher Weise »gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen« sind.[4] Wenn dem so wäre, wofür Alltagsbeobachtungen ebenso wie empi19rische Analysen sprechen,[5] würde sich unser Vermögen zur Vorwegnahme sozialer Verbesserungen an der Grundstruktur der gegenwärtigen Gesellschaften deswegen nicht mehr entfalten können, weil diese genauso wie Dinge in ihrer Substanz als kaum mehr veränderbar gilt; es wäre nicht der Wegfall einer real existierenden Alternative zum Kapitalismus, nicht eine grundlegende Wandlung in unserem Verständnis der Geschichte, sondern die Vorherrschaft einer fetischisierenden Auffassung gesellschaftlicher Verhältnisse, die dafür verantwortlich gemacht werden müßte, daß die massenhafte Empörung über die skandalöse Verteilung von Reichtum und Macht jeden Sinn für ein in Reichweite stehendes Ziel heute so offensichtlich verloren hat.

Allerdings bleibt auch diese dritte Erklärung noch unvollständig, weil sie keine Angaben darüber macht, warum denn die überkommenen Utopien nicht mehr die Kraft zur Auflösung oder zumindest Durchlöcherung des verdinglichenden Alltagsbewußtseins besitzen; über mehr als ein ganzes Jahrhundert lang kam doch den sozialistischen und kommunistischen Utopien die Fähigkeit zu, die Gemüter der Betroffenen immer wieder so stark mit Visionen eines besseren Zusammenlebens zu elektrisieren, daß sie vor den sicherlich auch schon damals bestehenden Tendenzen zur resignativen Hypostasierung sozialer Vorgänge gefeit waren. Der Umfang dessen, was die Menschen jeweils für »unvermeidlich« und damit für sachnotwendig an ihrer Gesellschaftsordnung halten, ist in hohem Maße von kulturellen Faktoren abhängig und hier vor allem vom Einfluß politischer Deutungsmuster, die das scheinbar Notwendige als kollektiv veränderbar darzustellen vermögen. In seiner historischen Studie Ungerechtigkeit hat Barrington Moore überzeugend gezeigt, inwiefern das Gefühl hoffnungsloser Unvermeidbarkeit unter deut20schen Arbeitern stets in dem Augenblick zu schwinden begann, in dem ihnen kraftvolle Neuinterpretationen das bloß Arrangierte, den Aushandlungscharakter des institutionell Gegebenen aufzeigen konnten.[6] Um so stärker stellt sich im Lichte solcher Überlegungen dann aber die Frage, was die Ursachen dafür sind, daß heute alle klassischen, einst einflußreichen Ideale ihrer entschleiernden, die Verdinglichung zerstörenden Wirkung verlustig gegangen sein sollen; warum, so müßte noch konkreter gefragt werden, verfügen die Visionen des Sozialismus schon seit geraumer Zeit nicht mehr über die Kraft, die Betroffenen davon zu überzeugen, daß das scheinbar »Unvermeidbare« mit kollektiven Anstrengungen doch zugunsten eines Besseren zu verändern wäre. Damit bin ich bei dem Thema der Überlegungen angelangt, die ich in den vier Kapiteln dieser kurzen Studie entwickeln möchte. Mich interessieren im folgenden zwei miteinander zusammenhängende Fragen, die mir weiterhin ideenpolitisch von größter Aktualität zu sein scheinen: Erstens will ich den entweder internen oder externen Gründen nachgehen, die dazu geführt haben, daß die Ideen des Sozialismus ihr einstiges Anregungspotential scheinbar so unwiderruflich verloren haben; und zweitens will ich mich im Lichte dieser offengelegten Gründe dann fragen, welche konzeptuellen Veränderungen an den sozialistischen Ideen vorgenommen werden müßten, damit sie ihre verlorengegangene Virulenz noch einmal zurückgewinnen könnten. Meine Absichten zwingen mich allerdings dazu, die ursprüngliche Idee des Sozialismus zunächst noch einmal so klar wie möglich zu rekonstruieren (I.); erst im zweiten Schritt werde ich mich dann den Gründen zuwenden, die diese Ideen inzwischen haben veralten lassen (II.). In den beiden abschließenden Kapiteln soll dann schließlich der Versuch unternommen werden, den veralteten 21Ideen mit konzeptuellen Neuerungen noch einmal auf die Füße zu helfen (III. und IV.). Hervorgehoben sei zu Beginn noch, daß all die im folgenden entwickelten Überlegungen einen metapolitischen Charakter besitzen, weil ich nirgends Bezüge zu den politischen Konstellationen und Handlungsmöglichkeiten der Gegenwart herzustellen versuche; hier soll es nicht um die strategische Frage gehen, wie der Sozialismus heute auf das tagespolitische Geschehen Einfluß nehmen könnte, sondern einzig und allein darum, wie sein ursprüngliches Anliegen noch einmal so zu reformulieren wäre, daß es erneut zur Quelle politisch-ethischer Orientierungen werden könnte.23



[1] Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge/Mass. 2010.

[2] Titus Stahl, Immanente Kritik. Elemente einer Theorie sozialer Praktiken, Frankfurt/M. 2013.

[3] Vgl. Jacques Rancière, Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums, Wien 2013.

[4] Karl Marx, Das Kapital, in: ders./Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 23, Berlin 1971, S. 87.

[5] Vgl. exemplarisch: Pierre Bourdieu u. ‌a., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 2002.

[6] Barrington Moore, Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand, Frankfurt/M. 1982, v. a. Kap. 14.