Ralph Ardnassak

... der kann nicht mein Jünger sein

Zweiter Band

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

I

II

III

IV

V

Impressum neobooks

I

 

Eine gewählte Legislative kann auf den Rechten eines Menschen genauso leicht herum trampeln, wie ein König!

 

(Mel Gibson als Benjamin Martin in: Der Patriot, aus dem Jahre 2000)

 

 

 

Im Nebel

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.


(Hermann Hesse, November 1905)



Der alte Mann stand hinter der Fensterscheibe seiner Wohnung und sah hinab auf seine Stadt Prypjat, in der sie nun, knapp drei Stunden, nachdem sie zum letzten Mal die Nachricht im Radio gesendet hatten, mit der Evakuierung der Bevölkerung begannen.

Vor ihm, auf dem Fensterbrett, strich Nuntius, sein schwarz-weißer Kater mit steil empor gerecktem Schwanz schnurrend herum. Und er entsann sich, einmal gelesen zu haben, wonach dieses steile Emporrecken des Schwanzes eines der Begrüßungsrituale der Katzen darstellte.

Er streichelte den Rücken des Gefährten und strich mit der Hand über den empor gereckten Schwanz des Katers, als gelte es, dessen Stärke zu prüfen.

Der Kater schnurrte indes unentwegt, schmiegte seinen Kopf an die Zimmerpflanzen auf dem Fensterbrett und kniff dabei das rechte Auge zusammen, so dass der alte Mann sich plötzlich um das Auge des Katers zu sorgen begann.

Was ist denn nur mit Deinem Auge, Söhnchen?“, fragte der alte Mann in großer Sorge und betrachtete das Auge des Katers. Aber es war nichts und er entsann sich erneut, an gleicher Stelle gelesen zu haben, das Zusammenkneifen der Augen der Katzen sei mit einem Lächeln beim Menschen gleich zu setzen.

Der Kater war von einer seltsamen Unruhe erfasst und von einem beinahe lästigen Kontaktbedürfnis, denn er wich, was sonst ja keinesfalls seine Art war, dem alten Mann heute nicht von der Seite, sondern folgte ihm überall hin.

Emma hingegen, die kleine graue Katze, lag ruhig und zusammen gerollt auf dem Fußende der bunten und mit volkstümlichen Mustern versehenen Tagesdecke, die der alte Mann tagsüber über seine schmale Schlafstelle zu ziehen pflegte.

Noch immer stieg eine dürre schwarze Rauchsäule aus den Trümmern des Kraftwerkes auf, das am Horizont im blauen Dunst des Mittags lag, wie ein gewaltiger Dampfer an einem Kai aus grünen Baumwipfeln. Und die dünne Rauchsäule erinnerte ihn an all die Lagerfeuer, die sie damals, während des Krieges entfacht und die sie hernach, nachdem der Befehl zum Aufbruch gekommen war, mit dem Strahl ihres Urins auszulöschen pflegten.

Auf den Straßen und Plätzen der Stadt herrschte, soweit er es von seinem Wohnzimmerfenster aus überblicken konnte, nun überall hektische Betriebsamkeit. Bewaffnete Milizionäre in Schutzanzügen, in Mundschutz oder sogar in Gasmaske, ausgerüstet mit den geheimnisvollen Kästen der Geigerzähler, patrouillierten über die Straßen und wiesen die in Panik und Aufregung ihre Häuser verlassenden Menschen zu den wartenden ockerfarbenen Zieharmonikabussen der ungarischen Marke „Ikarus“, die die Menschenmassen aus der Stadt bringen sollten.

Alles erschien wie eine endgültige Evakuierung, wie eine Flucht in großer Panik und nicht wie eine vorübergehende und lediglich dreitägige Abwesenheit, so dass er sich an die Szenen aus Stalingrad erinnert fühlte, die er dort erlebt hatte, während die deutsche 6. Armee über die Steppe immer näher und näher an die Stadt heran gekommen war.

Die Menschen waren angewiesen worden, ihre Wohnungstüren offen stehen zu lassen und lediglich etwas Handgepäck, ausreichend für drei Tage Aufenthalt, mit sich zu führen. Der alte Mann jedoch, er ahnte ebenso wie sein Kater, den er, der Otjetz Koschek, der Vater der Katzen, längst als seinen Sohn betrachtete, dass es ein Auszug der Menschen für immer sein würde. Und ebenso ahnte es die kleine graue Katze dort hinten auf dem Fußende seiner Schlafstelle, sie war seine Tochter.

Er konnte sich denken, dass im Kraftwerk etwas Furchtbares geschehen sein musste und dass der unsichtbare Strahlentod von dort bereits in die Stadt, in seine Stadt, gekommen war, wo er nun in all den verlassenen Wohnungen der Menschen einziehen und heimisch werden würde. Er konnte sich denken, dass man, so war es in allen Zivilisationen dieser Welt und zu allen Zeiten üblich gewesen, der Bevölkerung der Stadt Prypjat die Wahrheit über das Ausmaß der Ereignisse im Kraftwerk verschwieg. Er konnte sich denken, dass man nur so viel mitteilte, wie jeweils notwendig war, um das reibungslose Funktionieren des Räderwerkes der Zivilisation zu gewährleisten und eine Massenpanik zu vermeiden.

In den Tagen zuvor hatten sie bereits überall Jodtabletten verteilt und die Menschen angewiesen, diese umgehend einzunehmen. Warum dies notwendig war, wurde ihnen nicht begründet. Es sei eine vorbeugende gesundheitliche Maßnahme. Es sei erforderlich, diese Tabletten unverzüglich einzunehmen, die stabiles Jod enthielten und zu einer Jodblockade im Körper führen würden.

Es sei daher unumgänglich, die Kaliumjodid-Tabletten einzunehmen, um die Schilddrüse vor Erkrankungen zu schützen. Die geringfügigen allergischen Nebenwirkungen, welche möglicherweise dadurch auftreten könnten, wie Hautrötungen, Brennen und Jucken der Augen, Schnupfen, Reizhusten, Kopfschmerzen und Durchfälle, müsse man in Kauf nehmen.

Der alte Mann verfügte über genügend pharmakologisches Wissen, um zu begreifen, was man mit dieser sogenannten Jodblockade bezweckte. Die dazu verabreichten Kaliumjodid- oder auch Kaliumjodad-Tabletten führten dazu, dass in der menschlichen Schilddrüse jeweils genügend chemisch stabiles und nicht radioaktives Jod akkumuliert wurde. Auf diese Weise blockierte man die Schilddrüse künstlich für die Aufnahme weiteren und möglicherweise instabilen radioaktiven Jods, welches, in der Schilddrüse angereicht, meist zu Schilddrüsenkrebs führte.

Er wusste, dass die zuständigen Strahlenschutzbehörden die Durchführung einer Jodblockade bei der Bevölkerung überall in der Welt als prophylaktische Maßnahme bei Kernwaffenexplosionen oder bei Reaktorunglücken empfahlen.

Auch wusste er, dass Apotheken, Kindergärten, Schulen und die Armeen vieler Länder gehalten waren, für die genannten Eventualitäten große Mengen an Kaliumjodid- und Kaliumjodad-Tabletten vorzuhalten.

Nachdem die Tabletten verteilt worden waren, hatte es außerdem die offizielle Anweisung gegeben, sämtliche Fenster und Türen möglichst geschlossen zu halten.

Einen Zwischenfall sollte es gegeben haben. Was auch immer dies bedeuten mochte!

Er konnte sich längst auch denken, dass keiner der Menschen, die da in schier endlosen Zügen und Reihen aus ihren Wohnblocks heraus strömten, wie Ameisenvölker, welche auf einen geheimnisvollen Befehl ihrer Königin hin, ihre Baue verlassen mussten, je seine Wohnung wieder sehen würde.

Er konnte sich auch denken, weshalb die Türen zu allen Wohnungen und zu allen Geschäften offen gelassen werden mussten. Einerseits würde es den Angehörigen von Militär und Miliz die Möglichkeit eröffnen, in den verlassenen Wohnungen nach Brauchbarem zu suchen. Ohnehin würde niemand der Geflüchteten je erfahren, dass von ihrer zurückgelassenen Habe etwas fehlte. Andererseits bestand ja schließlich auch die Notwendigkeit, die zurückgelassenen und längst verstrahlten Haustiere der Menschen zu keulen, um eine weitere Ausbreitung der Kontamination im Lande zu verhindern.

Er schob den Kater zärtlich vom Fensterbrett herunter, denn niemand sollte ihn dort sehen und zugleich trat er selbst dabei einen Schritt vom Fenster zurück, wie damals, als er als Schütze im umkämpften Stalingrad eingesetzt war.

Er trat einen Schritt zurüüßüß