Teil VIII
Der Abbau negativer Urteile

Urteile sind im Alltag unentbehrlich. Wir sortieren alles, was wir sehen, fühlen, schmecken oder riechen, in eine von drei Kategorien: unwichtig, gut oder schlecht. Das Unwichtige ignorieren wir, das Gute suchen wir, und das Schlechte wollen wir vermeiden. Man kann die Gewohnheit zu urteilen nicht einfach abstellen. Wenn man es versuchte, würde man verhungern, vor ein Auto laufen oder von einer Klippe springen.

Problematisch ist erst die Gewohnheit, uns selbst immer in die „schlechte“ Schublade zu stecken. Dauernde negative Urteile über uns selbst sind die Hauptursache eines schwachen Selbstwertgefühls.

In diesem Abschnitt geht es darum, wie wir Urteile fällen, weshalb wir an negativen Selbst-Urteilen festhalten und wir zu wahrheitsgemäßeren positiven Urteilen über uns selbst gelangen.

Der Bildschirm im Kopf

Jeder von uns selektiert, verändert und verzerrt das, was er wahrnimmt. Wir filtern und korrigieren die Realität, als ob unsere Augen und Ohren Fernsehkameras wären und wir die Realität im Kopf wie auf einem Bildschirm erfassten. Manchmal fährt die Kamera ganz nah an bestimmte Details heran, wie beispielsweise die gerunzelte Stirn unseres Chefs, wenn er oder sie unseren Bericht liest. Entsprechend den Überzeugungen unseres Kritikers hinsichtlich unserer Fähigkeiten werden Details vergrößert oder verkleinert. Oder es kann passieren, dass die Kamera ein altes Band abspielt und uns plötzlich statt der Realität in ein uraltes Erlebnis zurückversetzt, ohne dass wir es merken.

Peter beispielsweise, einer unserer Klienten, hatte endlich den Mut gefasst, die junge Frau, die in der Cafeteria bediente, nach einer Verabredung zu fragen. Wochenlang hatte er an diesem Entschluss gearbeitet. Seine Freunde hatten ihn immer wieder darauf hingewiesen, dass sie gerade ihn besonders freundlich, beinahe auffordernd anlächelte. Peter aber fühlte nichts anderes als seine alten Zweifel und Ängste in sich aufsteigen, sobald er sich der Cafeteria näherte. Nun plötzlich stand er vor ihr, von Angesicht zu Angesicht. Sie lächelte. Peter trug sein coolstes Outfit. Dies war der Augenblick.

„Hallo, möchtest du mit mir ins Kanu, äh, ins Kino gehen?“ 

Was zum Teufel war das gewesen? So ein Unsinn. Peter war überzeugt, dass sie ihn für einen kompletten Idioten halten musste. Sie warf einen raschen Blick zu dem Kunden hinter ihm in der Schlange und fragte: „Hallo, kann ich Ihnen helfen?“ 

Peter war schockiert. Sie hatte ihn einfach völlig ignoriert. Außerdem sah sie leicht erschrocken aus, woraus er schloss, dass sie ihn wohl sogar für einen Psychopathen hielt. Sie ließ die Nussecke des nächsten Kunden in dessen Milchkaffee fallen, und Peter war überzeugt, dass seine plumpe Annäherung sie wohl aus der Fassung gebracht hatte. Mit einem dicken Kloß im Hals schwankte er zum Serviettenständer und betrachtete sein trauriges Spiegelbild im blank geputzten Metallgehäuse. Und dann sah er ein zweites Gesicht neben seinem. Sie war es!

„Hallo. Tut mir leid – gerade als du mich fragtest, eh, wegen Kanu oder Kino, kam der Manager. Das hat mich etwas nervös gemacht. Ich würde mich freuen, wenn wir mal was zusammen unternehmen.“ Peters Verhalten hatte also überhaupt nichts damit zu tun gehabt. Sie hatte einfach wegen ihres Chefs aufpassen müssen. Peter hatte seine gesamten Ängste einfach in ihr Verhalten hineingelesen und nicht erkennen können, dass das, was sein Filter ihm auf den Bildschirm brachte, nicht die Realität war.

Mit den folgenden Übungen können Sie etwas mehr Aufmerksamkeit dafür entwickeln, wie sehr die Realität auf Ihrem inneren Bildschirm gefiltert ist.

  1. Denken Sie an eine nicht allzu lange zurückliegende unangenehme Situation mit einer anderen Person. Schreiben Sie auf, was Sie beide gesagt und getan haben.
  2. Schreiben Sie auf, was Ihrer Meinung nach die andere Personen über Sie auf ihrem inneren Bildschirm gesehen und gehört hat.
  3. Lassen Sie die Szene innerlich nochmals ablaufen und suchen Sie nach fehlenden Informationen. Schauen Sie, ob bestimmte Handlungen und Worte Ihnen eine neue Perspektive auf die Situation ermöglichen. Achten Sie insbesondere auf alles, was Sie beim ersten Mal ignoriert oder nicht geglaubt haben.
  4. Schreiben Sie eine alternative Darstellung dessen, was die andere Personen auf ihrem Bildschirm gesehen und gehört haben mag.

Wie der Bildschirm funktioniert

Der innere Bildschirm ist nicht immer etwas Schlechtes. Er reflektiert einfach, wie Ihre Sinne und Ihr Verstand miteinander verdrahtet sind. Sie brauchen diesen Filter – wie könnten Sie sonst die Flut von Informationen, die auf Sie einstürzt, organisieren? Da wir nun die Realität grundsätzlich über diesen Bildschirm interpretieren, können wir uns nicht wirklich auf das verlassen, was wir als „Wahrheit“ erblicken. Außerdem können wir unmöglich wissen, was sich auf dem Bildschirm der anderen abspielt! Und um die Sache noch komplizierter zu machen: Wir können das, was auf unserem Bildschirm stattfindet, unmöglich jemand anderem vollständig mitteilen, weil Teile des Materials unbewusst sind.

Nehmen wir zum Beispiel Maria, die gerade mit ihrem Freund Stefan bei einem romantischen Abendessen im Restaurant sitzt. Sie geht völlig in ihrer Erzählung auf, gestikuliert mit Armen und Händen und verwendet alle Gegenstände auf dem Tisch, um das ganze Drama ihrer Arbeitsstelle zu demonstrieren.

Sie blickt Stefan an, um zu sehen, ob ihm eigentlich klar geworden ist, welcher Wahnsinn sich da abspielt, doch Stefan sieht aus, als hätte er gerade eine Schlaftablette genommen. Er stützt den Kopf auf die Hände, als ob er gleich einschlafen will. Vielleicht schielt er sogar heimlich auf die Dessertkarte. So ein Trottel! Er benimmt sich beinahe so schlimm wie Marias Vater, der sich an den Unterhaltungen bei Tisch auch höchstens mit einem Knurren beteiligt. „Weshalb habe ich es eigentlich immer mit gelangweilten und uninteressierten Männern zu tun?“, fragt sich Maria.

Endlich antwortet er. „Ähm, Liebling, ich bin heute gefeuert worden. Tut mir leid, wenn ich nicht genau zugehört habe. Mir geht es wirklich schlecht. Eigentlich habe ich nur hingehört, um mich von meinen eigenen Depressionen abzulenken.“ Plötzlich erkennt Maria, wie sehr sie sich geirrt hat.

Wenn wir einsehen, dass wir nicht automatisch alles glauben können, was sich auf unserem Bildschirm abspielt, können wir uns anders verhalten. Da wir jetzt wissen, dass wir jederzeit unsere erste Reaktion unterbrechen und neu bewerten können, sind wir für die Zukunft besser gerüstet. Die folgende Übung kann Ihre Einsicht unterstützen, in welcher Weise Sie die Realität durch den Fernsehbildschirm in Ihrem Kopf filtern.

Bilden Sie sich einen ganzen Tag lang ein, Ihre Augen wären eine Kamera und Ihre Ohren ein Mikrofon. Sie sind der Regisseur eines Dokumentarfilms. Belegen Sie alles, was Sie sehen und hören, mit einem gesprochenen Kommentar. Betonen Sie mal die negativen und mal die positiven Aspekte einer Szene. Wenn Sie einem anderem Menschen begegnen, stellen Sie sich vor, Sie beide wären Darsteller in einem Film. Lassen Sie sich mehrere Reaktionen einfallen außer derjenigen, mit der Sie normalerweise antworten würden. Stellen Sie sich neben den Motiven, die Sie für zutreffend halten, weitere mögliche Motive für die Handlungsweise der anderen vor.

Achten Sie darauf, wie diese Übung einer Distanzierung Ihre Wahrnehmung der Realität verändert. Vielleicht sehen Sie ein, dass es weitaus mehr Möglichkeiten der Interpretation der Realität gibt, als Sie normalerweise nutzen. Außerdem kann uns die Übung zeigen, wie automatisch und begrenzt unsere alltägliche Wahrnehmung der Welt ist.

Horrorfilme

Ihr Bildschirm liefert Ihnen eine Interpretation der Realität. Was auch immer Sie sehen, ist manipuliert, Sie selbst haben entweder das Positive oder das Negative herausgefiltert. Ihre Wahrnehmung richtet sich danach, was Sie zu sehen erwarten und was Sie schon früher gesehen haben.

Wenn das Filtersystem von starker Unsicherheit geprägt wird, können alltägliche Kleinigkeiten monströs überzeichnet werden. Natürlich gibt es bestimmte Situationen, die eine verzerrte Interpretation stärker provozieren als andere. Wenn man sich ungelenk und unsicher vorkommt, können einem ganz normale Begegnungen wie versteckte Angriffe vorkommen. Ein harmloser und freundlicher Fremder sieht plötzlich wie ein Monster aus.

Hier ist ein Beispiel: Lena besuchte die Eröffnung der Kunstausstellung ihres neuen Freundes in einer sehr schicken Galerie. Schon vorher war sie etwas angespannt, weil sie erwartete, an tiefsinnigen Diskussionen über Kunst teilnehmen zu müssen. In ihrem Beruf als Sozialarbeiterin bewies sie Selbstvertrauen und Entschlossenheit. Doch Roberts seltsame Künstlerfreunde weckten ihre Monster. Jeder Besucher konnte sie möglicherweise angreifen und in eine peinliche Lage bringen. Lena mochte diese Gefühle überhaupt nicht, doch sie konnte gegen ihre Unsicherheit nichts machen.

Schon nach wenigen Augenblicken näherte sich ihr eine ganz in Schwarz gekleidete, groß gewachsene Frau, die ihr den Rauch einer orientalischen Zigarette ins Gesicht blies und fragte: „Na, was treibt Sie denn hierhin?“ 

Im Angesicht der hünenhaften Kunstexpertin fühlte sich die arme Lena wie das Dummchen vom Lande, das sich für diesen Abend mit den seltsamsten Klamotten verkleidet hatte. Ohne nachzudenken sprudelte es aus ihr hervor: „Ich interessiere mich für schöne Bilder, Sie etwa nicht?“ Lena spürte, wie sie rot wurde, als sie das überraschte Gesicht der Frau sah. Plötzlich war ihre Gesprächspartnerin kein Monster mehr, sondern einfach jemand, der mit ihr ein Gespräch anknüpfen wollte. Langsam wich die Frau zurück und entschuldigte sich: „Oh, verstehe. Nett, dass wir uns unterhalten haben.“ 

Beinahe jeder von uns hat schon mal eine peinliche Situation erlebt. Es gibt niemanden, der sich einfach in jeder Situation vollkommen selbstsicher fühlt. In diesem Fall sollte man einmal prüfen, welche Art von Realität sich da auf dem inneren Bildschirm präsentiert. Wir erkennen an unserer Angst, wenn unsere Gefühle von Unsicherheit geprägt sind. Man spürt es als Klotz im Magen, als verkrampften Atem oder als zitternde Knie.

Stellen Sie sich, wenn Sie zu Hause in Sicherheit sind, ruhig einmal ein Szenario vor, von dem Sie wissen, dass Sie sich darin unsicher fühlen würden. Spüren Sie, wie Sie nach möglichen Monstern Ausschau halten und wie sich dabei Ihr ganzer Körper verspannt. Und nun fragen Sie sich: „Sind meine Gefühle jetzt überhaupt mit der Realität verbunden?“ Stellen Sie sich vor, wie jemand in dieser Szene eine einfache Frage an Sie richtet, wie etwa: „Wie kommen Sie denn hierhin?“ Oder: „Was arbeiten Sie denn so?“ Wird Ihnen schon bei der bloßen Vorstellung mulmig? Könnte es sein, dass Sie von anderen Menschen eine zu negative Vorstellung haben?

Die Urteile der anderen

Wenn Sie das Gefühl haben, andere würden Sie beurteilen, fragen Sie sich einfach: „Was nimmt derjenige gerade von mir wahr? Stimmt das mit der Realität überein? Was sieht er auf seinem Bildschirm?“ Vergessen Sie nicht, jeder Mensch interpretiert die Wirklichkeit über den Bildschirm in seinem Kopf. Ein kritischer Mensch kritisiert lediglich das, was er auf seinem Bildschirm sieht, nicht aber die Realität. Es hat nichts mit Ihnen direkt zu tun. Allerdings vergessen wir dies nur allzu leicht und gestatten unserem inneren Kritiker, der mutmaßlichen Meinung der anderen einfach zuzustimmen. Hören Sie einfach auf, schon beim ersten Zeichen eines Angriffs nachzugeben.

Grundsätzlich kann man zwischen destruktiver und konstruktiver Kritik unterscheiden. Daher müssen Sie zunächst klären, ob jemand, der Sie kritisiert, Ihnen helfen oder Sie ärgern möchte. Sie müssen also die Absichten des anderen klären. Dies geht beispielsweise so: Ihr Partner sagt Ihnen, Sie hätten ihn „im Stich gelassen“. Sie erkundigen sich nach der genauen Situation, sodass Sie beide auf Ihren Bildschirmen denselben Sender eingestellt haben. Stellen Sie Fragen wie: „Was genau habe ich getan, um dich im Stich zu lassen? Kannst du mir Beispiele nennen?“ Sie sammeln weitere Informationen und können allmählich die Absichten des Kritikers erkennen. Sind die Informationen zutreffend, so erkennen Sie sie an, entschuldigen sich dafür und entwickeln einen Plan, wie sich dergleichen in Zukunft vermeiden lässt. Das reicht.

Allerdings könnte es sein, dass der Kritiker nur seine Frustrationen loswerden will, die mit der Situation nicht das Geringste zu tun haben. Derartige Kritik ist destruktiv. Hier antworten Sie am besten ausweichend. In unserem Beispiel würden Sie teilweise oder dem Prinzip nach zustimmen, aber nicht mehr: „Gut, einiges von dem, was du auf deinem Bildschirm siehst, sehe ich auch auf meinem Schirm. Manches aber nicht.“ Diese Art der Reaktion ist sehr wirkungsvoll, weil Sie sich der ungenauen Kritik des anderen stellen, ohne defensiv zu werden oder die Spannung zu vergrößern.

Zum Beispiel wirft Ihnen einer Ihrer Eltern vor: „Ich kann einfach nicht fassen, dass du diesen Job in der Umweltschutzorganisation angenommen hast. Du wirst doch nie genug verdienen, um dich und deine Familie zu ernähren! Was machst du in zehn Jahren ohne Ersparnisse und mit nichts anderem im Lebenslauf als dieser linken Firma?“ Sie antworten einfach: „Ja, es stimmt, dass ich nicht so viel verdienen werde, um mir deinen komfortablen, erfolgreichen Lebensstil leisten zu können. Aber ich glaube an die Sache.“ 

Diese Art von ausweichender Antwort teilt dem Kritiker mit: „Möglicherweise hast du recht, aber ich werde in dieser Sache nach meiner eigenen Meinung vorgehen.“ Sie nehmen die wenig willkommene Kritik zur Kenntnis und lassen Ihr Selbstwertgefühl intakt.

Können Sie sich an einen kürzlich zurückliegenden Fall von Kritik erinnern? Wollte man Ihnen helfen oder Sie attackieren? War die Kritik konstruktiv und zutreffend oder destruktiv und verzerrt? Vergegenwärtigen Sie sich die Szene noch einmal. Versuchen Sie, sich an alle Fakten und Einzelheiten zu erinnern, die belegen könnten, was die Absicht des Kritikers war.

Falls die Kritik angemessen war, haben Sie sie akzeptiert? Falls sie unangemessen war, haben Sie Kontra gegeben? Lassen Sie die Szene geistig noch einmal ablaufen und reagieren Sie diesmal in produktiverer Form. Stellen Sie sich vor, wie Sie Rückfragen stellen, um die Intention des Kritikers herauszufinden, und dann entsprechend darauf antworten. Denken Sie daran: Alles, was Sie bei berechtigter Kritik tun müssen ist, die Kritik zu akzeptieren, sich zu entschuldigen und danach den Mund zu halten.

War die Kritik unzutreffend oder destruktiv, sehen Sie sich selbst, wie Sie mit einer ausweichenden Antwort die Konfrontation auflösen. Weshalb sollten Sie sich mit derartigen Vorwürfen beschäftigen?

Die Qualitäten der anderen

Manuela beobachtete die Party und sank mit ihrem Glas immer tiefer in die Couch. Alle schienen sich so unglaublich zu amüsieren. Da war Mark, humorvoll wie immer, und amüsierte alle mit seinen Scherzen. Betty war völlig in ein Gespräch mit einem Studienkameraden vertieft. Paul kümmerte sich aufmerksam um die Wünsche seiner Gäste, ohne sich aufzudrängen oder zu stören. Und Sarah faszinierte wieder einmal eine Gruppe von Zuhörern mit ihren Erlebnissen.

Manuela war stolz auf ihre Freunde – sie waren wirklich besonders talentiert und sympathisch. Sie nahm einen Schluck von ihrem Gin Tonic und drückte sich noch tiefer in die Kissen. Wieso waren all diese ungewöhnlichen Menschen ausgerechnet mit ihr befreundet? Verglichen mit ihnen war sie doch eher durchschnittlich.

Kennen Sie dieses Gefühl? Fragen Sie sich auch hin und wieder, weshalb Ihre Freunde, die Sie so bewundern, sich herablassen und überhaupt mit Ihnen sprechen? Fühlen Sie sich gehemmt bei Personen, die Sie zwar bewundern, aber nicht sehr gut kennen? Zögern Sie, sie anzusprechen, weil Sie sich nicht für einen „gleichwertigen Partner“ halten? Ist Ihnen je in den Sinn gekommen, dass es den anderen mit Ihnen genauso gehen könnte? Vielleicht kann Ihnen die folgende Übung helfen.

Erstellen Sie eine Liste mit fünf Menschen, die Sie bewundern. Es kann sich um persönliche Bekannte oder auch um Personen des öffentlichen Lebens handeln. Notieren Sie neben jeder Person die Qualitäten, die Sie an ihr besonders bewundern. Vielleicht ist es der Humor, das starke Verantwortungsbewusstsein, die Kreativität, der logische Verstand oder der Sinn für Gerechtigkeit. Vielleicht haben die Betreffenden Erfolg mit ihrer Karriere oder sind besonders liebevolle Eltern. Schreiben Sie auf, was auch immer Ihnen bewundernswert vorkommt.

Betrachten Sie nun die gesammelten Qualitäten. Welche treffen auch auf Sie zu? Lassen Sie sich Zeit mit der Antwort. Es ist so leicht, die positiven Eigenschaften der anderen zu erkennen und sie an sich selbst völlig zu übersehen. Möglicherweise hilft Ihnen die Vorstellung, Sie wären Ihre eigene engste Freundin oder Ihr engster Freund. Was würden er oder sie für Ihre besten Qualitäten halten? Sind Sie ein loyaler Freund? Haben Sie Humor? Sind Sie krisenfest? Überlegen Sie gut und seien Sie fair zu sich selbst.

Betrachten Sie nun die Liste der Qualitäten, die Sie an sich selbst erkannt haben, und erinnern Sie sich an die letzten Situationen, in denen sie zum Vorschein gekommen sind. Wie haben die anderen auf diese Qualitäten reagiert? Wie hat es sich angefühlt, diese Eigenschaften zu besitzen? Genießen Sie die Erinnerung.

Wie man lernt, die eigenen Urteile abzubauen

Zwanghafte Werturteile wirken wie Gift. Genauso gut könnte man Säure über einen Strauß Rosen gießen oder mit Arsen gewürzte Limonade trinken. Pathologische Urteile beruhen auf dem Glauben, die Welt sei entweder gut oder schlecht, richtig oder falsch, schwarz oder weiß. Sie wirken so vergiftend, weil jedes absolute Urteil, das man über Freunde, Partner oder Dritte, über die man einfach in der Zeitung liest, fällt, auf einen selbst zurückfallen kann. Paradoxerweise haben unsere strengen Maßstäbe kaum Einfluss auf andere, vielmehr lassen sie uns selbst klein und ungenügend erscheinen, weil es unmöglich ist, dass wir diesen Maßstäben ständig entsprechen.

Susanne zum Beispiel hat eine Kollegin namens Birgit, an deren Verhalten sie einiges auszusetzen hat. Birgit sieht gut aus, ist witzig, verheiratet und flirtet gerne. Auch Susanne ist attraktiv, intelligent und verheiratet. Doch sie fühlt sich Birgit in der Hinsicht überlegen, dass sie gegenüber keinem anderen Mann außer ihrem wunderbaren Ehemann Robert irgendein sexuell gefärbtes Interesse zu erkennen gibt. Jeden Morgen beobachtet Susanne im Büro, wie Birgit heute wieder gekleidet ist, mit einem Rock, der schon über den Knien endet, oder einer Bluse, die etwas zu körperbetont sitzt. Dann presst Susanne die Lippen aufeinander und denkt: „Was für ein Flittchen. Birgits Mann tut mir leid. Ich frage mich, ob er weiß, mit welcher Art von Frau er verheiratet ist!“ 

Andererseits begrüßt Birgit Susanne jeden Morgen mit einem Lächeln und erkundigt sich nach Robert oder danach, wie Susanne im Job vorankommt. Obwohl sie stets die gleichen knappen Antworten erhält, scheint sie davon nicht berührt zu werden. Abends berichtet Susanne dann ihrem Robert, wie Birgit heute wieder gekleidet war und wie lange sie sich mit einem bestimmten Kollegen in der Kaffeeküche unterhalten hat – wobei sie vergisst zu erwähnen, dass sich Birgit mit beinahe allen Mitarbeitern in der Kaffeeküche unterhalten hat.

Eines Tages stellt die Firma einen neuen Mitarbeiter namens Tony ein, der sich für Susanne zu interessieren scheint. Auch Tony ist verheiratet, dennoch scheint er Susanne interessant und amüsant zu finden. Beide interessieren sich für Tennis und seltene Münzen. Tonys Bewunderung für Susanne ist harmlos und rein platonisch. Dennoch hat sie das Gefühl, etwas Falsches zu tun, als Tony sie einmal zum Mittagessen einlädt.

Die unvernünftig hohen Maßstäbe, die sie bei anderen ansetzt, führen dazu, dass sie sich nun selbst als „Flittchen“ betrachtet, weil sie einen anderen Mann sympathisch findet. Susanne hat Schuldgefühle, als ob sie Robert irgendwie verletzen würde, weil sie einen freundlichen Umgang mit Tony pflegt. Deshalb verhält sie sich ihm gegenüber immer abweisender, bis er irgendwann aufhört, sie zum Essen einzuladen oder sich mit ihr über den Sport zu unterhalten.

Susanne versteht nicht, dass die meisten unserer persönlichen Entscheidungen auf der Grundlage von Bedürfnissen und Geschmack gefällt werden und nicht auf der von Moral. Man kann der moralisierenden Weltsicht dadurch entgegenwirken, dass man sich klarmacht, dass jeder Mensch nach dem höchsten wahrgenommenen Gut strebt. Hier sind einige Vorschläge, um die Dominanz unserer Werturteile ein wenig zurückzunehmen:

Empathie lernen

Walter und sein Freund Fred verlassen das Kino. Sie haben gerade einen neuen Katastrophenfilm gesehen. Fred fand ihn toll, die Raumschiffe, die Außerirdischen, die wunderschöne Heldin. Walter hat es überhaupt nicht gefallen, und es scheint, als bahnte sich zwischen den beiden ebenfalls eine kleine Katastrophe an.

Auf dem Heimweg schwärmt Fred von den tollen Effekten, während Walter Freds Geschmack und allmählich auch Fred selbst immer fragwürdiger findet. Und natürlich trifft Walters Verurteilung von Fred auch ihn selbst. Schließlich ist Fred sein Freund, und das spricht doch durchaus nicht für seine Menschenkenntnis.

Was Walter fehlt, ist etwas Empathie oder Einfühlungsvermögen, womit die Fähigkeit gemeint ist, die Gefühle eines anderen nachvollziehen zu können. Wie wäre es, wenn Walter seine Urteile einmal beiseiteließe, um zu verstehen, was der wirkliche Hintergrund für Freds Gefühle ist. Er könnte lernen, die Gründe für Freds Vorlieben zu verstehen und die Unterschiede zwischen sich und ihm zu respektieren, ohne eine der beiden beteiligten Personen zu verurteilen. Und als Bonus könnte es sogar geschehen, dass es ihm eines Tages tatsächlich Spaß machen würde, mit Fred ins Kino zu gehen.

Mit der folgenden Übung können Sie auf einfache und ungefährliche Weise die wichtige Kunst der Empathie erlernen, die für die Entwicklung von Mitgefühl für sich und andere so entscheidend ist. Alles, was Sie für die Übung benötigen, sind ein bequemer Sessel, ein Fernseher und ein offener Geist.

Schalten Sie ein Programm ein, das Sie absolut nicht ausstehen können, eine Talk-Show etwa, bei der es Ihnen peinlich wäre, wenn man Sie beim Zuschauen erwischen würde. (Sie können ja die Vorhänge zuziehen, damit die Nachbarn Sie nicht sehen.)

Schauen Sie sich die Show genau an. Sobald Sie sich irritiert, angewidert, gelangweilt oder peinlich berührt fühlen, versuchen Sie, sich von diesen Gefühlen, so gut es geht, zu lösen und die Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen zu fokussieren. Sagen Sie sich: „Ich nehme wahr, dass ich mich irritiert fühle. Das ist in Ordnung, aber es ist nicht das, woran ich gerade interessiert bin. Ich kann die Irritation beiseitestellen und das Geschehen einfach betrachten, ohne es zu beurteilen.“ 

Fällen Sie eine Zeit lang keine Werturteile und stellen Sie sich vor, weshalb diese Show von ihren Anhängern gesehen wird. Was haben sie davon? Anregung, Aufklärung oder Ablenkung? Finden Sie heraus, was diese Show so attraktiv macht und welche Art von Zuschauern sie mögen.

Die Entwicklung einer gewissen Stufe von empathischem Verständnis erkennen Sie daran, dass Sie nachvollziehen können, was dieses Programm für andere so anziehend macht. Wechseln Sie nun das Programm und versuchen Sie das Gleiche mit einer anderen Sendung. Denken Sie daran: Sie brauchen das, was Sie sehen, weder zu billigen noch zu missbilligen. Versuchen Sie einfach, klar zu sehen und die Anziehungskraft des Geschehens zu verstehen.

Bei dieser Übung geht es nicht darum, Ihren Fernsehgeschmack zu erweitern oder zu korrumpieren. Vielmehr finden Sie hier eine ungefährliche Gelegenheit, um zu üben, wie man vorschnelle Urteile vermeiden und einen Standpunkt einnehmen kann, von dem man sich normalerweise sofort distanziert. Versuchen Sie es – und möglicherweise möchten auch Sie dann eine Freundin anrufen, um mit ihr ins Kino zu gehen.

Das Ende einer schlechten Gewohnheit

In manchen Familien herrscht eine solche Stimmung der Kritik, dass sich die hier heranwachsenden Kinder schlecht und wertlos vorkommen. Täglich gibt es emotionale Schläge und Stöße, die bei den Empfängern schließlich zu der Überzeugung führen, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung. Wenn Sie aus so einer Familie stammen, werden Sie wissen, dass diese Gefühle nicht aufhören, wenn Sie der Familie endlich entkommen sind und selbstständig leben.